Schattenschwestern - Christine Feehan - E-Book

Schattenschwestern E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Übersinnlich, erotisch und voll knisternder Spannung

Sie sind die Schattengänger, eine Gruppe herausragender Kämpfer, deren Fähigkeiten von dem Wissenschaftler Dr. Peter Whitney verstärkt wurden. In Briony Jenkins, einer begabten Artistin, erwacht eine starke übersinnliche Begabung. Eines Tages läuft sie dem Schattengänger Jack Norton in die Arme. Doch ihr Verlangen füreinander bringt Briony schon bald in große Gefahr …

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Seitenzahl: 714

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DAS BUCH

Als die junge Zirkusartistin Briony Jenkins, die sich zeitlebens aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten und Empfindlichkeiten überall fremd und unbehaglich fühlte, am Rande eines Musikfestivals in der Demokratischen Republik Kongo im Dschungel auf den von Folter gezeichneten Schattengänger Jack Norton, einen Scharfschützen der US-Sondereinheiten, trifft, erkennt sie in ihm ihr perfektes Pendant. In seinen Armen findet sie endlich die ersehnte menschliche Nähe und sexuelle Erfüllung. Doch dann verlässt er sie, um sich in die USA zu retten, und bald beginnt auch für sie die Flucht vor einer militärischen Geheimtruppe, die ein außergewöhnliches Interesse an ihr zeigt.

DIE AUTORIN

Christine Feehan ist in Kalifornien geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als sechzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Auch in Deutschland ist sie mit ihrer Schattenjäger-Serie, der Leopardenmenschen-Saga, den Drake-Schwestern und der Sea-Heaven-Saga erfolgreich.

Mehr über Autorin und Werk unter:

www.christinefeehan.com

CHRISTINE FEEHAN

SCHATTEN-SCHWESTERN

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

CONSPIRACY GAME

Deutsche Übersetzung von Ursula Gnade

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

4. Auflage

Deutsche Erstausgabe 02/2010

Redaktion: Uta Dahnke

Copyright © 2006 by Christine Feehan

Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-07163-9V004

www.heyne-magische-bestseller.de

Für Cindy Hwang und Steve Axelrod, die genug an mich geglaubt haben, um die Originalausgaben herauszubringenund den Schattengängerbüchern eine Chance zu geben – danke.

DAS BEKENNTNIS DER SCHATTENGÄNGER

Wir sind die Schattengänger, wir leben in den Schatten.

Das Meer, die Erde und die Luft sind unsere Heimat.

Nie lassen wir einen gefallenen Kameraden zurück.

Wir sind einander in Ehre und Loyalität verbunden.

Für unsere Feinde sind wir unsichtbar, und wir vernichten sie, wo wir sie finden.

Wir glauben an Gerechtigkeit und beschützen unser Land und jene, die sich selbst nicht schützen können.

Ungesehen, ungehört und unbekannt bleiben wir Schattengänger.

Ehre liegt in den Schatten, und Schatten sind wir.

Wir bewegen uns absolut lautlos, im Dschungel ebenso wie in der Wüste.

Unhörbar und unsichtbar bewegen wir uns mitten unter unseren Feinden.

Wir kämpfen ohne den geringsten Laut, noch bevor sie unsere Existenz überhaupt erahnen.

Wir sammeln Informationen und warten mit unendlicher Geduld auf den passenden Augenblick, um Gerechtigkeit walten zu lassen.

Wir sind gnädig und gnadenlos zugleich.

Wir sind unnachgiebig und unerbittlich in unserem Tun.

Wir sind die Schattengänger, und die Nacht gehört uns.

DIE EINZELNEN BESTANDTEILE DES SCHATTENGÄNGERSYMBOLS

STEHTFÜRSchatten

STEHTFÜRSchutz vor den Mächten des Bösen

STEHTFÜRPsi, den griechischen Buchstaben, der in der Parapsychologie für außersinnliche Wahrnehmungen oder andere übersinnliche Fähigkeiten benutzt wird

STEHTFÜREigenschaften eines Ritters – Loyalität, Großzügigkeit, Mut und Ehre

STEHTFÜRRitter der Schatten schützen vor den Mächten des Bösen unter Einsatz von übersinnlichen Kräften, Mut und EhreNox noctis est nostri

1

IM DSCHUNGEL SENKTE sich die Nacht schnell herab. Jack Norton saß von Rebellen umgeben inmitten des feindlichen Lagers, hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen und lauschte den Geräuschen, die aus dem Regenwald drangen, während er sich ein Bild von seiner Lage machte. Durch seine gesteigerten Sinneswahrnehmungen konnte er nicht nur Feinde in seiner Nähe riechen, sondern auch weiter entfernt, in der dichten, üppigen Vegetation verborgen. Er war ziemlich sicher, dass es sich um ein Außenlager handelte, eines von vielen tief im Dschungel der Demokratischen Republik Kongo, irgendwo westlich von Kinshasa.

Er öffnete die Augen einen Spalt weit und sah sich um, weil er jeden Schritt seiner Flucht planen wollte, doch selbst diese winzige Bewegung ließ Schmerz durch seinen Schädel schießen. Die Qualen nach den letzten Misshandlungen waren geradezu vernichtend, doch er wagte es nicht, das Bewusstsein zu verlieren. Nächstes Mal würden sie ihn töten, und dieses nächste Mal nahte viel schneller, als er erwartet hatte. Wenn er nicht bald einen Ausweg fand, würde ihn nichts auf Erden mehr retten, nicht einmal die Verstärkung seiner körperlichen und übersinnlichen Fähigkeiten.

Die Rebellen hatten guten Grund, wütend auf ihn zu sein. Jacks Zwillingsbruder Ken und seine paramilitärische Einheit, die Schattengänger, hatten den Rebellen einen Amerikaner abgejagt, ihren ersten wirklich wertvollen politischen Gefangenen. Der Senator der Vereinigten Staaten war gefangengenommen worden, während er mit einem Wissenschaftler und dessen Assistenten auf Reisen gewesen war. Die Schattengänger waren mit tödlicher Präzision eingeschritten, hatten den Senator, den Wissenschaftler, seine beiden Assistenten und den Piloten gerettet und das Lager verwüstet. Ken war in Gefangenschaft geraten, und die Rebellen hatten großen Spaß daran gehabt, ihn zu foltern. Jack war gar nichts anderes übriggeblieben, als seinem Bruder zu folgen, um ihn rauszuholen.

Den Rebellen hatte es überhaupt nicht gefallen, dass sie ihren Gefangenen durch Ken verloren hatten, und ebenso wenig gefiel es ihnen, als ihnen dann Ken entkam. Daher ließen sie ihren Unmut jetzt an Jack aus. Jack hatte den Schattengängern Feuerschutz gegeben, als sie Ken rausgeholt hatten, und war von einer Kugel getroffen worden. Die Wunde war nicht kritisch – er hatte sich vergewissert, dass sein Bein nicht gebrochen war –, aber die Kugel hatte ihm beim Aufprall das Bein unter dem Körper weggerissen. Er hatte sein Team schleunigst weggeschickt und sich damit abgefunden, dass ihm dieselben Folterqualen bevorstanden, die sein Bruder durchgemacht hatte – eine weitere Gemeinsamkeit, wie sie in jüngeren Jahren schon so viele geteilt hatten.

Als sie ihn das erste Mal geschlagen hatten, war es gar nicht so schlimm gewesen, aber das war vor Major Biyoyas Erscheinen gewesen. Sie hatten ihn getreten und ihn mit den Fäusten geschlagen und waren ein paar Mal auf sein verwundetes Bein getrampelt, aber sie hatten sich weitgehend jeder Form von Folter enthalten, da sie erst einmal abwarten und herausfinden wollten, was General Ekabela mit ihm vorhatte. Der General hatte Biyoya geschickt.

Die Mehrheit der Rebellen war beim Militär ausgebildet worden, und viele hatten in früheren Zeiten hohe Posten in der Regierung und beim Militär eingenommen, bis zu einem der zahlreichen Staatsstreiche, und jetzt bauten sie Marihuana an und richteten Verwüstungen an, überfielen Ortschaften und töteten alle, die es wagten, ihnen Widerstand zu leisten, oder denen die Plantagen oder das Land gehörten, das die Rebellen wollten. Niemand wagte es, ihr Gebiet ohne ausdrückliche Genehmigung zu durchqueren. Sie waren geschickt im Umgang mit Waffen und in der Guerillakriegsführung, und das Foltern und Morden machte ihnen Spaß. Mittlerweile hatten sie Geschmack daran gefunden, und die Macht, die es ihnen verlieh, trieb sie dazu, so weiterzumachen. Sogar die UNO mied diese Gegend – wenn die Vereinten Nationen versuchten, Medikamente und Lebensmittel in die Dörfer zu bringen, wurden die Truppen von den Rebellen ausgeraubt.

Jack öffnete die Augen weit genug, um einen Blick auf seine nackte Brust zu werfen, in die Major Keon Biyoya seinen Namen geritzt hatte. Blutstropfen standen dort, und Fliegen und andere Insekten, die bissen und stachen, versammelten sich zu diesem Festmahl. Aber das war bei weitem nicht die schlimmste Folter. Und auch nicht die demütigendste. Er hatte sie stoisch über sich ergehen lassen und sich von dem Schmerz distanziert, wie er es schon sein ganzes Leben lang getan hatte, doch das Feuer der Vergeltung brannte in seinen Eingeweiden.

Verborgen unter der stillen Oberfläche seines ausdruckslosen Gesichts strömte die Wut so kalt und tief wie ein ungestümer Fluss. Diese gefährliche Emotion rann durch seinen Körper, wogte in seinen Adern, ließ seinen Adrenalinspiegel in die Höhe schießen und gab ihm Kraft. Er nährte das Gefühl vorsätzlich, indem er sich das letzte Verhör durch Biyoya in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrief. Die Brandlöcher der Zigaretten, die auf seiner Brust und auf seinen Schultern ausgedrückt worden waren. Die Striemen der Peitschenhiebe, die ihm die Haut vom Rücken geschält hatten. Biyoya hatte sich Zeit gelassen und seinen Namen tief in seine Haut geritzt, und als Jack keinen Laut von sich gegeben hatte, hatte er Batteriekabel eingesetzt, um ihm Stromstöße zu versetzen, und das war erst der Anfang gewesen. Anschließend hatte er mehrere Stunden in den Händen eines krankhaften Irren verbracht. Die fünf Zentimeter langen, ihm mit nahezu chirurgischer Präzision beigebrachten Schnittwunden, die ihn von Kopf bis Fuß überzogen, waren identisch mit dem, was dieser Mann seinem Bruder angetan hatte, und obwohl er seinen eigenen Schmerz beiseiteschieben konnte, hatte Jack bei jedem Schnitt den Schmerz seines Bruders gefühlt.

Jack schmeckte die Wut in seinem Mund. Unendlich langsam bewegte er seine Hände zum Hosensaum seiner Tarnkleidung, und seine Fingerspitzen tasteten nach dem winzigen Ende des dünnen Drahts, der dort eingenäht war. Er begann ihn mit einer geschmeidigen, geübten Bewegung herauszuziehen. Währenddessen arbeitete sein Verstand mit eisiger Genauigkeit, berechnete die Entfernung zu diversen Waffen und plante jeden Schritt, der ihn ins dichte Laub des Urwalds führen würde. Er zweifelte nicht daran, dass er aus der Gefangenschaft entkommen konnte, wenn er erst einmal dort im Wald war, aber vorher musste er Boden ohne jeden Bewuchs überqueren und sehen, wie er zwischen einem Dutzend ausgebildeter Soldaten durchkam. Nur eines wusste er mit absoluter Sicherheit – dass Major Keon Biyoya ein wandelnder Toter war.

Zwei Soldaten kamen durch das Lager auf ihn zu. Jack spürte, wie sich die Spirale in seinem Innern immer enger zusammenzog, um jeden Moment in die Höhe zu schnellen. Jetzt oder nie. Seine Hände waren vor ihm gefesselt, aber diejenigen, die ihn gefangen hielten, waren nachlässig gewesen und hatten seine Füße nach der letzten Folter nicht zusammengebunden, da sie glaubten, sie hätten ihn außer Gefecht gesetzt. Biyoya hatte mehrfach den Kolben eines Gewehrs in die Wunde an seinem Bein gestoßen, weil es ihn erbost hatte, dass er Jack keine Reaktion entlocken konnte. Jack hatte schon in sehr jungen Jahren gelernt, nie einen Laut von sich zu geben, sich in seinem Kopf an einen sehr fernen Ort zurückzuziehen und Geist und Körper voneinander zu trennen, doch Männer wie Biyoya konnten sich diese Möglichkeit nicht ausmalen. Manche Männer zerbrachen nicht, sie konnten sich nicht brechen lassen, nicht einmal dann, wenn man sie unter Drogen setzte und ihr Körper von rasenden Schmerzen gepeinigt wurde.

Eine Hand packte Jack am Haar und zog fest daran, um seinen Kopf hochzureißen. Eiskaltes Wasser wurde ihm ins Gesicht gespritzt und rann über seine Brust in die Wunden. Der zweite Soldat rieb eine Paste aus Salz und verkohltem Laub in seine Wunden, und beide lachten.

»Der Major will, dass sein Name richtig schön zu sehen ist«, höhnte einer von beiden in seiner Muttersprache. Er beugte sich herunter, um Jack in die Augen zu sehen.

Er musste dort den Tod gesehen haben, die kalte Wut und die eiserne Entschlossenheit, denn er keuchte und wollte zurückschrecken, war jedoch einen Herzschlag zu spät dran. Jack bewegte sich so flink, dass seine Hände nur verschwommen zu sehen waren, als er dem Rebellen den dünnen Draht um den Hals schlang und ihn nach hinten zog. Der Mann verlor das Gleichgewicht, und Jack benutzte ihn als lebenden Schild, während der andere Soldat seine Waffe hochriss und einen Schuss abgab. Die Kugel schlug in die Brust des ersten Rebellen ein, und Jack wankte rückwärts.

Chaos brach im Lager aus. Männer suchten eilig Deckung und gaben ziellos Schüsse auf den Dschungel ab, denn sie waren verwirrt und konnten nicht mit Sicherheit sagen, woher die Schüsse gekommen waren. Jack hatte nur Sekunden, um die Deckung zu erreichen. Er zog ein Messer aus dem Hosenbund des Rebellen, stach es dem sterbenden Soldaten in die Lunge und schnitt dann mit der Klinge die Fesseln durch, die ihn banden, wobei er den Soldaten immer noch als Schild vor sich hielt. Anschließend warf Jack das Messer mit tödlicher Genauigkeit und durchbohrte dem Rebellen, der die Schusswaffe hielt, die Kehle. Jack ließ den ersten Toten fallen und rannte los.

Im Zickzack bahnte er sich einen Weg über das ungeschützte Gelände, trat Scheite aus dem Feuer, sandte sie in alle Richtungen und rannte zwischen den Soldaten hindurch, damit jeder, der auf ihn schoss, riskieren würde, einen seiner eigenen Leute zu treffen. Er rannte auf einen Soldaten zu, schmetterte dem Mann die Faust in die Kehle und nahm ihm mit der anderen Hand die Waffe ab. Er sprang über die Leiche, rannte weiter und tauchte zwischen fünf Männern unter, die gerade eilig aufsprangen. Jack trat einem gegen das Knie, entrang ihm, als er schwer zu Boden ging, die Machete und versetzte ihm damit den Todesstoß, bevor er zwischen den vier anderen hindurchrannte und mit einer Meisterschaft zustach, die langjähriger Erfahrung und reiner Verzweiflung entsprang.

Rufe und Schüsse hallten durch den Dschungel, woraufhin sich Vögel kreischend von den Baumwipfeln in die Luft aufschwangen. Die Schreie der Verwundeten mischten sich mit den Rufen verzweifelter Anführer, die versuchten, die Ordnung wiederherzustellen. Ein Soldat erhob sich vor Jack und beschoss die Gegend mit einem Sturmgewehr. Jack ließ sich auf den Boden fallen und schlug Purzelbäume, trat mit einem Fuß um sich, brachte den Mann zu Fall, riss ihm das Gewehr aus den Händen und nutzte seine durch Genmanipulation verstärkte Kraft, um ihm mit dem Kolben des Gewehrs einen tödlichen Schlag zu versetzen. Er schlang sich die Waffen um den Hals, damit er beide Hände frei hatte, und brachte ein langes Messer und ein weiteres Gewehr an sich, während er zu der Deckung rannte, die ihm der Urwald bot. Der Soldat hatte ihm unabsichtlich Feuerschutz gegeben und mehrere andere Rebellen erschossen.

Jack stürzte sich in das dichteste Laub in seiner Nähe, überschlug sich, bis ihn die Farne verbargen, und rannte dann geduckt auf dem schmalen Pfad voran, den ein kleines Tier gebahnt hatte. Um ihn herum ging ein Kugelhagel herunter, und ein oder zwei Schüsse schlugen näher ein, als ihm lieb war. Er bewegte sich schnell tiefer in den Dschungel hinein, wo das Licht kaum durch den dichten Baldachin aus Laub drang. Er war ein Schattengänger, und die Schatten hießen ihn willkommen.

Der Regenwald wuchs in mehreren Schichten und Etagen. Die größten Bäume wurden bis zu achtzig Meter hoch. Der Hauptbaldachin aus Laub befand sich etwa zwanzig bis dreißig Meter über ihm, und dort hausten die meisten Vögel und wild lebenden Tiere. Moose, Flechten und Orchideen überzogen die Stämme und Äste. Ranken schlängelten sich um sie oder hingen wie Fühler und Fangarme von ihnen herab. Palmen, Philodendren und Farne breiteten ihre großen Blätter und Wedel aus, die noch mehr Deckung boten. Ins Unterholz drang nur sehr wenig Sonne durch, und es war dementsprechend dunkel und feucht – genau das, was er brauchte.

Sowie er in die dunkleren Bereiche vorgedrungen war, verschmolz er mit dem Laubwerk; die Streifen und Muster des Urwalds verdeckten seine Haut vom Gesicht über den Hals bis zur Brust und den Armen. Seine eigens zu diesem Zweck entworfene Tarnhose griff die Farben seiner Umgebung auf und warf sie zurück, so dass er regelrecht in der Vegetation verschwand, als hätte der Dschungel ihn verschlungen.

Jack sprang in die Bäume, benutzte tiefhängende Äste und kletterte schnell zur Gabelung eines großen immergrünen Baums hinauf, der besonders dicht belaubt war. Von seinem erhöhten Aussichtspunkt konnte er den Waldboden mühelos sehen. Er wirkte kahl, doch Jack wusste, dass es dort von Insekten wimmelte, die sich wie ein lebendiger Teppich über den kargen Boden zogen. Er wartete darauf, dass die Rebellen im Dschungel ausschwärmen würden. Major Biyoya würde wütend sein, weil Jack entkommen war. Biyoya würde sich vor dem General verantworten müssen, und General Ekabela war nicht dafür bekannt, jemanden, der ihn enttäuscht hatte, mit Nachsicht zu behandeln.

Laute Flüche und Befehle zogen zusammen mit aufsteigendem Rauch durch die Bäume. Wut und Furcht schwang in den Stimmen mit. Jack hoffte, eines der brennenden Holzscheite, die er aus der Feuergrube getreten hatte, hätte die kleine Hütte mit dem Laubdach, die der Major gern benutzte, in Brand gesetzt.

Jack führte eine Bestandsaufnahme seiner Waffen durch. Er hatte zwei Sturmgewehre mit begrenzter Munition, eine Machete und zwei Messer an sich gebracht, und etliche Garrotten waren in seine Hose eingenäht. Entscheidender als die Schusswaffen und die Messer war jedoch, dass Jacks körperliche Kräfte und Fähigkeiten wie auch seine übersinnlichen Kräfte im Zuge von Experimenten verstärkt worden waren, so dass er ein Mitglied der geheimen Einheit der Schattengänger hatte werden können.

Das dichte Blattwerk um ihn herum verbarg ihn, und die Ranken ermöglichten es ihm, schnell auf Bäume hinauf und wieder hinunter zu kommen, falls das notwendig werden sollte. Das Geräusch des Regens war ein ständiger Begleiter, doch die schweren Tropfen drangen kaum durch den dichten Baldachin über seinem Kopf. Die Feuchtigkeit, die ihn dennoch berührte, trug dazu bei, die drückende Hitze zu mildern.

Die Soldaten betraten den Urwald in einer der üblichen Suchformationen; die Männer liefen in einem Abstand von nicht mehr als einem Meter zwanzig nebeneinander her, doch sie fächerten sich auf, um einen breiten Streifen zu durchsuchen. Das sagte ihm, dass der Major zur Stelle war, seinen Männern Anweisungen erteilte und in diesem ganzen Chaos für Ordnung sorgte. Jack kauerte sich mit einem Gewehr in den Armen hin und beobachtete, wie die Rebellen durch die großblättrigen Pflanzen und die riesigen Farne kamen. Sie hielten sich für leise, doch er hörte, wie sie ständig keuchend nach Luft schnappten und sie in ihre Lungen sogen. Auch ohne diesen Anhaltspunkt hätte er sie mühelos entdeckt. Er besaß das weiterentwickelte Sehvermögen eines Schattengängers, und in seinen Augen leuchteten die gelben und roten Hitzewellen, die ihre Körper abstrahlten, so grell wie Neon vor dem kühleren Blattwerk des Dschungels. Er roch die Aufregung, die aus ihren Poren sickerte. Es hätte Furcht sein sollen. Sie wussten, dass sie in den Dschungel gingen, um die Verfolgung eines verwundeten Raubtiers aufzunehmen, und dass er Jagd auf sie machen würde, aber sie konnten unmöglich wissen, was für ein Mann das war, mit dem sie es aufnahmen.

Jack hatte sich schnell über den kahlen Boden des Lagers bewegt, aber er war sicher, dass er seine Spuren gut verborgen hatte, sowie er in den Schatten untergetaucht war. Er hatte sorgsam darauf geachtet, die Pflanzen auf den Bäumen nicht in Unordnung zu bringen, als er hinaufgestiegen war. Er war hochgesprungen und leicht auf den Fußballen gelandet, um Moos und Flechten nicht zu verschmieren und damit sein Versteck preiszugeben. Sie erwarteten von ihm, dass er in Richtung Kinshasa rannte, um so schnell wie möglich zu entkommen. Keiner von ihnen blickte nach oben, und schon gar nicht in den hohen Baldachin aus Laub, und er saß still da, während der erste Schwung von etwa dreißig Soldaten an ihm vorbeikam.

Er inspizierte die Waffen gründlich und machte sich mit der Handhabung jeder einzelnen vertraut. Er nahm sich die Zeit, eine Scheide für die Machete zu weben, und benutzte eine Ranke, um sie sich über die Schulter zu schlingen. Währenddessen beobachtete und lauschte er unablässig, machte in Gedanken Jagd auf die Rebellen, wählte von seinem günstigen Aussichtspunkt aus die Pfade, auf denen er entkommen würde, und lauschte dem Flüstern der Männer, als sie direkt unter seinem Baum vorbeikamen. Der Durst stellte ein Problem dar, und sowie der letzte Nachzügler unter ihm vorbeigekommen war, verbarg er eines der Gewehre in der nächsten Astgabelung und machte sich lautlos auf den Weg zurück zum Rande des Lagers. Er benutzte Schlingpflanzen, um sich von einem Baumwipfel zum anderen zu schwingen, schnitt eine saftige Ranke auf, hielt sie sich an den Mund, um seinen Bedarf an Flüssigkeit zu decken, und achtete sorgsam darauf, keinen Tropfen zu verschütten.

Wenige hundert Meter links von ihm stieß ein Schimpanse einen warnenden Ruf aus, und er erstarrte und ließ die hohle Ranke behutsam in das Gewirr der übrigen Schlingpflanzen zurückgleiten. Mit sparsamen und präzisen Bewegungen drehte er seinen Körper und glitt wie ein Schatten mit dem Kopf voran an der Schlingpflanze zum Waldboden hinunter. Dicht über dem Boden drehte er sich erneut, stellte seine Füße vorsichtig auf den feuchten Untergrund und landete mit der Waffe im Anschlag in einer kauernden Haltung. Er erstarrte, als die beiden Wachposten am Rande des Lagers ihm mitten ins Gesicht sahen, doch sie sahen ihn nicht, denn sein Körper verschmolz mit den Bäumen und dem Blattwerk um ihn herum. Die beiden einsamen Soldaten sahen sich argwöhnisch um und wechselten hitzige Worte miteinander, die darin gipfelten, dass einer dem anderen einen Joint reichte.

Rauchschwaden drangen aus der Ruine einer der Hütten, und Jack erhaschte einen Blick auf kleine Flämmchen, die noch in den Überresten flackerten. Zwei Soldaten waren damit beschäftigt, die Leichen aufeinanderzustapeln, während ein dritter und vierter den Verletzten halfen. Jack machte einen Bogen um die Lichtung und hielt sich im dichteren Laub, als er sich an das Waffenarsenal heranschlich. Er wusste, dass die Waffenvorräte enorm waren. Dieser Bestand hatte der früheren Regierung gehört und war aus den Vereinigten Staaten gekommen. Als der General und seine Soldaten ihre Posten beim Militär aufgegeben und sich verstreut hatten, hatten sie zahlreiche Waffenlager der Regierung geplündert. Als Armee waren sie gut ausgerüstet, gut ausgebildet, absolut mobil und rund fünftausend Mann stark. Der General herrschte gnadenlos und blutig über die Gegend und war schnell mit Gewaltakten bei der Hand, wenn er eine Lektion für notwendig hielt, um Leute bei der Stange zu halten. Das Hauptfeldlager lag mindestens hundert Meilen weiter landeinwärts, wie der Mittelpunkt eines Spinnennetzes, umgeben von kleineren Außenlagern.

In der Nähe des Arsenals ließ sich Jack auf die Knie und die Ellbogen sinken und kroch durch die Schichten modernder Vegetation. Ameisen, Käfer und Termiten strömten über ihm und um ihn herum durch die Blätter und Äste. Er schenkte ihnen keinerlei Beachtung, während er sich im Schneckentempo voranbewegte und sich so weit wie möglich im Schatten hielt. Ein Wachposten ging auf einen anderen zu, deutete auf die Verwundeten und redete angeregt und von lebhaften Gesten begleitet auf ihn ein.

Jack bewegte sich Zentimeter für Zentimeter voran, bis er aus dem Schutz der Vegetation herausgekrochen und für jeden zu sehen war; seine Haut und seine Kleidung reflektierten jetzt die tieferen Farbtöne des Bodens. Die Nacht war angebrochen, und die Geräusche, die aus dem Waldesinnern kamen, hatten sich kaum merklich verändert. Ein Gepard hustete in der Ferne. Vögel riefen einander zu, während sie sich im höheren Laubbaldachin niederließen. Die Schimpansen verstummten, als die größeren Raubtiere hervorkamen. Die Insekten wurden lauter, eine unaufhörliche Geräuschkulisse, die nicht abriss. Nebel wälzte sich über die Berge heran, trieb in den Regenwald und senkte sich auf den Boden herab.

Jack blieb ständig in Bewegung. Er überquerte das offene Gelände und näherte sich dem Bereich, in dem sich die meisten Wachen drängten; sein Ziel waren die beladenen Fahrzeuge, die im Kreis aufgestellt waren. Als wichtigstes Waffenarsenal diente ein Bunker im Hauptfeldlager, doch sämtliche entlegenen Außenlager mussten Vorräte haben, und diese Waffenvorräte wurden streng bewacht und mussten möglichst beweglich sein, was bedeutete, dass sie in den Fahrzeugen untergebracht waren. Die Jeeps und Lastwagen waren aus Gründen der Sicherheit in geringer Entfernung außerhalb des Lagers geparkt.

Die Wachposten hatten in einem Abstand von knapp zwei Metern voneinander Aufstellung bezogen. Die meisten rauchten oder redeten miteinander, oder sie beobachteten den Dschungel, der sie umgab. Die beiden, die ihm am nächsten standen, schlossen Wetten darüber ab, was der Major dem Gefangenen antun würde, wenn sie ihn zurückbrachten. Jack schlängelte sich durch das Gras zu dem ersten Jeep, der in dem engen Kreis von Fahrzeugen geparkt war. Er rollte sich unter ihn und hob vorsichtig den Kopf, um sich genauer umzusehen. Die Waffen waren in Lattenkisten in dem Lastwagen in der Mitte des Kreises verstaut, genau da, wo er sie vermutet hatte. Er bahnte sich seinen Weg zum hinteren Ende des Lastwagens mit der Plane und wartete wieder im Gras, während die Käfer über ihn krochen. Als der Wächter, der ihm am nächsten war, den Blick abwandte, zog sich Jack an der Stoßstange hoch und sprang wie eine menschliche Spinne unter die Plane.

Die Waffenvorräte waren beträchtlich. Er brachte ausreichend Munition für die erbeuteten M16-Sturmgewehre und die 9-mm-Faustfeuerwaffe an sich, die er von dort mitnahm. Viele Kisten enthielten Sturmgewehre, Koppel und Dosen mit loser Munition, andere waren voller Magazine. Weiter vorn befanden sich Kisten mit Handgranaten, ganz hinten Landminen mit Sprengzündern und Stolperdrähten.

Jack war auf dem Rückweg zum Heck, um seine Beute in Sicherheit zu bringen, als ihm ein blutiger Gewehrlauf ins Auge fiel. Sein Herz machte einen Satz in seiner Brust, als er sich bückte, um Schmutz von der Waffe zu entfernen. Das Scharfschützengewehr war achtlos in eine Kiste mit AK-47ern geworfen worden. Es war eine Remington, die mit dem Blut seines Bruders überzogen war und sogar ein paar verschmierte Fingerabdrücke aufwies. Er erkannte die Waffe augenblicklich; sie war nie anders als mit äußerstem Respekt behandelt worden. Er nahm sie in die Hand, schmiegte sie an sich und strich mit den Fingern über den Lauf, als könnte er auslöschen, was geschehen war.

Jacks Finger spannten sich um das Gewehr, als die Erinnerungen über ihn hereinbrachen. Schweiß brach auf seinem Körper aus, und er schüttelte den Kopf und vertrieb das Geräusch von kindlichen Schreien und das Gefühl von Schmerz und Demütigung, den Anblick seines Bruders, der ihn anstarrte, während ihm Tränen über das Gesicht strömten. Dieses Gesicht veränderte sich zu dem eines Erwachsenen, und wieder sah Ken ihn mit derselben Verzweiflung, demselben Schmerz und ebenso gedemütigt an. Als Jack ihn hochhob, stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass die Haut von Kens Rücken abgezogen und eine wunde Masse Muskeln und Gewebe zurückgeblieben war, über die Fliegen und andere Insekten krochen. Er hörte die Schreie in seinem eigenen Kopf, blickte auf seine Hände hinunter und sah Blut. Es ließ sich mit keinem Mittel abwaschen und würde sich auch niemals abwaschen lassen. Er atmete tief durch und zwang sich, an etwas anderes als den Irrsinn seiner ständigen – und allzu realen – Alpträume zu denken.

Major Biyoya hatte sich für vieles zu verantworten, und dass er Ken gefoltert hatte, stand ganz oben auf der Liste. Jack würde nicht still und leise verschwinden. Er war nie in seinem ganzen Leben einfach still und leise fortgegangen. Das entsprach seinem Wesen nicht, und es würde ihm auch nie entsprechen. Biyoya würde aufgrund dessen, was er Jack angetan hatte, der Gerechtigkeit zugeführt werden, seiner Gerechtigkeit, auf die eine oder andere Weise.

Er schlang sich das Gewehr um den Hals und steckte das Zielfernrohr und die Patronen in einen Munitionsgurt. So schnell und effizient wie möglich trug er seine Waffen zusammen und schob sie in einen Rucksack, den er hinten im Lastwagen fand. Die 9-mm-Pistole war ein Muss. Er nahm so viele Granaten, Sprengladungen und Landminen, wie er tragen konnte, und war schwer beladen, als er zum Heck des Lasters kroch und durch die Plane hinauslugte. Die Wachen beobachteten, wie das Chaos, das er im Lager angerichtet hatte, aufgeräumt wurde. Jack verließ den Lastwagen mit dem Kopf voran, ließ sich auf den Boden fallen und schlängelte sich unter das Fahrzeug, um zusätzliche Deckung zu haben.

Jetzt stand ihm eine wesentlich größere Herausforderung bevor, die darin bestand, seine Beute aus dem Kreis der Fahrzeuge heraus und in den Urwald zu schaffen. Er tastete sich langsam voran und fühlte die Stiche zahlreicher Insekten, die drückende Hitze, die Schrammen, die der Boden und die Gräser auf seinem Körper hinterließen, und die geisttötende Erschöpfung, die durch die Überanstrengung hervorgerufen wurde. Er konnte den glühenden Schmerz seiner zahlreichen Wunden nicht mehr abblocken. Trotz der Dunkelheit brauchte er länger als erwartet, um den Kreis der Fahrzeuge zu durchqueren und sich einen Weg zwischen den Wachen hindurchzubahnen.

Er hatte die Fahrzeuge gerade hinter sich gelassen, als einer der Wachposten sich abrupt umdrehte und direkt auf ihn zukam. Jack erstarrte und schob die erbeuteten Waffen unter die Pflanze mit den breiten Blättern, die ihm am nächsten war. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als ausgestreckt im Dunkeln zu liegen und sich auf die Tarnung seines Körpers zu verlassen. Der Wachposten rief einem anderen etwas zu, und der Mann kam angeschlendert und rückte sein Gewehr vor seinen Körper. Sie sprachen Kongolesisch miteinander, eine Sprache, mit der Jack in den Grundzügen vertraut war, doch sie redeten schnell, und das erschwerte es ihm, alles zu verstehen, was sie sagten.

Es wurde erwartet, dass das FESPAM-Musikfestival in Kinshasa durch Auftritte von Gruppen, die aus Europa geholt worden waren, diesmal noch größer und sogar noch besser werden würde, und der Wachposten wollte unbedingt hingehen, weil die Flying Five auftraten. Der General hatte ihnen versprochen, sie könnten hingehen, aber wenn sie den Gefangenen nicht fanden, würde niemand irgendwohin gehen. Der andere Wachposten stimmte ihm zu, ließ seine Zigarette fast auf Jacks Kopf fallen und zertrat sie mit seiner Stiefelspitze, bevor er seine eigenen Klagen äußerte.

Jack stockte der Atem. Die Flying Five. Wie konnte ein solcher Zufall möglich sein? Oder war es etwa reines Glück? Jebediah Jenkins war einer der Flying Five, und er hatte gemeinsam mit Jack bei den SEALs gedient. Wenn Jack es bis nach Kinshasa schaffte und Jebediah fand, konnte er die Beine unter den Arm nehmen und schleunigst verschwinden – oder konnte es sein, dass er in eine weitere Falle ging?

Sowie sich die Wachposten von der Stelle bewegten, begann er wieder in Richtung Wald zu kriechen. Als er im dichteren Laub untergetaucht war, begab er sich in die Bäume hinauf, verbarg seine Beute und ließ sich Zeit für einen weiteren wohltuenden Schluck. Er brach erneut zu dem Munitionslager auf und bahnte sich einen Weg durch die Wachen zu dem Lastwagen. Diesmal brachte er weitere Landminen, Stolperdrähte und Sprengsätze an sich. Geduld und Disziplin waren Grundvoraussetzungen für seinen Beruf, und er besaß beides im Überfluss. Er ließ sich Zeit, ging gründlich vor und gestattete es sich nicht ein einziges Mal, unter Druck seine Geistesgegenwart zu verlieren, selbst dann nicht, wenn die Soldaten beinah auf ihn traten.

Er verteilte die Drähte über den Trampelpfad, der in den Urwald führte – vor Zelten, dem Außenabort und diversen Fahrzeugen. Minuten wurden zu Stunden. Er verbrachte lange Zeit im feindlichen Lager und spürte die Strapaze. Schweiß tropfte ihm in die Augen und ließ sie brennen. Seine Brust und sein Rücken brannten wie Feuer, und sein Bein pochte vor Schmerz. Im Dschungel waren Entzündungen gefährlich, und man hatte ihm zusammen mit allem anderen auch seine Medizinvorräte abgenommen.

Irgendwo in der Ferne hörte Jack Schimpansen schreien und nahm sich die Geräusche des Regenwalds augenblicklich einzeln vor, bis er das aufschnappte, worauf er gewartet hatte – das Geräusch von Bewegung im Unterholz. Biyoya brachte seine Soldaten zurück, weil er warten wollte, bis sie den feuchten Boden nach Spuren absuchen konnten. Jack wusste, dass Biyoyas Zuversicht, seinen Gefangenen wieder an sich zu bringen, ungebrochen war. Die ganze Region war von Lagern der Rebellen durchsetzt, und nur wenige Dorfbewohner würden es wagen, einen Fremden zu verbergen und Tod und Vergeltung zu riskieren. Major Biyoya glaubte nicht nur an Folter, sondern auch an ethnische Säuberungen. Er war für seine Brutalität berüchtigt, und dieser Ruf hatte sich herumgesprochen; nur wenige würden gewillt sein, sich ihm zu widersetzen.

Jack führte sein letztes Vorhaben ohne jede Hast zu Ende, bevor er in Richtung Dschungel zurückkroch. Er entfernte sich bewusst von dem ausgetretenen Trampelpfad und begab sich in dichteres Laub hinein. Der Geruch der zurückkehrenden Soldaten setzte ihm gewaltig zu. Sie schwitzten, denn im Waldesinnern herrschte drückende Hitze. Er zwang sich, sein langsames Tempo beizubehalten, weil er sichergehen wollte, dass er die Blicke der Wachposten nicht auf sich lenkte, als er unter die Ranken der Kletterpflanzen und die breitblättrigen Sträucher glitt, die das Lager umgaben.

Einen Moment lang blieb er mit dem Gesicht im Morast still liegen und atmete durch, bevor er sich auf die Füße zog und geduckt auf die höheren Bäume zurannte. Er konnte hören, wie der Atem aus den Lungen der Soldaten hervorbrach, da sie zu ihrem Lager zurückeilten und ihr zorniger Anführer sie unablässig ausschalt.

Jack blieb einen Moment unter dem Baum seiner Wahl stehen, atmete gegen die Schmerzen an und sammelte Kraft, bevor er in die Hocke ging und zu dem untersten breiteren Ast hinaufsprang. Er arbeitete sich von einem Ast zum anderen vor, bis er auf dem dicksten von allen angelangt war, es sich dort bequem machte und das Gewehr seines Bruders in den Armen wiegte, während er wartete. Die Nacht war tröstlich, die vertrauten Schatten sein Zuhause.

Die erste Gruppe von Rebellen kam in Sicht, in einer leicht gelockerten Formation und mit wachsamen Augen, während sie versuchten, den Schleier der Dunkelheit auf der Suche nach etwaigen Feinden zu durchdringen. Zwei Jeeps waren mit der Gruppe aufgebrochen und auf der schlammigen, löchrigen Straße geblieben, die sich erst vom Wald entfernte, dann eine Schleife machte und danach meilenweit ins Innere des Waldes hineinführte. Die Jeeps kamen mit hochgejagten Motoren auf das Lager zu, und um sie herum spritzte Schlamm auf. Der größte Teil der Soldaten kam durch die Bäume, immer noch aufgefächert, die Waffen in Bereitschaft und tierisch nervös.

Jack schraubte das Zielfernrohr auf das Gewehr seines Bruders und lud es bedächtig.

Ein Knall drang laut durch die Stille der Nacht und sandte einen Feuerball in den Himmel hinauf. Es regnete Metall und Schrapnelle, Trümmer wurden in das Lager geschleudert, und Metall bohrte sich in Bäume. Die Schreie der Sterbenden vermengten sich mit den Rufen von Vögeln und Schimpansen, als die Welt um sie herum explodierte und in orangeroten Flammen aufging. Der vordere Jeep war gegen den Draht direkt am Eingang des Lagers geprallt, hatte die Landmine ausgelöst und alles in seiner näheren Umgebung in Stücke gesprengt. Die Soldaten warfen sich auf den Boden und bedeckten ihre Köpfe, während Splitter vom Himmel fielen.

Jack nahm das Auge nicht vom Zielfernrohr. Biyoya war in dem zweiten Jeep, und der Fahrer schwenkte augenblicklich von dem Feuerball ab. Die Passagiere wären beinah nach allen Richtungen hinausgeflogen, als er wüst durch die Bäume schlingerte. Biyoya sprang heraus, duckte sich ins Laub und schrie die Soldaten an, sie sollten sich auffächern und nach Jack suchen.

Jack nutzte die Explosionen und das Geschrei der Männer als Deckung und gab in dem Chaos einen Schuss ab, der einen der Soldaten am Waldrand traf. Sofort suchte er sich ein neues Ziel und feuerte schnell hintereinander drei weitere Schüsse ab. Vier Schüsse, vier Tote. Da er nicht wollte, dass die Soldaten entdeckten, woher die Schüsse kamen, ergriff Jack sofort danach eine Schlingpflanze und kletterte auf der Seite des Baums, die von den Soldaten abgewandt war, mit dem Kopf voran hinunter, bis er mit einem Überschlag auf den Boden springen konnte. Er landete weich auf den Fußballen, verschmolz mit den wuchernden Farnen und ließ sich auf den Bauch fallen. Durch die Farne konnte er sich auf dem nahezu unsichtbaren Wildpfad voranschlängeln, der ihn hinter Biyoyas persönliche Wache führte.

Jack erhob sich, ein lautloses Phantom mit einem Messer in der Hand. Er stach schnell und fest zu und achtete sorgsam darauf, dass der Wachposten mit keinem einzigen Laut seine Anwesenheit verraten konnte. Jack glitt wieder ins Dickicht zurück, und seine Haut und seine Kleidung verschmolzen mit seiner Umgebung.

Biyoya drehte sich um, weil er etwas zu seinem Wachposten sagen wollte, stieß einen schockierten Schrei aus, sprang mit einem Satz von dem Toten zurück und suchte hinter seinem Jeep Deckung. Er rief seinen Soldaten Befehle zu, und sie schickten einen Kugelregen in den Urwald und erhellten die Nacht mit blitzendem Mündungsfeuer. Laub und Äste fielen wie Hagel von oben herab, und etliche Soldaten, die ins Kreuzfeuer geraten waren, gingen zu Boden. Biyoya musste mehrfach schreien, um die Befehlsgewalt wieder an sich zu bringen. Er ordnete eine weitere Durchsuchung des umliegenden Waldes an.

Die Soldaten sahen einander an und waren offensichtlich alles andere als erfreut über den Befehl, doch sie gehorchten widerstrebend und begaben sich wieder einmal Schulter an Schulter zwischen die Bäume. Jack war bereits auf seinen Baum zurückgekehrt und lehnte seinen erschöpften Körper an den dicken Stamm.

Er sackte in sich zusammen, nahm das Auge aber nicht vom Zielfernrohr, weil er hoffte, einen sicheren Schuss auf Biyoya abgeben zu können. Er versuchte jeden Gedanken an seine Heimat und seinen Bruder weit von sich zu schieben, doch das war unmöglich. Kens Körper, so blutig, so wund. Es hatte keine Stelle gegeben, die nicht blutete. War Jack zu spät gekommen? Ausgeschlossen. Er wüsste es, wenn sein Bruder tot wäre, und wenn es irgend möglich war, würde Ken kommen und ihn rausholen. Er könnte sogar jetzt schon in der Nähe sein. Vom Verstand her wusste Jack es besser. Er wusste, dass Kens Wunden zu schwerwiegend waren und dass er Tausende von Meilen entfernt in einem Krankenhaus sicher untergebracht war, aber er konnte es einfach nicht lassen. Jack suchte auf telepathischem Wege Kontakt zu ihm, wie er es schon getan hatte, als sie noch Kleinkinder gewesen waren, und rief seinen Bruder. Ken. Ich sitze tief in der Scheiße. Bist du da, Bruder?

Schweigen beantwortete seinen Ruf. Einen entsetzlichen Moment lang geriet seine Entschlossenheit ins Wanken. Seine Eingeweide brodelten, und Furcht überflutete ihn – seine eigene Lage gab genug Anlass zur Furcht, und um seinen Bruder bangte er in einer Form, die schon an Grauen grenzte. Er streckte eine Hand aus, sah sie zittern, schüttelte den Kopf und zwang sich, derart destruktiven Gedanken keinen Raum mehr zu geben. Damit zerstörte er nur sich selbst. Seine Aufgabe war es, zu entkommen, zu überleben und sich nach Kinshasa durchzuschlagen.

Die Soldaten liefen durch den Wald und benutzten Bajonette, um die dichten Sträucher und den Farn zu durchbohren. Sie stachen auf die Vegetation am Boden ein, liefen an den Ufern des Bachs entlang, der dem Fluss Wasser zuführte, gingen mit den Klingen auf den Bewuchs der feuchten Böschungen los. Der Jeep setzte sich langsam in Bewegung. Nur der Fahrer und einige der Soldaten waren angreifbar, als sie sich um das Wrack des ersten Fahrzeugs herum einen Weg ins Lager bahnten.

Jack ließ das Gewehr sinken. Für die Soldaten würde es eine lange Nacht werden. In der Zwischenzeit musste er seinen Weg in die Freiheit planen. Er war westlich von Kinshasa. Wenn er erst einmal in der Stadt angelangt war, konnte er Jebediah finden und sich verstecken, bis sie eine Möglichkeit fanden, jemanden anzufordern, der ihn aus dem Land herausholte. Das klang einfach genug, aber er musste sehen, wie er durch die Feldlager der Rebellen zwischen Kinshasa und seinem derzeitigen Standort kam. Und er wollte sich nichts vormachen: Er war in schlechter Verfassung. Mit so vielen offenen Wunden war eine Infektion nicht nur möglich, sondern nahezu gewiss.

Ermattung beschlich ihn. Einsamkeit. Er hatte dieses Leben vor vielen Jahren gewählt, die einzige Wahl, die er zu dem Zeitpunkt gehabt hatte. Die meiste Zeit hatte er es nicht bereut. Aber manchmal, wenn er mit einem Gewehr in der Hand und von Tod umgeben mehrere Meter über dem Boden auf einem Baum saß, fragte er sich, wie es wäre, ein Zuhause und eine Familie zu haben. Eine Frau. Gelächter. Er konnte sich nicht an Gelächter erinnern, noch nicht einmal mit Ken, und Ken konnte in den unangebrachtesten Momenten amüsant sein.

Es war zu spät für ihn. Er war hart und kalt, und jede Sanftmut, mit der er unter Umständen geboren worden war, war schon lange, bevor er ein Teenager war, aus ihm herausgeprügelt worden. Er sah die Menschen und die Welt um sich herum bar jeglicher Schönheit, sah nur das Hässliche. In dieser Welt hieß es töten oder getötet werden, und er war ein Überlebenskünstler. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, weil er dringend ein paar Minuten schlafen musste.

Als er erwachte, hörte er Schreie. Dieses Geräusch verfolgte ihn oft in seinen Alpträumen, Schreie und Schüsse und der Anblick von Blut, das in dunklen Strömen floss. Seine Hände schlangen sich um das Gewehr, und seine Finger streichelten den Abzug, bevor seine Augen aufsprangen. Jack holte tief Atem und sah sich um. Aus der Richtung des Lagers kamen Explosionen. Etliche seiner Fallen waren zugeschnappt, und wieder einmal war im Lager der Rebellen Chaos ausgebrochen. Kugeln sprühten in den Dschungel, sausten durch Blätter und rissen Rinde von Bäumen. Der Schatten im Regenwald hatte erneut zugeschlagen, und die Rebellen hatte die blanke Furcht gepackt.

Im Lauf der nächsten Stunden ging immer wieder ein unseliger Soldat in eine seiner Fallen, wahrscheinlich bei dem Versuch, sie zu beseitigen, und im Lager brach die Hölle los. Verwirrung und Panik führten beinah zu einem offenen Aufstand. Die Soldaten wollten zum Basislager aufbrechen, und Biyoya weigerte sich und bestand glühend darauf, dass sie den Gefangenen wieder an sich brachten. Es machte seinen Führungsqualitäten alle Ehre, dass es ihm gelang, sie nach jedem Angriff wieder zur Ordnung zu rufen – oder es war ein Anzeichen für das Ausmaß seiner Grausamkeit. An Schlaf war nicht zu denken, und der Nebel kroch in den Wald, hüllte die Bäume ein und vermischte sich mit dem Rauch der ständig ausbrechenden Feuer.

Durch die Schwaden sah Jack, wie das Lager in Bewegung geriet und die Soldaten ihre Posten aufgaben. Biyoya schrie seine Männer an und schwang drohend seine erhobene Faust, das erste echte Anzeichen dafür, dass die lange Nacht ihm einiges abverlangte. Er hatte mehr als die Hälfte seiner Soldaten verloren, und sie waren gezwungen, sich dicht um ihn herum zu gruppieren, um ihn zu beschützen. Sie wirkten nicht allzu glücklich, aber sie marschierten stoisch auf der schlammigen, löchrigen Straße durch den Wald.

Der Regen setzte wieder ein, anhaltender Nieselregen, der zu der Geschäftigkeit im Dschungel beitrug. Schimpansen nahmen ihre Nahrungssuche wieder auf, und Vögel flatterten von Baum zu Baum. Jack erhaschte einen Blick auf einen Eber, der sich durchs Unterholz bewegte. Eine Stunde verging, und anschließend waren seine Haut und seine Kleidung klatschnass. Er rührte sich nicht von der Stelle und wartete mit einer Geduld, die einem von frühester Kindheit an genährten Überlebenswillen entsprang. Biyoya hatte mit Sicherheit seine besten Fährtenleser und Scharfschützen verborgen, und jetzt warteten sie nur noch darauf, dass er sich rührte. Major Biyoya wollte nicht zu General Ekabela zurückkehren und zugeben, dass er erfahrene Soldaten an seinen Gefangenen verloren hatte. Ein solcher Vorfall würde den Major seinen schwer verdienten Ruf kosten, den er sich durch seine Unbarmherzigkeit im Verhör erworben hatte.

Jacks Augen unterschieden sich von denen anderer Menschen. Sie waren schon immer anders gewesen, und nachdem Whitney ihn genetisch weiterentwickelt hatte, war sein Sehvermögen wirklich verblüffend. Er verstand nicht, wie das bewerkstelligt worden war, aber er hatte Adleraugen. Eigentlich war ihm egal, woher das kam. Jedenfalls konnte er Entfernungen überblicken, die nur wenigen Menschen vorstellbar waren. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung zu seiner Linken wahr, in Form von gelben und roten Bändern. Der Scharfschütze bewegte sich mit großer Vorsicht und hielt sich im dichteren Blattwerk, so dass Jack nur gelegentlich einen Blick auf ihn erhaschte. Sein Späher hielt sich links von ihm und gab dem Scharfschützen bei jedem Schritt Feuerschutz, während er den Boden und die umstehenden Bäume einer genauen Untersuchung unterzog.

Jack begann sich langsam in eine bessere Position zu bewegen, hielt jedoch still, als er in der Ferne eine Frau schreien hörte und gleich darauf der verängstigte Schrei eines Kindes folgte. Jack riss den Kopf hoch. Sein Körper erstarrte, und auf seiner Stirn brach Schweiß aus und rann ihm in die Augen. Wusste Biyoya, womit er ihn drankriegen konnte? Kannte er seine einzige Schwäche? Das war ausgeschlossen. Sein Mund wurde trocken, und das Herz hämmerte heftig in seiner Brust. Was wusste Biyoya über ihn? Ken war brutal gefoltert worden. Der Körper seines Zwillingsbruders wies keinen Quadratzentimeter Haut auf, die nicht in schmale Streifen geschnitten oder abgezogen worden war. Konnte das Verhör Ken gebrochen haben?

Jack schüttelte den Kopf, wies den Gedanken von sich und wischte sich mit einer langsamen und sorgfältigen Bewegung den Schweiß aus dem Gesicht. Ken würde ihn niemals verraten, auch dann nicht, wenn man ihn folterte. Das wusste er mit Sicherheit; es war so selbstverständlich für ihn wie das Atmen. Wie auch immer Biyoya an seine Informationen gekommen war – er hatte ihm gerade die perfekte Falle gestellt. Jack musste reagieren, ob er wollte oder nicht. Seine Vergangenheit, die er tief in seinem Innern begraben hatte, damit er niemals einen Blick darauf warf, ließ nicht zu, dass er sich einfach abwandte. Ganz gleich, ob es eine Falle war oder nicht, er musste reagieren und Gegenmaßnahmen ergreifen. Seine Eingeweide verkrampften sich, und seine Lunge brannte. Er fluchte tonlos und hielt das Zielfernrohr wieder ans Auge, da er entschlossen war, Biyoyas Verstärkung aus dem Weg zu räumen.

Die Frau schrie wieder, und diesmal war es ein Schmerzensschrei, der durch das Morgengrauen zu ihm drang. Seine Eingeweide verkrampften sich geradezu beängstigend. Ja. Biyoya wusste Bescheid, er hatte Informationen über ihn. Alles, was ihn betraf, unterlag strikter Geheimhaltung, und die Information, die Biyoya besaß, wurde in einer Akte unter Verschluss gehalten, an die so gut wie niemand herankam, ohne sich akut verdächtig zu machen. Wer zum Teufel hat mich verraten? Jack rieb sich wieder die Augen, um den Schweiß herauszuwischen. Jemand, der ihnen nahestand, hatte die Brüder reingelegt. Eine andere Erklärung gab es nicht.

Die Schreie wurden kräftiger und anhaltender. Das Kind schluchzte und flehte um Erbarmen. Jack riss innerlich fluchend seinen Kopf hoch und war wütend auf sich selbst, weil er nicht in der Lage war, die Schreie zu ignorieren. »Du wirst hier sterben, Jack«, flüsterte er leise vor sich hin. »Weil du ein verdammter Idiot bist.« Aber auch das änderte nichts. Er konnte sich nicht davon lösen. Die Vergangenheit stieg wie Galle in seiner Kehle auf, die Tür in seinem Innern öffnete sich knarrend, und die Schreie in seinem Kopf wurden lauter.

Er sprang von seinem sicheren Baum auf einen anderen und weiter durch die Baumkronen und verließ sich darauf, dass seine Haut und seine Kleidung ihn tarnen würden. Er bewegte sich schnell voran und folgte Biyoyas Spur ins dunklere Waldesinnere. Unter ihm wand sich die Straße, die aus der dichten Vegetation herausgehackt worden war, voller Löcher und Gruben von früheren Sprengladungen und wüst zertrampelt. Sie sah eher nach einem Streifen Schlamm als nach einer echten Straße aus. Er folgte ihr hoch über dem Boden und sah zu, dass er schnell vorankam, um das Gros der Soldaten einzuholen.

Schließlich schlüpfte er in einen hohen Baum direkt über den Köpfen der Soldaten und legte sich flach auf einen Ast, vom Laub verborgen. Irgendwo hinter ihm nahte der Scharfschütze, aber Jack hatte keine Spuren auf dem Boden zurückgelassen und würde nur sehr schwierig zu entdecken sein, da er sich nicht von dem Blattwerk und der Rinde abhob. Eine Frau lag in zerrissener Kleidung auf dem Boden, und ein Soldat beugte sich über sie und trat sie, während sie hilflos schrie. Ein kleiner Junge von etwa zehn Jahren wehrte sich gegen die Männer, die ihn von einem zum anderen schubsten. In den Augen des Kindes stand blankes Entsetzen.

Für Jack bestand kein Zweifel daran, dass Biyoya ihn in die Falle locken wollte, aber die Frau und das Kind waren unschuldige Opfer. Niemand konnte diese Form von Grauen heucheln. Innerlich fluchte er unablässig und wollte sich dazu zwingen, die Frau und das Kind sich selbst zu überlassen. Es war seine oberste Pflicht zu entkommen, aber er konnte die Frau und das Kind nicht in den Händen eines meisterlichen Folterknechts zurücklassen. Er zwang sich, die Schreie und das Flehen abzublocken und sich innerlich dagegen zu sperren.

Er hatte es auf Biyoya abgesehen und musste sein Versteck finden. Jack atmete tief ein und verließ sich auf seinen gesteigerten Geruchssinn. Wenn seine Nase ihn nicht trog, und das tat sie so gut wie nie, kauerte der Major gleich links neben der Frau und dem Kind hinter dem Jeep und einer dichten Mauer von Soldaten. Jack schlich sich hinter ihn, hob sein Gewehr und nahm Biyoya aufs Korn, obwohl er wusste, dass die Soldaten seinen exakten Standort bestimmen konnten, sowie er einen Schuss abgab.

Die Kugel traf Biyoya in den Nacken. Während er zu Boden ging, hatte Jack bereits auf den Mann angelegt, der die Frau trat, und gab einen zweiten Schuss ab. Dann ließ er in aller Ruhe das Scharfschützengewehr los, griff nach dem Sturmgewehr und gab der Frau und dem Kind Feuerschutz, damit sie eine Chance hatten, zu entkommen. Die Soldaten schossen zurück, und in die Bäume um ihn herum schlugen Kugeln ein. Jack wusste, dass sie ihn nicht sehen konnten, aber das Mündungsfeuer und der Rauch verrieten ihnen haarscharf, wo er war. Die Frau riss ihr Kind an sich und verschwand im Regenwald. Jack gab den beiden einen möglichst großen Vorsprung, ehe er sich von der Stelle rührte, ins dichtere Blattwerk zurückwich und hoch oben durchs Geäst sprang, um in den Baumkronen zügig voranzukommen.

Ekabela würde sich das nicht bieten lassen. Auf dem Weg nach Kinshasa würde Jack von sämtlichen Rebellen im ganzen Kongo gejagt werden.

2

BRIONY JENKINS KAUERTE im dunkelsten Winkel des Zimmers, hielt sich die Ohren zu, kniff die Augen fest zu und versuchte verzweifelt, den Gefühlsansturm von Tausenden von Menschen und ihrem Leid nicht an sich heranzulassen. Es war ein riesiger Fehler gewesen, den Job anzunehmen. Sie hatte versucht, Jebediah zu sagen, dass sie dem nicht gewachsen war, aber es bedeutete der Familie so viel – so viel Geld, das der Zirkus dringend benötigte, um zahlungsfähig zu bleiben. Wie auf Erden sollte sie den Auftritt bewältigen? Sie hatte bohrende Kopfschmerzen und konnte kaum etwas sehen, weil Pünktchen vor ihren Augen tanzten. Es gab keine Medizin, die sie einnehmen konnte, keine Linderung des Leids und der Gewalttätigkeit in diesem Land.

»Briony?« Jebediah kauerte neben ihr.

Sie schüttelte den Kopf und presste sich die Hände fester auf die Ohren, als könnte sie damit die Gedanken und Gefühle von sich abhalten, die auf sie eindrangen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich es an einem solchen Ort nicht aushalte. Mir wird schon wieder übel.« Sie konnte ihn nicht ansehen, denn sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen und ins Licht zu blicken. Sie zitterte von Kopf bis Fuß, und winzige Schweißperlen rannen ihr übers Gesicht. »Und ich bekomme wieder Nasenbluten.«

Jebediah feuchtete einen Lappen mit kaltem Wasser an und reichte ihn seiner jüngeren Schwester. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm werden würde. Ich dachte, du machst all diese Übungen, um dich gegen das abzuschirmen, was diese Zustände bei dir auslöst.«

Briony verkniff sich eine bissige Bemerkung und zügelte ihre Wut. Sie war psychisch dermaßen überstrapaziert, dass sie fast ausgerastet wäre, und wenn sie ihre Wut an Jebediah ausließ, war damit niemandem geholfen. Es stimmte schon, dass ihre Brüder und die anderen Akrobaten sie unter Druck gesetzt hatten, damit sie mitkam, aber sie hätte sich weigern können. Sie hätte sich weigern sollen. Und sie hatte ihm gesagt, wie schlimm es werden würde. Jebediah und die anderen hatten schlicht und einfach beschlossen, ihr nicht zuzuhören, weil das, was sie ihnen zu erklären versuchte, nicht in ihrem Interesse war. Sie presste die Lippen zusammen und versuchte, mit Atemtechnik gegen den Schmerz anzugehen. Jebediah hätte ihr ebenso gut Eispickel durch die Schädeldecke rammen können, aber es war nicht seine Schuld. Er machte sich keine Vorstellung davon, was echte Reizüberflutung war. Und wie man sich fühlte, wenn man ihr ausgesetzt war.

Sie erinnerte sich daran, wie oft ihre Eltern vergeblich versucht hatten, sie zu trösten, wenn sie sich in der Ecke eines dunklen Zimmers zusammengekauert und sich vor und zurück gewiegt hatte, um den Schmerz in ihrem Kopf zu lindern. Manchmal hatte sie ihre Diskussionen darüber gehört, ob sie wohl eine Form von Autismus hätte. Sie musste allein sein. Sie mochte keine körperliche Nähe. Ihr Verhalten hatte ihre Eltern so sehr verletzt. Sie waren am Boden zerstört gewesen. Noch heute hallte beim Aufwachen oft das Schluchzen ihrer Mutter in ihren Ohren, ihre Stimme, die fragte, warum Briony ihre Eltern nicht liebte. Dabei betete sie sie an; sie konnte ihnen nur nicht zu nah kommen, denn die Auswirkungen waren verheerend, und sie konnte ihnen mit keinem Mittel verständlich machen, dass der Schmerz real und nicht eingebildet war.

Sie wusste genau, wie das Gespräch mit ihrem Bruder verlaufen würde. Schließlich hatten sie den Dialog so oder so ähnlich schon unzählige Male geführt. »Wir sind hier in Afrika, Jeb«, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück, »in einem Land, in dem rasendes Leid grassiert. Hier gibt es Aids und Tod und Vergewaltigung und Verlust, und ich kann mich vor all dem nicht retten.«

Seine Lippen wurden schmaler. Er konnte es nicht leiden, wenn sie etwas ansprach, was auch nur im Entferntesten mit psychischer Überlastung zu tun hatte. Er glaubte nicht daran und hielt die Symptome, ebenso wie ihre Eltern, für eine Form von Autismus. Er wollte, dass sie dagegen ankämpfte und es schaffte, »normal« zu sein. »Kannst du etwas gegen das Nasenbluten tun?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Du musst in der Lage sein aufzutreten, Briony, wir brauchen dich dringend.«

Sie hätte gern etwas nach ihm geworfen. »Das sagst du vor jedem Auftritt, und ich habe es noch immer irgendwie geschafft. Geh weg, Jebediah. Ich muss allein sein.«

Ihre anderen Brüder drängten sich enger um sie. Tyrel wirkte, wie immer, mitfühlend, Seth wütend und Ruben angewidert. Ruben entschied sich stets für die Lösung, sie zu schikanieren, weil er glaubte, das brächte sie irgendwie dazu, sich zusammenzureißen. Seth schrie sie an, und Tyrel ärgerte sich mit der Zeit so sehr über die beiden, dass er sie verscheuchte. Dieses Ritual hatten sie vollzogen, so weit sie zurückdenken konnte, und nicht ein einziges Mal hatte einer von ihnen begriffen, dass sie machtlos gegen das war, was ihr zustieß, und dass sie es durch ihre Gegenwart und ihre starken Empfindungen nur noch schlimmer machten.

»Es heißt, die Soldaten des Rebellenführers seien in Scharen in die Stadt geströmt, weil sie jemanden suchen«, sagte Tyrel. »Das ist kein gutes Zeichen, Jeb. Du weißt, dass sie sich sämtliche Fremden vornehmen werden.«

Jebediah fluchte. »Wenn die Rebellen in die Stadt kommen, werden die Soldaten sehr nervös und schießwütig sein. Weshalb sollten sie bewaffnet in die Stadt kommen und es auf Ärger anlegen?«

»Himmel noch mal, ich begreife nicht, was sich hier politisch tut«, erwiderte Seth. »Jeder hasst jeden und wünscht allen anderen den Tod.«

Das brauchten sie Briony nicht zu sagen. Die große Anspannung, die auf den Straßen herrschte, verstärkte ihr Unvermögen, mit den Umständen zurechtzukommen. Sie war von Armut und Krankheit und so vielen Tragödien umgeben, dass sie am liebsten in ein dunkles Loch gekrochen wäre und jedes Gefühl, jeden Laut und jeden Gedanken zum Verstummen gebracht hätte.

»Deine Haut verändert mal wieder ihre Farbe, Briony«, sagte Ruben aufgebracht. »Ich habe dir doch gesagt, davor sollst du dich hüten, wenn jemand da ist.«

»Wir sind nicht irgendjemand, wir sind ihre Familie«, hob Tyrel hervor. »Lass sie in Ruhe.«

Ruben hakte unbeirrt nach. »Dann sag mir mal, wie sie das anstellt. Als sei sie eine Eidechse oder so was Ähnliches.«

Briony seufzte und presste sich eine Hand an den schmerzenden Kopf. Es fühlte sich an, als hämmerte jemand Nägel in ihren Schädel, aber das konnte sie keinem erklären. Nur der Auftritt zählte, und Briony schaffte es immer, aber auch wirklich immer. Für sie war das eine Frage des Stolzes. Sie war eine Jenkins, und alles, was die anderen taten, konnte sie auch – und sie würde es tun.

»Hier könnte jeder x-Beliebige reinkommen«, brachte Ruben zu seiner Verteidigung vor.

»Ich habe die Tür abgeschlossen«, sagte Seth. »Reiß dich zusammen, Bri. Jetzt mal im Ernst, du bist zu alt für Panikattacken.«

Jetzt reichte es Briony. Ihnen blieben noch zehn Minuten bis zu ihrem Auftritt, und wenn ihre Brüder nicht fortgingen, würde sie nicht in der Lage sein, sich zusammenzureißen. »Verschwindet.« Sie zischte das Wort durch zusammengebissene Zähne und sah die Männer finster an.

Ihre vier Brüder wirkten verblüfft. Bisher hatte sie das Ritual noch nie so abgebrochen. Sie waren große, kräftige Männer, muskulös und gut gebaut, und sie hatten dunkles Haar und stechende blaue Augen. Brionys Haar hatte die Farbe von Weizen und Platin, und sie hatte dunkle, schokoladenbraune Augen und maß nicht mal einen Meter sechzig. Sie sah ihnen überhaupt nicht ähnlich, und sie besaß auch nicht ihre Waghalsigkeit, wünschte jedoch, sie besäße sie. Sie gab ihnen nie wirklich freche Antworten, obwohl sie sich manchmal von ihnen rumgeschubst fühlte. Ihnen allen sprang vor Erstaunen der Mund auf.

Ruben ging neben ihr in die Hocke. »Ich wollte dich nicht aus der Fassung bringen, Briony. Wir können es auch ohne dich hinkriegen, wenn du es diesmal nicht schaffst. Leicht wird es nicht sein, und du weißt, dass es dem Publikum nicht gefallen wird, aber wenn du dich diesmal nicht zusammenreißen kannst …«

Seth schnappte nach Luft. »Ja klar, vielleicht könnte ich für dich einspringen, Schätzchen. Warum legst du dich nicht ins Bett? Vielleicht fühlst du dich morgen früh wieder besser.«

»Wir können einen Arzt holen«, bot Tyrel an. »Dein Arzt hat bisher immer binnen einer Stunde im Flugzeug gesessen, wenn wir ihn angerufen haben.«

Briony hätte gelacht, wenn ihr der Schädel nicht fast geplatzt wäre. »Ich bin bisher noch bei jeder Vorstellung dabei gewesen. Lasst mich einfach nur ein Weilchen allein, dann wird es schon wieder.«

Jebediah scheuchte die anderen aus dem Zimmer, ließ sich neben ihr nieder und strich ihr mit einer Hand die dichte blonde Mähne aus dem Gesicht. »Wir kommen nicht ohne dich aus, Schätzchen, ich will dir nichts vormachen, aber wenn du meinst, dass du ihn brauchen wirst, verständige ich den Arzt. Wir haben etliche Auftritte vor uns, und wenn die Rebellen sich tatsächlich in die Stadt schleichen, wird die Gefühlslage nur noch negativer werden.«

Das Eingeständnis, etwas könnte ihre Verfassung verschlechtern, musste Jebediah viel abverlangt haben. »Ich mag den Arzt nicht.« Briony rieb sich mit einer Hand das Gesicht. »Er starrt mich an wie ein Insekt unter dem Mikroskop. Mit dem Mann stimmt etwas nicht.«

Jebediah seufzte und ließ sich auf seine Fersen zurücksinken. »Dich packt mal wieder die Paranoia.«

»Ach wirklich? Wie kommt es, dass ihr alle zu jedem Arzt eurer Wahl gehen könnt, ich aber zu einem ganz bestimmten Arzt gehen muss, einem, der vom anderen Ende der Welt angeflogen kommt, um mich zu behandeln?«

»Weil du etwas ganz Besonderes bist und Mom und Dad es versprochen haben. Ich halte ihre Versprechen, und du solltest es auch tun.«

»Ich bin mittlerweile vollständig erwachsen.« Als er nichts dazu sagte, atmete sie langsam aus. »Es ist mein Ernst, Jeb, lass mir einfach nur etwas Zeit für mich selbst, dann komme ich schon dagegen an.« Diesmal war sie nicht sicher, ob sie es schaffen würde. So schlecht war es ihr noch nie gegangen, außer in ihrer Kindheit, als sie nicht in der Lage gewesen war, mit dem umzugehen, was ihr zustieß, oder es zu verstehen. In ihrer Verzweiflung schloss Briony die Augen und begann langsam und gleichmäßig zu atmen, auf der Suche nach dem Ort der Ruhe und der Stille in ihrem Innern.

Sie nahm kaum wahr, dass ihr ältester Bruder den Raum verließ, denn sie konzentrierte sich ausschließlich darauf, die Gefühle der Menschen in der Stadt von sich zu schieben, die Soldaten und ihre Waffen und ihre Schandtaten, den Hass und die Furcht, die auf sie einstürmten. Sowie sie ruhig genug war, nahm sie sich ihre immer gegenwärtige Höhenangst vor. Wenn es einen Menschen auf Erden gab, der nicht auf dem Trapez arbeiten und keine Hochseilakte aufführen sollte, dann war das Briony.

»Los jetzt«, rief Seth durch die Tür.

Briony stand auf und sah in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass sie kein Blut auf dem Gesicht hatte und ein strahlendes Lächeln bewerkstelligen konnte, bevor sie hinausrannte und sich ihren Brüdern anschloss. Das Publikum hatte ungeheure Ausmaße angenommen. Sie sah es sich nicht an, sondern konzentrierte sich auf den Takt der Musik. Sie unterlegten ihre Darbietung, einen gefährlichen Trapezakt, mit einer Mischung aus populärer afrikanischer und kubanischer Musik.