Schloss Zockendorf - Matthias Biskupek - E-Book

Schloss Zockendorf E-Book

Matthias Biskupek

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Beschreibung

1. Tatort 2. Zuchthaus 3. Schweinestall 4. Menü 5. Leiche 6. Büroklammer 7. Wolfsweg 8. Chaiselongue 9. Kopie 10. Schweiß 11. Beichte 12. Hintergrund 13. Domino 14. Strategie 15. Kowallitschke 16. Bambus 17. Horden 18. Verpisst 19. Bruzzelkirschen 20. Abrechnungsscheck 21. Vanadiumkreuz 22. Rückstand 23. Fehlschaltung 24. Nietzsche 25. Täterhandling 26. Demontage 27. Überbringer 28. Zerspanungsfacharbeiter 29. Überdosis 30. Janine

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Impressum

Matthias Biskupek

Schloss Zockendorf

Eine Mordsgeschichte

ISBN 978-3-96521-493-4 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1998 im Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

1. Tatort

Das Schloss stand weiß und aufrecht im warmen Regen, der über das wendisch-lausitzische Land hinging, als ein jüngerer Herr mitsamt gewaltigem Koffer einem mittelgroßen Taxi entstieg. Das Taxi wendete und fuhr, kaum ein malerisches Auspuffwölkchen auf der Dorfstraße hinterlassend, schnurstracks zurück in die Heimat aller hiesigen Taxis, den zwanzig Kilometer entfernten Landkreissitz. In das Dorf mit dem weißen Schloss führte nämlich nur eine Straße hinein.

Es war dieselbe, die auch wieder herausführte.

Der junge Mann stand mit seinem großen Koffer vor dem Gebäudeensemble, Schloss Zockendorf genannt. Es bestand aus einem größeren, klassizistisch anmutenden Mittelbau, an den Seitenflügel gehängt waren, barocken Rettungshäuschen vergleichbar. Den Kenner mochte das Schloss an einen gekappten spätgotischen Flügelaltar erinnern, nur dass spätgotische Elemente kaum auffindbar waren. Zum asymmetrisch platzierten Eingangsportal führten geschwungene Stufen hinauf. Links dieser dreiflügeligen weißen Anlage duckte sich unter hohen Kastanien ein Glas- und Betonkomplex mit einer langen Reihe braun verglaster Fenster, Frucht postmoderner Bemühungen. Dahinter konnte man die Gemäuer eines Bauwerks erkennen, vermutlich vor hundertfünfzig Jahren als Orangerie konzipiert, welches so stark unter italienischem Einfluss stand, dass es sich mitten in regenfeuchter Lausitz zu schämen schien. An der rechten Seite des Hauptgebäudes gab es fünf bucklige Figuren aus weißem Gestein. Sie starrten aus riesigen Augäpfeln, in die kleine Löcher gebohrt worden waren, unbewegt jedem Eindringling entgegen. Noch weiter hinten, am Rande eines versandeten Kiefernwaldes, verloren sich Schuppen und weiß getünchte Baracken. Sie waren mit jenen kräftigen, norddeutschen Backsteinschornsteinen und blechernen Rauchfangröhren gekrönt, die der wendischen Lausitz all das anheimelnd-urtümliche Ostgermanisch-Slawische geben, welches süddeutsche und texanische Touristen zu spitzen Begeisterungsschreien animiert.

Das Ganze befand sich in einem weitläufigen Park, der neben Kastanien auch Eichen, Buchen, Ulmen, Douglasien, Vogelbeerbäume, Haselnussbuschwerk, Rhododendronzucht und Rhododendronordnung, isländisches Kriechgrün, preußisches Straßenbegleitgrün, Palmoliven, Kaktusgehölze und Marmorgewächse enthielt. Selbst die Besitzer des Standardwerks „Rothmaler: Alle Pflanzen in einem Buch für nur 29,95“ wären wohl ratlos gewesen ob dieser Vielfalt. Das dunkle Auge eines Teiches und die hellen Kieswege mehrerer Rondelle zeigten deutschen Gestaltungswillen im wendisch-märkischen Trockensumpfgebiet. Eine kaum meterhohe Backsteinmauer, auf deren First man spitze grüne Glasscherben für immer und ewig einzementiert hatte, säumte die gesamte Anlage.

Der junge Mann mit dem großen Koffer stand noch immer vor dem Tor, neben dem eine Messingtafel, mit glänzenden Schrauben im Mauerwerk verankert, folgendes mitteilte:

KÜNSTLERHAUS SCHLOSS ZOCKENDORF

Eine Einrichtung der Gemeinnützigen Stiftung KulturTest e.V

Aufsichtsratsvorsitzender:

Senator i. R. Prof. Dr. Juergen Sigfrid Klonnhusen

Der Zutritt ist an Werktagen nur Stipendiaten und Gästen des Künstlerhauses Schloss Zockendorf gestattet.

Orangerie und Schlossmuseum „Wilhelmine von Hardenberg“ sind samstags und sonntags von 13.30 bis 17.00 Uhr für den Publikumsverkehr geöffnet.

Im Auftrag der Leitung des Schlosses Zockendorf: Sabine von Ziethenow, Direktorin.

Das Schild war hochglanzgeputzt und das Tor verschlossen. Der junge Mann suchte nach einer Klingel, fand aber keine. Sich durch Rufen bemerkbar zu machen, war ihm peinlich, zumal nichts darauf hindeutete, dass selbst lautes Gebrüll über den großen Rasen hinweg jemanden erreicht hätte.

Er wuchtete seinen Koffer entschlossen über die glasscherbenbewehrte Mauer. Am Kofferstoff machte es sanft „raatsch“. Der Kommentar lautete „Shit“. Anschließend hievte der Mann sich selbst über die Mauer, was wiederum ein sanftes Geräusch und die deutsche Übersetzung vorigen Kommentars zur Folge hatte.

Mitsamt Koffer marschierte der junge Mann tapfer auf den Schlosseingang zu, als ein Herr seinen Weg kreuzte. Der Herr trug schlotternde Kleidung, ging leicht vornübergebeugt, das Gesäß nach hinten gereckt. Sein sonnenverbranntes Gesicht, dessen Züge zur Mitte hin in ein Knäuel mündeten, war von langem, dünnem, offensichtlich schwarz gefärbtem und dauergewelltem Haar umgeben. Man musste unwillkürlich an einen Pavian denken, der sein Gesäß auf dem Hals trug. Ungeachtet dessen wollte der junge Mann ihn ansprechen. Kaum aber hatte er den Ansatz eines „Entschuldigen Sie, wo ist hier …“ herausgebracht, als der Herr „Nieter mit allem Katerviehzeuk! Grießgodd!“ aus seinem roten Gesicht hervorschleuderte und armschlenkernd auf einer imaginären Linie weiterzog.

Die große Eingangstür zum Mittelgebäude war ebenfalls verschlossen. Der junge Mann klopfte an alle erreichbaren Fenster. Hinter einem erschien ein breites weibliches Gesicht und alsbald ward ihm die Tür aufgetan. „Mein Name ist Mitzke, Dr. Mirko Mitzke“, sagte der junge Mann, „ich möchte zu Frau von Ziethenow. Leider haben Sie keine Klingel.“

„Grüß Gott, Herr Dr. Mitzke“, sagte das Damengesicht, „ich bin die Frau Eisele, ökonomische Direktorin des Hauses. Aus Stuttgart. Sie sind also mein zukünftiger Stellvertreter? Die Chefin erwartet Sie schon. Wissen Sie, wir haben keine Klingel, weil man in unser offenes Haus jederzeit eintreten kann. Ohne Voranmeldung. Wir praktizieren gläserne Verwaltung.“

„Das Tor war leider auch verschlossen. Wie soll man sich ohne Klingel bemerkbar machen?“

„Das Tor klemmt. Vielleicht könnten Sie dafür sorgen, dass man ein Schild mit der Mitteilung des Klemmens anbringt? Das wäre dann gleich eine schöne Arbeitsaufgabe“, entgegnete Frau Eisele. Währenddessen aber war man vor einer Tür mit wiederum glänzender Messingtafel angelangt: „Direktion des Künstlerhauses Schloss Zockendorf – Die Direktorin – Der stellvertretende Direktor – Sekretariat.“

Frau Eisele klopfte.

„Fünneff Minuten“, erscholl eine männliche Stimme von innen. Frau Eisele beschied Herrn Mitzke, hier zu warten – seinen Koffer könne er solange neben sich abstellen – sie müsse wieder an die Arbeit. Man sehe sich bei Tisch.

Die Kastanienfrüchte, die unablässig an den hohen Bäumen vor den Fenstern wuchsen, begaben sich derweil begeistert zu Boden, sprangen auf und zeigten ihr glänzendes Inneres.

Mirko Mitzke stellte seinen Koffer vorsichtig auf das überaus glatte Schlossparkett.

2. Zuchthaus

Mirko Mitzke, promovierter Germanist, gebürtiger Spreewälder und Wahlberliner, war seit zwei Jahren auf Arbeitssuche. Gemeinhin musste man zur erfolgversprechenden Bewerbung unter dreißig sein, langjährige Berufspraxis in leitenden Stellungen – Auslandserfahrung – mitbringen und durfte nicht ortsgebunden sein. Persönliche Probleme, wie Ehepartner, Kind, pflegebedürftige Anverwandte, hatten nicht zu stören. Man musste bereit sein, sich für das Unternehmen auch finanziell zu engagieren. Gehaltsvorstellungen hatten außerhalb gewerkschaftlicher Regelungen zu bleiben – und schließlich durfte man als promovierter Germanist nicht erwarten, dass man mit Wissenschaft, Kunst, Literatur, gar Büchern zu tun bekäme.

Mirko Mitzke war zweiunddreißig, hatte bislang die Universitäten Konstanz, Kiel und Humboldt Berlin kennengelernt, über die Hardenbergsche Romantik-Exegese im nordmitteldeutschen Raum promoviert, unbezahlte Praktika in den Verlagen Dr. Mayer’s und ProgressiveVerlegerGenossenschaft Nördlingen abgeleistet. Er hatte das Register von A bis K für die Große Berliner und Detmolder Grabbe-Ausgabe auf Honorarbasis erstellt, eine Studie „Tragisch-unverschuldete Selbsttötung auf einem märkisch-wendischen Schloss“ publiziert, besaß eine langbeinige Freundin mit kurzbeinigem Kind in Berlin und eine feste Bindung an seine sorbisch schimpfende Mutter. Ein mit derzeit zweihundertunddreißig Mark negativ belastetes Girokonto bei der Deutschen Bank machte ihm Gewissensbisse, nicht des überzogenen Kontos wegen, sondern dieweil fest in seinem Kopfe der Volksliedvers hing: „Deutsche Banken, deutsches Geld – morden mit in aller Welt!“ Darüber hinaus pflegte er in seinen dumpfen Morgenträumen die Vorstellung von einer glänzenden germanistischen Laufbahn.

Dr. Mitzke hatte also sofort gehandelt, als ihm die Ausschreibung für den Halbtagsjob eines stellvertretenden ökonomischen Direktors im Künstlerhaus Schloss Zockendorf bekannt wurde, und machte beim Bewerbungsgespräch zu den 1428 Mark brutto, die ihm monatlich aus dem Vermögen der Stiftung KulturTest e.V gezahlt werden sollten, sofern er mit harter Hand Küche, Keller, Garten und Fahrzeuge des Schlosses führen könne, ein Pokerface. Der Aufsichtsratsvorsitzende Senator i. R. Juergen Sigfrid Klonnhusen schien beeindruckt. Er war aufgestanden, hatte die Hand ausgestreckt und gesagt: „Wir werden es mit Ihnen für ein halbes Jahr versuchen, Herr Dr. Mitzke. Ein ganzes halbes Jahr. Es ist Ihre Chance.“

Zehn Minuten des halben Probejahres waren nunmehr absolviert, und Mitzke klopfte erneut an die Tür. Von drinnen erscholl „Soffort“, und wirklich bat schon bald darauf ein grau melierter Herr den Ankömmling herein. Der Herr stellte sich als Klausjürgen Rammsauer vor, stellvertretender Direktor des Hauses, ein doppelt promovierter Jurist und Psychologe, vormals Universität Passau. Er sei vor allem mit der leider zeitaufwendigen Organisation öffentlicher Performances der Stipendiaten auf Schloss Zockendorf betraut. Die desaströse Finanzlage der niederbayerischen Universität habe ihn bewogen, hierorts Aufbauhilfe zu leisten. Er sei erst denkbar kurz hier angestellt, fünf Monate, somit kaum aussagefähig, was die allgemeine Künstlerhaus-Lage angehe. Leider sei derzeit keine Sekretärin im Hause, so dass die gläserne Verwaltungsarbeit unter dem Signum der drei D – durchschaubar, dechiffrierbar, dekonspiratorisch – etwas leide. Er wisse auch gar nicht, wo man den Koffer unterbringen könne – vielleicht zunächst ganz unkonventionell auf dem historisch verbürgten Fußboden des Dienstzimmers. Frau von Ziethenow werde den neuen Mitarbeiter demnächst willkommen heißen. Sie habe ein wichtiges Fax abzusetzen, und ohne Sekretärin gleiche dies einem Kampf gegen elektronische Windmühlenflügel.

Soweit war Dr. Dr. Rammsauer gekommen, als die Tür aufgestoßen wurde. Eine drahtige Dame in schwarzem Wickelrock mit rotem Tüchlein im silbernen Haar stürmte herein und sprudelte: „Mer müsse sofort mits Chefin rede. De Wasserorgel leckt. Ich schaff dann Törmin net. Ich brauch dann Hauptapfel. Der soll abdichte. Wo ists Sabinsche?“

Dr. Dr. Rammsauer versprach, der Chefin eine Hausmitteilung hinzulegen, und stellte vor: „Unser neuer Mitarbeiter Dr. Mirko Mitzke aus Berlin – Madame Simone Proudhon-Hungerbühler aus Idar-Oberstein, Komponistin, Stipendiatin unseres Hauses.“ – „Aus Lyon, mei liebs Rammsauerle“, sprach die schwarze Wickelrockdame, „mei Läbensmittelpunkt lieget in Lyon. – Ich hoff, Se verstehe frongzeesisch, damit mer hier mal e netts Gesprächle führn kann – mache ses gut“, und fort rauschte die Dame. Fast stieß sie mit dem unaufgefordert eintretenden Pavianherrn zusammen, dem Mirko Mitzke schon im Park begegnet war. Der schnarrte auch hier ein „Grießgodd!“ und enterte schnurstracks das Nebenzimmer. „Der berühmte Lyriker Lutz L. Zschmockwitz“, flüsterte Rammsauer, „er hat im Kerker gesessen, kaum hundert Kilometer von hier entfernt, im berüchtigten Zuchthause Chottzen, damals …“

Aus dem Nebenzimmer hörte man des Lyrikers Stimme: „… bütte ich mir aos, dass bei meinen Chtimm-Iebungen, die ein Liericker braocht, in den Neben-Tchimmern Ruhe herrcht. Unterbinten Sie Katzengechrei und Pittchin–Inglich!“ Türen schmetterten.

Dr. Rammsauer bedeutete, dass der Dichter aufs Grausamste verfolgt worden sei, Unsägliches gelitten haben musste in diesem gruseligen Dreibuchstabenstaat. Schließlich sei er sogar freigekauft worden, man stelle sich dies vor, mitten in einem Kulturraum, der den Sklavenhandel seit jeher ablehne. Nun solle Herr Zschmockwitz einige, wenige, kleine Vorzüge für sich in Anspruch nehmen dürfen, um einen gewissen Ausgleich für jahrelang erlittene Unbill zu haben.

Soweit war die Unterredung gediehen, als aus dem Dienstzimmer eine blonde, porzellanhafte Dame trat, ihren gelockten Kopf schief hielt, die Hand schützend daran legte und seufzte: „Ich bin heute arg wetterfühlig. Geht es Ihnen auch so, Klausjürgen? – Ach, wir haben wohl einen neuen Stipendiaten? Zeigen Sie ihm alles. Mir fehlt heute einfach Berlin. Oder noch besser wäre München. Wien. Paris. New York, the Big Apple …“ Die Dame entschwand, ohne dass die Herren etwas richtigstellen konnten.

Sabine von Ziethenow, denn um die Direktorin handelte es sich, hatte ihren Durchhänger. Er begann allwöchentlich Dienstag, wenn sie ihren Schreibtisch in der Verwaltung des Künstlerhauses einnahm. Er endete Donnerstagnachmittag, wenn sie ihn aufgeräumt verließ, um nach Berlin, München, Wien, Paris, New York, the Big Apple … zu fahren. Was weder Mitzke noch Rammsauer wirklich wussten, was lediglich der Aufsichtsratsvorsitzende Klonnhusen ahnte, war die Tatsache, dass Sabine von Ziethenow die wendisch-märkische Lausitz von ganzem Herzen hasste. Bevor sie ein lukrativer Arbeitsvertrag hierher verschlagen hatte, war sie sechs Jahre lang behütete Tochter im behüteten Düsseldorf, dreizehn Jahre brave Schülerin, acht Jahre fleißige Studentin und schließlich vierzehn Jahre lang wichtige Mitarbeiterin eines bedeutenden Professors gewesen, der emeritieren musste. Genussvoll gelangweilt hatte sie sich distinguierten Herren auf morbid-modernen Chaiselongues hingegeben, bis nichts mehr morbid und distinguiert war und Sabine einundvierzig Jahre alt. Die Ausschreibung der Gemeinnützigen Stiftung KulturTest e.V hatte sie im Fachblatt „Zeit & Weile“ gefunden. Und da mehrere Herren ihr Gutes tun wollten, andere Herren aber wussten, dass jener ausgeschriebene Posten im Schloss Zockendorf sich inmitten von Sümpfen, Kiefernwäldern und faulem, dumpfem, vom Sozialismus durch und durch verdorbenem Pöbel befand, erhielt sie die Direktorenstelle vor den anderen hundertvierunddreißig Bewerbern. Die einst erworbene Kenntnis des Hardenbergschen Romantikerkreises kam ihr dabei zugute, denn jenes Schloss Zockendorf war vor hundertachtzig Jahren eine Brutstätte der märkisch-wendischen Spätromantiker gewesen. Hier hatte man alte jambische Versmuster und neue gleichberechtigte Formen des Zusammenlebens erprobt. Hier hatte man mit Volksmärchen und deren sexuellen Inhalten gespielt. Hier waren wendische Küche und lausitzische Sprüche gepflegt worden; hier hatte man den „Zockendorfer Herold“ herausgegeben, in dem Tieck und die Gebrüder Schlegel, die Böhmer-Schelling und Wilhelm Hauff Arbeiten veröffentlicht hatten. Für kurze Zeit war Zockendorf vor allem durch Wilhelmine von Hardenberg und deren Salon berühmt geworden, in dem die Creme von Labbernow bis Luckenbußwalde, ja bis Berlin verkehrt hatte. Doch Ende des neunzehnten Jahrhunderts versank alles wieder in Roggen-und Rübenkultur. Damals wurde ein besonders klarer, erdgebundener Schnaps gebrannt, der das Schloss schuldenfrei bis in den Zweiten Weltkrieg brachte. Sabine von Ziethenow, deren Ahnen im Pommerschen ebenfalls einen herausragend klaren, erdgebundenen Schnaps hervorgebracht hatten, fühlte sich seltsam angezogen von der Aufgabe, den einstigen Wilhelmine-Musensitz in eine Heimstatt zeitgenössischer Kunst zu verwandeln. Eine Zuflucht für Schaffende aller Gattungen, die jeweils für mehrere Monate ein Stipendium von einigen Tausend Mark erhielten, um ungestört schöpfen zu können, sollte unter ihrer Führung entstehen.

Sabine hatte nicht gewusst, dass der klare Schnaps nicht nur zur Schuldenfreiheit beitragen konnte, sondern auch Schuldgefühle zu wecken vermochte. Mithin entfloh sie diesen Schuldgefühlen regelmäßig donnerstags und ließ sich regelmäßig ab Dienstagmittag wieder von ihnen beherrschen. Wer hatte schuld, dass ihr Hals feine, kleine Jahresringlein angesetzt hatte, dass distinguierte Herren immer seltener wurden, die Stipendiaten immer jünger und unberechenbarer? Dass die Belegschaft immer unverhohlener von guten alten Zeiten unter dem sozialistischen Joch schwätzte, als in diesem Hause kommunistische Realisten verkehrten und in der immer noch grässlichen Kneipe „Zum Dorfschmied“ ihr Glas Bier für angeblich vierzig Pfennige soffen? Wer konnte diese Schuldfragenantwort geben?

Sabine wollte dem Tort entkommen, und sei es für Minuten, indem sie ihrem Dienstzimmer entfloh, vor dem der grässlich korrekte Klausjürgen Rammsauer mit einem dieser grässlich ununterscheidbaren Stipendiaten wartete.

Sie wusste nicht, dass der neue Stipendiat ein neuer Mitarbeiter war und dass mit dessen Eintreffen auf Schloss Zockendorf nichts mehr so einfach grässlich bleiben würde, wie es war, sondern alles doppelt und dreifach grässlich werden würde und unaufhaltsam weiter in den slawischen Sumpf der Zukunft versänke, versünke …

3. Schweinestall

Nach dem Abgang der Direktorin übergab der stellvertretende Schlossdirektor die weitere Einführung des neuangestellten Dr. Mirko Mitzke an die ökonomische Direktorin Frau Eisele. Die leitete die Aufgabe an den technischen Direktor des Schlosses, Herrn Otto, weiter. Der versah in seiner Werkstatt soeben historische Blumenkübel mit neuem Anstrich. Folglich musste auch er die Verantwortung delegieren: an seinen leitenden Mitarbeiter Herrn Hauptapfel, der als Heizer und Fahrradmechaniker tätig war, denn die von den Stipendiaten gern und fluchend genutzten Fahrräder ließen Luft, klapperten, blockierten, warfen die Kette oder andere wichtige Teile ab und mussten mithin laufend auf neuestem technischem Stand gehalten werden.

Doch leider hatte Herr Hauptapfel soeben von der echauffierten Komponistin Simone Proudhon-Hungerbühler den Auftrag erhalten, sich um ihre Wasserorgel zu kümmern, weil sonst das Konzert zum Weekend-Meeting ernsthaft gefährdet schien. Herr Hauptapfel begab sich also mit Dr. Mitzke, der nun schon geraume Zeit an seinem schweren Koffer trug, in den Aufenthaltsraum von Frau Wirsinghaus und Claudia Sonneborn, Raumpflegerinnen auf Schloss Zockendorf.

Dortselbst, zwischen Goldglanz und Silberputzmitteln, saßen zwei kräftige Weibsbilder und rauchten Pausenzigaretten. Vor ihnen verkündete ein zerknitterter Herr mit Schiebermütze: „Unn donn woarch beim Genossn Pieck, woas der erste Bräsidend unsres Orweedr-unn-Bauern-Schdoods war, eigeloodn. Ich mei Schiebermiddse geschnappt, nischde wie hin und gesachd: Mei lieber Willem, so gehds ja nu nich. Ich bin Orweedr. Da mußde zuheern!“

Gespannt lauschten die Frauen dem Ausgang der Staatsaffaire, doch Hauptapfel unterbrach barsch: „Diss iss der neue stellvertretende Ökonomische, der Herr, ähm Professor Mutzke, den müsst ihr mal seine Bude zeijen und straff abkassiern, von wejen Essen, Fahrradnutzung, Waschmaschinenjebühr unnsoweiter.“

Schon war Hauptapfel verschwunden und die Raumpflegerinnen schauten sich verdutzt an. „Wenner nischde dagehchn habbd, iebernähme ich mah die Einweisung vom neuen Gollähchn … ich bin der Schramm-Gurt, habb hier ä Schdibbendzjum – unn du bisd also ä Brofesser?“

„Mitzke, Mirko, mit ohne Professor“, beeilte sich der Neuling zu erklären. „Ich bin hier – aber wo ich hause, hätte ich schon gern gewusst.“

„Im Schweinestall“, bedeutete Curt Schramm, „da sinn immor de Neun. Dänn hamm se umgebaut, noch zu Ost-Zeiden. Gomme midd, Gollähche.“

In den beiden Etagen des Schweinestalls reihten sich gleichartige Zimmer aneinander, mit Blick entweder gen ehemaligen Dorfkonsum oder auf den Schlosspark mit seinen Kastanien. Hier wurden die Schriftsteller untergebracht, wobei nach einwöchigem Aufenthalt meist der Wunsch laut wurde, auf die jeweils andere Seite ziehen zu wollen, vom kargen Konsumblick zum üppigen Parklandschaftsblick, von schattiger, nördlicher Parkblickseite zur hellen, südlichen Konsumblickseite.

Schramm-Curt, der erzgebirgische Arbeiterdichter, der vor Jahren folgende Preise erhalten hatte: Banner der Arbeit, Verdienstmedaille, Nationalpreis Dritter Klasse, Gewerkschaftsliteraturpreis, Otto-Gotsche-Gedenkorden und Kunstpreis des Kreisvorstandes Annaberg-Buchholz – was er während des kurzen Marsches vom Putzraum zum Obergeschoss des umgebauten Schweinestalles dem kofferschleppenden Mitzke mitteilte –, sah sich kurz um und hielt vor Zimmer 52 an, dessen Schlüssel steckte: „Des muss dei Zimmer sinn, Gollähche Brofesser, das iss nämlich ehgah frei, wall de Heizung dröbbln duhd. Da genn se geen rischdschn Dischder neiduhn. Die griechn dadervon Gobbschmerzn unn wälzn sich im Bedde rum.“

Das Zimmer maß etwa vier mal vier Meter, ein kleiner Vorraum mit Kleiderständer nicht mitgerechnet, von dem aus eine sogenannte Nasszelle abging. Schaltete man das Licht ein, so ertönte laut brummend eine Absaugeinrichtung – dieses Geräusch war auch halblaut summend aus dem Nebenzimmer hörbar.

Der Raum selbst war karg möbliert: Einbauschrank, Schreibtisch, Drehstuhl, Liege, Leuchte, Fernseher, Sessel, Bücherbord. An der Wand hing ein kleines Ölbild: „Wilhelmine von Hardenberg gibt eine Teegesellschaft am Nachmittage des 14. Oktober 1823“. Der Arbeiterdichter legte seinen Daumen darauf: „Das hamm Ginstler von frieher, vom Orweedr-unn-Bauern-Schdood gemald. Als revoluddsjonähre Erbe-Pfleesche. De Wilhelmine war nämlich geechn Ausbeuderherrschaft!“

Neugierig beobachtete er, wie Mitzke seine Habe in den Schrank sortierte. Der hatte schon zweimal sich bei Schramm zu bedanken versucht, doch jener blieb ehern stehen: „Du musst wissen, Gollähche, mir nähmn hier Andeil annenanner. Das gollegdive Gunsdwerg steht auch jeddse in voller Bliede …“

In diesem Moment erscholl vom Gang her martialisches Gebrüll. In einer Sprache, die Mitzke als russisch zu identifizieren glaubte, wurde heftig gestritten, vor allem mit den Satzfetzen „Tschjort wasmi!“ und „Djob twoju match!“ – „Igor unn Maddi flibbn widder mah aus“, beschied der Arbeiterdichter gleichmütig, ging auf den Gang, und nun hörte man dreistimmig die herausragenden Satzfetzen. Türen knallten. Der Arbeiterdichter kam wieder herein und sagte: „De östlischn Bruderstaaten hamm Meinungsverschiedenheiten. Die glärn se uff rewoluddsjonäre Weise. Dor russische Gollähche Igor Isidorow wohnt links von dir, dor estnische Gollähche Mati Vallikivi gehschenieber. Hochberiehmde Leude. Mati hadd schon enne ganze Bibliothek zammgeschriebm. Igor hängd in der Leningrader Ehremittahsch. In Eel! Da grachds ehmde immor mah, wall se nur middenanner redn genn. Sonnsd vorschdehd doch geener russsch. Außer mir, aber mit mir wolln se ehgah englisch redn, und das tun mir doch alle dreije nicht begreifn.“

Dr. Mitzke glaubte erraten zu haben, dass Curt Schramm ihm von gewissen menschlichen und nationalen Animositäten zweier Stipendiaten aus Russland und Estland berichtet hatte. Ihm, Mitzke, der aus dem Spreewald kam, war hinwiederum die Äußerungsweise des Curt Schramm zwar nicht fremd, während langer Jahre in den Universitäten von Konstanz und Kiel hatte er jedoch mühsam jede Kenntnis dieser typischen Verlierersprache, die einst quasi als Staatssprache galt, verdrängt. Hier nun hatte sie ihn plötzlich wieder eingeholt.