Was heißt eigentlich "DDR"? - Matthias Biskupek - E-Book

Was heißt eigentlich "DDR"? E-Book

Matthias Biskupek

0,0

Beschreibung

Was heißt denn das gleich? Was war denn das eigentlich? Damit die ganze DDR nicht zu einem einzigen böhmischen Dorf auf der Landkarte der Erinnerung wird, hat Matthias Biskupek den DDR-Wortschatz in seinen schönsten und geheimnisvollsten Blüten mit lexikalischer Akribie aufgerollt und gibt unter der Hand eine Nachhilfestunde in Geschichte. Ein Buch, das jenen, die durch die Ungnade der Geburt nichts Richtiges mit dem Begriff Dispatcher oder Jumo-Lappen anzufangen wissen, Aufklärung verschafft und mit dem auch die heranwachsende Generation der Erfurter oder Leipziger die Chance hat, ihre Eltern wenigstens hin und wieder zu verstehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 150

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Matthias Biskupek

Was heißt eigentlich „DDR“?

Böhmische Dörfer in Deutsch & Geschichte

ISBN 978-3-96521-495-8 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 2003 bei Eulenspiegel - Das Neue Berlin – Verlagsgesellschaft mbH & Co KG, Berlin

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Vorwort

Grigori Kossonossow ist an allem schuld.

Es war ein lauer Abend in der Toskana. Unweit von Fiesole. Im Garten des Ristorante lief eine jener deutsch-deutschen Verbrüderungen ab, wie sie heute allenfalls noch weit weg von daheim unter dem sternklaren Himmel des Südens und mit reichlich Chianti denkbar ist.

Der Tisch bog sich von Pasta und die gemischte sächsisch-westfälisch-thüringische Gesellschaft vor Lachen. Mitten hinein ließ jemand fallen: Finster blickten die Bauern … Und während die einen ausgelassen im Chor antworteten: Auch Pferde? Auch Pferde! blieben die anderen stumm.

Da war sie wieder.

Nein, nicht was Sie denken. Nicht die Mauer in den Köpfen. Die wird allenfalls in Gedenkartikeln – von denen in Deutschland übers Jahr ein enormer Bedarf zu bestehen scheint – bemüht. Wenn es darum geht, dem flachen Inhalt vermeintlichen Tiefgang zu verschaffen.

Die Geschichte von Kossonossow ist eine jener prägenden Sonderheiten, die den gemeinen Ossi noch immer vom gemeinen Wessi unterscheidet. Wie Fit, Trasse, Frösi oder Mosa. Nun ist das nichts Beunruhigendes: Beide Spezies, ob nun Ossi oder Wessi, sind im Aussterben begriffen. Und es ist nicht einmal schade drum.

Dennoch muss ein Mangel an Verständlichkeit nicht einfach hingenommen werden. So entstand der Wunsch, auch jenen, die durch die Ungnade der Geburt nichts Richtiges mit dem Begriff Dispatcher oder Jumo-Lappen anzufangen wissen, Aufklärung zu verschaffen.

In Matthias Biskupek fand sich ein geeigneter Autor, dessen Geschick und vor allem dessen Erinnerungsvermögen berufen ist, all die schrulligen Eigenarten der Wortschöpfer aus dem Osten aufzubewahren, damit sie nicht vergessen werden.

Übrigens, ein einfacher Test zeigt, dass auch für die heranwachsende Generation der Erfurter oder Leipziger die Geschichte von Kossonossow bereits in böhmischen Dörfern verschollen ist. Auch sie sollten mit dem Buch die Chance haben, ihre Eltern wenigstens hin und wieder zu verstehen.

Mosa

Dem Sprachtüftler, der die Welt nicht vom Zupacken, sondern vom Zuhören kennt, ist fast jeder Begriff Abenteuer. Die sprichwörtlichen ,böhmischen Dörfer‘ waren in der k.u.k. Verwaltungshierarchie jene tschechisch benannten Orte, die der Wiener Beamte, weil er seine allein seligmachende Bürosprache benutzte, nicht unbedingt kennen musste. Ob Strakonice, Kralovice oder Humpolec – ihm waren alles böhmische Dörfer. Eingeborenensprache halt.

Hört aber heute ein Zugereister, zum Beispiel ein ministerieller Beamter, im Gespräch den Begriff ,Mosa’, so möge er das nicht als hinterwäldlerische Abkürzung von Mosseldorf oder Mosanitz abtun – ,Mosa’ war mal eine Institution für Heranwachsende; ein Hit der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre.

Im Westen Deutschlands gab es Donald Duck und Fix und Foxi. Im Osten wurden Comics bis in die frühen Fünfzigerjahre als ungeliebt, wenn nicht gar als feindlich angesehen. Hatte nicht die berühmte Glatzkopf-Bande westliche Bildergeschichten nachgeahmt? War nicht überhaupt alles Amerikanische dekadent und verrucht? Doch irgendwann rang man sich an ideologieleitender Stelle durch, dass alle positiven Traditionen … kurz: An den Zeichner Hannes Hegen erging der Auftrag, für den Verlag Neues Leben eine Bilderzeitschrift zu entwickeln. Und so hatte im Dezember 1955 das ,Mosaik von Hannes Hegen’ Premiere, das ,Mosa’ – auch als ,Digedags’ bekannt. Zunächst wechselten Abenteuer von Dig, Dag und Digedag mit Pardauz-und-Krachpeng-Geschichten in einem Ferienheim, dann aber eroberten die Kobolde ein jedes Monats-Heft. Sie bauten in der Südsee ein hochmodernes Turbinenschiff und landeten damit im alten Rom, wo sic Caesar mit zirzensischen Spielen umgarnten. Die schöne Patricia liebte den Sklaven Alfio – und die Digedags halfen beim Tete-à-tete. Mit dem germanischen Koch Teutobold narrten sie dümmliche römische Heerführer, verteidigten Syrakus und gerieten in der arabischen Wüste in einen merkwürdigen Turm – der sich als Mondrakete entpuppte. Ende der Fünfziger landeten die Digedags nun in einer Zukunfts-Gesellschaft auf dem Planeten Neos. Es gab nur noch Automatenrestaurants und lediglich zwei Riesen-Staaten. Die gute (sozialistische) Republikanische Union wurde von einem bösen (kapitalistischen) Großneonischen Reich bedroht. Der fiese Spion McGips, ein Bildhauer, der in seinen abstrakten (!) Plastiken Sendegeräte verbarg, wurde enttarnt, wie auch der Raumschiffkommandant Peer Tyla, der sich Vertrauen erschlichen hatte. Der Kalte Krieg tobte in bunten Farben. Doch die Bösen wurden niemals dahingemetzelt, sondern verlacht und erzogen. Der Werkstoff Digedanium wurde erfunden, die Digedags tourten durch verschiedene Erdzeitalter – Digedag ging dabei verschütt. Dig und Dag waren beim Silberbergbau im Erzgebirge dabei, beim Sonnenkönig in Versailles und bei James Watts Erfindung der Dampfmaschine. Später fuhren sie auf dem Mississippi durch Amerikas Gold-Zeiten, der Mittelalter-Ritter Runkel nahm sie mit nach Venedig … und irgendwann im Jahre 1975 war zwar nicht Schluss mit lustig, aber mit den Digedags. Hannes Hegen mochte nicht mehr. Von da an hießen die Kobolde Abrafaxe. Die schon lange als geistige Chefs hinter der Kulisse Hannes Hegens wirkenden Lothar Dräger und Lona Rietschel machten mit den übrigen Mitarbeitern im ,Mosaik-Kollektiv’ weiter. Und da die Abrafaxe nicht gestorben sind, leben sie noch heute.

Derzeit existierende Mosa-Fan-Klubs werden meine Darstellung anzweifeln, da sie nicht jede Nuance ausleuchtet, außerdem spielen mir meine Erinnerungen gewiss solche Streiche wie die Digedags den Bösen – wer alles noch genauer wissen will, mag in mittlerweile existierender Fachliteratur nachlesen, so in jener der Digedag-Forschr Gerd Letkemann und Michael Scholz.

Natürlich, der wirkliche Mosa-Fan wird immer wieder die Digedags zitieren, da der ausgewachsene Mosa-Fan heute so um die Fünfzig ist und eine Kindheit und Jugend lang jeden Monat das neue Heft sehnsüchtig erwartete. Der wirkliche Mosa-Fan wird mit leuchtenden Augen von Bhur Yham reden und Ritterregeln auswendig kennen, und den Spruch ,Da staunt der Fachmann und der Löwe wundert sich’ kann er blind Heft 7 zuordnen. Wer da mitreden will, tja, der muss eben lernen, lernen und nochmals lernen …

Rinderoffenstall

Alle geschichtlichen Taten werden irgendwann wieder ruchbar. Wenn der Begriff ,Kuhhandel’ in der Epoche von Rinderwahnsinn und Brüsseler Büros eine ganz neue Deutung erhält, so hatte auch das gute alte Rindvieh, das in manchen Zeiten vegetarischen Verbraucherschützern gefährlicher als ein Atomtransport erschien, eine exponierte Stellung in der DDR-Landwirtschaftsgeschichte.

Stalin war zwar schon gestorben, in den gruselig-seligen mittleren Fünfzigern, aber der Slogan ,Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen’ war allgegenwärtig. Besonders in der Landwirtschaft taten sich auf fernen Forschungsfeldern großartige Dinge: Mitschurin sollte Tomaten von Riesengröße gezüchtet haben. Es ging ein Witz um: Kennst du die Mitschurin-Kreuzung aus Erdbeere und Kürbis? Sieht aus wie eine Erdbeere, ist so groß wie eine Erdbeere und schmeckt wie Kürbis.

Mit Nikita Chruschtschow hatte ein Mann des ukrainischen Dorfes den Moskauer Chefposten erklommen – überall wurde heftig Neuland gewonnen. Der Mais, in Chruschtschows Heimat allgegenwärtig, wurde nun auch in der DDR angebaut. Da er hier aber vor allem als Futterpflanze genutzt wurde, wurde Chruschtschows Spruch: ,Der Mais, das ist die Wurst am Stängel’ bald populär – und im Unterschied zu anderen Übernahmen kann man das bis heute gelten lassen. Mais-Silage ist gewiss gesünderes Viehfutter als Tiermehl.

Aus der Sowjetunion kam aber auch die Kunde von in Gänze gesunden Kühen. Die Sowjet-Kuh sollte deutschem Vieh Vorbild sein. Rinder litten nämlich hierzulande an TBC – die menschlichen TBC-Kranken wurden mit viel frischer Luft geheilt. Und den deutschen, kränklichen Kühen sollte nun ähnliches verordnet werden: der Rinderoffenstall. Wenn der schädliche Wechsel zwischen sommerlicher Weide draußen und winterlicher Stallhaltung durch eine hochmoderne Methode verhindert würde, liefen alsbald nur noch kerngesunde Rinder mit gigantischer Milchleistung durchs deutsche Demokratenland. Das abgehärtete Rind, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl … nein, das war ein Slogan aus noch tieferer deutscher Geschichte. Bleiben wir im jungen Nichtbundesland DDR: Der Rinderoffenstall war eine Art Carport, in dem die Tiere bald sowjetisiert würden, also den Unbilden der Natur in allzeit freier Luft trotzen könnten.

Das Besondere an DDR-Beschlüssen war, dass sie in Windeseile von oben nach unten ,durchgestellt’ wurden. Hatte sich in einem leitenden Politbürokopf irgendein Rinderwahnsinn eingestellt, so grassierte er bald auch in allen nachgeordneten Köpfen. Überall mussten die soeben vergenossenschaftlichten Bäuerlein Rinderoffenställe bauen. Notfalls wurde alten geschlossenen Ställen einfach eine Mauer entnommen. Dass deutsche Rinderrassen sibirische Kälte nicht ganz so gut ertrugen wie langhaarige Artgenossen, focht die Sowjet-Methodiker nicht an. Dass die Euter als natürliche Kühl-Aggregate überfordert waren, wussten zwar die Bauern, aber die Instrukteure – auch ein schönes, altes Zeitgeist-Wort –, die Instrukteure waren der festen Ansicht, es läge nur an der ideologisch verstockten Bauernklasse.

Die Wirklichkeit – zurückgehende Milchleistung, erfrorene Kühe – belehrte die Eiferer in diesem Fall recht schnell: Die Rinderoffenställe wurden bald wieder geschlossen. Und wie immer konnten die Instrukteure nun den Bauern erneut Vorhaltungen machen: Genossen Bauern! Diesen Fehlschlag hättet Ihr doch voraussehen müssen! Ihr seid schließlich die Spezialisten! Wir geben nur die ideologische Richtung an. Und die lautet: Die deutsche Kuh lebt ungesund und liefert zu wenig Milch. Und ist das, Genossen Bauern, etwa falsch?

Mit den Rinderoffenställen ist eine jener Kampagnen losgetreten worden, die erstaunlich schnell nur noch als Beispiel für anbiederndes Funktionärsdenken stand. Kein DDR-Kabarett der Sechziger- und Siebzigerjahre, das nicht irgendwann eine Rindernummer im Programm hatte oder wenigstens das Reizwort ,Rinderoffenstall’ fallen ließ. Es war alles längst vorbei, die Rinder aus den zugigen Ställen waren im Wortsinn längst gegessen, aber man konnte den Führungsgenossen ihre Dämlichkeit vorhalten. Weil die Rinderoffenstallkampagnen der Gegenwart tabu waren, rächte man sich immer und immer wieder an längst totgewitzelten echten Rinderoffenställen. Und weil man sich all das kaum vorstellen kann aus heutiger Sicht – was die mit den blöden Zonis aber auch alles haben machen können! – freue ich mich schon darauf, wenn heutige Rinderwahnsinnsbeschlüsse dereinst in ganzen Büchern erklärt werden. Frauofrau! (Das wird frau später aus Gleichstellungsgründen sagen müssen) Frauofrau! – müssen die bescheuert gewesen sein! Die Deutschen am Anfang des dritten Jahrtausends!

ASK-Trainingsanzug

Für manche Filme gilt es, DDR-Atmosphäre herzustellen. Das Rezept ist einfach: Man nehme eine Plattenbau-Front – natürlich ohne nachträglich angebrachte Werbetafelei. Davor platziere man einen Trabbi (Trabant 605 de luxe aus den VEB Automobilwerken Zwickau). Der Trabbi wiederum wird von einem Manne mittlerer Fülligkeit auf Hochglanz gebracht. Dazu benutze man nur Wasser, Eimer, Wischlappen und eventuell Bürsten. Natürlich kann man eine Tube mit der Aufschrift ,Elsterglanz’ in Großaufnahme zeigen. Wirklich wichtig aber ist die Bekleidung des Mannes mittlerer Fülligkeit. Die besteht nämlich in einem braunen Trainingsanzug, an den Bein- und Arm-Außenseiten mit gelbroten Streifen geschmückt. Solch Aufzug erinnert ein bisschen an General, aber durch die farbige Dreifaltigkeit Braun-Rot-Gelb wird auch die deutsche Nationalfahne assoziiert. Der Anzug selber darf ausgebeult sein. Wenn man mehrere Männer für diesen Film als Staffage einsetzt, sollten einige nur die Trainingshose tragen, als Oberbekleidung hingegen ein schlumperndes Turnhemd. Damit wird ,Sommer’ angezeigt. In solcher Bekleidung öffnen die Männer mittlerer Fülligkeit aber zu jeder Jahreszeit die mit Holztapete beklebten Eingangstüren ihrer Plattenbauwohnungen. Es ist überheizt, weil die Heizkörper a) nicht abstellbar oder b) der Abstellhahn kaputt oder c) die Heizung sowieso pauschal bezahlt ist. Deshalb also tragen die Männer nur ein Turnhemd auf dem bloßen Körperhaar. (Die Frauenbekleidung, die vornehmlich aus der geblümten Dederon-Kittelschürze besteht, kann jetzt nicht näher behandelt werden: Wir bleiben beim Trainingsanzug.)

Achtung – der Anzug ist KEIN Jogginganzug, da ,Jogging’ zur Produktionszeit des braunbeutelnden Trainingsanzugs noch ,Meilenlauf’ hieß, welcher unter Anleitung eines gewissen Dr. Edelfried Buggel massenhaft in volkseigenen Parkanlagen stattfand und der Gesundheit der werktätigen Massen diente, während die schnaufend-verbissenen Jogger der Gegenwart, denen das Herz elektronisch kontrolliert bis zum Halse schlägt, grundsätzlich Singles sind: leistungswillig, flexibel, konkurrenzfähig; toughe Typen, die einfach gut drauf sind. Top-guys von Head bis qualmender Socke (Hot–socks).

Der Trainingsanzug, der aus den Beständen der Nationalen Volksarmee (NVA) stammt (und noch immer gern in Plattenbausiedlungen getragen wird), zeigt auf der Jacke rücklings gelegentlich auch die Buchstaben ASK. Armeesportklub bedeutet das, und deren gab es viele zwischen den Standorten Stralsund und Bad Salzungen. Manchmal hieß es auch ASV auf dem Jackenrücken – Armeesportvereinigung. Die feinen Unterschiede klärt man am besten mit einem Experten, also einem einst sport- oder armeebegeisterten Opa.

Im ASK-Trainingsanzug wurde selten individuell die Leistungsgrenze erreicht, sondern im Kollektiv geschwitzt. Man robbte bis zum Horizont, und das Wasser musste im Arsch kochen. Zwar waren alte deutsche Schikane-Maßnahmen und Wehrmachts-Ausdrücke offiziell verpönt: Das Klo mit der Zahnbürste zu schrubben war eines sozialistischen Standortes unwürdig – es kam dennoch vor. Birken wurden auf Sichtseite weiß getüncht und das Laub per Hand von der Wiese geklaubt. Die heute friedlich von Arbeitslosen und Frührentnern getragenen ASK-Trainingsanzüge waren übrigens nur bei simulierten Übungen ,Soldat im Angriff’ dabei; man darf das bei der neuen Welt-Rolle einer deutschen Armee ruhig und emotionslos mal mitdenken.

Die NVA, vor allem aber deren Offiziere, waren in der DDR-Bevölkerung meines Erachtens nicht sonderlich angesehen. Nur wer ein sehr mäßiges Abitur hatte, ging freiwillig auf eine der Offiziershochschulen. Ich habe den ,Barras’, wie mein Vater sagte, nicht sonderlich tief ausgekostet, aber meine Studenten- und Reservisten-Erfahrung ist ätzend genug, auch dieser Armee keine heitern Erinnerungen anzuhängen. Wenn Sie, lieber Leser, brav dieses Buch bis zum Schluss durcharbeiten, stoßen Sie auf weitere unheitere Erinnerungen. Wie immer werden manche sich mit goldigen Gefühlen an ihre anderthalb Jahre bei der ,Fahne’ erinnern und verklären: Es war gar nicht so schlimm; wir hatten doch einen Lenz; wir haben doch nur aufm Sack gelegen und die Nüsse geschaukelt; bei uns kriegte keiner einen Zapfen …

Wenn die gebeutelten braungelbroten ASK-Trainingsanzüge in Filmen gezeigt werden, erfüllen sie einen vernünftigen Zweck. Manch einer ihrer Träger wird längst vergessen haben, dass er früher, als er noch ein vom Hass auf den Feind erfüllter Vorgesetzter war, bei einer Auszeichnung nicht ,Dankeschön’, sondern ,Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik!’ zu brüllen hatte. Ach ja, und immer mehr Trainingsanzug-Träger werden ihren Aufputz ohnehin von Andenkenhändlern (aus Memory-Shops) erworben haben …

Brigadetagebuch

Gleich, wo wir zur Schule gingen: Wenn der Unterricht nach deutschem System ablief, lernten wir das Zergliedern. Ein zusammengesetztes Wort gliedert sich danach in Grund- und Bestimmungswort.

Was ein Tagebuch ist, soll hier nicht zergliedert werden; wir nehmen es als Grundwort. Autoren schreiben zum Beispiel hinein: „Montag. Muss unbedingt noch das Manuskript für ‚Was heißt eigentlich DDR?‘ überarbeiten, habe aber keine Zeit, weil ich Tagebuch führen muss …“ Nähern wir uns nun dem Bestimmungswort des Begriffs ,Brigadetagebuch’. Die Brigade. Ein militärischer Ausdruck, der eine Heeresabteilung, größer als Kompanie und Regiment, kleiner als Armee, bezeichnet. Im DDR-Betrieb aber war die Brigade ,eine Wettbewerbsgruppe; das kleinste Arbeitskollektiv in der volkseigenen Wirtschaft in gemeinschaftlicher Lohnverrechnung’. Der Chef hieß Brigadier, ,der von allen Arbeitern anerkannte fortschrittlichste Arbeiter der Brigade’. Solch Bezeichnung rührte daher, weil ,Meister’ oder bei den Maurern ,Polier’ in früher DDR als bürgerlich galt – in der Sowjetunion mochte man weder Meister noch Handwerk kennen. Aus dem Keltischen übers Italienische und Französische war der Brigadier ins Russische übernommen worden, und als Sowjetbegriff hatten deutsche Meister nun Brigadiere zu sein, waren aber doch nur Vorarbeiter. Spät erst in der sozialistischen Wirtschaftsgeschichte erhielt der Meister seine Würde und seine Führungsfähigkeit zurück.

Wir sind abgekommen und haben ein Stück Geschichte erzählt – das eben aber war Aufgabe des Brigadetagebuchs. Ein solches war meist ordentlich ledergebunden (sehr gern rot, gülden geprägt der Deckel) und enthielt viele blütenweiße Seiten. Da hinein nun waren die Erfolge, die Erfolge und die Erfolge der Brigade zu schreiben, ökonomische und kulturelle. Der Brigadetagebuchführer, der öfter eine Brigadetagebuchführerin war, bekam sogar ein paar Stunden frei, um in Schönschrift aufzulisten: ,Wir erfüllten den Plan auch im dritten Quartal zu hundertundsieben Prozent, und Kollege Greiner-Müller hatte wiederum den größten Anteil daran. Sorgen macht uns unser Lehrling Conny, aber wir haben eine Patenschaft über ihn übernommen, damit seine Fehlschichten ein für alle Mal der Vergangenheit angehören.’ Wer Fantasie hat und DDR-Brigaden von innen erlebte, kann daraus nun ganze Geschichten schöpfen. Den anderen wollen wir nicht zu viel Mühe bereiten, sondern nur andeuten, dass Brigadetagebücher vor allem das außerbetriebliche Leben der Brigade widerspiegelten: ,Unser Brigadeausflug erfolgte in bewährter Weise ins schöne Schwarzatal, wo uns nach einem kräftigen Marsch, den die Kollegen Baumert und Henseleit aus fadenscheinigen Gründen ablehnten (Fußverletzung) und per Pkw absolvierten, das Ziel erwartete. 15.20 Uhr trafen alle im Gasthaus ‚Trippsteinblick‘ ein, wo die Kegelbahn bereits ‚angewärmt‘ war. Mit fünf Abräumern gewann erwartungsgemäß Kollegin Müller, Elfie, was aber insofern nicht verwunderte, da sie mit der BSG Chemie Bezirksmeister im Kegeln ist. Danach stärkten wir uns alle an Rostbrätln, von Koll. Hase fachmännisch besorgt und gebraten, und am Bier, dem einige Kollegen wieder etwas zu heftig zusprachen. Um 22.00 Uhr kam der bestellte Bus zurück, so dass wir zusammenfassend feststellen können, dass die Organisation, die in den Händen unseres Gewerkschaftsvertrauensmannes Olberth, Frank, lag, nichts zu wünschen übrig ließ.’

Vielleicht sollte man zu diesem Stücklein anmerken, dass BSG die Abkürzung für Betriebssportgemeinschaft war und sowohl Sport wie auch solche Brigadeausflüge großzügig alimentiert wurden: Die Zeit konnte herausgearbeitet werden, bis in die Achtzigerjahre hinein galten solche Veranstaltungen auch als Arbeitszeit, und der Brigadier ,schrieb dafür Durchschnitt’. Allseitig entwickelte Arbeiter sollten eben auch Kultur genießen – es gab dafür Punkte, die bei Prämien und im Ökulei eine Rolle spielten. Ich merke, es tut sich schon wieder eine ganze Anzahl böhmischer Dörfer auf – verschieben wir's nach hinten. Nur soviel noch: Es gab auch Brigadetagebuchvergleiche; manche Brigadetagebuchführer hatten literarischen Ehrgeiz und schrieben die Erlebnisse der Brigade so auf, dass sich hinten alles reimte. Schriftsteller leiteten dann wiederum die besten Brigadetagebuchführer an: ,Zirkel Schreibender Arbeiter’ und ,Poetenseminare’ grüßten im Staat der Organisationsvernetzungen von ferne – auch das sind andere Geschichten …

Wer heute in da oder dort aufbewahrte Brigadetagebücher hineinschaut, erfährt nur einen ganz bestimmten Teil einer jeglichen Geschichte. Diese ist manchmal unfreiwillig komisch, manchmal ganz wunderbar komisch und meistens so halb fertig wie das ganze Leben.

Kreisleitung

Die Regeln für den Kreisverkehr sind kürzlich geändert worden. Man fährt blinkfrei in den Kreisverkehr; erst bei Ausfahrt wird rechts geblinkt. Dabei fällt mir ein Witz von 1968 ein, der möglicherweise in irgendeiner Kreisleitung erfunden wurde: Bei den Tschechen gibt es jetzt neue Straßenverkehrsregeln: links blinken, rechts fahren.

Dieses Stücklein Text muss Zugezogenen und Jugendlichen wahrlich böhmisch-tschechisch vorkommen: Kreisleitung und Kreisverkehr, falsches Blinken und 68?

Das Jahr 1968 war in der DDR nicht das Ausgangs-Jahr für gefährliche Frühstücke mit Terroristen, wohl aber verbog es manchen Lebenslauf. In Prag hatten Reformer das Sagen, doch im August begannen Sowjet-Panzer eine Konter-Reform. Wer sich hierzulande mit den Reform-Tschechen lautstark solidarisierte, dem konnten Abitur, Studienplatz, Auslandsreise, gar das normale freie Leben gestrichen werden. Den Reformern wurde unterstellt, sich nur verbal links zu gebärden, in Wahrheit scharf rechts zu steuern, gen Kapitalismus. Solches wurde in Zentren der DDR-Macht, in Kreisleitungen, verkündet.

,Kreisleitungen’ waren nicht etwa staatliche Einrichtungen der Landkreise und Großstädte. Die hießen Oberbürgermeister oder Rat des Kreises. Kreisleitungen waren Machtorgane der SED. Der Chef hieß Erster Sekretär, kurz ,Der Erste’. Landolf Scherzer hat einen solchen im gleichnamigen Buch porträtiert. Und wer ganz genau wissen will, mit wie viel Macht Erste ausgestattet waren, für welchen Popelmannskram sie aber auch zuständig zu sein hatten, sollte dies Buch, in tiefer DDR recherchiert, geschrieben und veröffentlicht, lesen.

,Das geht bis zur Kreisleitung hoch’, sagte man, wenn man von der Wichtigkeit eines Gegenstandes überzeugt war. Und von der Kreisleitung ging es ,zum Bezirk’. Das letzte Stadium dieser Gottesanrufung war ,bis Berlin’. Seit 1952, der Auflösung der Länder, war die DDR stramm zentralistisch eingeteilt: Hauptstadt, Bezirksstadt, Kreisstadt – nach dem Vorbild Frankreichs. Dabei waren große Landkreise zum Teil verkleinert worden, zwecks ,Bürgernähe’, schon damals beliebtes Schwammwort. Artern, Ilmenau oder Hainichen wurden so zu ,neuen’ Kreisstädten – und mussten ihre Verwaltungswürden inzwischen allesamt abgeben.

Nichtkreisstädte und Gemeinden hatten das Nachsehen, ebenso wie zum Beispiel die thüringischen Nichtbezirksstädte Jena oder Meiningen, die Suhl und Gera immer nachgeordnet waren, trotz vergleichbarer Größe und Bedeutung.

Die Kreisleitung war ideologisches Standbein für den undemokratischen Zentralismus. So waren die Lokalseiten der Tageszeitungen auch ,Organe der Kreisleitung’. Nicht umsonst traf sich Honecker gelegentlich mit allen Kreis-Chefs zu Mammutsitzungen, um die Linie vorzugeben. Übrigens war die Kreiseinteilung nicht nur territorial; Großbetriebe, wie Carl Zeiss, Agfa Wolfen und Universitäten hatten eigene Kreisparteiorganisationen.