Die Abenteuer der andern - Matthias Biskupek - E-Book

Die Abenteuer der andern E-Book

Matthias Biskupek

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Beschreibung

Ein Entertainer im Urlaub; er kann es nicht lassen, er plaudert und plaudert. Am Ende hat er sich um alles geredet, was ihm wert und teuer war. – Die Souffleuse eines Kleinstadttheaters gibt Auskunft über ihr Leben. In krampfhafter Ehrlichkeit beschwört sie eine Scheinwelt. Matthias Biskupek führt seine Helden in alltäglichen Situationen vor; er konfrontiert sie mit sich selbst und lässt den Leser erleben, dass dies wenig Wirkung zeitigt: Sie erkennen sich nicht. In zwanzig kurzen Geschichten bringt der Autor – mit abgeschliffenen Versatzstücken unserer Sprache spielend – Zuspitzungen und Ungereimtheiten der Gegenwart ins Blickfeld. Schonungslos und eindringlich beschreibt er Oberflächlichkeit und Unredlichkeit in den Beziehungen, die Unfähigkeit zu handeln, zu erleben und zu vertrauen.

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Seitenzahl: 115

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Impressum

Matthias Biskupek

Die Abenteuer der andern

Geschichten

ISBN 978-3-96521-477-4 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1990 im Eulenspiegel Verlag Berlin.

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Die Abenteuer der andern

Sie war neugierig. Einige Jahre lang hatte sie Bedienungsanleitungen für Haushaltsgeräte gelesen und die Beichten ihrer dicken und zarten Freundinnen mit einem interessierten Gesichtsausdruck verfolgt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war selten gespielt, und das hatte ihr und den andern geholfen. Jene erleichterten sich. Und sie hatte ihre Neugier mit all jenen über sie hereinbrechenden Informationen bekämpft.

Doch jetzt wusste sie schon lange, dass Kalkstein mit Essig Verbindungen eingehen kann und dass eine Frau glücklich ist, wenn sie sich ab und zu ein Unglück eingestehen darf. Im Übrigen hatte sie zwei Kinder und einen Mann namens Ede. Und einen eigenen Namen. Der Name wurde Madeleine geschrieben und ausgesprochen Maddlähn.

Als drei Dinge zusammentrafen, die eigentlich nie zusammentreffen, wurde sie leichtfertig. Erstens hatte sie Haushalttag, zweitens waren die Kinder gut untergebracht in einem Lager mit Fahnenappell. Die Schulferien waren plötzlich ausgebrochen, und ein blauer Himmel ganztags war angesagt. Und drittens hatte ihr Mann eine Dienstreise angetreten. Er hatte gesagt, dass er zum Kombinat müsse. Dazu hatte er eine mürrische Miene aufgesetzt. Ede konnte zuweilen sehr lieb sein und zeigte selten mürrische Miene, doch Dienstreisen zum Kombinat mochte er nicht. Zumindest sagte er dies. Er mochte Kinder, Sauerkirschen und eine fraglose Frau. Madeleine fragte selten viel.

Aus der Wohnung einer ihrer unablässig beichtenden Freundinnen konnte man eine sanfte Hügelkette sehen. Immer, wenn Madeleine dort vor – oder besser hinter – der Kaffeetasse saß, blickte sie hinüber zur Hügelkette. Die Hügelkette war grünbraun. Gierig dachte Madeleine daran, wie es wäre, wenn sie hinter diese Bergwelt schauen könnte. Dieser Wunsch verschaffte ihr einen schönen, scharfen und sanften Schmerz.

Im Übrigen gehörte jenes Gebiet bereits zum Nachbarkreis, und im Nachbarkreis war sie, weiß Gott, oft genug gewesen. Mit Kindern und Ede und Wagen, sonntags. Ede aß in der Ausflugsgaststätte gern Schwarzwälder Kirscheisbecher.

Madeleine ging zur Freundin mit dem Hügelkettenblick. Madeleine war leichtfertig. Bei der Freundin gab es immer hoch aufgestapelte Sahnetorte zum Kaffee, und Madeleine wollte seit einigen Jahren abnehmen.

Ihr Weg führte sie schräg über die Straße. Sie musste an einem glanzlosen dunklen Fenster vorbei, das mit einer Kittelschürze zugehangen war und hinter dem Geräusche zu hören waren. Das Fenster reizte Madeleine, wie alles, was nur angelehnt und zugehangen war. Doch Madeleine wollte zur Freundin.

An der Wohnungstür der Freundin hing ein Zettel: „Bin eingeladen worden! Hurra! Alle sollen es wissen!“ Madeleine steckte den Zettel in ihre Handtasche.

Ein junger Mann sprach Madeleine auf dem Rückweg an. Der junge Mann wünschte, dass Madeleine sich einmal kräftig reckte. Denn er wollte spielen. Der junge Mann war sieben Jahre alt. Der Ball war in der Baumkrone gelandet.

Beide spielten zusammen Fußball. Dann erzählte der junge Mann Madeleine folgende Geschichte:

Für hervorragende sportliche Leistungen hätte er eine Bronzemedaille bekommen. Die Medaille sei an einem blauglänzenden Band befestigt gewesen. Medaille und Band habe er auf seinem neuen Pulli getragen. Doch seine bis dato besten Freunde seien daraufhin neidisch geworden, und auch sein lockerer Schneidezahn, an dem er mutig gewackelt habe, hätte ihm keinen Nutzen gebracht: man habe ihn ausgerufen. Um jener Stimmung zu entgehen, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als Medaille und Band zu verschenken. Gern hätte er bei dieser Tat geheult, doch er habe es unterdrückt. Anderntags habe er die Medaille gefunden, zerkratzt, mit zerrissenem Band, an einem Kletterpilz aufgeknüpft.

Während der Schilderung hatte Madeleine ihren interessierten Gesichtsausdruck nicht verloren. Der junge Mann trollte sich zufrieden. Madeleine zählte ihr silbern blinkendes Geld.

Am Bahnhof bestieg sie einen Zug. Dies war in der Tat leichtsinnig; Madeleine vertraute sich amtlichen Plänen an.

Der dunkelgrüne Personenzug zockelte durch ein hellgrünes Tal, immer zwischen grünbraunen Hügelketten entlang. Doch statt sich auf die Höhen hinaufzuwinden, verschwand die Wagenschlange in einer dunklen Röhre.

Der gegenübersitzende ältere Herr wollte Madeleine seine Hand aufs runde, warme Knie legen, doch da wurde es bereits wieder hell im Wagen, und freundlich grüßten die Hügelketten herein.

So sprach der ältere Herr Madeleine an. Und schüttete sein Herz aus.

Viel hatte er doch mitgemacht im Leben, und das Leben war eine einzige Kette von Verwirrungen. Im Testament seiner Freundin war er mit einer großen Summe bedacht worden. Doch bei der Testamentseröffnung war eine Null weggestrichen gewesen. Eine ganze Null. So war die große Summe nurmehr eine Summe gewesen. Für einen Farbfernseher hatte es gereicht. Aber alles wirklich Wertvolle aus dem Leben seiner Freundin hatten wildfremde Leute weggetragen. Leute, die für sie nie wirklich Freunde gewesen sein konnten. Bettgefährten, Lustobjekte, Genusstypen, das waren sie vielleicht für sie, das wolle er zugeben, das vielleicht.

Später, oder vielmehr vorher, war er in Biarritz, und einmal hatte er auf dem Markt ein vorteilhaftes Geschäft gemacht mit einem Lastwagen voller angefaulter Äpfel, und schon als Kind hatte er sich mit einem Floß die Mulde herabtreiben lassen, und nie, nie war er in dem Haus mit der roten Lampe. Dafür hatte er den heutigen Minister gekannt, als dieser noch sein Studienfreund war, und außerdem war während der Inflation einmal ein Zug entgleist, den er eigentlich hatte nehmen sollen, und trotz peinlichster Ordnungsliebe vergaß er einmal, die Sicherung herauszuschrauben, wobei bekanntlich viel mehr als nur zweihundertzwanzig Volt wirken. Vielfältig war das Lachen der Negerinnen, die er in Gefangenschaft vorfand, und Wohligkeit, ja Zärtlichkeit hatte er zweimal kennengelernt, und wenn er die Schminke besser vertragen hätte, auf der Gesichtshaut, wäre er Clown geworden, dennoch konnte er sich nie aussprechen, und ein einziges, winziges, kleines Mal hatte er es sich versagt, die Hand auf einem runden, warmen Knie ausruhen zu lassen. Und schön sei es immer dann, wenn er seine neue Velvetonjacke träge und in der Zeitung die Saisonpreise für Äpfel finde, weil er sich dann immer an seinen vorteilhaften Apfelverkauf erinnere.

Es war leichtfertig und leichtsinnig von Madeleine gewesen, mit diesem Zug zu fahren. Nach geraumer Zeit kam sie aber dennoch an ihr Ziel; nämlich zurück an den Ausgangsbahnhof. Der ältere Herr hatte sein Leben bereits viele Stationen vorher enden lassen, da war er bedauernd, wie sie nun endgültig zur Kenntnis zu nehmen hatte, für vielleicht immer ausgestiegen.

In Madeleines Wohnung tobten die Kinder. Vermutlich war ihre Lagerzeit herum. Ihr Mann saß vor einer großen Schüssel Sauerkirschen. Neben ihm aß Madeleines Freundin, ebenjene, die sie hatte besuchen wollen. Die Freundin trug eine Kittelschürze, die Madeleine gehörte, auf der bloßen und ziemlich weißen Haut, strahlte Madeleine sehr groß an und rief aus: Ach, was ich dir alles erzählen muss!

Der Mann mit dem Namen Ede grub seine weißlichen Fingerspitzen tief in die große Schüssel mit den Sauerkirschen.

Madeleine nahm schweigend, denn schweigend wirkte sie attraktiv und cool, den Zettel mit der Notiz ihrer Freundin aus der Handtasche und zerriss ihn. Der Riss ging mitten durch das „Hurra!“.

Spiegel meiner Seele

Für Sigmund Freud

Seit geraumer Zeit war ich beschäftigt. Der Spiegel hatte sich von der Wand gelöst. Ganz von allein – so die Behauptung meiner Familie.

Leider war das gute Stück bei der Herablösung nicht lärmend zu Bruch gegangen, wie das ordentlichen Spiegeln gemeinhin geschieht. Also musste ich das dummerweise noch immer funktionstüchtige Ding wieder anbringen.

Man benötigt dazu vier Löcher in der Wand. Die waren vorhanden. Sie gähnten mich an. Ich glaubte mich an zerklüftete Krater zu erinnern, obwohl ich Vulkane niemals leibhaftig gesehen habe.

Ein Loch zu erstellen ist eine technische Angelegenheit. Sie wird ausführlich im „Handbuch für das Haus – 6. verb. Aufl.“ beschrieben. Hingegen ist die Erarbeitung eines kleinen Loches aus einem großen Metaphysik. Ich war heftig beschäftigt.

Dabei muss mir ein selten gebrauchter Kraftausdruck entflohen sein. Mein wissbegieriger Knabe, der mir auf den Hacken herumtrampelte und zusah, wie ich überall die verfluchte Kneifzange suchte, bat unverzüglich um Wiederholung.

Das war nicht so gemeint, sagte ich, der ich stets eine wahrheitsgemäße und staatsbürgerliche Erziehung des wissbegierigen Knaben im Hinterkopf habe. Es ist mir so passiert. Ein Freudscher Lapsus.

Es war aber mein erster, vielleicht alles entscheidender Fehler.

Denn der Knabe begehrte zu wissen, was das sei: ein freudiger Happs.

Ich wandte mich von der Sanierungsstelle ab und mit voller Aufmerksamkeit dem Knaben zu, denn ein Spiegel, der sich himmelherrgottnochmal selbstständig von der Wand löst, befestigt sich ganz gewiss auch von alleine wieder. Ein wissbegieriger Knabe aber darf niemals allein gelassen werden. Falsche Ideologie lauert überall.

Ein Lapsus, erläuterte ich, ist ein lateinischer Fehler. Dr. Sigmund Freud hingegen ist nicht mehr. Er war ein bedeutender Wissenschaftler aus Wien. Die Psychoanalyse hat er sich ausgedacht. Verstehst du, Unterbewusstsein und Ödipuskomplex, geheime Triebe und falsche Fehlleistungen, natürlich war das alles noch nicht marxistisch fundiert, aber durchaus progressiv im Sinne unseres Jahrhunderts. Ich könnte dir noch viel mehr erzählen … hm. Kommt jetzt nicht diese Seeräuberserie im Zweiten?

Ich begab mich flugs in mein Zimmer. Irgendwo in meinem Bücherschrank musste er doch herumstehen, der Dr. Freud. Ich erinnerte mich an ein weißes Reclambändchen. Die Buchhändlerin hatte verschwörerisch draufgezeigt, damals, deshalb hatte ich es ihr abgekauft, wie ich mich zu erinnern glaubte.

Offensichtlich war meine Erinnerung falsch. Die des Knaben hingegen nicht. Beim gemütlichen familiären Beisammensein, als unsere liebe Oma wieder mal Schwänke aus meiner Jugendzeit – aus meiner, nicht ihrer! – auftischte, erzählte der Knabe plötzlich, dass ich ihm was von Omnibuskomplexen und heruntergefallenem Bewusstsein beibringen wollte, aber meine Versprechungen … meine Frau hakte nach und verhörte mich zum Stand der Arbeit an den Spiegelhalterlöchern.

Die Löcher waren eine objektive, wenn auch metaphysische Angelegenheit; der Vertrauensschwund des wissbegierigen Knaben eine subjektive. Ich entschied sofort im Sinne des subjektiven Faktors und erklärte, dass man wohl einen Omnibus- oder gar Spiegellöcherkomplex haben könne, der Ödipuskomplex hingegen eine alte griechische Sage sei. Ich erzählte den Hergang der Geschichte, samt eindringlicher Schilderung familiärer Zerrüttung und der weiblichen Sphinx, halb Oma und halb Spiegeläffin oder so ähnlich, verzichtete aber im Übrigen auf alle naturalistischen Details und das unschöne Fremdwort Inzest. Ich schloss mit der Versicherung, dass Ödipus und die Freudsche Lehre nunmehr bei uns eine wahre Heimstatt gefunden hätten.

Der Knabe ging, offensichtlich durch meinen letzten Satz zutiefst beruhigt, ans abendliche Fernsehprogramm. Meine Frau sah mich von der Seite an. Das kommt daher, weil wir beim familiären Beisammensein Seit an Seit sitzen.

Am nächsten Tag traf ich die Klassenlehrerin des wissbegierigen Knaben. Sie grüßte mit verschwörerischer Herzlichkeit. Mein Unterbewusstsein sagte mir etwas, doch ich verstand es nicht.

Am übernächsten Tag kam sie zu mir. Die Klassenlehrerin. Sie hat interessante Knie, wie ich im Verlauf unserer Unterredung erkennen durfte. Der wissbegierige Knabe musste meine Freud-Kenntnisse in Umlauf gesetzt haben. Kunststück: Mit einem großen Bruder kann er leider nicht angeben.

Die Klassenlehrerin rieb also begeisternd ihre Kniee aneinander und entflammte immer mehr für die Wissenschaft und die Sigmund-Freud-Ehrung. Für uns Pädagogen, rief sie aus, ist es doch so überaus wichtig, Psychosen und Hypnosen, Sexualschönheiten und sanitäre Komplexe genau zu kennen. Ob ich nicht aus meinem reichen Wissenschatz einen Vortrag für die ganze große Lehrerschaft ihrer Schule …

Ich habe zugesagt. Wegen der Knie. Oder der Begeisterung. Oder vielleicht auch, weil die Klassenlehrerin beim Abgang einen eigenartigen Blick auf die Spiegelbaustelle geworfen hatte.

Mein Vortrag wurde mit einem URANIA-Plakat angekündigt. Als der Termin immer näher rückte, musste ich leider absagen. Es sollten erst gesundheitliche Gründe sein, denn ich hatte das bewusste Reclam-Bändchen immer noch nicht gefunden. Obwohl mir der weiße Schutzumschlag und die schwarze Schrift darauf deutlich vor Augen standen. Allerdings musste ich in der Buchhandlung feststellen, dass Reclam-Bücher fast immer so aussehen. Ob mir meine Erinnerung einen Streich gespielt hatte?

Ich entschied mich schließlich nicht für gesundheitliche Gründe, sondern dafür, dass ich im Bezirksvortragszentrum am nämlichen Tage ein größeres Kolloquium zu leiten hätte zum Thema „Wie kann Dr. Freud unser Bewusstsein erweitern?“

Da wusste ich noch nicht, dass das Kolloquium wirklich stattfinden sollte. Unter meiner Leitung. Sogar das Thema hatte ich offensichtlich nicht erträumt. Und der Zeitpunkt machte das, was Zeitpunkte immer machen: er rückte näher und näher.

Als in der Zeitung über große Erfolge in der BERA (Bevölkerungs-Eigenleistungs-Reparatur-Aktion) berichtet wurde, und dabei netterweise auch mein Name abgedruckt worden war, hatte man ihn mit dem pfiffigen journalistischen Zusatz versehen: Unser bekannter Sigmund-Freud-Experte renoviert tatkräftig seine Wohnung.

Schuldbewusst schritt ich nach dieser Lektüre zur Spiegelreparatur. Ganz offensichtlich hatten sich die vier Löcher in der Zwischenzeit weiter vergrößert. In der Zeitung hatte ja auch gestanden, dass alles immer mehr erweitert wird.

Möglicherweise haben schon andere Spiegelreparaturfachleute bemerkt, dass es ein eigenartig Ding ist, einen Spiegel mit Hilfe von Riesenlöchern, Minidübeln und unpassenden Metallclips anzubringen. Man sieht sich dabei ins Gesicht. Das andere Ich kippt einem hilflos entgegen. Wenn man den Spiegel weiter verkantet, hängt der eigene Kopf drohend oben. Hat nicht Dr. Freud dies erkannt: das Über-Ich?

Mein Hinterkopf hat eigentlich noch keine richtige kahle Stelle, obwohl das denkende Hirn langsam sichtbarer wird. Ein schöner, materialisierter Beweis für das sich entwickelnde menschliche Gehirn.

Wenn man den Spiegel direkt über den Kopf stellt, sieht man den Antipoden, von den Füßen auf den Kopf gestellt. Vielleicht macht man viel zu viel über den Kopf …

Es klingelte. Zwei propere junge Herren mit Schlipsen und Lederjacken.

Sie überbrachten mir die Berufungsurkunde ins Dr.-Sigmund-Freud-Komitee. Auch beim Redaktionsbeirat für die Thesen zum Freudschen Jahr sei man an meiner Mitarbeit interessiert.

Und wegen der Rundfunksendung würden sie noch mal anrufen.

Aber die Freud-Fernseh-Show sei noch nicht bestätigt …

Als die beiden Herren – abschließend abschätzende Blickwendung zur Spiegelbaustelle – gegangen waren, ließ ich das dämliche gute Stück fallen.

Ich befürchte aber, es ist noch immer heil.

Der Boss und sein Zwirny

Die Stahlrohrbeine waren mit den Sperrholzsitzen ziemlich fest verbunden. Meist waren sie zerkratzt, Beine und Sitze, aber die Schrauben hielten sie beieinander. Auch, wenn man in der Deutschstunde kippelte, was natürlich unerwünscht, also strafbar, war, krachten nur selten die Stühle herrlich laut lärmend zusammen. Sehr selten. Eigentlich, ja eigentlich war das noch nie passiert.

Im Deutschunterricht also durfte man ganz besonders nicht kippeln. Ganz besonders nicht. Noch weniger als überhaupt gar niemals nicht.

Dort gab es das Teilfach Mündlicher und schriftlicher Ausdruck. Das Lehrbuch dazu hieß „Unsere Muttersprache“, aber es war vor allem die Muttersprache von Frau Heerlein, der Deutschlehrerin. Sie erläuterte: Wir verbessern unseren schriftlichen Ausdruck! Das schrieb sie auch an die Tafel, mit langen, dünnen Druckbuchstaben. Am Stundenende musste es abgewischt werden.

Rechts vorn saß Zwirny, ein vermickerter Bursche, dünnbeinig und langhälsig. Wenn Frau Heerlein fragte, was ein Erzählrahmen sei, wusste er es natürlich. Zwirny meldete sich aber nie, bekam deshalb immer seine Drei in Mitarbeit.

Neben Zwirny saß der Boss. Der war groß, schon mal sitzengeblieben, breit und dick, also richtig bossig. Frau Heerlein hätte wahrscheinlich das schmückende Beiwort bossig mit einem roten A wie Ausdrucksfehler versehen, obwohl sie verlangte, dass man mit schmückenden Beiwörtern arbeiten solle, wenn man herausheben müsste, was einen besonders bewegt hätte.

Wir erzählen folgerichtig und anschaulich, teilte Frau Heerlein mit. Natürlich, sagte sie, steht zu Beginn immer der Anfang. Wir wiederholen das.