Wir Beuteldeutschen oder Wie ich zum Widerstandskämpfer wurde - Matthias Biskupek - E-Book

Wir Beuteldeutschen oder Wie ich zum Widerstandskämpfer wurde E-Book

Matthias Biskupek

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Beschreibung

DER BEUTELDEUTSCHE, EIN AUSSTERBENDES WESEN? WAS SIE ÜBER IHN WISSEN SOLLTEN: wie er sein persönliches Süppchen kochte, wie er früher und heute die Zukunft vollendete, wie er seinen Rennsteig bewanderte, wie er zum mutigen Mitmurrer wurde, wie er widerstandskämpfte, wie er seine wilde verwegene Staatsjagd betrieb, wie er seine deutsche Zentralrührseele spürte, wie er sich das Vaterländische Verdienstkreuz erarbeitete. In zweiundvierzig kurzen Texten werden frech-feuilletonistisch und respektlos Zeichen einer so ungewöhnlichen wie atemberaubenden Zeit kommentiert: die Gegenwart '89/90 des gelernten und rsp. gewesenen DDR-Bürgers. Der Gebrauch von Zwerchfell und Verstand bei der Lektüre empfiehlt sich.

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Impressum

Matthias Biskupek

Wir Beuteldeutschen oder Wie ich zum Widerstandskämpfer wurde

Satiren, Glossen & Feuilletons

ISBN 978-3-96521-497-2 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1991 im Eulenspiegel Verlag Berlin

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Mauerstück im Garten

Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist ein gutes Angedenken. Die Tat ist flüchtig; ewig aber rauschen die Erinnerungen an sie.

Nun ist das mit dem ewigen Erinnerungsrauschen vertrackt: Die Oma wird irgendwann nicht mehr ernst genommen, wenn sie von Friedenspreisen und lobenswerten Eintragungen auf ihren Zensurenzetteln berichtet. Hornalte Omas bringen gern alles auf der Welt durcheinander. Hätte die Oma noch Sachzeugen zur Hand, also die gusseiserne Vorkriegsplätte mit original angeleimtem Preisschild und den sütterlingeschriebenen Zensurengilbezettel, bliebe uns wirklich nur großes Staunen: Mann – Oma – die hatte ein hartes Preisniveau, war aber dennoch stets lobenswert.

Wir aber wollen auch Härte gespürt und dennoch lobenswert gehandelt haben. Das müssen wir irgendwann später unsern Enkeln und schon heute den neidischen Nachbarn beweisen. Eine ganze Epoche haben wir hinter uns gebracht und eine Vollrevolution siegreich bestanden.

Wir haben zwei leibliche Generalsekretäre und ein unleidliches Grenzsicherungssystem hinweggefegt. Nun pfeift durch die beinhärteste Mauer der Welt der Wind, und das klingt fast wie das ewige Rauschen der Wälder.

Wollen wir uns diese Erinnerung nehmen lassen, von einem devisenstarken Denver-und-Dallas-Clan? Die Mauer in fremden, dollarverschmutzten Pfoten? Unser Stolz aus Beton, fern der Heimat? Nein, die Mauer muss unser bleiben!

Jeder richtige Revolutionär sollte ein Mauerstück erhalten. Dank und Anerkennung. Als Sitzstein für den Garten, als Stützwand für die Datsche, als Stele fürs Blumenbeet; notfalls ein kleineres Stück für die Schrankwand. Junge Mädchen bekommen ein Mauerbröckchen als Brosche gefasst. Anerkannte Revolutionärskinder erhalten den preisgünstigen Mauer-Kampf-Steck-Steinbaukasten.

Im Garten könnten wir unsern Nachbarn und später den Urenkeln demonstrieren, wie wir fast in Mauernähe demonstriert haben. Mit welcher Verachtung wir die Mauer täglich ignoriert hatten, wenn wir ins ministerielle Büro gingen. Wie wir die Mauer sogleich mit der Mitsubishi-Rolle überflankt haben, als sie erstmals stückhaft im Garten stand. Das, werte Frau Nachbarin, könnten wir sagen, ist jenes Bollwerk gewesen, das uns nie und nimmer geschreckt hatte, und, mein Junge, würden wir meinen müssen, hier haben wir uns die besten Zähne unserer Jugend dran ausgebissen. Doch heut brauchst du keine Angst mehr zu haben, denn wir, mein Junge, haben ganz maurisch für dich gekämpft. Und wenn wir heute auch nuscheln müssen, wegen der fehlenden Mauerbeißzähne, so wird dich dieses Schicksal nie und nimmer treffen, denn dein Zahnersatz wird zu dreißig Prozent vielleicht wieder teilfinanziert werden, denn du hast endlich in die richtige Ortskrankenkasse deinen Beitrag geleistet.

Doch auch in allernächster Zukunft kann selbst ein kleines Mauerstück in der Schrankwand einem netten Einzelgast zeigen, was wir für ihn miterrungen haben. Wir führen nachts halb zwölf keine Briefmarkensammlung mehr vor, nein, wir sagen, dass wir gestatten, noch mal dranzufassen, an unser bestes Stück von der Revolution.

Wir könnten weitere Zeugen unserer Unterdrückung zur Ausgestaltung von Heim und Büro nutzen. Das Telefon, wo bestimmt eine Wanze drin versteckt war. Den vorgedruckten Brief, der unsere Staatsratseingabe abschmetterte. Die Reißzwecke, die wir dem Parteisekretär auf den Stuhl praktizierten. Jene Mallorca-Ansichtskarte, die wir in der Zeit der Postungeheimnisse erhielten. Und schließlich die handschriftliche Mitteilung: „Liebe Mutti! Sind im Garten.“ Das war natürlich sowohl Geheimcode, wie auch Ausdruck unseres Aussteigerwillens.

Und wenn wir dereinst an einem lauliberalen Gartensommerabend auf unserer umgewälzten Mauerplatte sitzen, das dekorative Stacheldrahtverhau im Blick, das es damals leider nur noch ungebraucht bei der Einkaufs- und Liefergenossenschaft zu erwerben gab, das Geräusch der neuen Autobahn im Ohr, das uns sagt: Hier fährt das Volk! – wenn wir die etwas pfuiroten Abendsonnenstrahlen auf unserem endlich verdoppelt und verdreifachten Kinn spüren, dann können wir, einen Deutschländler pfeifend, feststellen: Das Wertvollste, was dieses Land besaß, haben wir uns zu eigen gemacht.

Offener Brief, das öffentliche Ausplappern dieses Buches betreffend

Lieber Demokratischer Leser,

Du sollst nunmehr mitbestimmen. Deine Mitbestimmung, Lieber Demokratischer Leser, beginnt schon an dieser Stelle, indem Du, zu Recht, nörgelst, meckerst, Dich eschoffierst: Du bist nämlich kein Lieber Demokratischer Leser, sondern die Liebe Demokratische Leserin.

Allen geschl. Verwässerungen, die darin bestünden, dass ich LeserInnen schriebe, gehe ich radikaldemokratisch zu Leibe. Ich betrachte Dich als völlig geschlechtsbefreite Buchstabeneinheit. Als LDL. Auf dieser Basis, LDL, können wir reden.

Es geht nämlich um Dein Mitlesen meiner aufgeschriebenen Ideen. Doch dazu muss ich ausholen. Pass also auf, LDL:

Du hast als LDL die schweren, stagnationell-resignativen Jahre mitgemacht. Nun nervt Dich die neue Zeit umso mehr. Früher waren die Zeitungen und die Zimtzicken und die Zugverbindungen und was weiß ich welche Zweizentnerpersönlichkeiten dran schuld, dass alles nur so zum Negativspeisen war. Wer, LDL, ist jetzt dran schuld? Siehst Du, LDL, das kocenirt mich auch an.

Drum habe ich all das zusammengetragen, was mir damals den tollkühnen Mecker-Mut gab. Später dann, in jenen Zeiten, als wir straßenkämpften und oktoberräsonierten, als wir uns mitten in die Gefahr hinein wendeten … ach, wir!

Ich weiß, LDL, Du und ich, wir mussten nie unsere Meinungen ändern.

Davon, LDL, bekommst Du nun zu hören. Von all jenem, was ich zu singen und zu sagen habe, gereimt und freirhythmisch konstatiert, lässig hingenuschelt und kräftig ausgesprochen.

Apropos und zurück zum Aussprechen: In den schwarzen Zeiten der persönlichen Beschneidung habe ich gar manche der hier versammelten Gefährlichkeiten öffentlich vorgelesen. Hautnah. Voll ausgebreitet. Ich konnte das Weiße im Auge des Zuhörers sehen. Dabei war vielleicht hinter manchem freundlichem Zuhörerlächeln eine Nachrichtendienstliche Einheit verborgen.

Doch ich brachte mutig meine Wahrheiten zum Ausdruck.

Und was ist jetzt?

Jetzt muss ich das früher hochgefährlich Vorlesbare einfach drucken lassen. Weil es, auf einmal, mir nichts Dir nichts, ohne dass ich was dafür kann, erlaubt ist.

Und jeder kann‘s nun lesen und laut aussprechen!

Mir konnte doch gar nichts Schlimmeres passieren. Du, LDL, kannst mit diesem Büchlein in der Hand all das selbst tun, nämlich hochgefährlichen Kitzel ganz deutlich aussprechen und spätideologische Torturen vollführen, wofür ich allein bisher das Monopol hatte.

Das ist für mich das Ergebnis dessen, dass wir nun Demokratie haben.

Jeder kann laut die mir allein gehörigen Gedanken aufsagen. Jedes hergelaufene LDL mag schlicht mitreden; kann einfach meine Texte mitsprechen.

Wenigstens Tantiemen, LDL, müsste ich doch dafür bekommen? Ein paar Tantiemeleinchen, nur ein paar … LDL! Es gibt heutzutage Anwälte!

Beim Geld nämlich hört die Demokratie auf!

Spürst Du wenigstens, LDL, dass ich ein neues Feindbild habe? Mit eisernen Ellenbogen und blankgewetzten Zähnen werde ich kämpfen. Hüte Dich also, LDL, hüte Dich!

Dein Lieber Demokratischer Autor

Wie ich widerstandskämpfe

Rückhaltlos will ich offenlegen, in welcher Gefahr ich mein Leben lang schwebte. Es macht mir jetzt nichts mehr aus, wenn die Welt weiß, wie ich den Widerstand entfachte.

Auch in Zukunft werde ich die Gefahr lieben.

Ich kam zur Welt und wuchs auf. Gewiss: Zunächst war ich wirklich nur ein kleiner Beitrag auf dieser Erde.

In jenen Zeiten, da andre, als Rotzlöffel bezeichnete werdende Staatsbürger, noch Lebensmittelmarken gedankenlos zerschnipselten, stellte ich Vierjähriger bereits bohrende Fragen zur Zeit. Bohrende Fragen. Warum wuchsen gerade in Omas Nase Haare, nicht aber in anderen landesweiten Oma-Nasen?

Scheinbar gab ich mich damals mit der Antwort zufrieden, welche lautete: Quatsch keine Opern! Doch kaum war ich ein Jahr älter, ließ ich meine jüngere Schwester der Sache auf den Grund gehen: sie hatte der schlafenden Oma die Nasenhaare auszurupfen. Dafür wurde die Schwester drastisch gemaßregelt. So gelang es mir, mich zu rächen. War die sich herausbildende Verständnislosigkeit wissenschaftlichem Forscherdrang gegenüber nicht strafbar? Meine Schwester musste eben die Härte der Strafe spüren.

Der übergewaltigen Pionierorganisation, die uns Schüler später zwangsvereinte, trat ich zwar bei, doch nie nie fand ich mich mit dem Pioniertuchhalsknoten ab. Ich sah aus wie reingeborgt und zwangsgehängt, wenn ich das blaue Tuch umgeschlungen hatte. So musste bis zur Pubertät meine Mutter mir das dogmatische Textil auf jene bis heute bekannte stalinistische Weise binden. Nach außen wurde ein scheinbar glatter Knoten demonstriert. Ich aber demonstrierte im Innern. Besonders, wenn die sattsam bekannte Schulküche Bohnensuppe ausgekellt hatte.

Ich ergriff den Beruf eines Zerspaners. Mein Unterbewusstsein ahnte, dass wir einer verrotteten Welt nur beikommen können, indem wir sie zerspanen, zerspanen und nochmals zerspanen. Schön langsam.

Selbstverständlich habe ich mich längerdienend zur Armee verpflichtet. Den Oberfeldwebelrang, den ich schließlich einnahm, konnte auf diese Weise kein anderer besetzen.

Ich weiß auch, dass ich durch meine Ausbildungsmethoden manchen Spritzer und Mittelpisser, gar manches Rotärschlein, zum heimlichen Pazifisten qualifizierte. Mir war es gelungen, anschaulich klarzumachen, wie die Armee im Ewiggestrigen verhaftet war. Wenn heute im ganzen Lande wenig Militärbegeisterung herrscht, so ist mein Anteil daran kein geringer.

Kaum aus den Streitkräften entlassen, begann ich eine Laufbahn in der Jugendorganisation. Auf unzähligen Banketten habe ich heftig zugelangt, mitten hinein in Kaviareier und straffblaue Blusen. Wie anders hätte ich demonstrieren sollen?

Ja, ich demonstrierte, dass Jugendfunktionäre zu den Drohnen und Parasiten gehörten. Nicht kritische Theorien herumzublasen gilt es: Man muss Kritikwürdiges praktisch durchführen. Sonst gelingt es einem nie, die Massen zu ergreifen und mit der Nase drauf zu stoßen.

Mit eisernem Willen gelang es mir immer besser, den Widerstand auszubilden.

Als ich die Parteischule absolvierte, habe ich mehrmals dafür gesorgt, dass schon damals Genossen die Partei verlassen durften. Genossen, die mir heute dankbar sein müssten, dass ich sie vom Parteijoch durch Ausschluss befreit habe. Auch wusste ich wiederum: Eine Funktion, die ich einnehme, kann kein anderer für Denunziationen nutzen.

Später, in verantwortlichen Funktionen, demonstrierte ich: Die staatstragende Partei genießt so viel Unansehen, wie der einzelne Funktionär an Staat wegzutragen weiß.

Es war mutig und gefährlich, dass ich das Partei-Ansehen unablässig von innen bekämpfte. Wie leicht hätte man mich entlarven können?

Manch einer mag einwenden, dass man von außen hätte kämpfen müssen. Doch habe ich nicht schließlich bis zum schlagenden Ende bewiesen, dass mein innerer Widerstandskampf heute restlos gesiegt hat?

Habe ich nicht all jene anstrengenden Jagd- und Sicherheitsprivilegien auf mich genommen, um das System endgültig zu diskreditieren? Wäre die Polizei ohne mein Ansporn zu Ungesetzlichkeit nicht heute übermächtig? So aber ist sie ganz klein und grün. Ist nicht wirklich die beste Form von Widerstand jene, die nicht bloß an Randerscheinungen herumkratzt, moralische Postulate verkündet, mal da oder dort einem Repräsentanten ein Bein stellt, sondern eine, die das System grundlegend unterminiert, aushöhlt und durchmorscht?

In meiner kämpferischsten Zeit gab es Halbherzige, jene, aus der demokratisch-öffentlichen Fraktion, die ungenehmigt drucken ließen, da oder dort zum Zeichen des Protestes sich weiß schminkten, Kerzen vor Ämtern aufstellten, in halbprivaten Kreisen von Gewaltfreiheit salbaderten. Sind es aber nicht diese Stehkragenrevolutionäre, die in allen Zeiten Umbrüche gefährdeten, die Aufweichler und Abwiegler und Demokratikusse?

Ich hingegen habe mitgeholfen, auflagenstarke Parteiblätter zu Zentren des Widerstandes zu entwickeln: Die Bevölkerung begann zu kochen, wenn sie diese Blätter las.

Was heißt „Mobilisierung der Massen“ denn anderes, als die Massen in Wut geraten zu lassen?

Ich habe bei gut organisierten Massendemonstrationen stets von Kampf gesprochen, von Diktatur und unversöhnlichem Hass. War meine Sprache nicht die viel direktere, als die all der bleichsüchtigen Brillenemmas und Kerzenapostel mit ihren toleranzigen Ansichten?

Natürlich könnte ich mich jetzt aufs Altenteil zurückziehen. Ich darf sagen: Ich gehöre zu den Siegern der Geschichte. Denn ich habe erreicht, was ich wollte. Dank meiner unablässigen Nadelstichschläge von innen ist ein System restlos erledigt worden.

Jahre und Jahrzehnte habe ich gebraucht. Der Dank wird einem verdeckt arbeitenden Widerstandskämpfer selten zuteil. Doch ich brauche nicht Zuspruch: Ein neues Bewährungsfeld für mich muss her. Und ich werde es schon bald gefunden haben.

Könnte es nicht plötzlich passieren, dass Menschen, die öffentlich Lauterkeit und Gewaltfreiheit und Toleranz predigen, sich auch heimlich und privat, gar in ihrem politischen Handeln, daran halten wollen?

Da muss man auf der Hut sein. Dies würde die Politik auf Jahre hinaus zurückwerfen. Es heißt auch jetzt wieder: emsig mitarbeiten. Ich denke schon, dass ich mit den einmal eingeübten Methoden des Widerstands noch Großes bewirken kann.

Es gibt viele demokratische Aufbrüche, in die ich längst eingebrochen bin.

Unsere wilde verwegene Staatsjagd

Plötzlich wird eilig die Hauptstraße gekehrt

Plötzlich ist die Beleuchtung wieder unversehrt

Plötzlich stehen neue Schilder am alten Fleck

Und zweifelhafte Elemente – sind plötzlich weg

Plötzlich sieht man Mauern hinter Latex verschwinden

Plötzlich entfallt Linie Vier – aus Gründen

Plötzlich spazieren Herren mit Beuteln und Blicken

Und das reservierte Hotel schaut drein: zum Entzücken

Das ist unsre wilde verwegene Staatsjagd

Das ist unsre wilde verwegene Jagd

Plötzlich sind alle Waldwege – breit

Plötzlich ist der Forst von Giftpilzen befreit

Plötzlich wachsen Fichte und Kiefer und Tann

Und die Nadeln an den Bäumen sind plötzlich noch dran

Plötzlich treffen sich Rehe aus vielen Forsten

Plötzlich hat unser Schwarzwild keine Widerborsten

Plötzlich drehen Hasen die Haken und Finten

Mit staatshäsischer Würde direkt vor den Flinten

Das ist unsre wilde verwegene Staatsjagd

Das ist unsre wilde verwegene Jagd

Plötzlich schmettert laut der Diplomatische Chor

Plötzlich kommt keine Verstimmung mehr vor

Plötzlich sind alle von Einsicht gepackt

Wenn es mal plötzlich im Unterholz knackt

Plötzlich kennen Attachés ihre Verwandten

Plötzlich ist man ein einig Volk von Gesandten

Plötzlich sind alle gut Freund hienieden

Und laut bricht er aus: der plötzliche Frieden

Das war unsre wilde verwegene Staatsjagd

Das war unsre wilde verwegene Jagd

Fragen eines zeitungslesenden Bürgers

am 176. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, dem 18. Oktober 1989

Wer schrieb all das,

Welches wir jetzt als falsch zu erkennen haben:

Von Ruhm und von Pracht und von Herrlichkeit

Von Ausgegrenzten, Aufputschern, Rädelsführern, Verrätern,

Gebrüllter Staatsfeindlichkeit, zusammen gerotteter?

Wen empörten Störenfriede? Wer erfand Knieweiche Genossen?

Kann es denn anders sein, als das alles der Sekretär,

Der Oberste, aufschrieb?

Hieß er nicht deshalb: Sekretär?

Wer schickte mit seinem Federstrich die Bauarbeiter

Zur Erschaffung palastener Zentralen?

Damit die Provinz dem Ruhme der Macht

Mehr und mehr verfalle?

Wer tadelte die Chefredakteure,

Wenn diese vom Erfolgskurs

Zwischen die Zeilen fliehen wollten?

Alles der eine, einzige Sekretär.

Und was taten die Chefredakteure nach dem Tadel?

Fertigten sie nicht doppelt brav ihre Hauptaufgaben an?

Lugten aber doll frech

Unter ihren Redaktionstischen hervor?

Knipste das Oberste Fotomodell sich selber so schön?

Mischte es eigenhändig die satten Generalsfarben für sich?

Hatte der Gelobte seine Lobsprüche selbst gedichtet?

Nicht multiple Sklerose,

Ein multiples Talent plagte den redlichen Sekretär.

Niemand formulierte Begeisterungsbriefe?

Niemand leckte die Hofberichterstattung schön glatt?