Blumenfrau und Filmminister - Matthias Biskupek - E-Book

Blumenfrau und Filmminister E-Book

Matthias Biskupek

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Beschreibung

Auch dann, verehrter Leser, Auskenner und gutwilliger Estland-Liebhaber, auch dann, wenn Sie eine geduldige und nachsichtige Reiseleiterin kennenlernen sollten - Sie werden sie kennenlernen, Sie müssen sich nur gedulden -, auch dann werden Sie sich Mühe machen müssen, wollen Sie wirklich etwas vom Lande erspüren. Serviert werden wird Ihnen nichts … Und wenn Sie Interesse nicht bloß heucheln - das spürt man hier, glauben Sie es, werden Sie alles von den Esten erfahren, was lohnenswert ist … Trotz zweier längerer Aufenthalte in und um Tallinn gelang es dem Autor nicht, die estnische Sprache einwandfrei zu beherrschen.

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Impressum

Matthias Biskupek

Blumenfrau und Filmminister

Ein Estland-Mosaik

ISBN 978-3-96521-470-5 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1988 im Verlag Tribüne Berlin

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

an

Auch dann, verehrter Leser, Auskenner und gutwilliger Estland-Liebhaber, auch dann, wenn Sie eine geduldige und nachsichtige Reiseleiterin kennenlernen sollten – Sie werden sie kennenlernen, Sie müssen sich nur gedulden –, auch dann werden Sie sich Mühe machen müssen, wollen Sie wirklich etwas vom Lande erspüren.

Serviert werden wird Ihnen nichts …

Und wenn Sie Interesse nicht bloß heucheln – das spürt man hier, glauben Sie es – werden Sie alles von den Esten erfahren, was lohnenswert ist…

Stadtplan ohne Stadt

Was zum Verreisen nötig ist, besitze ich. Einen Kunstlederkoffer und eine geschliffene Sonnenbrille, sechs Dioptrien. Einen Pass, gültig, ein Visum, ordnungsgemäß. Die ausstellende Behörde hatte mich behördlich angesehen und behördlich genickt.

Ich besitze einen Schein zum Fliegen und einen zum Eisenbahnfahren. Ich habe Zettel mit Namen und Papiere mit Zeichen und Briefe mit Empfehlungen.

Kleine Kopekenstücke habe ich, größere Rubelscheine und sehr große Vordrucke in genormten Dimensionen, also lang und breit. Die darf ich umrubeln.

Selbstverständlich besitze ich einen Plan. Einen Plan der Stadt. Plan goroda. Von der Hauptabteilung für Geodäsie und Kartografie beim Ministerrat der UdSSR, Moskau. Moskau ist weit, denn der Plan stellt Tallinn dar. Tallinn, Estnische Sozialistische Sowjetrepublik, Hauptstadt. Touristisches Schema, verheißt der Untertitel.

Tallinn ist vor allem lila.

Tallinn besteht zudem aus gelben Balken, roten Fäden, weißen schmalen Streifen, fettschwarzen geschwungenen Linien, grünen Vielecken. Tallinn ist vollgestopft mit Zahlen und wunderbaren Zeichen. Die Zeichen verheißen Tankstellen und Kinotheater, Monumente und Taxihaltestellen, universelle und spezielle Läden, Gemüsemarkt und Gedenkstätten revolutionärer Bewegungen, Architekturdenkmäler und Reparaturwerkstätten.

An den Rändern weisen drei gelbe Pfeile aus Tallinn heraus. Die Pfeile heißen Nomme, Leningrad und Pirita.

Das Wasser, das Tallinn umgibt, ist gleichmäßig blau, himmelblaues Planwässerchen. Mit trockenem Zeigefinger schwimme ich hinaus in die Tallinner Bucht und in die Koplibucht. Die Halbinsel dazwischen überfliege ich. Mitten im Meer zieht sich eine gestrichelte Linie entlang. Auf der Linie sitzt ein Schiff auf. Gewiss strahlt Sonne aufs Schiff herab; der Salzgeruch belebt. Teer und Öl.

Das Linienschiff bleibt mitten in der Sonne und mitten im Teergeruch mitten auf dem himmelblauen Meer stehen.

Am rechten Stadtrand steht ein schnauzbärtiger Ritter und streckt eine Fahne weit von sich. Die Fahne sieht eisern aus, wie aus einem Stabilbaukasten zusammengeschraubt. Tallinn und das metallische Mittelalter.

Ich streife durchs lilagrüngelbweiße Tallinn. Von der Lauteri – seltsamer Straßenname, da habe ich eine Adresse – sind es nur sieben Zentimeter bis zur Parnu-Chaussee. Auch dort kenne ich Name und Hausnummer.

Auf dem Weg zur Chaussee komme ich an einem grünen schmalen Viereck vorbei. Drin ragt ein roter Monumentalstift. An der rechten Seite zwei lachende Masken. Sind Theater hier alles Komödienhäuser, oder ist das eine vorwärtsweisende Vereinfachung?

Wir passieren die Zahlen 176, 177 und 65. Ein Parkplatz und drei spezielle oder universelle Läden.

Der Rand des Planes: gleichförmiges Lila-Einerlei. Häuserwildnis. Keine Zahlen, keine speziellen oder universellen Läden, keine roten Monumente, keine wehenden Fahnen und gar keine Kaffeetassen. Vielleicht ein Industriegebiet? Ich ziehe mich wieder ins gemütliche verwirrende Zentrum zurück.

Wenn ich meine flache Hand ausbreite, habe ich das historische Stadtzentrum abgedeckt. Der Dompark steckt unterm kleinen Finger. Komisch: Dompark heißt hyperkorrekt: Toompark.

Unter der Hand wimmelt das Leben weiter: Straßenbahnen fahren auf ihren roten Fäden, Taxis stehen an jenen Haltepunkten, die der Plan vorgesehen hat. Eine Eisenbahn dampft aus dem Bild. Leute überqueren die breiten gelben Boulevards und die schmalen weißen Straßen; verschwinden in ihren lila Hausflächen …

Ritter Schnauzebart hält seine Metallfahne weiterhin ausgestreckt über Tallinn. Das Mittelalter steckt deutlich in den Frakturbuchstaben des Stadtnamens.

Habe ich nicht schon alles im Schnellgang kennengelernt, weswegen ich mühsam Empfehlungen und Rubel, Bahnschein und Flugschein, Sonnenbrille, Pass und Kunstlederkoffer besorgt habe?

Muss die Reise überhaupt noch sein?

Vielleicht arbeitet das Reisebüro bereits daran, Stadtplanreisen ohne Stadt einzuführen: die organisatorische Arbeit der Stadtplanreiseleiter würde vermutlich ein wenig erleichtert werden.

Ich stelle mir eine Touristenreisegruppe vor, die, gebeugt über den jeweiligen individuellen Stadtplan mit dem individuellen Zeigefinger („Mitzubringen sind: Stadtplan und gewaschener Zeigefinger“), den Weisungen des schwitzenden, leicht aufgelösten Reiseleiters folgt: Wir begeben uns nunmehr gemeinsam acht Zentimeter nach links. Hier, auf dem Platz des Sieges, haben wir fünfzehn Minuten Zeit. Gedacht für alle Zwecke. Wir treffen uns pünktlich wieder am Kadriorg-Park, das ist jenes grüne Trapezviereck am rechten Kartenrand …

Ich bleibe für diesmal noch beim Althergebrachten. Habe ich mir doch nun einmal besorgt: Koffer, Rubel, Flugschein …

Blumenpavillon

Es gibt wirklich Wichtigeres in Estland als Blumen. Man erzählt nicht zuerst von Blumen. Blumen sind kein Argument auf dem Weltmarkt.

Es gibt eine Brennschieferindustrie. Es gibt ein Bildungswesen. Es gibt die Stadt Pärnu mit einem wohlorganisierten Kurbetrieb. Es gibt den Obersten Sowjet der Republik. Es gibt das Fischfangaufkommen im Durchschnitt.

Wirklich: es gibt Wichtigeres als Blumen.

Es gibt imposantere Bauwerke in Tallinn als den Blumenpavillon am Meer. Das Viru-Hotel zum Beispiel hat Fahrstühle. Sie summen und funktionieren. Die Hafenstraße ist lang und belebt. Sie verbreitet einen herrlichen Lärm. Der „Alte Toomas“ ist ein Touristenmagnet. Man kann den Leuten auf den Hals schauen, wenn sie sich recken. Das Hotel „Olümpia“ ist kein Schreibfehler, sondern hochmodern.

Der Blumenpavillon ist schön. Man braucht ein Billett für dreißig Kopeken.

Der Blumenpavillon zeigt eine Ausstellung: Plastik und Blumen. Die Plastiken bestehen aus gebrannten Erden. Die Blumen haben ihre Säfte aus der Erde gesogen. Es sind Frühsommerblumen, weil gerade Frühsommer ist.

Die Plastik kann man beschreiben: unaufdringlich, ausgewogen, manchmal kühn experimentell, nie monumental. Das ist so, weil wir hier in Estland sind.

Wenn man den Blumenpavillon betritt, wirkt alles sehr überschaubar, geordnet, klein, aber fein eingerichtet. Mit einem langen Blick hat man die Ausstellung übersehen. Grün und bunt und Keramik. An der Wand aus roten Ziegeln führt eine leichte Metalltreppe nach oben. Vielleicht ist die Treppe beschwingt. Denn oben warten Kaffee und Kuchen und die Kellnerin mit ihrer Saftmaschine. Die Kellnerin hat vermutlich elegante Hände, passend zum Pavillon.

Aber erst noch schnell die Ausstellung. Schnell hierhin sehen, schnell da eine Plastik begreifen. Ist das erlaubt? Und nun noch jenes …

Wenn man eine Weile zwischen den Blumen und Gefäßen und Figuren lustwandelt: seltsam – da wird die Vielfalt immer verwirrender. Es gibt Keramik-Handschuhe und zwanzig Sorten Osterglocken.

ZWANZIG – so groß geschrieben für alle heimatlichen Blumenläden.

Oder heißen die Osterglocken Narzissen? Ostern ist längst vorbei, aber wir sind im hohen Norden. Die Maiglöckchen heißen Maiklökkeli. So possierlich sehen sie hier auch aus. Die Vasen dazu heißen vielleicht Vääselii.

Es gibt eine Keramik-Vogelscheuche mit angebautem Vogel. Es gibt verschlungene Rosenbuketts und Papierschiffe, die nicht aus Papier, sondern aus Keramik sind. Es gibt kuglige Keramikbatzen, die so herrlich unnütz aussehen wie jene sanft geröteten Lilien – oder heißen solche Blumenwesen anders?

Es geht einem wie mit einer Liebe, in die man sich immer hoffnungsloser verstrickt: Man glaubt alles zu kennen und will doch immer mehr erkennen. Ist die verwirrende Vielfalt in dieser Ausstellung ein Geheimnis der Blumen, der Plastiken, der Gestalter? Ist dies ein Kunst-Griff – aus der Ordnung auf den ersten wird das Geheimnis auf den zweiten Blick?

Ein Mensch mit Sinn für Systematik kann aber folgendermaßen alles in die exakte Reihe bringen: Es gibt hier also frühe, mittlere und späte Frühlingsblüher sowie das Gästebuch.

Basta.

Im Gästebuch steht aber: „Einen Esten würde ich heiraten. Ingrid aus der DDR“. Ingrid hat eine Schulmädchenschrift.

Es gibt Schulen in Tallinn, in denen lernt man ziemlich ausführlich deutsch.

Ob die ausführlich lernenden Esten ins Gästebuch gucken?

Die listige Blumenfrau

steht gleich neben der Taxihaltestelle und erzählt in russisch; sie sucht ein wenig nach Wörtern; ich suche sehr nach Übersetzungen. Die Nachbars-Blumenfrauen verkaufen derweil Maiklökkeli. Sie sagen „lilled“ und zeigen auf ihre Blumen. Dann sagen sie „zwety“, dann „Blumen“. Sie strecken ihre Sträuße vor.

Wir dürfen das hier. Natürlich. Das ist alles genehmigt. Wir haben einen Propusk. Das ist eine ganz gesetzliche Sache. Denn, nicht wahr, in meinem Garten wachsen diese schönen Blumen. Das sind doch wunderschöne Blumen.

Aber, junger Mann, was Sie alles wissen wollen.

Na, da könnt ich Sie ja auch fragen, ob Sie einen Propusk haben.

Aber ich frag Sie nicht. Na, bin ich Miliz?

Ha, mein Mann sagt, ich bin seine Miliz.

Doch. Mein Mann arbeitet im Kolchos. Es ist nicht sehr weit. Natürlich arbeite ich im Kolchos. Beschäftigt bin ich. Und Ihnen gefällt es gut hier?

Tallinn ist eine schöne Stadt. Aber es wird zu wenig gemacht. Neulich hat man ein herrliches altes Haus abgerissen. Es wurde viel darüber diskutiert in der Zeitung. Bei Ihnen wird wohl nicht so viel abgerissen?

Ach so.

Man muss darauf achten. Natürlich achte ich bei uns im Dorf darauf. Es geht besser im Dorf. Aber so ist das einfach nicht richtig gesetzlich.

Sie müssen wirklich entschuldigen, ich spreche Russisch nicht so viel. Man braucht nicht alles. Wie viel kostet nein danke haben Sie. Na ja, ein bisschen mehr. Mein Mann hat schon wieder alles verlernt. Sagt er.

Ach so. Nein, er hat den Techniker gemacht. Ich hab dazu keine Lust, wissen Sie, ich muss doch kein Blumentechniker werden. Alte Frau. Ich verarbeite Abrechnungsscheine im Kolchos, aber mein Mann hat eine Abteilung. Die Frauen da sind noch jung, aber ich bin seine Miliz. Sagt er.

Nun, dann kommen Sie uns besuchen. Doch, kommen Sie. Sie fahren mit dem Bus. Es gibt auch ein Marschrout-Taxi. Wir haben ein Haus. Der Garten ist sehr groß. Er wird jetzt herrlich grün. Ich weiß nicht, wie viele Meter. Aber mein Sohn ist in Tartu. Ja, an der Universität. Estnische Philologie. Da kann er Lehrer werden oder Wissenschaftler oder Lektor. Er ist ein großer Theaterfreund.

Tartu ist eine wunderschöne Stadt.

Da gibt es nichts drüber zu erzählen.

Aber junger Mann, Sie wollen viel wissen. Vilma, der junge Mann (spricht einen Absatz estnisch).

Entschuldigen Sie, Vilma weiß wieder mal viel mehr. Schauen Sie, was für schöne Maiklökkeli. Sehen Sie, Vilma ist eine schöne junge Frau. Ich bin bloß eine alte Miliz.

Wir feiern bald ein schönes Sommerfest. Das müssten Sie sich ansehen. Da wird über ein Feuer gesprungen. Und wir backen das Brot selber. Jeder stellt sein Bier her. Ein schönes Bier.

Ich schreibe Ihnen die Buslinie auf und alles und genau die Haltestelle. Sie müssen pünktlich sein; ach, das sind Sie gewiss. Ihre Leute sind pünktlich. Das habe ich schon in der Schule gelernt.

Ich werde meinem Sohn Bescheid geben, denn er spricht auch etwas deutsch. Man kann das in Tartu lernen.

Nein, das ist wirklich interessant. Mein Mann kann Ihnen viel mehr erzählen. Doch, verstehen, das tut er. Und er spricht es auch. Ach, die Männer haben bloß keine Lust, nicht Vilma? (Spricht zwei Absätze mit Vilma estnisch.)

Sehen Sie, wenn die Sonne scheint, ist es doch herrlich hier.

Ach so.

Dann sind Sie wohl ein fremder Milizmann?

Doch, junger Mann, meine Eltern waren einfache Leute. Ganz einfache Leute. Sie haben vor dem Krieg ein Fahrradgeschäft gehabt. In der Bürgerlichen. In Paide, direkt in Paide. Kennen Sie Paide? Sie müssen es besichtigen. Es ist eine sehr hübsche kleine Stadt. Und freundliche Menschen. Na, bin ich unfreundlich? Es fährt ebenfalls ein Bus. Aber auch die Eisenbahn.

Nein, in Tallinn ist man nicht freundlich. Kann man gar nicht. Dauernd wechseln die Menschen. Es sind so viele Fremde hier. Wir sind nicht dagegen. Aber es gibt so viele Überfälle. Man hat gehört, mit dem Messer.

Das schreiben schon die Zeitungen!

Natürlich ein Fahrradgeschäft. Es gibt viele Fahrräder in Estland. Sie kennen doch Aavo Pikkuus? Fahrradgeschäfte, natürlich staatliche, jetzt. Nein, meine Eltern haben bei uns gelebt. Bis zu ihrem Ende. Ja, leider. Die Familie, wissen Sie, die Familie ist sehr wichtig. Sie muss nicht groß sein, aber sie muss wichtig sein. Sehr, sehr wichtig.

Viel zu viele Touristen. Und Fremde, und (spricht ein paar Worte estnisch).

Sie finden mich immer hier. Mittwochs immer. Weil ich dann in der Stadt erledige. Aber, Sie müssen kommen, und mein Sohn wird Sie verstehen. Er wird Semesterferien bekommen. Und wunderbare Erdbeeren gibt es. Ja, Erdbeeren. Sie sind berühmt, haben Sie noch nie etwas von unseren estnischen Erdbeeren gehört?

Na, so was.

Nehmen Sie. Doch. Nehmen Sie diese Blumen. Sie heißen Kannike auf estnisch. Da haben Sie gleich ein Wort gelernt. Nehmen Sie diese, bitte. Nun bitte. Sie werden jemanden zum Beschenken finden. Natürlich finden Sie. Oder (listig) – sonst bringen Sie sie mir mit, ja, schenken sie mir zurück.

Dann, wenn Sie uns besuchen.

Mein Mann wird Augen bekommen, solche. (Lacht laut.)

Eine Ansichts-Karte aus Tallinn

Halloleute, gut gelandet. Flugplatz ist modern, alles mögliche andere in dieser Zitti nicht. Man sieht eine Menge dicke, alte Mauern. Die Limonadenautomaten sind wie in Moskau. Eine unverständliche Sprache haben sie hier drauf. Unverständlicher als Russisch. In den Läden gibts ganz gut zu kaufen. Meine Rubel machen sich schon ziemlich dünne. War auch mal baden. Manche Russinnen sind i. O. Die Ostsee ist nicht sonderlich sauber. Alk kann man im Hotel genug kriegen. Teuer. Solong

Was Estland also nicht ist

Kein Teil von Lettland und kein Teil von Litauen. Nicht die südlichste, sondern die nördlichste der drei Ostseerepubliken.

Kein zweites Land der tausend Seen. Es besitzt genau 1525 Seen.

Kein Sprach-Anhängsel des Russischen. Esten sprechen hier estnisch und Russen russisch. Taube und Böswillige können Verwandtes heraushören. Vom Russischen ist das Estnische mindestens so weit entfernt wie vom Französischen. Mit Entfernung ist aber die der Sprachen, nicht die der Welten gemeint.

Kein Ackerland ohne Grenzen. Felder und Wälder dehnen sich; jedoch nicht ins Unermessliche. Das Land ist etwas größer als Mecklenburg.

Kein „altes deutsches Gebiet“. Mit einem Teil Lettlands zusammen nannte man es früher „Livland“. Hier lebte eine relativ kleine Zahl von Deutschen, die aber zumeist Grundbesitzer waren. Es gab deutsche Amtssprache, deutsche höhere Schulen, deutsche Besonderheiten und deutsche nationale Überheblichkeit.

Kein Naturschutzgebiet für aussterbende Volkstrachten, aussterbende Volkslieder, aussterbende Volkskunst.

Keine Einöde, die dringend nach den Bringern der Kultur aus fremden Hauptstädten verlangt. Die Bauern konnten in ihrer Landessprache schon lesen und schreiben, als dies in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas noch äußerst unüblich, ja verdächtig war.

Kein Land für nichtendenwollende Begrüßungszärtlichkeiten, sondern eines mit sprödem Charme.

Kein kaltes, kein heißes Land. Ein kühles, das wärmt.

Der bunte Klotz auf dem Domberg

Bilder

Ein Kupferstich von M. Merian aus dem Jahre 1652. „Revalia. Reueln“ steht darüber – alte Namen Tallinns zur Zeit des Mittelalters, der Hanse, der Aufklärung, bis zur Gründung der bürgerlichen Republik nach dem ersten Weltkrieg. Deutsch Reval, Russisch Revel. Gleiche Namen in ungleichen Sprachen. Tallinn hingegen heißt Taani linn – Dänenstadt. Dänenstadt nannten die Esten jene Gegend, die im 13. Jahrhundert von Dänen erobert und bebaut wurde. Später eroberten Deutsche, Schweden, Russen. Tallinn hieß dennoch nie Saksa linn, Rootsi linn, Vene linn.

Merians Kupferstich zeigt eine typische Hansestadt – eine solche, die von Esten und Deutschen, Schweden, Russen und Dänen gemeinsam bewohnt wurde, die alle Anteil an der Hanse-Architektur haben: schlanke, gotische Türme; eine Stadtmauer mit Wachttürmen wie Perlen auf einer Kette. Nein, wie Würfel an einer Leiste. Geradlinig. Viereckig.

Im Vordergrund ein Reiter, Pferd und Wagen. Eine Reihe Bäume. Die Bäume zeigen winzige geometrische Unregelmäßigkeiten: versuchte Ausbrüche in einer Welt des erwünschten Gleichmaßes und der gewollten Ordnung.

Die Stadt ist deutlich zweigeteilt. Unten auf plattem Lande die Kaufmannsstadt. Ein Felsenberg, unbewaldet, trägt die alte Domstadt: hohe Mauern, kantige Türme, Burgbauten. In der Unterstadt wurde gehandelt und gearbeitet; in der Oberstadt wurde geleitet, gebetet und philosophiert.

Ein Foto von APN, Gegenwart. Durch eine Fensternische – grauer, rissiger, klotziger Stein als Bildrahmen – sieht man die Türme heute. Gleichmäßige Dachziegel, die Reihen der Firste, mittelalterliche Straßengänge, große wuschelige Bäume. Viel Gotik und ein hoher, wolkiger Himmel. Ostsee-Europa. Nord-Europa.

Ein Foto aus „Sowjetunion“, Gegenwart. Das Panorama der Stadt. Im Vordergrund gleichmäßig ausgerichtete Autos, gleichmäßig schräg dazugestellte Busse, Marke Ikarus, Ungarn. Perlen an einer Kette. Dahinter die braunblaue Glasfront eines neuen Hotels. Bauhaus – Berlin – Japan. Dahinter die flachen klassizistischen und schlanken gotischen Bauten. Der mächtige viereckige Turm der Nikolai-Kirche scheint etwas zu verdecken. Rechts und links vom gewaltigen Turmquader sind Rundungen zu sehen. Ein Turm, der aus den Nähten platzt? Oder vielleicht stehen Zwiebeltürme dahinter?

Auf anderen Bildern Tallinns heute ist vieles abgelichtet: holpriges, schönes Pflaster, Peitschenlampen, Wohnscheiben, schmiedeeiserne Hauszeichen, Betonpisten. Das vermutete Zwiebelgetürm ist nirgends im Bilde.

Touristenunterweisung

Wohlgenährte Menschen in flottem Rundgestrick. Foto-Türme vorm Bauch, Beutel in den Händen. Sie flanieren über den Toomkooli, den Domschulplatz. Sie flanieren diszipliniert. Landsleute, aha.

Die Landsleute sind den Lühike jalg – übern kurzen Fuß, einen steilen Kopfsteinpflasterberg – heraufgekommen und schnaufen nun etwas. Sie sind in der Oberstadt, na endlich.

Aha, da ist ja schon wieder ein imponierendes Bauwerk aus der Tallinner Geschichte. Davor kann man verschnaufen, fotografieren, sich bilden lassen; wo ist denn die Intourist-Erklärerin?

„Guggemah, wie in Giehjeff.“

„Aine wunterbahre Zwübelkürsche. Ümbonürend wie Mosgau.“

Die Intourist-Erklärerin geht aber schnurstracks an dem bunten, breiten Zwiebelturmklotz, der auf den Dokumenten so fein wegfotografiert wurde, vorbei und winkt die Gruppe hinüber zum Parlamentsgebäude: Trutzburg mit Barock-Vorbau.

„NuhwardenSedochmah. Was issn das fürne Kürsche?“