Gerhard Schröder - Gregor Schöllgen - E-Book

Gerhard Schröder E-Book

Gregor Schöllgen

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Beschreibung

Die erste grosse und umfassende Biographie

Gerhard Schröder polarisiert. Ganz gleich ob er als Juso-Vorsitzender die eigene Truppe aufmischt, als junger Bundestagsabgeordneter den politischen Gegner in Wallung bringt, als Rechtsanwalt Außenseiter verteidigt oder als Ministerpräsident den Alleingang zur Perfektion entwickelt – der vorwärtstürmende Aufsteiger aus randständigem Milieu hat immer provoziert. Als Bundeskanzler und SPD-Vorsitzender verweigert er den USA die Gefolgschaft im Irakkrieg, mit seiner Agenda-2010-Reformpolitik riskiert er die Kanzlerschaft, und auch als umtriebiger Wirtschaftsberater und Putin-Freund trotzt er aller Kritik. Der »vielfach bewährte Biograph Gregor Schöllgen« (FAZ) hatte uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Papieren Gerhard Schröders und sprach mit vielen Weggefährten – Freunden und Verwandten, Gegnern und Rivalen, Förderern und Neidern, Opfern und Bezwingern –, die sich ungewohnt offen äußerten. Schöllgen gelingt so die erste große und Maßstab setzende Biographie dieser ungewöhnlichen Politikerpersönlichkeit.

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Seitenzahl: 1954

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Die erste große und umfassende Biographie

Das hat es noch nie gegeben: Keine zehn Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit gewährt ein ehemaliger Bundeskanzler seinem Biographen uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Papieren, die persönlichen eingeschlossen.

Gregor Schöllgen ist so das packende Porträt eines Mannes gelungen, der es vom unteren Ende der Gesellschaft an ihre Spitze brachte, der das Land entscheidend prägte und der bis heute polarisiert.

Der Autor

Gregor Schöllgen, Jahrgang 1952, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen und lehrte unter anderem in New York, Oxford und London. Schöllgen konzipiert historische Ausstellungen und Dokumentationen, schreibt für Presse, Hörfunk und Fernsehen, ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes und des Nachlasses von Willy Brandt sowie Autor zahlreicher populärer Sachbücher und Biographien.

Gregor Schöllgen

Gerhard Schröder

DIE BIOGRAPHIE

Deutsche Verlags-Anstalt

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1. AuflageCopyright © 2015 Deutsche Verlags-Anstalt, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenLektorat und Satz: Ditta Ahmadi, BerlinGesetzt aus der Adobe Jensen ProBildbearbeitung: Aigner, BerlinUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenISBN 978-3-641-15007-5www.dva.de

Inhalt

Vorwort

Der Aussteiger 1944–1966

Der Anwalt 1966–1980

Der Kandidat 1980–1990

Der Kämpfer 1990–1998

Der Macher 1998–2002

Der Reformer 2002–2005

Der Ratgeber 2005–2015

Anhang

Zur Quellenlage

Abkürzungen

Personenregister

Bildnachweis

Vorwort

Es war eine kühne Idee. Gerhard Schröder willigte ein. Und ich nannte meine Bedingungen. Es waren drei: Uneingeschränkter Zugang zu seinen Papieren, die persönlichen eingeschlossen. Ungehinderter Zugang zu allen Zeitzeugen, mit denen ich sprechen wollte. Freier Zugang auch zu jenen amtlichen Dokumenten, die ich nur mit seiner Genehmigung beziehungsweise Unterstützung einsehen konnte – also insbesondere seine Stasi-Akte, die Akten des Kanzleramts oder auch die Protokolle der SPD-Gremien und der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag.

Gerhard Schröder hat das akzeptiert und sich ohne Wenn und Aber an seine Zusage gehalten. Das war nicht selbstverständlich, denn weder er noch ich, noch sonst jemand konnte wissen, was die Recherchen zum Beispiel über die Geschichte seiner Familie, die bislang weitgehend im Dunkeln lag, zu Tage fördern würden. Für seine konsequente und souveräne Einstellung zu dieser abenteuerlichen Reise durch sein Leben, aber auch für zahlreiche Gespräche, die ich im Laufe der Jahre mit ihm führen durfte, bin ich Gerhard Schröder zu großem Dank verpflichtet.

Soweit ich sehe, ist es das erste Mal, dass dem Biographen eines Hauptakteurs der Zeitgeschichte derart zeitnah eine solche Fülle allgemein nicht zugänglicher Unterlagen zur Verfügung stand. Welche ich einsehen konnte, sagen der Bericht zur Quellenlage und der Anmerkungsapparat. Über diesen lassen sich auch Zitate und Belege nachvollziehen. Lediglich im Falle der auf die Außen- und Europapolitik Gerhard Schröders bezogenen Akten des Kanzleramtes, die ich dank einer Zusage der Bundeskanzlerin an ihren Amtsvorgänger einsehen durfte, habe ich, einer Vereinbarung mit dem Kanzleramt entsprechend, auf unmittelbare Bezugnahmen oder Zitate und damit auch auf Nachweise im Anmerkungsapparat verzichtet.

Das Studium der Akten ist eine Sache, die Gespräche mit Zeitzeugen ist eine andere. Sie geben dem Bild Farbe und Konturen. Dass ein so stattlicher Kreis von Weggefährten aus den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft bereit gewesen ist, mit mir über eine im öffentlichen Leben nach wie vor sehr präsente Persönlichkeit zu sprechen, war nicht selbstverständlich. Einige haben sich überhaupt erstmals zu Gerhard Schröder geäußert, andere können oder werden es nicht mehr tun. Nicht wenige von denen, die in den vergangenen Jahrzehnten Schröders Wege kreuzten, haben mir zudem weiterführende Hinweise gegeben und mich Einblick in ihre Papiere nehmen lassen. Einige Gesprächspartner haben es mir gestattet, von ihren Informationen Gebrauch zu machen, baten aber darum, nicht namentlich genannt zu werden.

Ausdrücklich für ihre Gesprächsbereitschaft danken darf ich: Béla Anda, Stefan Aust, Egon Bahr, Günter Bannas, Franz Beckenbauer, Kai Diekmann, Erhard Eppler, Joschka Fischer, Günter Grass, Jürgen Großmann, Gregor Gysi, Gunhild Kamp-Schröder, Kurt Kister, Helmut Kohl, Sigrid Krampitz, Oskar Lafontaine, Markus Lüpertz, Angela Merkel, Franz Müntefering, Oskar Negt, Jürgen Peters, Heinrich von Pierer, Ulrike Posche, Wolfgang Schäuble, Rudolf Scharping, Doris Scheibe, Otto Schily, Helmut Schmidt, Renate Schmidt, Thomas Steg, Frank-Walter Steinmeier, Edmund Stoiber, Jürgen Trittin, Hans-Jochen Vogel, Richard von Weizsäcker, Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Zu den ungewöhnlich günstigen Rahmenbedingungen für meine Arbeit gehörte, dass Sigrid Krampitz seit nunmehr fast einem Vierteljahrhundert das Büro Gerhard Schröders leitet. Sie und Albrecht Funk, ihr Stellvertreter, haben die Entstehung dieses Buches mit Umsicht und großem Engagement begleitet. Das gilt auch für meine Mitarbeiter an der Erlanger Universität, Matthias Klaus Braun, Dimitrios Gounaris und Claus W. Schäfer, sowie seitens des Verlages für Ditta Ahmadi und Julia Hoffmann. Ihnen allen bin ich sehr dankbar.

Gregor Schöllgen

Erlangen, im Frühjahr 2015

© Reuters, Berlin: Michael Dalder/MAD/DL

Der Aussteiger 1944–1966

»Ich wollte raus da.« Als er das im Rückblick auf seine jungen Jahre sagt, geht Gerhard Schröder auf die fünfzig zu.1 Inzwischen hat er mehr erreicht, als man zu träumen wagt, wenn man von ganz unten kommt. Und Schröder kommt von ganz unten. Kaum ein anderer hat so früh so tief geblickt wie er. Schon gar kein zweiter Bundeskanzler kommt aus derart schwierigen Verhältnissen. Dass er als Kriegskind ohne leiblichen Vater aufwächst, dass er in ganz und gar unübersichtlichen familiären Verhältnissen groß wird und dass er lernen muss, sich in einem sozial randständigen Umfeld zu behaupten, gibt diesem Leben früh seine Prägung.

Als Gerhard Fritz Kurt Schröder am 7. April 1944, einem Karfreitag, im Lippeschen geboren wird, steht das Deutsche Reich vor dem Zusammenbruch. Aus dem knapp fünf Jahre zuvor begonnenen Eroberungsfeldzug ist eine Abwehrschlacht geworden. Am 20. August erreichen die Spitzen der alliierten Streitkräfte die Seine beiderseits Paris. Am selben Tag eröffnen die 2. und 3. Ukrainische Front in Nordostrumänien den Großangriff auf die 6. deutsche Armee, in der Gerhard Schröders Vater kämpft. Die Verluste sind gewaltig. Im Herbst 1944 kommen bis zu 5000 deutsche Soldaten ums Leben. Tag für Tag, die meisten im Osten.

Einer von ihnen ist Fritz Schröder. Gerhard Schröders Vater fällt am 4. Oktober 1944 auf einer Höhe beim rumänischen Pustasan, etwa 30 Kilometer südöstlich von Klausenburg.2 Er wird auf dem Friedhof von Ceanu Mare beigesetzt. Das Grab wird 1978 entdeckt. Im Frühjahr 2001 erhält die Familie davon Kenntnis. Bei dieser Gelegenheit sieht Gerhard Schröder auch erstmals ein Foto seines Vaters. Es zeigt Fritz Schröder als Soldaten der Wehrmacht und findet seinen Platz auf dem Schreibtisch im Kanzleramt. Im August 2004, 60 Jahre nach dem Tod des Vaters, steht Gerhard Schröder erstmals an dessen Grab.

Weitere sieben Jahre gehen ins Land, bis er schließlich die Dokumente sichten kann, die aus dessen Dienstzeit bei der Wehrmacht erhalten geblieben sind.3 Darunter befinden sich neben dem Wehrstammbuch und dem Soldbuch Fritz Schröders unter anderem das einzige bis dahin bekannte Foto, das den Vater als Zivilisten zeigt, außerdem ein Auszug aus dessen Strafregister, ein von der Ehefrau Erika Schröder unterzeichnetes, aber – da diese nur mühsam schreibt – von Klara Schröder, Gerhard Schröders Großmutter, handschriftlich aufgesetztes Dokument sowie die Geburtsurkunde des Sohnes Gerhard Schröder, den Fritz Schröder nie gesehen hat.

Gesichert zurückverfolgen, wenn auch nicht im Einzelnen erhellen, lässt sich die Familiengeschichte der Schröders bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. August Schröder, Gerhard Schröders Ururgroßvater, ist Winzer im Ramdohrschen Weinberg, angestellt beim Kaufmann August Ramdohr, Inhaber des gleichnamigen Bankhauses. Die Gegend ist wegen des Weinbaus an der klimatisch begünstigten Mündung der Unstrut in die Saale auch überregional bekannt, und offenbar haben die Schröders über Generationen hinweg dort ihren Lebensunterhalt als Winzer verdient. Am 2. März 1856 kommt August Schröders viertes Kind, Gerhard Schröders Urgroßvater Franz August Schröder, in Naumburg an der Saale zur Welt, wird dort auch drei Wochen später evangelisch getauft.4

Warum Franz Schröder beruflich andere Wege geht als sein Vater, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls erlernt er den Beruf des Zimmermanns, heiratet Ende Juli 1879, als er 23 ist, im benachbarten Großjena und kehrt mit seiner Frau Pauline Emma zwei Tage später in seine Geburtsstadt Naumburg zurück. Dort wird am 18. November 1879, also nicht einmal vier Monate nach der Hochzeit, der erste gemeinsame Sohn geboren, dem drei weitere Söhne und zwei Töchter folgen, von denen eine zweijährig verstirbt. Emil Hermann Schröder, der Großvater Gerhard Schröders, erblickt am 2. November 1887 das Licht der Welt und zieht im Alter von fast zwei Jahren mit der Familie nach Leipzig.5 Die Stadt, die seit Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung nimmt, wird in der Geschichte der Familie Schröder eine fassbare Rolle spielen.

Viel wissen wir über die frühen Jahre von Gerhard Schröders Großvater nicht. Aber einiges spricht dafür, dass Emil Schröder keine höhere Schulbildung genossen, sondern nach der Volksschule eine handwerkliche Ausbildung absolviert hat. Seine Spur findet sich 1906 wieder, als er sich für einige Jahre in unterschiedlichen Berufen, zum Beispiel als Kutscher und Fabrikarbeiter, durchschlägt, zeitweilig auch auf Wanderschaft unter anderem in der Pfalz zu finden ist. Sicher ist, dass Emil Schröder im Oktober 1909, also kurz vor Vollendung seines 22. Lebensjahres, in die Georg-Schumann-Kaserne in Leipzig-Möckern zum zweijährigen Wehrdienst einrückt und fortan im königlich-sächsischen 7. Infanterieregiment »König Georg« (Nr. 106) seinen Dienst tut.6

Am 17. Februar 1912 heiratet Emil Schröder »Klara« Marie Auguste Werner, die am 16. Oktober 1890 in Leipzig zur Welt gekommen ist. Das ist die später in der Familie legendäre »Oma Schröder«, die auch den aufwachsenden Enkel Gerhard mit betreuen wird. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor: Sieben Monate nach der Hochzeit wird am 12. September 1912 Fritz Werner Schröder, Gerhards Vater, geboren, am 6. August 1913 folgt Charlotte Elsa, die nach wenigen Monaten verstirbt, und am 5. August 1914 Emil Kurt Schröder,7 Gerhard Schröders Onkel und Vater dreier Töchter, von denen er erst als Bundeskanzler erfährt. Viel sieht der Großvater Emil Schröder nicht von seinen beiden Söhnen, denn im Sommer 1914 wird er zu den Waffen gerufen.

Der europäische Krieg, der im August 1914 mit den deutschen Kriegserklärungen an Russland und Frankreich beginnt, wird nicht nur das Gesicht Deutschlands, Europas und der Welt nachhaltig verändern, sondern auch in den meisten Familien, die der Schröders eingeschlossen, mehr oder weniger gravierende Folgen zeitigen. Dass sich aus einem nur regional bedeutsamen Zwischenfall – der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers in Sarajevo – ein Konflikt dieser Dimension entwickeln konnte, hatte vielfältige Gründe. Heute wissen wir, dass die Großmacht Deutsches Reich und das Gleichgewicht der Kräfte in Europa nicht miteinander vereinbar gewesen sind und dass darin die entscheidende Ursache für den Ausbruch dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zu sehen ist.

Das Deutsche Reich war 1871 aus der Taufe gehoben worden. Politisch geschickt und militärisch entschlossen hatte Preußen die Machtverschiebungen infolge des Krimkrieges genutzt, um in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die nationalstaatliche Einheit Deutschlands herbeizuführen. Die Regie hatte Otto von Bismarck geführt, der dann auch als erster Kanzler die Geschicke des Reiches leitete. Mit ihm haben sich sämtliche Nachfolger auseinandersetzen müssen. Die Reichskanzler bis 1945, weil sie auf die eine oder andere Weise an ihm gemessen wurden, und die Bundeskanzler seit 1949, weil Bismarcks Schöpfung, wenn auch in den Grenzen der Zwischenkriegszeit, so lange ein Bezugspunkt ihres außenpolitischen Denkens blieb, wie das Grundgesetz ihnen die Vollendung der Einheit Deutschlands auftrug.

Wenn sich die Kanzler der Bundesrepublik Deutschland auch nicht als Nachfolger Bismarcks sehen mochten, hat er sie doch allesamt beschäftigt. Selbst die drei Sozialdemokraten unter ihnen. Willy Brandt und Helmut Schmidt haben stets einen »wachen Sinn für Bismarcks Leistung« gehabt8 und gelegentlich die Außenpolitik des ersten Reichskanzlers als »genial« gepriesen.Auch Gerhard Schröder, von dem man das vielleicht am wenigsten erwarten würde, kannte nie Berührungsängste, im Gegenteil: In seinem Hannoveraner Büro hängt – gleich neben der Fotoporträtgalerie der Kanzler von Adenauer bis Schröder – ein großformatiges Bismarck-Porträt Franz Lenbachs. Es zeugt von dem unverkrampften Respekt, den der vorerst letzte sozialdemokratische Bundeskanzler für den »aufgeklärte[n] Pragmatismus« des ersten Reichskanzlers – »eine vorbildliche Figur« – empfindet, wie er 2015 anlässlich Bismarcks 200. Geburtstag in einem großen Gespräch mit dem Spiegel bekannte.9 In diesem Sinne hat Hans-Peter Schwarz, der Biograph Konrad Adenauers und Helmut Kohls, Gerhard Schröder jüngst als eine »fast Bismarcksche Figur« charakterisiert: »ein herrlich ungebremster Machtpolitiker, wie sie in Deutschland eigentlich wenig kommen«.10

Mehr als mit Bismarck selbst hatten sich sämtliche Bundeskanzler allerdings mit den mittelbaren Folgen seiner Schöpfung auseinanderzusetzen. Denn innerhalb von 30 Jahren hatte das Deutsche Reich Europa zwei Mal mit einem verheerenden Krieg überzogen. Wer weiß, was der Welt erspart geblieben wäre, hätten die Kriegsgegner Deutschlands schon 1918, also am Ende des Ersten Weltkriegs, die Konsequenz aus der Erkenntnis gezogen, dass dieses Deutsche Reich sich nicht mit dem Gleichgewicht der Kräfte in Europa vertrug. Nachdem sie dies 1945 getan hatten, war Deutschland ein besetztes, später geteiltes und bis zum Zusammenbruch der alten Weltordnung nicht vollständig souveränes Land. Die Geschichte des geteilten Deutschlands, die Vereinigung der beiden Staaten westlich von Oder und Neiße sowie die neue Rolle des wieder völlig souveränen Deutschlands in der Weltpolitik formen auch die politische Biographie Gerhard Schröders. Er wird der Bundeskanzler sein, der dieser neuen Rolle Rechnung trägt.

Gerhard Schröders Großvater Emil rückt bei Ausbruch des Krieges in die 11. Kompanie des 3. Bataillons seines alten Regiments ein, kommt sowohl an der West- als auch an der Ostfront zum Einsatz und kehrt schließlich – im Wesentlichen unversehrt, zudem »gründlich entlaust und gereinigt«11 – in die Heimat zurück. Dort erwartet ihn eine böse Überraschung. Denn in Leipzig findet Emil Schröder nicht nur seine Frau Klara mit dem Arbeiter Arno M., sondern auch deren gemeinsame Tochter Klara Hildegard vor, die am 2. Juni 1917 geboren worden ist. Nach den Gründen für diese Liaison zu forschen, erübrigt sich. Unsere Quellen geben sie nicht preis. Bekanntlich hat der auf wenige Monate geplante, schließlich mehr als vierjährige Krieg mit all seinen Unwägbarkeiten und Entbehrungen nicht nur in der Familie Schröder zu solchen Vorkommnissen geführt.

Sicher ist jedenfalls, dass die Ehe zwischen den Großeltern Gerhard Schröders väterlicherseits am 26. Juli 1923 wegen »Ehebruchs« der Ehefrau Klara Schröder, geborene Werner, geschieden wird, dass Gerhard Schröders Großvater Emil Schröder am 20. Mai 1925 erneut heiratet und dass er bis zu seinem Lebensende am 29. Mai 1946 in Leipzig wohnt.12 Gesichert ist auch, dass Gerhard Schröders Großmutter Klara, geschiedene Schröder, am 18. Februar 1935 Paul Vosseler heiratet.13 Sicher ist schließlich, dass Fritz Schröder, der älteste Sohn von Emil und Klara und Vater von Gerhard Schröder, in wenig geordneten Verhältnissen aufwächst.

Seine Spur verliert sich mit der Geburt. Wir wissen daher nicht, ob Fritz Schröder nach der Trennung der Eltern beim Vater oder bei der Mutter aufwächst oder aber, was unter solchen Umständen nicht ungewöhnlich wäre, bei Zieheltern oder in Heimen unterkommt. Auch über seine Schul- und seine sonstige Ausbildung, so er eine solche genossen hat, sind keine zuverlässigen Auskünfte möglich. Aktenkundig wird Fritz Schröder erst wieder am 9. März 1934, als ihn das Amtsgericht Neustettin wegen schweren Diebstahls zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Was den Einundzwanzigjährigen auf die schiefe Bahn gebracht hat, geben die Akten nicht preis. Auch wissen wir nicht, warum er bereits am 16. Juni 1934 vorzeitig entlassen wird. Vielleicht ist ihm eine Untersuchungshaft angerechnet worden.

Kaum auf freiem Fuß, verwischt sich seine Spur erneut. Aus einem Gespräch, das seine spätere Frau Erika, Gerhard Schröders Mutter, in hohem Alter geführt hat, ist zu schließen, dass Fritz Schröder seinen Lebensunterhalt in dieser Zeit als »Knecht« beziehungsweise »Gelegenheitsarbeiter« verdient – sofern er denn Arbeit findet. Mal zieht er »als Hilfskraft mit einer Kirmes umher«, zwischenzeitlich arbeitet er auch bei einem Deichgrafen an der Elbe, in der Regel aber findet man Fritz Schröder »auf dem Feld … und in den Ställen«. Der Hinweis seiner Frau, dass er »besonders gut mit Pferden umgehen« kann, ist aufschlussreich, weil es seine spätere Verwendung in der Wehrmacht erklärt.14

In dieser Zeit taucht er auch wieder in den Akten auf, und zwar neuerlich in denen der Polizei und der Justiz. Am 20. März 1939 verurteilt das Landgericht Magdeburg Fritz Schröder wegen »gemeinsch[aftlichen] schweren Diebstahls« zu neun Monaten Gefängnis.15 Der »Landarbeiter« Fritz Schröder, »ohne Wohnung«, ist am Sonnabend, dem 8. Oktober 1938, mit dem Maler Gottfried B. gegen 9.30 Uhr in die »Bodenkammer« eines Fleischermeisters in Magdeburg eingestiegen und hat »mehrere Bekleidungsstücke daraus gestohlen«. Die Beute haben sich die beiden geteilt. Nach einem Raubzug sieht das nicht aus, eher nach einem aus der Not geborenen Diebstahl. Aber natürlich wird er geahndet, Diebstahl gilt als schweres Delikt. Seit dem 11. Oktober 1938 sitzen die beiden im Gerichtsgefängnis Magdeburg ein.

»Augen blau, Haare dunkelbraun, Nase gradlinig«: Fritz Schröder, Gerhard Schröders Vater, Mitte Oktober 1938 nach der neuerlichen Festnahme wegen schweren Diebstahls.

© Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg

Ohne die neuerliche Festnahme und erkennungsdienstliche Behandlung Fritz Schröders hätten wir vermutlich überhaupt keine gesicherten Informationen über den Vater Gerhard Schröders in diesen Jahren. So aber wissen wir auch aus amtlichen Quellen, dass sich Fritz Schröder als Landarbeiter verdingt und zuletzt in der Herberge Trommellsberg gemeldet ist, die 1867 durch die Magdeburger Stadtmission gegründet wurde und sich um »obdachlose Wanderer« kümmert. Im Zuge der erkennungsdienstlichen Behandlung werden zudem die üblichen drei Lichtbilder des inzwischen sechsundzwanzigjährigen Delinquenten aufgenommen. Die Kartei ergänzt, was den Schwarz-Weiß-Aufnahmen nicht zu entnehmen ist: Fritz Schröder ist von Statur »schlank« und 1,60 Meter groß, die Haare sind »d[unkel]braun«, die Augen »blau«, die Nase ist »gradlinig«, die Zähne sind »lückenhaft unten«. Unter »Besondere Kennzeichen« ist eine Tätowierung vermerkt: »Frauenbüste m[it] Blumenzweig, rechten Unterarm vorn«, »blau«.16 Die Tätowierung ist damals nicht das revidierbare Merkmal einer sich im Exhibitionismus ergehenden gesichtslosen Massenkultur, sondern in der Regel diskret getragener Ausweis einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich aus diesem oder jenem Grund an den Rändern der Gesellschaft bewegen.

Den Polizeiakten ist auch zu entnehmen, dass Fritz Schröder offenbar zum Zeitpunkt seiner neuerlichen Festnahme keinen Kontakt zu den Eltern hat, da er sie gemeinsam in Leipzig vermutet. Tatsächlich lebt seine Mutter inzwischen mit ihrem zweiten Mann in der Nähe von Detmold. Während der Gefängnishaft muss Fritz Schröder ihre Anschrift ermittelt haben. Vielleicht hat sich auch seine spätere Frau, Gerhard Schröders Mutter, darum gekümmert, die in hohem Alter erzählt, dass sie und ihr späterer Mann Fritz Schröder dessen Mutter »suchen« ließen. Offenbar mit Erfolg. Jedenfalls zieht Fritz Schröder am 22. Juli 1939, dem Tag seiner Haftentlassung, von der Halberstädter Straße 8a, die bis heute die Anschrift des Magdeburger Landgerichts ist, nach Detmold, und zwar in die »Bruchmauerstraße 10 Voßler«.17 Damit beginnt eine ungewöhnlich verwickelte, teils atemberaubende, teils bedrückende Geschichte. Sie lässt sich nicht mehr in allen Einzelheiten erhellen, sicher aber ist: Sie ist auch die Geschichte des Gerhard Schröder.

Fritz Schröder wohnt seit seiner Entlassung aus der Magdeburger Haft bei seiner Mutter Klara und deren vermutlich zweitem Ehemann, Fritz Schröders Stiefvater: August »Paul« Vosseler ist am 18. August 1906 in Niederwenigern, einer Ortschaft unweit von Hattingen im Ruhrgebiet, als Sohn des Bergmannes August Vosseler und seiner Frau Auguste, geborene Siepermann, zur Welt gekommen.18 Paul Vosseler ist Melker. Unter welchen Umständen er seine spätere Frau Klara kennengelernt hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Gesichert ist, dass die beiden am 18. Februar 1935 in Dortmund heiraten und sich zwei Tage später in Detmold anmelden.

Dort lässt sich Klara Vosseler, geborene Werner, geschiedene Schröder, nach mehrfachen Wohnungswechseln innerhalb und außerhalb der Stadtmauern19 am 15. Oktober 1938 in besagter Bruchmauerstraße nieder – und ruft eine schließlich fünfköpfige Wohngemeinschaft ins Leben. Als letzter Mitbewohner zieht Anfang September 1939, also ein knappes Jahr nach seiner Frau, Paul Vosseler ein. Zumindest ist er seither dort gemeldet. Kurz zuvor ist sein Ende Juli aus der Haft entlassener Stiefsohn Fritz Schröder hier untergekommen, der wiederum Erika Lauterbach gefolgt ist, die im Juni mit ihrer gerade geborenen Tochter in der Bruchmauerstraße Quartier genommen hat.20

Gunhild Erika Lauterbach, die Mutter Gerhard Schröders, hat am 2. Oktober 1913 in Burgstall, einer Gemeinde etwa 30 Kilometer nördlich von Magdeburg, das Licht der Welt erblickt. Sie wird als Tochter der zweiundzwanzigjährigen Näherin Martha Lauterbach »außerehelich« geboren. Das ist in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Etwa 10 Prozent der vor dem Ersten Weltkrieg Geborenen sind uneheliche Kinder. So auch Willy Brandt. Der Vogänger Gerhard Schröders in den Ämtern des Bundeskanzlers und SPD-Vorsitzenden wird wenige Wochen nach Erika Lauterbach als Herbert Frahm in Lübeck geboren. Viele dieser Geburten gelten als »vorehelich« und werden später durch Heirat legitimiert.

Wer ihr leiblicher Vater gewesen ist, hat Erika Lauterbach nie in Erfahrung gebracht. Folglich hat auch Gerhard Schröder bis ins fortgeschrittene Alter nicht wissen können, wer sein Großvater mütterlicherseits gewesen ist: Karl Otto Heinrich Krauß ist am 21. Februar 1877 als Sohn des Apothekers Otto Wilhelm Krauß und seiner Frau Mathilde, geborene Mössner, in Mosbach, an den südlichen Ausläufern des Odenwaldes gelegen, zur Welt gekommen. Anders als die Familie der Schröders beziehungsweise Vosselers, in welche seine Tochter Erika einheiraten wird, entstammt Otto Krauß den privilegierteren Schichten in Deutschland. Der gymnasialen Ausbildung an verschiedenen Anstalten in Heidelberg, Bad Godesberg und Wertheim am Main folgt nach dem Abitur ein Studium der Humanmedizin in Freiburg und Erlangen, wo Otto Krauß die Vorprüfung ablegt. Nach Ableistung des ersten Militärhalbjahres im 6. (badischen) Feldartillerie-Regiment (Nr. 116), führt er sein Studium in Berlin und München fort und besteht dort 1904 die ärztliche Prüfung. Im selben Jahr erscheint seine Doktorarbeit zum Thema »Über einen Fall von Paralysis agitans traumatica«.21

Hernach verliert sich seine Spur immer wieder einmal. Dass sie dann in den Militärakten auftaucht, spricht für eine Karriere als Militärarzt. So wird Dr. Otto Krauß am 19./20. Juni 1912 patentiert, also zum Offizier befördert,22 danach ist er in Halberstadt als »Stabsarzt« gemeldet.23 Hier lernt er die Näherin Martha Lauterbach kennen, von der wir nicht viel mehr wissen, als dass der Vater Schneidergeselle gewesen ist. Am 2. Oktober 1913 bringt Martha Lauterbach ihre Tochter Erika, Gerhard Schröders Mutter, zur Welt.24 Otto Krauß wendet sich unterdessen anderen Horizonten zu, meldet sich wenige Tage später in Offenburg an und tut fortan als Hauptmann und Stabsarzt im Infanterie-Regiment 170 seinen Dienst. Mit diesem zieht er am 6. August 1914 ins Feld, kommt an verschiedenen Schauplätzen und in wechselnden Einheiten zum Einsatz, bis er am 6. Februar 1917 durch die Generalmusterungskommission als nicht mehr kriegs-, sondern nur noch garnisonsverwendungsfähig eingestuft wird.25 Seit Mitte Juli 1914 ist Dr. Otto Krauß verheiratet, lebt mit seiner Frau Karola zunächst in Heidelberg und zieht 1923 nach Karlsruhe, wo er am 26. Januar 1947 gestorben ist.26

Ob er seine uneheliche Tochter Erika Lauterbach, Gerhard Schröders Mutter, jemals gesehen beziehungsweise wiedergesehen hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Sie selbst hat zeitlebens nicht gewusst, wer ihr Vater war, aber angenommen, dass er »Oberstabsarzt« in Karlsruhe gewesen sei. Sicher ist, dass sie von einer Vormundin, der »Ehefrau« Anna Wiescheropp, geborene Ahsmus, großgezogen wird. Mit dieser schließt Otto Krauß am 29. Juni 1917, also gut dreieinhalb Jahre nach der Geburt seiner Tochter Erika Lauterbach, einen »Abfindungsvertrag«. Der sieht zum »Ausgleich der gesetzlichen Unterhaltsansprüche des Kindes für die Vergangenheit und Zukunft« die Zahlung einer »einmaligen Abfindungssumme von 3000 Mark« vor. Das dürfte etwa dreieinhalb Jahresgehältern entsprochen haben. Im Gegenzug verzichtet die Vormundin auf alle weiteren Ansprüche ihres Mündels Erika Lauterbach.27

Warum Gerhard Schröders Mutter von einer Vormundin großgezogen wurde und was aus ihrer Mutter Martha, Gerhard Schröders leiblicher Großmutter mütterlicherseits, geworden ist, wird wohl für immer ungeklärt bleiben. Als Erika Lauterbach 1939 Fritz Schröder heiratet, sind ihr weder der Aufenthalts- noch der Geburtsort ihrer leiblichen Mutter bekannt, und daran hat sich zeitlebens nichts geändert. Dass sie unehelich geboren worden ist, weiß Erika Lauterbach hingegen, seit sie zwölf ist.

An ihrem Lebensabend hat sie erzählt, dass sie »eine harmonische Kindheit gehabt« habe und die Pflegeeltern »sehr nett, sehr lieb« gewesen seien. Die beiden haben bereits einen Sohn und eine Tochter, und bei dieser wiederum wächst Erika Lauterbach auf, nachdem ihre Pflegemutter an einer Blutvergiftung gestorben ist. Als sie vierzehn ist, geht sie auf dem Gut Urslehn, auf dem auch die Pflegeeltern gearbeitet haben, »in Stellung« und verdingt sich – für 50 Pfennige bei freier Unterkunft und Verpflegung – als Hausgehilfin. Mit sechzehn kommt sie »als Magd auf einen Bauernhof«. Dort bleibt Erika Lauterbach, bis sie 1936 den Gelegenheitsarbeiter Fritz Schröder kennenlernt.

Fortan leben die beiden zusammen, ohne dass sich nennenswerte Spuren von ihnen finden lassen. Fritz Schröder wird erst wieder aktenkundig, als er Anfang Oktober 1938 erneut einen Einbruch begeht und ins Gefängnis gesteckt wird. Während er in Magdeburg einsitzt, ist auch Erika Lauterbach dort gemeldet.28 Die Gefängnishaft ihres künftigen Mannes hat sie, soweit wir wissen, später nie erwähnt, auch nicht gegenüber den gemeinsamen Kindern Gunhild und Gerhard Schröder. Gunhild wird am 3. April 1939 in Magdeburg geboren. Anfang Juni 1939 ziehen Mutter und Tochter, wie berichtet, nach Detmold29 und kommen dort in der Bruchmauerstraße 10 bei Fritz Schröders Mutter Klara Vosseler unter. Nach seiner Haftentlassung folgt ihnen Fritz Schröder. Am 27. Oktober 1939 heiraten Fritz Schröder und Erika Lauterbach in Detmold. Damit ist auch der Weg frei, um der gemeinsamen Tochter mit Beschluss des Amtsgerichts Magdeburg am 14. November 1939 die »Rechtsstellung eines ehelichen Kindes« zu verschaffen.30

Zu diesem Zeitpunkt wohnt die junge Familie schon nicht mehr in Detmold. Unmittelbar nach der Hochzeit haben sich Fritz, Erika und Gunhild Schröder nach Horn abgemeldet, das etwa 25 Kilometer nordöstlich von Paderborn liegt. Mit ihnen ziehen Klara und Paul Vosseler, also die Mutter und der Stiefvater Fritz Schröders, dorthin um. Die fünf bleiben auch zusammen, als wenig später der nächste Umzug nach Wiembeck ansteht.31 Was Fritz Schröder und die Seinen bewogen hat, die Wohnung beinahe im Monatsrhythmus zu wechseln, lässt sich nicht mehr feststellen. Für konsolidierte Verhältnisse spricht das jedenfalls nicht, und von einem nennenswerten Hausrat dürfte auch keine Rede sein. Zumal es in den kommenden Jahren dabei bleibt.

Die Hochzeit von Fritz und Erika Schröder, den leiblichen Eltern von Gerhard Schröder, und der Umzug der Familie nach Horn liegen bereits im Schatten von Ereignissen, die auch diese Familie schwer in Mitleidenschaft ziehen werden. Denn inzwischen hat das Deutsche Reich, geführt von Adolf Hitler, den europäischen Krieg eröffnet. Zu den vielen Faktoren, die dem Mann auf seinem Weg zur Macht geholfen haben, zählen die ihm günstigen äußeren Umstände und dass er unterschätzt wird. Das Reich ist nach Niederlage und Revolution, demütigendem Friedensvertrag und schlimmer Inflation seit 1923 gerade wieder auf die Beine gekommen, hat wirtschaftlich an Substanz und international an Reputation gewonnen, als die Folgen der Weltwirtschaftskrise Deutschland und die Deutschen seit 1930 erneut in die Knie zwingen. Diese äußeren Umstände spielen Adolf Hitler und seiner Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu.

Als der »Führer« dieser Partei am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wird, glauben die Strippenzieher im Hintergrund, dass man sich seiner entledigen könne, sobald er seinen Zweck erfüllt habe. Bekanntlich ist das eine verheerende Fehleinschätzung. Denn Hitler ist entschlossen, die Macht nicht mehr aus der Hand zu geben und sein eigentliches Ziel baldmöglichst in Angriff zu nehmen: Alles, was er seit Ende Januar 1933 unternimmt, dient unmittelbar oder indirekt der Vorbereitung eines Eroberungs-, Beute- und Vernichtungsfeldzuges, mit dem insbesondere die Völker Ostmittel- und Osteuropas überzogen und das europäische Judentum ausgelöscht werden sollen.

Um diesen Krieg führen zu können, bedarf es neben der Konzentration aller wirtschaftlichen Energien und Ressourcen der politischen und strategischen Vorbereitung. Anfang Februar 1938 ist Hitlers Herrschaft im Innern so weit gefestigt, dass er sie forcieren kann. Anknüpfend an die vollendeten Tatsachen, die schon 1935/36 mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Wiederbesetzung der entmilitarisierten Zonen des Rheinlandes geschaffen worden sind, marschieren am 12. März 1938 deutsche Truppen in Österreich ein, das am Tag darauf per Gesetz an das Deutsche Reich angeschlossen wird, und schon am 1. Oktober 1938 beginnt die Wehrmacht mit dem Einmarsch in die sudentendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei.

Riskant ist das nicht, denn zwei Tage zuvor haben die Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs und Italiens dem deutschen Diktator auf einer eilig nach München einberufenen Konferenz grünes Licht für diesen Schritt gegeben. Erst als Hitler entgegen allen Beteuerungen Mitte März 1939 die Wehrmacht in Prag einrücken lässt, zeigt der Westen Reaktionen. Am 31. März 1939 garantieren Großbritannien und Frankreich die Unabhängigkeit Polens, das offenkundig als Nächstes auf Hitlers Liste steht. Der hat dieses Mal einen Partner: Am 23. August 1939 einigen sich die Außenminister der Sowjetunion und Deutschlands im Auftrag Josef Stalins und Adolf Hitlers pragmatisch auf ein gegenseitiges Stillhalten und – in einem geheimen Zusatz – auf eine Aufteilung unter anderem der baltischen Staaten und eben Polens. Acht Tage später, im Morgengrauen des 1. September 1939, beginnt der deutsche Überfall auf den polnischen Nachbarn.

Der Krieg hat von Anfang an europäische Dimensionen. Nachdem Polen bereits Ende September 1939 unter dem konzentrierten Angriff zunächst der deutschen, dann auch der sowjetischen Armeen zusammengebrochen ist, führt der deutsche Überfall auf Dänemark und Norwegen, dann auf Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich Hitler im Frühjahr innerhalb weniger Wochen ans Ziel: Am 22. Juni 1940 streckt auch die französische Armee die Waffen. Seither sind der Norden und Westen Europas – von der entscheidenden Ausnahme Großbritanniens abgesehen – unter deutscher Kontrolle, und vor diesem Hintergrund beginnt nach einem weiteren sogenannten Blitzfeldzug gegen Jugoslawien und Griechenland in den Morgenstunden des 22. Juni 1941 der deutsche Angriff auf die Sowjetunion.

1940/41 ist das Deutsche Reich auf den großen Krieg vorbereitet wie zu diesem Zeitpunkt kaum ein zweites Land auf der Welt. Bis zur Eröffnung des Polenfeldzuges hat die Regierung rund 45 Milliarden Reichsmark in die Rüstung gepumpt und die Wehrmacht in Stand gesetzt, einen europäischen Krieg führen zu können. Dazu gehören die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht sowie die Musterung und Mobilisierung selbst älterer Jahrgänge.

Auch die Ehemänner von Klara Vosseler und Erika Schröder können sich dem nicht entziehen. Beide haben im Übrigen mit dem Nationalsozialismus nichts im Sinn, sind auch nicht Mitglieder der Partei. Der zweiunddreißigjährige Paul Vosseler wird am 18. April 1939 vom Wehrbezirkskommando Detmold gemustert, aber, obgleich tauglich, zunächst nicht einberufen.32 Sein zu diesem Zeitpunkt siebenundzwanzigjähriger Stiefsohn Fritz Schröder wird am 10. November 1939 gemustert und als »kriegsverwendungsfähig« der »Ersatz-Reserve I« zugeteilt. Die Musterung ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen Gerhard Schröders Vater in den Akten seine Spuren hinterlassen hat. In diesem Falle gibt der »Arbeiter« als Vorbildung die »Volksschule« und als Befähigungsnachweis »Radfahren« an. Offenbar hat er auch wieder Kontakt zu seinem Vater, Gerhard Schröders Großvater väterlicherseits. Jedenfalls weiß er, dass und wo Emil Schröder in Leipzig wohnt.

Am 29. März 1940 wird Fritz Schröder ausgehoben,33 am 1. April zur 3. Schwadron der Fahr-Ersatzabteilung 6 eingezogen und am 28. April auf den »Führer und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht – Adolf Hitler« vereidigt. Seine Verwendungen in den kommenden viereinhalb Jahren lassen sich mehr oder weniger lückenlos rekonstruieren, sind hier aber im Einzelnen nicht von Belang. Weil seine Frau im Rückblick auf ihr Leben berichtet hat, dass Fritz Schröder »besonders gut mit Pferden umgehen« konnte, wissen wir jedenfalls, warum dieser unter anderem in einem Pferdelazarett Dienst getan hat und nicht nur am »Karabiner 98 k«, sondern auch als »Reiter« und »Fahrer vom Sattel« ausgebildet worden ist. Das klingt anachronistisch; tatsächlich kommen aber bei der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges fast 3 Millionen Pferde zum Einsatz.

»Fahrer vom Sattel«: Der Soldat Fritz Schröder im Frühjahr 1941 beim Einsatz in Belgien.

© Privat

Offensichtlich bewährt sich Fritz Schröder, wird am 1. Februar 1942 zum Gefreiten, am 1. Januar 1944 zum Obergefreiten befördert und nimmt im Oktober 1942 an einem fast vierwöchigen Unteroffiziersanwärterlehrgang teil. Zunächst vor allem in Belgien eingesetzt, wird er im Dezember 1942 mit der 306. Infanteriedivision zum »Osteinsatz« abkommandiert. Am 20. August 1944 beginnt in Bessarabien die Großoffensive der 2. und 3. Ukrainischen Front gegen die rumänischen und deutschen Einheiten. Die Infanteriedivision ist im Zentrum des Sturms und verliert bereits am ersten Tag die Hälfte ihrer Soldaten. Schröder gehört der »Kampfgruppe Winkler« im »Alarmbataillon Witzel« an, als er am 4. Oktober 1944 fällt.34

Zuletzt hatte der Gefreite Fritz Schröder im Juli 1943 zwanzig Tage »Erholungsurlaub« in der Heimat plus vier Reisetage erhalten. Er verbringt sie in Mossenberg, Kreis Detmold, bei seiner Frau Erika Schröder, geborene Lauterbach, seiner Tochter Gunhild, seiner Mutter Klara Vosseler sowie deren zweitem Ehemann Paul Vosseler.

Die Familie lebt seit Mai 1942 im Obergeschoss des Bauernhauses der Familie Freitag – zweieinhalb Zimmer auf etwa 40 Quadratmetern für 12 Reichsmark Miete im Monat. Beengt, aber immer noch besser als in der Stadt, die im Visier alliierter Bomber liegt, außerdem mit der Aussicht, ab und an etwas Essbares aufzutreiben.

Hier kommt am 7. April 1944 Gerhard Fritz Kurt Schröder zur Welt. Da es die Hebamme nicht rechtzeitig schafft, steht Klara Vosseler (»Oma Schröder«) ihrer Schwiegertochter Erika bei. Am 4. Juni wird der Junge in Cappel getauft. Emmi Freitag übernimmt die Patenschaft.35 Deren Familie steht in diesen Monaten für eine gewisse Stabilität des im Übrigen fragilen äußeren Rahmens. Erika Schröder hält die Verbindung bis ins höchste Alter hinein aufrecht, und auch Gerhard Schröder erinnert sich dankbar an diese frühen Jahre: Als die Tochter der Freitags im September 2001 nach Berlin kommt, findet sich im prall gefüllten Terminkalender des Bundeskanzlers ein Zeitfenster.36

Obgleich sie unmittelbar nach dem Tod Fritz Schröders durch die Behörden unterrichtet worden sind, glauben Klara Vosseler, Erika und vor allem Gunhild Schröder, die den Vater ja während seiner Heimaturlaube bewusst erlebt hat, »noch lange, dass er wiederkommt«. Da geht es ihnen nicht anders als den meisten Müttern, Ehefrauen und Kindern, ganz gleich ob sie nicht wissen, wie es dem Sohn, dem Mann oder dem Vater geht, oder ob sie, wie die drei Frauen in Mossenberg, die Nachricht von seinem Tod schwarz auf weiß in Händen halten. Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt.37

Die Zeit, die es braucht, um die Trauer zu leben, hat Erika Schröder nicht. Sie ist die tragende Säule der Familie, arbeitet während des Krieges und in den sich anschließenden Monaten mal in einer Munitionsfabrik, mal beim Bauern, mal im Haushalt anderer Leute und sorgt so für den Lebensunterhalt ihrer Kinder Gunhild und Gerhard Schröder, ihrer Schwiegermutter Klara Vosseler und deren Mann Paul Vosseler.

Zwei Jahre nach dem Tod Fritz Schröders heiratet die Kriegerwitwe Erika Schröder den Ehemann ihrer Schwiegermutter.38 Die Ehe zwischen diesen beiden – Paul Vosseler und Klara Vosseler, geschiedene Emil Schröder – muss also inzwischen aufgehoben worden sein. Mit anderen Worten heißt das: Paul Vosseler ist zunächst mit Klara, danach mit deren Schwiegertochter Erika verheiratet. Eine abenteuerliche Konstellation, in die Gerhard Schröder da hineinwächst, zumal die vormalige Frau seines Stiefvaters, Klara Vosseler, nach wie vor als »Oma Schröder« präsent ist.

Für die Kinder sogar sehr präsent, weil sich die Großmutter um diese kümmert, während die Mutter der schließlich fünf Kinder nach wie vor und im Wesentlichen alleine für den Lebensunterhalt der wachsenden Familie sorgt. Zu Gunhild und Gerhard Schröder, den Kindern von Fritz und Erika Schröder, gesellen sich nämlich bis 1954 drei Halbgeschwister hinzu. Am 5. April 1947 wird Lothar Vosseler, der Älteste von Paul und Erika Vosseler, verwitwete Fritz Schröder, geboren, am 21. März 1950 folgen Heiderose und am 22. Dezember 1954 Ilse Vosseler.

»Oma Schröder« war »unverzichtbar«, erinnert sich Gunhild, das älteste der fünf Geschwister, auch nachdem diese ihren Ehemann an ihre Schwiegertochter abgetreten hatte. Sie war »einfach immer da«. Die ständige Präsenz der Großmutter erklärt im Übrigen auch, warum ihre Enkel, Gerhard Schröder eingeschlossen, anfänglich mit sächsischem Zungenschlag sprechen. Zum Glück verstehen sich die beiden Frauen nach wie vor gut, was auch an ihren unterschiedlichen Temperamenten gelegen haben dürfte: »Mama war nicht so hitzig wie Oma.«39 1960, als sie siebzig ist, stürzt die Großmutter und erleidet einen Schädelbruch, verlässt aber gegen die Weisung der Ärzte die Klinik, um zu Hause anzupacken. 1987 stirbt Klara Vosseler, Gerhard Schröders Großmutter väterlicherseits, siebenundneunzigjährig in einem Heim in Lemgo.

Schwer zu sagen, was die Witwe Erika Schröder bewogen hat, den Mann ihrer im selben Haushalt lebenden Schwiegermutter zu heiraten. Sollte es die Hoffnung auf einen gesicherten Lebensunterhalt gewesen sein, wird sie enttäuscht. Ihr zweiter Mann geht fremd, leidet an Tuberkulose, ist daher bald mehr oder weniger arbeitsunfähig und verbringt seit 1954 die meiste Zeit in einem Sanatorium in Lemgo. Am 30. Mai 1966 stirbt Paul Vosseler kurz vor Vollendung seines sechzigsten Lebensjahres.

Gerhard Schröder und seiner älteren Schwester ist er als fürsorglicher Stiefvater in Erinnerung geblieben. Zwar wurde er bisweilen laut, aber Paul Vosseler schlug die Kinder nicht. Gunhild weiß zu berichten, dass er gut singen und Zither spielen konnte, auch gelegentlich auf diesem Instrument Unterricht gab,40 und ihr Bruder erinnert sich an den Stiefvater als durchaus »klugen und politischen Menschen«. Dass er im Radio die Sendungen des Berliner Kabaretts »Die Stachelschweine« hörte, hat sich dem Jungen eingeprägt.41

Seit Kriegsende lebt die rasch größer werdende Familie in Wülfer-Bexten, Kreis Lemgo, wie die Gemeinde seit dem Zusammenschluss der Meierei Bexten mit der Gemeinde Wülfen im Frühjahr 1920 heißt. Vieles gibt es dort nicht zu erkunden, schon gar nichts Aufregendes. Von dem reichen Bextener Amtsmeierhof ist nichts mehr übrig geblieben, seit ein Brand 1731 das innere Gutsgebäude vernichtet hat. Lediglich die alte Tanzlinde lockt gelegentlich die Kinder und Jugendlichen der beiden Ortschaften, manchmal sogar einen neugierigen Besucher von außen an. Mit ihrem stolzen Alter von rund 600 Jahren und einem Umfang von stattlichen acht Metern zählt sie zu den ältesten Bäumen im Lipperland. Wenn Gerhard Schröder in späteren Jahren einmal nach Bexten kommt, führt kaum ein Weg an einem Foto mit Einheimischen und Linde vorbei.

Zunächst lebt Erika Schröder mit ihren beiden ältesten Kindern in einem Behelfswohnheim auf dem Gelände des Sportplatzes – einem Holzbau mit zwei Zimmern und Latrine im Anbau. Nachdem sich Paul Vosseler einquartiert hat und das erste gemeinsame Kind geboren worden ist, zieht die Familie 1947 in ein baufälliges Fachwerkhaus, eine umgebaute Schafsscheune, die bei den Kindern »Villa Wankenicht« heißt. Vier Familien hausen hier auf engstem Raum beieinander – ohne Heizung, Bad und sanitäre Anlagen. Die schließlich achtköpfige Familie Vosseler – die fünf Kinder, ihre Eltern sowie die Großmutter, also die vormalige Ehefrau ihres jetzigen Schwiegersohns – teilt sich zwei Zimmer, und es wundert einen nicht, dass die Geschwister jede Gelegenheit nutzen, um den beengten Verhältnissen zu entkommen.

Gerhard Schröders Schwester Gunhild hat den täglichen Lebensablauf in Bexten später einmal so geschildert: »Mama stand um fünf Uhr auf. Sie bereitete das Frühstück für alle und kochte die Wäsche auf dem Kohleherd … Um sieben begann der Putzdienst in den Baracken der britischen Besatzungstruppen in Lemgo … Zum Frühstück hatte es eine Scheibe Brot für jeden gegeben mit Marmelade oder Zuckersirup … Wenn Oma zu Hause« und nicht auch auf der Arbeit war, hat »sie mittags gekocht. Die Woche über gab es Gemüseeintopf, Fleisch, wenn überhaupt, nur sonntags und dann Gulasch, das ließ sich am besten verteilen. Nachmittags machte Oma mit uns Hausaufgaben. Abends kam Mama zurück, selten vor acht Uhr. Wir aßen noch eine Milchsuppe, und das war es dann.« Elektrizität gab es lange nicht. »Samstags kam die Zinkwanne ins Wohnzimmer, dem einzigen beheizten Raum. Dann wurde gebadet, alle Kinder im selben Wasser. Heißes Wasser war ein Luxus … Ich habe 1965 das erstemal ein Badezimmer gehabt.« Da ist Gunhild Kamp-Schröder sechsundzwanzig. »Bratenklau« in der Kaserne der Briten und »Kohleklau« in einer benachbarten Ziegelei, von der Großmutter organisiert, sind ab und an die einzige Möglichkeit, um über die Runden zu kommen.42

Kanzler mit Löwe: Gerhard Schröder und seine Mutter Erika Vosseler – hier Mitte April 2004 – anlässlich Schröders Sechzigstem.

© Picture Alliance, Frankfurt: Kay Nietfeld

Man kann sich leicht vorstellen, was es für einen Jungen mit starkem Bewegungsdrang und aufziehender Pubertät bedeuten muss, unter solchen Umständen aufzuwachsen. Andererseits ist Bexten nun einmal die Welt, die er kennt. Hier ist sein Zuhause. Die Verbindung zu dieser frühen Heimat reißt zeitlebens nicht ab. So sagt er nicht Nein, wenn der Bürgerverein Wülfer-Bexten, das inzwischen zu Bad Salzuflen gehört, den »großen Bürger« bittet, anlässlich der Einweihung der erweiterten Boulebahn einen »Gerhard Schröder-Wanderpokal« zu stiften, oder wenn ihn der Lippesche Heimatbund anlässlich des neunhundertfünfundsiebzigjährigen Bestehens von Bexten einlädt, die Festrede zu halten: Hunderte Bürger kommen Ende Mai 2011 ins Festzelt am Waldkrug, um mit dem prächtig aufgelegten Ex-Kanzler zu feiern. Die Geschichten, die sie bei dieser Gelegenheit austauschen, die Bilder, die sie teils amüsiert, teils verwundert betrachten, rufen Erinnerungen wach. Naturgemäß sind es nicht nur gute, denn die Zeiten waren äußerst schwierig.

Etwas besser wird es im Frühjahr 1957, als die Patchworkfamilie Vosseler-Schröder ins benachbarte Osterhagen zieht. Äußerst beengt sind die Verhältnisse auch hier, aber wenigstens klar: Unten wohnen die Vermieter, im oberen Stock des kleinen Hofes wohnen die Vosselers, deren zwei älteste Kinder nach wie vor den Namen ihres leiblichen Vaters Fritz Schröder tragen. Da das aktuelle Familienoberhaupt Paul Vosseler als Ernährer krankheitsbedingt endgültig ausfällt, lebt man vor allem vom Einkommen der Mutter. Mit dem, was Erika Vosseler in 14 bis 16 Stunden mit Putzen, gelegentlich auch durch Aushilfsarbeit auf dem Hof verdient, lässt sich die Miete bestreiten. Hinzu kommt eine Unterstützung durch das Sozialamt. Weil Erika Vosseler dort ihre Einkünfte nicht angibt, muss ihr Sohn Jahre später vor dem Sozialgericht in Detmold einen Prozess führen, der mit einem Vergleich endet: Der junge Rechtsreferendar zahlt den fälligen Betrag für seine Mutter nach. Schon als Kind und Jugendlicher hat Gerhard Schröder – »klein, pummelig, witzig und schlagfertig«, »sehr selbstbewußt und standfest«, wie sich die ältere Schwester erinnert43 – einen Teil des Selbstverdienten für den Lebensunterhalt beigesteuert: 50 Pfennige bekommt er in der Stunde fürs Rübenziehen, Kartoffelnauflesen und andere Gelegenheitsarbeiten, wie zum Bespiel das Kühemelken.44

Hunger leiden die Kinder also nicht, und dass es eine andere, eine Welt des Wohlstands gibt, weiß Gerhard Schröder damals nicht aus eigener Anschauung. So gesehen hat er »angemessen gelebt« und »nichts entbehrt«. Später lernt er, dass ihm in der Kindheit gleichwohl etwas fehlte. Weil der Stiefvater praktisch ausfällt, die Großmutter damit überfordert ist und die Mutter rund um die Uhr arbeitet, erfährt der junge Schröder im eigentlichen Sinne keine Erziehung. »Erziehung braucht Zeit, und die hatte sie nicht.« Das hat Folgen, unter anderem früh erkennbare »Neigungen zur Disziplinlosigkeit«, die sich auch in späteren Jahren immer wieder einmal Bahn brechen werden. Naturgemäß wird dieses Defizit von den Kindern nicht als solches wahrgenommen, wie auch die ärmlichen äußeren Umstände, in denen sie aufwachsen, nicht zählen, weil sie von der Mutter trotz ihres Leids und aller Entbehrungen »nur Liebe erfahren«.45 Das schreibt Gerhard Schröder, nachdem die große Karriere hinter ihm liegt, in seinen Lebenserinnerungen. Sie sind auch eine Hommage auf die Mutter. Die Kinder nennen sie »Löwe«. Dabei bleibt es. Ein Leben lang. »Löwe wird 70 Jahre alt«, notiert sich der Bundestagsabgeordnete Gerhard Schröder zum Beispiel 1983 in seinen Kalender,46 und das heißt: Auf geht’s nach Paderborn, wo Erika Vosseler ihren Lebensabend verbringt.

Natürlich bilden die späten Erinnerungen und Reflexionen die gefühlte Wirklichkeit der frühen Jahre nur bedingt ab. Um zu verstehen, was damals in dem jungen Gerhard Schröder aus dem Wülfer-Bextener Behelfsheim vorgeht, muss man bedenken, dass er in einer Zeit groß wird, die als Jahre des Wirtschaftswunders in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Als solcher wird der rasante wirtschaftliche Aufschwung schon deshalb empfunden, weil noch wenige Jahre zuvor niemand damit gerechnet hat – bei den Kriegsgegnern Deutschlands nicht und in Deutschland schon gar nicht. Denn eigentlich gibt es Deutschland seit dem Frühjahr 1945 überhaupt nicht mehr.

Das ist das wenig überraschende Ergebnis der deutschen Politik und Kriegführung der vergangenen Jahre. Spätestens mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 hat der Krieg die Dimension eines Vernichtungsfeldzuges. Darauf kann es seitens der alliierten Gegner nur eine Antwort geben: Deutschland muss vollständig und unwiderruflich in die Knie gezwungen werden. Im Frühjahr 1945 ist es so weit. Als das Oberkommando der Wehrmacht am 7. und erneut in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 bedingungslos kapituliert und die alliierten Sieger am 5. Juni 1945 die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen haben, ist Deutschland lediglich ein geographischer Begriff.

Kein Mensch sieht damals voraus, dass gerade einmal vier Jahre ins Land gehen werden, bis es im Westen dieses Deutschlands, nämlich auf dem Territorium der Besatzungszonen Frankreichs, Großbritanniens sowie der USA, wieder ein staatliches Gebilde gibt. Das ist eine der Konsequenzen, welche die Hauptgegner Deutschlands aus dem rasanten Zerfall ihrer gegen Hitler gebildeten Koalition ziehen. Aus Partnern sind Gegner geworden, und kaum sonst wo auf der Welt stehen sich die drei Westmächte und die Sowjetunion so unmittelbar gegenüber wie im geteilten Deutschland. So wird die Grenze zwischen der Bundesrepublik und einer wenig später auf dem Gebiet der Sowjetisch Besetzten Zone gegründeten Deutschen Demokratischen Republik zur politischen und militärischen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Demarkationslinie zwischen Ost und West, und daraus folgt: Die Teilung Deutschlands und der Erhalt des Friedens in Europa und der Welt sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das am 23. Mai 1949, ihrem Gründungstag, in Kraft getreten ist, mag den »Willen« des Deutschen Volkes manifestieren, »seine nationale und staatliche Einheit zu wahren«. Aber dass aus dem Willen Wirklichkeit werden könnte, glaubt, je weiter die Zeit voranschreitet, eigentlich kaum noch jemand. Im Übrigen beziehen sich die Vereinbarungen der alliierten Sieger auf das Deutschland westlich von Oder und Neiße. Mithin gehen die vier – die Sowjets früher, die anderen später – davon aus, dass die östlich dieser Flüsse liegenden Gebiete unabhängig von den Bestimmungen des ausstehenden Friedensvertrages zu Polen beziehungsweise zur Sowjetunion gehören. Das zu akzeptieren und damit auch in dieser Hinsicht die Verantwortung für den Krieg und seine Folgen zu übernehmen, zählt zu den großen innenpolitischen Herausforderungen der Nachkriegsjahrzehnte. Der politische Kampf um die Anerkennung dieser Oder-Neiße-Grenze, der sich vor allem mit dem Namen Willy Brandts verbindet, hat Gerhard Schröder entscheidend geprägt. Er ist der Bundeskanzler, der diese Politik mit der Absage an deutsche Entschädigungsansprüche gegenüber Polen konsequent zum Abschluss bringen wird.

Als Gerhard Schröder Anfang der sechziger Jahre politisch wach wird, befindet sich die Bundesrepublik mitten in jener Ära, die später nach ihrem ersten Kanzler, dem Christdemokraten Konrad Adenauer, benannt werden wird. Je länger sie dauert, umso bleierner wirkt sie. Das liegt zum einen an der schieren Amtsdauer des verdienten Patriarchen, der nicht vor dem Herbst 1963 abtritt und kaum mehr für Aufbruch und Dynamik steht; es liegt aber auch an einer gewissen Sattheit und Behaglichkeit, in der sich die Westdeutschen eingerichtet haben. Denn die spezifischen äußeren und inneren Gründungsumstände ihrer Republik haben es so gefügt, dass diese alsbald von einem wirtschaftlichen Aufschwung erfasst wird, den die Bundesbürger begreiflicherweise als regelrechtes Wunder, eben als »Wirtschaftswunder«, wahrnehmen.

Jedenfalls sehr viele. Aber keinesfalls alle. Dass der »Wohlstand für alle«, den Wirtschaftsminister Ludwig Erhard 1957 ausruft, eine Legende und die bundesdeutsche Gesellschaft tatsächlich keine der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit ist, wird für Gerhard Schröder zum ausschlaggebenden Grund, um am Ende der Adenauer-Ära der SPD beizutreten. Wenn auch sozialer Neid und Missgunst nicht zu seinen Charaktereigenschaften zählen – worin übrigens eine ganz wichtige Erklärung für seine phänomenale politische Karriere zu sehen ist –, fällt es dem Kind und dem Jugendlichen natürlich nicht leicht zu sehen, was man sich so alles leisten kann, sofern man es kann.

Und was man sich in diesen Jahren leisten kann, zeigt ein Blick in die Kataloge des Versandhauses Quelle, dessen sagenhafter Aufstieg in den fünfziger und sechziger Jahren Ausdruck besagten Wirtschaftswunders ist. Wer die Kulturgeschichte der Republik studieren will, muss die Quelle-Kataloge lesen. Als es Mitte der fünfziger Jahre so richtig losgeht, erscheint der auf das Weihnachtsgeschäft ausgelegte Herbst-/Winterkatalog 1954/55 in einer Auflage von über 2 Millionen Exemplaren. Im Dezember kann es schon einmal vorkommen, dass an einem Tag nahezu 50000 Pakete in die Post gehen. In der vordigitalen Welt ist das eine kaum fassbare Dimension. Buchstäblich alles lässt sich dort beziehen, sofern man das Geld hat: Möbel und Gartengeräte, Autozubehör und Fahrräder, Werkzeuge oder auch ein elektrischer Herd. In den kommenden Jahren folgen Waschmaschinen und Kühlschränke, Kleinbildkameras und Großbildfernseher. Der Fernseher »Primus« ist für 490 D-Mark zu haben, für das Modell »Luxus« sind 689 D-Mark zu überweisen. Das entspricht beinahe zwei durchschnittlichen Monatsgehältern – alle Einkommensgruppen zusammengenommen.

Von alledem können die Bewohner der »Villa Wankenicht« zu Wülfer-Bexten nicht einmal träumen, weil zum Traum schließlich die Aussicht auf Erfüllung gehört. Einen Fernseher hat es bei den Schröders nie gegeben, und einen Fotoapparat kann man sich auch nicht leisten, was im Übrigen erklärt, warum es vom jungen Gerhard Schröder oder seiner Familie praktisch keine Aufnahmen gibt. Lediglich eine Schreibmaschine findet, in Raten gezahlt, den Weg in die beengte Welt der Familie Vosseler-Schröder. Der Grund ist aufschlussreich. Erika Vosseler war nämlich, wie ihr Sohn, als er Bundeskanzler ist, einmal erzählt, »für alle möglichen Warenangebote empfänglich – auch für die, die sie nicht bezahlen konnte –, wenn argumentiert wurde: ›Wenn Sie das nicht kaufen, dann haben es Ihre Kinder in der Schule schwerer.‹«47 So ist die Familie eine der ersten im Dorf, die eine Schreibmaschine besitzen, auf der zu Hause keiner schreiben kann – Gerhard Schröder nicht, seine Geschwister nicht und ihre Mutter auch nicht. Erika Vosseler liest zwar flüssig und verschlingt die populären Lore-Romane in Serie, aber beim Schreiben tut sie sich schwer, vor allem wenn es um geschlossene Stücke wie zum Beispiel Briefe geht.

Als die Schreibmaschine daheim Einzug hält, drückt Gerhard Schröder schon die Schulbank. Im Sommer 1950 ist er in der zweizügigen Volksschule von Bexten eingeschult worden. Vieles ist aus diesen Jahren nicht überliefert, sieht man von der Geschichte mit dem Lehrer Tegtmeier ab, der gelegentlich mit einem Rohrstock die Hand oder mit dem Zeigestock das Kreuz eines Schülers malträtiert, dabei aber einmal an den Falschen gerät. Denn als der Sohn eines Bauern seinem Vater von dem Vorfall erzählt, kommt der am nächsten Tag zur Schule und verprügelt den prügelnden Lehrer. Was durchaus dem Gerechtigkeitsempfinden des jungen Gerhard Schröder entspricht.

Ordentliche Leistungen: Der Sechsjährige (hintere Reihe, Vierter von links) 1950 auf der Volksschule in Bexten. Hinter ihm steht Lehrer Tegtmeier, der gerne zum Stock greift.

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Der wechselt mit dem Umzug der Familie nach Osterhagen im März 1957 auf die dreiklassige Volksschule von Talle. In diese Jahre fallen auch die frühen Leseerfahrungen. Jahrzehnte später, von Schülern danach befragt, erinnert sich Schröder, dass er »die Bücher von Karl May und Erich Kästner ›verschlungen‹ habe. Und natürlich die Abenteuer des Tom Sawyer von Mark Twain.«48 Das Entlassungszeugnis vom März 1958 bescheinigt ihm in allen Fächern »gute« Leistungen, sieht man einmal von der mit »befriedigend« benoteten Handschrift und von Musik und Zeichnen ab, die lediglich mit einem »ausreichend« bewertet werden.49

Das liegt am »Manko meiner Herkunft«, erzählt Gerhard Schröder anlässlich seines siebzigsten Geburtstags: »Bei uns zu Hause wurde nicht gesungen, gemalt und gelesen. So eine Erziehung habe ich einfach nicht bekommen.« Folglich kann er »nicht malen, … nicht einmal zeichnen«, und singen kann er auch nicht, »das klingt grauenhaft falsch«. In der Volksschule mussten sich diejenigen, »die gar nicht singen konnten, … in die Ecke stellen … Das war diskriminierend. Der Lehrer sagte immer: Schröder stell dich in die Ecke, du brummst.«50

Trotz solcher unerfreulichen Vorkommnisse hat Gerhard Schröder in späteren Jahren nie etwas auf die Volksschule kommen lassen. Als sich 1992 der niedersächsische Kultusminister für die Gesamtschule starkmacht, ruft ihn der Ministerpräsident über die lokale Zeitung zur Ordnung: »Es ist wichtig, daß Kinder die ersten Schritte in die Schule im heimatlichen Dorf machen.«51 Denn nur dort sind, jedenfalls formal und für einige Jahre, alle gleich, egal woher sie kommen und wie sie leben. Schon im Konfirmandenunterricht ist das anders. Dort gibt es ein klar geregeltes oben und unten. Der Pfarrer kümmert sich um die Kinder aus den besseren Kreisen. Für den Rest ist der Vikar zuständig.

Es ist eine unsichtbare Grenze, welche die einen von den anderen trennt. Der junge Gerhard Schröder akzeptiert sie nicht. Genau genommen kennt er sie nicht einmal, weil er grundsätzlich keine Grenzen kennt, jedenfalls keine, die von außen gesetzt werden. Wer ohne Vater aufwächst und schon deshalb keine Erziehung erfährt, wird im prägenden heimischen Milieu kaum in seine Schranken gewiesen. Und wer keine Grenzen kennt, den können diese nicht aufhalten. Kommen sie doch einmal in Sicht, versucht Schröder sie »an den Horizont zu verschieben«. Ein Leben lang. Die großen Seefahrer hatten diese Perspektive, bis die Gestade in Sicht kamen, denen sie zustrebten. Aufsteiger haben diese Perspektive auch.

Eine Möglichkeit, Grenzen zu verschieben, Chancen zu testen, als Gleicher unter Gleichen die Kräfte zu messen, ist der Fußball. Es dauert seine Zeit, bis der zunächst schmächtige, »nachkriegsmagere« Junge aus dem Behelfsheim es mit dem bäuerlichen Nachwuchs der Gegend aufnehmen kann. Bis 1964 bringt es Gerhard Schröder immerhin zum ersten und einzigen Halbprofi des TuS Talle. Die Bezahlung besteht in einer Mahlzeit und in der Karte für die Zugfahrt von Göttingen, wo er damals arbeitet, nach Talle – dort lebt die Familie Vosseler seit Mitte der fünfziger Jahre – oder auch zum Spielgegner. Schröder erkämpft sich als Halb- und Mittelstürmer den Titel »Acker«, weil er auf dem Fußballplatz das tut, was er auch sonst am besten kann, eben ackern. Den Spitznamen führt er auch innerhalb der Familie. Als Kanzler Gerhard Schröder im Februar 2001 erkrankt, wünschen Mutter und Schwester Gunhild ihrem »Acka [sic] mit seiner Grippe« gute Besserung.52

Acker in Talle: Der Mittelstürmer Gerhard Schröder (hintere Reihe Mitte) beim TuS Talle.

© Privat

Gunhild weiß zu berichten, dass der Bruder in seinen frühen Jahren nie eine Fußballerkarriere angestrebt, auch nicht wie so viele Jungs seines Alters von einer Zukunft als Kapitän oder Pilot geträumt hat, sondern dass er Kaufmann werden wollte.53 In diesem Beruf kann man auch aufsteigen, wenn man von unten kommt. Das kann man im Fußball zwar ebenfalls, doch zahlt es sich im eigentlichen Sinne des Wortes in den fünfziger Jahren kaum aus, weil der Sport damals nicht zu den hoch bezahlten Professionen zählt. Vor allem aber weiß Gerhard Schröder um seine letztlich begrenzten Fähigkeiten auf diesem Feld. Überschätzt hat er sich nie. Auch deshalb behält er zeitlebens ein unverkrampftes Verhältnis zu diesem Sport, sucht noch in hohen Ämtern gerne den Kontakt zu den Fußballern, geht, wenn die Zeit es zulässt, zu Spielen der Nationalmannschaft, seines Heimatklubs Hannover 96 oder auch von Borussia Dortmund, seinem favorisierten Verein, der ihn Mitte 2000 zum Ehrenmitglied macht.54

Für einen medienwirksamen Auftritt reicht es sowieso immer. Mal lädt der Kanzler die komplette Frauennationalmannschaft zu einem »Grillabend« in seinen Amtssitz,55 mal schießt er für einen guten Zweck aufs Tor, mal zeigt er ein Kunststück am Ball. Damit beeindruckt er zum Beispiel Ende März 2001 die übrigen Staats- und Regierungschefs der EU, die soeben mit der FIFA und der UEFA verbindliche Grundregeln beim Vereinswechsel vereinbart haben. Und er »stiehlt« ihnen auch noch die »Schau«, als während des Fototermins ein Fußball hereingeschoben wird und Schröder ihn 15 Mal vom Fuß hochspringen lässt, wie der Pressesprecher des britischen Premiers beeindruckt zählt.56

Natürlich ist der Bundeskanzler gefragt, wenn sich der deutsche Fußball aus diesem oder jenem Anlass offiziell feiert. So am 28. Januar 2000, als der DFB im Leipziger Gewandhaus mit 1200 Gästen, darunter die Spitzen des deutschen und des internationalen Fußballs, sein 100. Jubiläum begeht. Da lässt Schröder schon einmal sein Manuskript liegen, redet frei und mit Leidenschaft von diesem Sport für alle. Der Kanzler weiß eben aus eigener Erfahrung ganz genau, dass der Fußball immer auch für die da gewesen ist, »die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren sind«, denen es aber dank ihres sportlichen Talents ermöglicht werde, »ihren Platz in der Gesellschaft zu finden«.57

Hat man diesen Platz nicht oder noch nicht, kann man Mitte der fünfziger Jahre womöglich nicht einmal mitreden, wenn es um sportliche Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft 1954 geht, bei der es die deutsche Mannschaft entgegen allen Erwartungen bis ins Endspiel bringt und dieses gegen die hoch favorisierten Ungarn auch noch gewinnt. Bevor der Fernseher auch dank dieser sportlichen Tat seinen Siegeszug in das deutsche Wohnzimmer antritt – das der Vosselers natürlich ausgenommen –, werden Großereignisse wie dieses gemeinsam in der Kneipe verfolgt. Von Bexten aus muss man ins Nachbardorf Knetterheide radeln, wo man das Spiel in der dortigen Gastwirtschaft verfolgen kann. Dafür wird ein Eintrittsgeld von stolzen 50 Pfennigen verlangt, halb so viel wie für eine Kinokarte. Weil der Elfjährige die nicht hat, findet er seinen Weg an der Kasse vorbei. Das Erlebnis hinterlässt Spuren. Noch im Januar 2001, als sie in Kaiserslautern den Achtzigsten des damaligen Mannschaftskapitäns Fritz Walter nachholen, kann der Bundeskanzler aus dem Kopf und ohne zu stocken die Namen sämtlicher Mitglieder der Endspielmannschaft aufzählen. Das macht Eindruck, zumal völlig klar ist, dass Schröder sie nicht eigens für den Zweck memoriert hat.

Gerhard Schröder lernt früh, dass es für ihn nur einen Weg nach oben geben kann: Bildung. Wäre es nach der Empfehlung seines Klassenlehrers gegangen, hätte der Junge das Gymnasium besucht. Aber dagegen sprechen zum einen die »wirtschaftlichen Verhältnisse«: Das Schulgeld und die Kosten für die Fahrt in die Stadt kann man daheim schlicht nicht aufbringen. Zum anderen scheitert der Besuch der höheren Schule »auch an dem mangelnden Verständnis und der falschen Einschätzung des Wertes einer solchen Ausbildung« durch die Eltern. Das schreibt Gerhard Schröder Mitte Juni 1967 – inzwischen ist er dreiundzwanzig – anlässlich der Bewerbung um eine Förderung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung und fügt hinzu: Die »Einsicht, daß die Schaffung einer vor allem auch materiell gesicherten Existenz entscheidend vom Bildungsgrad abhäng[t], veranlaßte mich, mir Gedanken über meine Weiterbildung zu machen«.58 Man kann die Bedeutung dieser Einsicht für die politische Entwicklung des Mannes kaum überschätzen. Die Sozial- und die Bildungspolitik des Bundeskanzlers sind ohne diese frühen Erfahrungen nicht zu verstehen.

Weil ihm im entscheidenden Moment die richtige Förderung fehlt, hat er nicht das Glück, das einst dem aus ähnlich schwierigen Verhältnissen stammenden Willy Brandt zuspielte. Der erhielt, als er vierzehn war, einen Platz am angesehenen Lübecker Johanneum und konnte so den geraden Weg zum Abitur nehmen. Für den inzwischen fast vierzehnjährigen Gerhard Schröder scheidet hingegen nicht nur der Besuch einer weiterführenden Schule von vornherein aus, auch der Wunsch, Postbeamter zu werden, lässt sich nicht realisieren, und der Versuch, als Arbeiter bei der damals noch staatlichen Deutschen Bundesbahn unterzukommen, scheitert am praktischen Teil der Aufnahmeprüfung für Junganwärter. Daher beginnt Gerhard Schröder am 1. April 1958 bei der Firma August Brand in Lemgo eine kaufmännische Lehre. Fast ein halbes Jahrhundert später stellt er im Rückblick auf sein Leben fest, dass ihn diese Tätigkeit »nie wirklich interessiert« habe.59

So gesehen sind die drei Jahre, in denen er die Abteilungen Glas, Porzellan, Hausrat und Spielwaren durchläuft, »keine gute«, also eine vertane Zeit. Als Schröder seine Ausbildung zum 31. März 1961 abschließt, hält er den Kaufmannsgehilfenbrief und ein Zeugnis seines Lehrmeisters in Händen, der ihm »gerne« bescheinigt, »daß er stets ehrlich und fleißig war und die ihm aufgetragenen Arbeiten zu meiner Zufriedenheit ausgeführt hat. Er hat neben dem Verkauf auch bei der Schaufensterdekoration mitgeholfen und auch einige Fenster selbständig dekoriert.«60 Entsprechend fällt das Abschlusszeugnis der Kaufmännischen Berufsschule des Landkreises Lemgo aus, die Schröder nach drei Jahren ausschließlich »gute« Noten erteilt.61 Natürlich ist das Lehrgeld wie üblich bescheiden. Gerade einmal 450 D-Mark brutto verdient Gerhard Schröder im ersten, allerdings nicht vollständigen Jahr; 1960 sind es immerhin 1115 D-Mark.62

Mit dem Abschluss seiner Ausbildung verlässt Schröder die Firma Brand auf eigenen Wunsch und geht als Verkäufer zur Firma Meier-Tönnies nach Lage. Das 1845 gegründete Geschäft handelt mit Eisenwaren, Werkzeugen, Beschlägen, Haus- und Küchengeräten. Glücklich sind der Arbeitgeber und sein Angestellter offensichtlich nicht miteinander geworden. Jedenfalls verlässt er die Firma zum Jahresende 1961 nach nur neun Monaten. Zum Austritt attestiert man ihm, »sich stets große Mühe gegeben« zu haben, »die ihm übertragenen Arbeiten zufriedenstellend zu erledigen, und wir können ihn deshalb anderen Betrieben unserer Branche bestens empfehlen«.63

Den Siebzehnjährigen, der ja bislang nur das flache Land seines engeren Umfeldes kennt, zieht es nach Göttingen. Ein Bekannter aus Talle, der in Göttingen Theologie studiert, hat ihn überredet. Mit Beginn des Jahres 1962 tritt Gerhard Schröder eine Stelle als Verkäufer und Sachbearbeiter in der Abteilung Baubeschläge bei der Firma Feistkorn an. Es ist in vieler Hinsicht ein Einschnitt in seinem Leben. Zum ersten Mal wohnt der bald Achtzehnjährige außerhalb der beengten familiären Verhältnisse, zwar zur Untermiete, aber immerhin. Sodann kommt er mit der Politik in Kontakt und erfährt im linken Jungsozialisten-Milieu der Universitätsstadt eine lange nachwirkende Prägung, auch wenn er Göttingen zeitweilig wieder verlässt. Noch Jahrzehnte später verbindet er mit dieser Stadt vor allem seine politische Arbeit bei den Jungsozialisten.64

Vor allem aber, und für Gerhard Schröders weiteren Lebensweg wesentlich entscheidender, fasst er in diesen Jahren den Entschluss, das nachzuholen, was ihm in frühen Jahren verwehrt war: eine höhere Schulbildung. Jetzt, da er ein eigenes Einkommen hat – immerhin rund 5000 D-Mark pro Jahr –,65