Schmerzenskind - Nina Ziegler - E-Book

Schmerzenskind E-Book

Nina Ziegler

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Beschreibung

Nina Ziegler wird als kleines Mädchen jahrelang von ihrem Stiefvater misshandelt und missbraucht. Weil die erschütternden Demütigungen im Beisein der Mutter passieren, vertraut sie sich keiner Menschenseele an. Als sie neun Jahre ist, entdeckt ihr leiblicher Vater die blauen Striemen an ihrem Körper und erstreitet sich das Sorgerecht. Doch damit ist die Leidensgeschichte von Nina noch nicht vorbei. Erst als Assistenzhund Bullet in ihr Leben tritt, verliert sie ihre Angst vor anderen Menschen und beginnt, um ein glückliches Leben zu kämpfen.

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Seitenzahl: 350

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Inhalt

CoverTitelImpressumZitatDanksagungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14

Nina Ziegler

mit Andreas Micus

Schmerzenskind

Aus der Hölle meiner Kindheit in ein glückliches Leben

BASTEI ENTERTAINMENT

Das Buch beruht auf Tatsachen. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden Namen und weitere Details geändert.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

Titelillustration: © getty-images/Kelly Sillaste

Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3069-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts.

Søren Kierkegaard

Ich danke meinem Vater und meinem Lebensgefährten für ihre beispiellose Hilfe.

Ohne sie würde es mich heute nicht mehr geben.

Danke auch an meine Freunde Markus, Bella und Tatjana.

Prolog

Es sind nur noch knapp zwei Kilometer, die ich schaffen muss. Vorsichtig lenke ich den Wagen durch unser still daliegendes Wohngebiet.

Es ist Freitagabend kurz vor 18 Uhr. In den kleinen Einfamilienhäusern ist um diese Zeit schon Ruhe eingekehrt. Die Bewohner haben es sich in ihren vier Wänden gemütlich gemacht. Nur in wenigen Hauseingängen brennt noch eine Lampe. Die meisten Vorgärten sind stockdunkel. Aus Fenstern flackern die grellen Lichter der Fernseher, und in einem hell erleuchteten Wintergarten sitzt eine Familie am Tisch und spielt Karten.

Die Straßen sind um diese Zeit menschenleer. Kein Auto kommt mir entgegen, und auf dem Bürgersteig ist nur noch eine ältere Frau mit ihrem Hund unterwegs. Die wenigen Laternen hüllen die Welt in ein schummriges Licht, das der Abendstimmung um diese Zeit immer etwas Unwirkliches verleiht.

Noch einmal abbiegen, dann ist es geschafft.

Eigentlich bin ich eine gute Autofahrerin. Aber wenn mich diese verdammte quälende Angst packt, fühle ich mich unsicher. Dann fahre ich nur noch im Schritttempo, denn sie schnürt mir nicht nur die Luft ab, sie setzt auch meinen ganzen Körper unter Strom. Meine Muskeln erstarren, und mein Herz pocht so stark, dass mir der Gedanke kommt, ab einem bestimmten Punkt könne es seinen Dienst versagen und einfach aufhören zu schlagen.

Ich japse verzweifelt nach Luft. Das Fenster! Verdammt, warum lässt es sich nicht öffnen? Wo ist die Taste des Fensterhebers? Das Armaturenbrett ist schlecht beleuchtet. Ich kann kaum etwas erkennen.

Die erfolglose Suche bringt mein Herz noch mehr in Fahrt. Es überschlägt sich jetzt fast. Zu allem Unglück wird mir auch noch übel, speiübel. Meine Güte, ich muss mich übergeben. Soll ich bremsen? Nein, Nina, halte durch, es sind nur noch ein paar Meter. Dann hast du es geschafft, motiviere ich mich selbst auf den letzten Metern.

Gleich bin ich da. Ich sehe schon den gelblichen Schein meiner Straßenlaterne. Ich sage »meine Laterne«, weil ich sehr, sehr oft in ihrem warmen Schein stehe und der Parkplatz, den sie in ihr milchiges Licht taucht, mir seit Jahren vertraut ist.

Ich weiß nicht, wie oft ich hier schon mit meinem Wagen gestanden und geduldig darauf gewartet habe, dass diese schreckliche Angst verschwindet und mich zumindest vorübergehend freigibt für ein ganz normales Leben. Ich komme in manchen Wochen jeden Tag hierher und bleibe viele Stunden. Einmal habe ich sogar eine ganze Nacht auf dem Parkplatz verbracht. Aber es gibt auch Tage, an denen es mir so gut geht, dass ich die Auszeit hier unter meiner Laterne nicht brauche. Das sind die Tage, an denen ich wirklich glaube, ich könnte ein ganz normales Leben führen.

Noch einmal drücke ich vorsichtig auf das Gaspedal. Der Wagen rollt fast schon von selbst auf den Parkplatz, der mir einen Hauch ersehnte Sicherheit verspricht. Es ist geschafft! Ich komme vor der hohen Friedhofsmauer zum Stehen. Uff, ich bin da. Gott sei Dank! Doch kaum habe ich den Zündschlüssel auf Aus gestellt, beginnen meine Hände ganz heftig zu zittern. Mir wird heiß, fürchterlich heiß. Mein Körper scheint innerlich zu brennen, und gleichzeitig spüre ich kalten Schweiß auf meiner Haut. Ich bekomme keine Luft mehr, greife mir mit beiden Händen an den Hals, als ob ich mir die quälende Enge einfach wie einen zu fest gewickelten Schal wegreißen könnte. Mein Mund ist trocken. Ich fürchte zu ersticken.

Oh mein Gott, heute packt mich die Angst besonders schlimm. Hektisch krame ich in meiner Handtasche nach meinem Notfallbeutel, der alle Medikamente enthält, die mir während einer dieser schlimmen Angstattacken helfen. Ich weiß genau, was ich jetzt brauche, und schiebe mir viel mehr als die normale Dosis in den Mund. Die Pillen beruhigen mich und helfen, die Situation wieder zu beherrschen. Denn am schlimmsten ist für mich der Kontrollverlust. Wenn die Angst heraufkriecht, kann ich nicht mehr garantieren, dass ich alles im Griff habe. Ich fühle mich dann ausgeliefert und hilflos. Den Pillen aber kann ich vertrauen. Beruhige dich, Nina. Es wird gleich wieder alles gut sein, beschwöre ich mich selbst.

Wie lange es heute dauert, bis die Angst verschwindet, weiß ich nicht. Es kann in einer halbe Stunde sein oder in drei Stunden oder auch erst in zehn Stunden.

Es ist Januar, und draußen weht ein eisiger Wind. In der Frühe hat es geschneit. Die Straßen sind längst freigetaut, aber auf den Grabsteinen ist der Schnee liegen geblieben und schmiegt sich an wie ein Sahnehäubchen auf einem Kuchen.

Ob ich heute noch zurück nach Hause kann? Es geht mir nicht gut. Ich habe im Radio ein Lied gehört, das mich an früher erinnert hat. Verdammte Angst! Sie nimmt mir mein Leben.

Ich schließe die Augen und versuche, mich ganz auf meine Atmung zu konzentrieren. Das habe ich in all den Therapien unzählige Male geübt. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Ich fokussiere mich dabei auf mein Zwerchfell, das sich langsam hebt und senkt, immer wieder und wieder.

Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze und nichts tue, außer zu atmen und auf mein Zwerchfell zu achten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Aber es bewirkt nichts. Ich werde kein bisschen ruhiger. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, mein Körper könne jeden Moment explodieren. Wumm! Und dann war es das mit meinem Leben.

Mir ist plötzlich fürchterlich heiß, und ich habe Angst zu sterben. »Nina«, sage ich laut zu mir selbst und versuche, mich zur Raison zu rufen. »Nina, komm! Halte durch. Atme. Zähle. Atme.«

Nina! Nina?

»Nina, was ist los? Du rutschst ständig auf deinem Stuhl hin und her. Das ist ja schlimm. Musst du mal Pipi machen? Dann geh bitte auf die Toilette.«

Ich bin sieben Jahre alt und sitze an einem Sechsertisch im Kinderhort in Frankfurt. Wir sollen alle ein Osterbild malen. Doch das Blatt vor mir ist immer noch leer. Während die anderen Kinder ihre Bilder schon fast fertig haben, sitze ich ganz vorn auf dem Stuhlrand und starre auf das Papier. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Ich kann einfach nicht an Häschen und Ostereier denken. Es tut mir alles so weh. Meine Beine, mein Po, und ganz schlimm brennt mein Rücken.

»Nina? Hörst du bitte. Ich habe dich etwas gefragt.«

Ich höre Frau Bitterbergs Stimme deutlich, aber ich will sie nicht verstehen.

Frau Bitterberg ist meine Betreuerin.

Sie sieht mich jetzt fragend an. Frau Bitterberg kennt mich und weiß, wie gern ich male. Ich male schöne Bilder. Sie sind immer ganz bunt. Oft schaffe ich sogar drei, vier, die Frau Bitterberg dann in meine Kunstmappe legt. Aber heute geht es nicht. Heute funktioniert mein Kopf nicht. Weil mir alles so wehtut. Ich will mich zusammenreißen, wirklich. Ich will nicht, dass jemand etwas merkt, schon gar nicht Frau Bitterberg. Deshalb schüttle ich den Kopf und sage nichts. Ich schaue zu Boden und hoffe, dass sie schnell weitergeht und sich die Bilder der anderen Kinder ansieht.

Aber Frau Bitterberg lässt sich nichts vormachen. Sie sieht genau, dass etwas nicht stimmt mit mir.

Ich versuche jetzt, ganz ruhig zu sitzen. Vielleicht lässt sie mich dann in Ruhe. Aber es geht nicht. Ich kann nicht. Es tut zu sehr weh. Meine beiden Pobacken sehen fast so aus wie das Kotelett, das meine Oma mir kürzlich gebraten hat. Ganz rot. Die Haut ist eingerissen und blutet. Die Schläge, die ich gestern Abend von Heiko bekommen habe, waren schlimmer als alle davor.

Er hörte einfach nicht auf. Wieder und wieder klatschte seine Riesenhand auf meinen nackten Po. Ich versuchte wie immer, mir etwas Schönes vorzustellen, an meinen Stoffteddy Bärchen zu denken. Bärchen ist mein bester Freund. Ich erzähle ihm alles, und er hört mir zu und versteht mich. Wenn ich weinen muss, drücke ich mein Gesicht an Bärchens flauschiges Fell, und wenn ich nicht einschlafen kann, nehme ich ihn ganz fest in den Arm.

Bärchen ist kein normaler Teddybär. Er kann sprechen und sogar singen. Am liebsten singt er mit mir. Und er möchte mir auch helfen, wenn mich Heiko schlägt. Aber das kann er nicht, weil Mama ihn im Schrank wegsperrt. Sie will mich damit bestrafen, wenn ich etwas falsch gemacht habe.

Ich versuchte auch an die süßen Tierbilder aus dem Malbuch zu denken, das ich von Oma Elisabeth zu Weihnachten bekommen habe. Darin sind kleine Hunde abgebildet, genauer gesagt Schnauzer. Solche, die Opa züchtet. Und so süße Rehe, wie ich sie mal mit Opa bei einem Spaziergang gesehen habe. Aber lange konnte ich nicht an die Tiere denken. Denn mit jedem Schlag schmerzte es mehr, brannte wie Feuer. Flapp, flapp, flapp, traf mich seine große Hand. Ich konnte an nichts mehr denken, weder an Bärchen noch an all die anderen Tiere. Erst tat nur mein Po weh, dann mein ganzer Körper und später sogar mein Kopf. Es war, als ob ich ein Feuer in meinem Kopf hätte, das alles verbrannte.

Wenn es so wehtut, dass ich an gar nichts mehr denken kann, dann weiß ich, dass ich bald ohnmächtig werde.

Früher hatte ich Angst davor, aber mittlerweile freue ich mich darauf. Denn dann ist es endlich vorbei.

Aber gestern war alles anders. Mein Blut hielt mich bei Bewusstsein. Ich sah es auf den Boden tropfen, direkt neben Heikos karierten Hausschuhen. Bloß nicht, nein, nein, hämmerte es in meinem benommenen Kopf. Mein Blut macht den Boden schmutzig. Ich wusste, dass es dafür weitere Schläge geben würde. Er würde nicht mehr aufhören, mich zu schlagen. Er würde einfach weiterschlagen, bis ich tot war.

Mama? Mama?!

Ich sah schemenhaft ihre Füße. Sie steckten in zwei pinkfarbenen Sandalen. Sie hatte sich auf meinen Kinderstuhl gesetzt, um zuzusehen, wie Heiko mich bestrafte. Das macht sie immer: Sie steht daneben, nicht teilnahmslos, nein, sie sieht interessiert zu.

Warum lässt sie das zu?

»Mama, Mama«, wimmerte ich kaum hörbar. Warum half sie mir nicht einmal jetzt?

Dann spürte ich nichts mehr. Es wurde dunkel. Ich schwebte. Es war vorbei …

*

Ein Auto fährt jetzt auf den Parkplatz und kommt wenige Meter neben mir zum Stehen. Ein junger Mann steigt aus. Er hat sich die dicke Strickmütze so tief ins Gesicht gezogen, dass man ihn kaum noch erkennen kann. Eilig holt er zwei voll bepackte Plastiktüten aus dem Kofferraum und geht mit schnellen Schritten durch die Dunkelheit zu einem der kleinen Reihenhäuser am Ende der Straße. Als er das eiserne Gartentörchen öffnet, geht die Beleuchtung an. Wenige Sekunden später öffnet sich die Haustür, und ein kleines Mädchen springt ihm direkt in die Arme.

»Nina, Nina, sag doch was!« Ich höre von Weitem eine Kinderstimme. Sie gehört Silke, meiner zehn Monate jüngeren Schwester.

Wo bin ich? Von draußen dringt etwas Licht durch die Gardine. Ich bin in meinem Kinderzimmer. Silke hat sich über den Flur zu mir geschlichen, steht jetzt an meinem Bett und sieht mir ins Gesicht.

»Sei bloß leise«, murmle ich gequält. »Du weißt, wir dürfen nachts nicht sprechen.«

Silke nickt und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Du hast nichts mehr gesagt gestern. Mama und Heiko haben dich ins Bett gelegt, und du warst wie tot. Sie meinten, dass du zur Strafe die ganze Nacht nichts trinken dürftest und ich dich in Ruhe lassen solle. Aber ich will doch wissen, wie es dir geht.«

Silke weint jetzt. Dicke Tränen schießen ihr aus den Augen. Ich greife nach ihrer Hand, drücke sie fest.

»Ich lebe noch«, sage ich leise. »Aber es tut so furchtbar weh. Ich glaube, er hat mir gestern etwas gebrochen.«

»Nina, da ist Blut auf der Matratze.«

Und dann höre ich Silke herzzerreißend schluchzen. »Nina«, murmelt sie mit zittriger Stimme. »Wenn sie das sehen, dann kommt Heiko morgen früh gleich wieder und haut dich weiter. Sieh doch, das viele Blut. Wir dürfen doch nichts schmutzig machen!«

Ich weiß. Und wenn Silke noch länger mit mir spricht, bekomme ich die Schläge gleich. Heiko hört alles, und wenn er nichts hört, hört es Mama, und die sagt ihm dann sofort, dass er mich bestrafen muss. Für zu lautes Sprechen, für das Aufstehen, für das Umdrehen im Bett, für egal was. Ich weiß längst nicht mehr, warum ich immer geschlagen werde. Warum sagt Mama ihrem Freund nicht einfach, dass er mich gleich totschlagen soll?

»Silke, geh ins Bett, bitte, wir dürfen nicht sprechen … Wo ist Bärchen?«

»Auf dem Schrank. Mama hat ihn ganz oben auf den Schrank gelegt. Du darfst doch nicht mit ihm spielen, wenn du etwas falsch gemacht hast. Dafür hast du doch auch die Schläge bekommen.«

Ich weiß, ich habe am Tisch beim Abendessen gesprochen. Wir dürfen nicht sprechen, wenn wir essen. Wir dürfen nur wortlos hinunterschlucken, was Mama uns hinstellt, stumm, leise, das Gesicht dem Teller zugewandt. Und wenn wir fertig sind, schickt uns Mama in unser Zimmer.

Ich wollte beim Essen erzählen, dass Frau Bitterberg eines meiner Bilder in den Flur gehängt habe, weil es ihr so gut gefiel. Aber ich durfte das nicht. Mama ist sofort wütend geworden, und ich musste ins Zimmer gehen und auf Heiko warten …

Ich liege die restliche Nacht auf dem Bauch. Nur so bekomme ich Luft. Ich spüre den Schmerz bis in die Zehenspitzen.

»Mama, Mama, es tut so weh«, wimmere ich, und mein Kopfkissen ist pitschnass von meinen Tränen. Ich weine nach meiner Mutter, obwohl ich längst weiß, dass Mama meine Tränen nicht sehen und auch mein Wimmern nicht hören will. Mama liegt mit Heiko im Bett und schläft bestimmt ruhig und fest, so wie mit all den anderen Männern auch, die immer bei uns sind.

Und dann falle ich aus Erschöpfung doch in einen kurzen unruhigen Dämmerschlaf.

»Nina, komm, wir müssen zur Schule!« Silke zupft an meinem Schlafanzugärmel. Ich kann sie kaum sehen. Meine Augen sind ganz verquollen von den Tränen.

»Hat Mama schon gerufen?«, presse ich ängstlich heraus.

Silke nickt.

»Ja, komm schnell. Sonst kriegen wir wieder Ärger. Los, du musst kommen«, quengelt sie weiter und zieht mir schon die Bettdecke zur Seite. Tränen schießen ihr in die Augen, ängstlich presst sie sich die Hand vor den Mund. »Nina, sieh, das Bett, es ist alles voller Blut. Er bringt uns jetzt um, uns beide, ganz bestimmt!«

Silke hat recht. Das Bettlaken, das Betttuch, alles ist voller Blut. Mein Höschen ist rot durchnässt.

»Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragt mich Silke, und ihre Stimme zittert heftig.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich verzweifelt. Ich bin doch erst sieben Jahre alt. Ich kann nichts machen. Ich kann nur warten, bis es eines Tages vorbei ist und ich morgens nicht mehr aufwache, wenn Silke an meinem Schlafanzug zuppelt.

»Ich komme«, sage ich knapp und habe jetzt so weiche Knie, dass ich mich beim Aufstehen kaum auf den Beinen halten kann. Aber ich muss jetzt aus dem Bett, ganz schnell, damit Mama nicht gleich wieder böse wird. Wenn wir Mädchen nicht pünktlich um zehn nach sieben in der Küche sind, gibt’s Schläge.

Heiko liebt Schläge mit der Handkante. Er donnert sie uns ins Genick, und wenn wir unter der Wucht der Schläge das Gleichgewicht verlieren und ihm dabei nicht weiter in die Augen schauen, schlägt er gleich noch mal zu.

Bitte, bitte, nicht heute. Ich weiß nicht, wie ich auf den Beinen bleiben soll. Ich will mir nicht vorstellen, was passiert, wenn ich hinfalle und ihn deshalb nicht ansehen kann. Nein, bitte nicht, ich will es mir nicht vorstellen.

»Komm, Nina, wir müssen ins Bad!« Silke weint jetzt so bitterlich, dass ich Mühe habe, sie zu verstehen. Es ist die Angst, die sie so weinen lässt. »Nina, bitte, bitte komm«, fleht sie, und ich quäle mich ins Badezimmer. Jeder Schritt schmerzt. Aber ich darf mir nichts anmerken lassen. Ich muss mich zusammenreißen, egal, wie weh es tut. Ich darf nicht weinen, nicht das Gesicht verziehen, ich muss es aushalten. Beim Frühstück, auf dem Weg zum Bus und auch in der Schule und später im Hort.

Irgendwie schaffe ich es. Die Lehrer scheinen nichts zu bemerken. Aber jetzt im Kinderhort steht Frau Bitterberg vor mir.

»Was ist los mit dir?«, will sie jetzt wissen und hakt gleich wieder nach. »Musst du auf die Toilette?«

Ich schüttle unsicher den Kopf. Aber Frau Bitterberg nimmt mein Kopfschütteln nicht ernst. Sie greift einfach nach meiner Hand und zieht mich auf den Flur.

»Komm, du kleiner Zappelphilipp, es ist besser, wenn wir das erst einmal erledigen. Du hast heute noch keine Minute still gesessen. Ist es denn so dringend?«

Obwohl ich weiter den Kopf schüttle und mich, so gut es eben geht, sträube, schiebt mich Frau Bitterberg bestimmt vor sich her auf den Flur.

Ich mag Frau Bitterberg. Sie ist lieb, streichelt mir manchmal über den Kopf, und dann schmiege ich mich ganz fest an ihre Beine. Für einen Moment fühlt es sich dann an wie bei einer Mutter, die ihre kleine Tochter in den Arm nimmt.

Frau Bitterberg ist so, wie ich mir meine Mutter wünsche: Sie schenkt mir Wärme und vermittelt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Sie passt immer auf mich auf, wenn mich andere Kinder ärgern oder mir meine Malstifte wegnehmen wollen, besonders die schönen, die ich auch so gern nehme. Dann schreitet sie gleich ein und sorgt dafür, dass ich die Stifte zurückbekomme.

Ich wünsche mir schon lange so schöne Malstifte für zu Hause, nur für mich. Aber Mama kauft mir keine. Ich habe einmal gefragt, und da hat sie mir gesagt, dass ich schon welche hätte. Ja, ich habe welche, aber es sind gerade mal vier Farben, und die Stifte sind schon bis auf wenige Zentimeter heruntergespitzt.

Ich habe kein zweites Mal gefragt, weil ich weiß, dass sie das nicht mag. Umso mehr liebe ich die Stifte im Hort. Es gibt alle nur erdenklichen Farben, und bei Frau Bitterberg darf ich meine Bilder in all den herrlichen Farben auch zu Ende malen …

Jetzt steht sie mit mir in der engen Toilettenkabine.

»So, Nina, jetzt mach erst einmal Pipi, damit du ruhiger wirst. Du bist ja wie ein kleiner Flipper«, scherzt sie und knufft mir liebevoll in die Wange, während sie mir die Hose herunterziehen will. Ich versuche mich zur Seite zu drehen. Ich will das nicht. Sie soll mich nicht ausziehen. »Nein, bitte nicht«, stammle ich und weine. »Nein, nein, nicht!« Aufgeregt schiebe ich ihre Hände zur Seite.

Doch es ist zu spät, die Hose hängt in Höhe der Knie. Jetzt zieht sie an meinem Slip. Das ist furchtbar. Frau Bitterberg wird sehen, wie mein Po aussieht.

Jetzt wird alles noch schlimmer werden! Ich zittere am ganzen Körper und habe grauenvolle Angst. Ich darf doch niemandem sagen, was sie zu Hause mit mir machen. »Ich schlage dich dann so, wie du es noch nie erlebt hast!«, hat Heiko mir für diesen Fall angedroht, und ich weiß, dass er es auch so meint.

Frau Bitterberg setzt mich jetzt ganz vorsichtig auf die Toilettenbrille und streichelt dabei liebevoll meine beiden Arme.

Komisch, sie sagt kein Wort, nichts. Sie muss gesehen haben, wie ich aussehe. Ganz sicher! Aber sie spricht nicht darüber. Sie sieht mich nur die ganze Zeit an, und dann nimmt sie mich in die Arme, ganz fest, und ich sehe, dass ihre Augen feucht sind. Weint sie? Wegen mir?

»Komm, Nina, wir gehen jetzt wieder zu den anderen. Ich gebe dir ein weiches Kissen, dann kannst du besser auf dem Stühlchen sitzen.«

Ihre Stimme ist jetzt ganz weit weg. Es ist die Angst, die mich so umhüllt, dass ich nicht mehr richtig höre, nichts mehr richtig wahrnehme. Wie in Watte gehüllt gehe ich über den Flur zum Gruppenraum zurück. Ich stakse, weil mir jeder Schritt Schmerzen bereitet. Was wird passieren, wenn ich nach Hause komme? Erst das blutige Bett und jetzt vielleicht ein Anruf oder gar ein Besuch von Frau Bitterberg. Das ist das Ende. Ich habe keine Chance. Heiko wird mich so lange schlagen, bis ich zusammengekrümmt am Boden liege, und Mama wird geduldig zusehen, wie immer, und dabei lächeln, wie immer. Auf jeden Fall wird sie mir nicht helfen. Sie wird das alles geschehen lassen. Warum nur liebt sie mich nicht?

Kapitel 1

»Tschüss, meine Süße!«, ruft Papa und wirft mir eine Kusshand zu. Es ist Sommer 1979, und ich wohne mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester Silke in einer hübschen Vierzimmer-Wohnung in Griesheim. Frühmorgens geht es an einem normalen Arbeitstag bei uns immer sehr hektisch zu. Papa muss als Erster zur Arbeit. Er ist Installateur und arbeitet in einem großen Unternehmen in Frankfurt. Nach ihm gehen wir Mädchen und Mama aus dem Haus. Damit es kein Durcheinander gibt, ist alles durchgeplant.

Wenn Papa schon losmuss, frühstücken wir noch, doch bevor er aus dem Haus geht, sieht er immer kurz bei uns in der Küche vorbei. Für mich ist dies das Startzeichen, denn ich springe dann jedes Mal vom Tisch auf und renne so schnell ich kann auf ihn zu. Ich mag es, wenn er mich morgens noch einmal in den Arm nimmt. Ganz fest, ganz innig. Papa hat starke Arme. Es ist schön, wenn er mich damit an sich drückt und ein paar Augenblicke fest umschlungen hält.

»Mach’s gut, Papa!«

Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

Papa streichelt mir über den Kopf, bevor er mich mit einem Klaps zurück in die Küche schickt und wenig später die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zieht.

Ich bin ein Papakind. Während sich Silke mehr zu unserer Mutter hingezogen fühlt, bin ich am allerliebsten mit meinem Vater zusammen. Er geht immer sehr liebevoll mit mir um, lacht viel und ist nie wirklich streng. Wenn ihm mal etwas nicht passt, sagt er im schlimmsten Fall laut »Nina« und blickt mich dabei ernst an. Aber das kommt selten vor. Normalerweise bin ich sein »Krümel«, und er strahlt förmlich, wenn er mich sieht. Ich liebe es, stundenlang mit ihm zu kuscheln. Besonders schön ist es abends, wenn er sich zu mir auf das Bett setzt und mir aus einem meiner vielen Kinderbücher vorliest. Papa hat eine tiefe, ruhige Stimme, und ich kann mich nicht satthören an seinen Geschichten.

Mama ist ganz anders. Ich glaube, sie hat nur Silke wirklich lieb. Mit mir spricht sie wenig, und wenn, dann nur in knappen Sätzen: »Tu das, tu jenes, hol das, hol jenes.« Es sind fast immer Befehle, die ich von ihr zu hören bekomme. Darüber hinaus scheint sie mit mir nicht viel anfangen zu können. Sie nimmt mich weder in den Arm, noch kümmert sie sich groß um mich. Sie lässt mich links liegen. Ich frage mich schon, solange ich denken kann, warum das so ist. Denn ich bemühe mich ja, ganz besonders lieb zu ihr zu sein. Aber sie scheint es nicht zu bemerken. Im Gegenteil, sie ist sogar extra streng zu mir, sehr streng. Ich muss »parieren«, wie sie immer sagt. Sonst setzt es »was«. Mit »was« meint sie Schläge. Ihre Hand sitzt locker, zumindest bei mir. Ich bekomme häufig eine Backpfeife. Aber nur, wenn Papa nicht da ist. Ansonsten hat sie Angst, dass er Ärger macht. Denn Papa mag keine körperliche Gewalt. Er hat uns Kinder noch nie geschlagen. Er schreit auch nicht laut. Papa spricht vernünftig mit uns, wenn er etwas möchte. Leise und liebevoll. Er ist ein guter Vater, der beste der Welt.

»Beeil dich«, ruft Mama mir jetzt aus dem Bad zu. Sie macht sich um diese Zeit ihre Haare, während ich schnell mein Brot aufesse. Es muss immer schnell gehen bei uns. Wenn Papa weg ist, bleiben mir nur noch fünf Minuten, um fertig zu essen, meinen Rucksack zu schnappen, Schuhe und Jacke anzuziehen und fix und fertig im Flur zu stehen. Wenig später müssen wir los. Mama bringt mich jeden Morgen zu Oma Elisabeth und Opa Karl. Danach geht sie auch arbeiten und nimmt Silke meistens mit. Mama arbeitet in einer Bäckerei. Sie ist gelernte Verkäuferin und macht für den angeschlossenen Partyservice die Buffets.

»Was ist das denn, Nina? Iss dein Brot endlich auf«, ruft Mama zu mir herüber und steht jetzt ungeduldig und mit dem Fuß wippend in der Küchentür. »Iss es sofort auf, sonst nehme ich es dir weg«, zischt sie drohend.

»Aber ich kann nicht so schnell essen!«, entgegne ich ihr und weiß sofort, dass ich das nicht hätte sagen sollen.

Mamas Augen blitzen jetzt gefährlich.

»Dann stell das Brot sofort in den Kühlschrank. Du kannst gleich bei Oma etwas essen.«

Ich höre deutlich ihre Ungeduld heraus. Mama wird schnell kribbelig, und dann ist sie unberechenbar.

Oma Elisabeth und Opa Karl sind Mamas Eltern. Sie wohnen in einem hübschen weißen Haus mit einem riesengroßen Garten im Herzen von Griesheim, und ich bin immer froh, wenn ich bei ihnen sein kann. So sehr, dass ich es morgens gar nicht abwarten kann, zu ihnen zu kommen. Die letzten Meter zu ihrem Haus laufe ich meistens, damit ich schnell klingeln und in Omas Arme fliegen kann. Ich liebe meine Großeltern!

Für sie scheint es nur mich auf der Welt zu geben, und ich glaube, sie haben mich sogar ein bisschen lieber als Silke. Oma liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Ich bekomme von ihr leckeren selbst gebackenen Kuchen oder knusprige Kartoffelpuffer, sie kocht mir den besten Kakao der Welt und kämmt mir geduldig die Haare, bis sie wunderbar glänzen. Oma nennt mich immer »mein Kätzchen«, und ich liebe es, auf ihrem Schoß zu sitzen. Oft flechtet sie mir dabei einen Zopf oder reibt mir die Arme mit einer selbst gemachten Creme ein, oder sie liest mir Geschichten vor von Prinzessinnen und Feen.

Mit Opa bastle ich die schönsten Sachen, im Sommer zum Beispiel Boote für den aufblasbaren Pool und im Herbst Kastanienmännchen oder einen Drachen. Er hat sogar schon eine Vogelscheuche mit mir gezimmert. Natürlich darf ich ihm auch im Garten helfen, Beete anlegen und Blumen gießen. Aber das Beste: Opa züchtet Schnauzer, und er lässt mich mit den süßen Welpen spielen. Ich habe sogar mal einem Kleinen ein Fläschchen gegeben.

Ich bin gern bei Oma und Opa, wo jeder Tag wie im Flug vergeht. Die Zeit bei ihnen ist so spannend, dass ich immer völlig überrascht bin, wenn Mama schon wieder in der Tür steht und mich abholen will.

»Ist es schon Abend?«, frage ich dann irritiert, bevor Mama mit Oma noch einen Tee trinkt und mich dann mit nach Hause nimmt. Auf dem Heimweg kullern oft die Tränen. Eigentlich möchte ich am liebsten bei meinen Großeltern wohnen.

Mit Papas Eltern ist das anders. Meine Oma ist früh gestorben, ich habe sie nie kennengelernt. Bei meinem Opa bin ich ab und zu mal am Wochenende. Er ist lieb, aber ich kann nicht viel mit ihm anfangen.

*

Anfang 1980 ziehen meine Eltern in eine Wohnung nach Frankfurt. Sie wollen näher bei ihren Arbeitsplätzen sein. Für uns Kinder bedeutet es, dass wir von nun an in einen Kindergarten gehen und nur noch selten bei Oma und Opa sein können. Mama bringt uns jetzt morgens zum Bus, sagt dem Fahrer, dass er uns an einer bestimmten Haltestelle aussteigen lassen soll, und dann ist sie weg. Sie hat uns auch beigebracht, wie wir zurückkommen. Aber ich habe immer Angst, dass ich mich verlaufe, und fürchte mich jeden Tag vor dem Weg in den Kindergarten, zumal ich auch die Verantwortung für Silke habe. »Pass bloß auf deine Schwester auf!« Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz jeden Tag höre, und ich mag mir gar nicht ausmalen, was sie mit mir macht, wenn Silke etwas passieren würde.

Wenn ich endlich wieder zu Hause bin, spiele ich noch mit Silke in meinem Zimmer. Bis Papa plötzlich in der Tür steht und uns mit großem Hallo begrüßt. Wenn Papa da ist, gibt’s alles: Kissenschlachten und Budenbauen, Märchenstunde und Abenteuerspiele. Beim Abendessen fallen mir meistens schon die Augen zu, und das Schönste ist für mich, wenn Papa mich dann mit seinen starken Armen ins Bett trägt und ich mich an seine Brust schmiegen kann. So geborgen und sicher bin ich bestimmt das glücklichste Kind auf der Welt.

Das letzte Mal spüre ich dieses Glück am 4. April 1980. Ich bin knapp vier Jahre alt und ahne nicht, dass es meine schöne heile Kinderwelt bald nicht mehr geben wird.

»Papa ist krank. Er muss operiert werden«, eröffnet uns Mama am nächsten Morgen am Frühstückstisch. Papa nickt, sagt aber sofort, dass es nichts Schlimmes sei und er bald wieder zurückkomme. Ich weine. Papa im Krankenhaus? Für mich ist es ein Schock. »Was ist mit dir?«, will ich wissen, und Papa nimmt daraufhin meine Hände, hält sie ganz fest und erzählt, dass er zwei Wochen in die Klinik müsse. Es sei nur etwas mit seiner Schilddrüse. Alles würde schnell heilen, und wir könnten ihn ja auch besuchen. Auf jeden Fall – und an diese Formulierung klammere ich mich wie eine Ertrinkende an ein Stück Holz – werde »alles gut, ganz bestimmt«.

Diese Worte beruhigen mich damals. Ich ahne nicht, dass nichts mehr gut wird. Ich ahne nicht, dass vor mir die Hölle liegt. Denn statt wie bisher die Liebe und Fürsorge meines Vaters zu spüren, erwartet mich bald ein unvorstellbares Martyrium.

Kaum ist Papa in der Klinik, verschwindet Mama häufig aus dem Haus. Wohin sie geht? Ich weiß es nicht. Sie schickt uns Mädchen abends ins Bett und sagt, wir sollten ruhig sein, nicht aufstehen, schlafen. Sie müsse eben noch mal kurz weg. Aber das »kurz« stimmt nicht. Mama lässt uns viele Stunden lang allein.

Für mich sind es furchtbare Nächte. Wenn meine Mutter nicht da ist, habe ich immer Angst, zumal ich allein schlafen muss. Silke hat ein eigenes Zimmer, und Mama möchte, dass wir nachts in unseren Betten bleiben. Mein Kinderzimmer ist stockdunkel, nur die Straßenlaterne wirft etwas Licht durch die schweren Vorhänge. Oft tanzen in meinem Kopf Schatten an den Wänden. Ich höre auch dunkle Männerstimmen im Flur und in Mamas Schlafzimmer und bin mir sicher, dass Fremde in unserer Wohnung sind. In solchen Momenten bleibt mir fast das Herz stehen, und ich wimmere immer nur ein Wort: »Mama!«

Aber ich darf nicht laut nach ihr rufen. Mama hat uns eingebläut, unbedingt leise zu sein. Wir dürfen weder Geräusche machen noch aufstehen. Wir müssen mucksmäuschenstill in unseren Betten liegen bleiben, egal, was passiert, egal, was wir hören. Wegen der Nachbarn. Sie sagt, sie würde sonst Ärger mit ihnen bekommen. Und natürlich dürfen wir auch Papa nicht erzählen, dass wir nachts allein sind.

»Wenn ihr Papa etwas sagt, setzt es Schläge. Und zwar nicht zu knapp«, droht sie uns jeden Abend, und so werden die zwei Wochen ohne Papa für mich zum großen Bruch in meinem Leben. Es sind die ersten Wochen, in denen ich die Angst kennenlerne. Noch ahne ich aber nicht, dass dies nur der Auftakt ist.

*

»Ich bin dein Verhalten leid! Ich weiß, dass du mit Männern hier in der Wohnung warst.« Papa ist außer sich. Er muss etwas von Mamas Besuchen bemerkt haben. Gerade ist er aus dem Krankenhaus gekommen, und schon gibt es einen riesigen Streit. Ich sitze mit pochendem Herzen in meinem Kinderbett und höre, wie sich Mama und Papa in der Küche anschreien. Papa brüllt, er habe es satt, dass seine Frau sich mit anderen herumtreibe. Und Mama schreit, dass sie sich sowieso trennen wolle und er endlich verschwinden solle.

Trennung? Mama will Papa wegschicken? Mit einem Satz springe ich aus meinem Etagenbett und laufe barfuß über den Flur in die Küche.

»Mama, der Papa darf nicht weggehen! Und wenn er geht, gehe ich mit«, platze ich trotzig heraus und schmiege mich an Papas Beine.

Es ist sofort still.

»Meine Süße, komm, ich erkläre dir das später«, meint Papa. Er ist plötzlich ganz ruhig und beugt sich zu mir herunter. Seine Augen wirken leer und traurig. Aber er lächelt und will mich auf den Arm nehmen. Doch in dem Moment greift Mama nach mir und zieht mich zu sich hoch.

Dann geht alles ganz schnell. Papa ist wütend, unfassbar wütend und holt plötzlich mit der Hand aus. Ich bin sicher, dass er Mama schlagen will. Doch die hält mich zum Schutz vor ihr Gesicht, sodass Papas Schlag nicht sie, sondern mich am Arm trifft. Es tut richtig weh, und ich schreie geschockt auf. In Papas Augen steht das pure Entsetzen.

»Meine Kleine, bitte, nicht doch, mein Gott, was passiert mit uns«, stammelt er völlig außer sich und befreit mich aus Mamas Armen.

Er küsst mir die Tränen aus dem Gesicht und drückt mich ganz fest an sich.

Ich weine, aber nicht vor Schmerz, sondern weil ich nicht mehr weiß, was um mich herum geschieht. Ich spüre, dass mein Kinderleben so nicht weitergehen wird. Ich spüre die Bedrohung und eine große Unsicherheit, die eine Kinderseele nur ganz schlecht ertragen kann.

Als Papa mich wieder ins Bett bringt, möchte ich ihn nicht mehr weglassen. Ich klammere mich an seinem Arm fest, zittere und habe nur einen Wunsch: Ich möchte meine kleine heile Welt behalten.

»Trennt ihr euch wirklich?«, will ich von ihm wissen.

Doch Papa bleibt mir die Antwort schuldig. Er streichelt mir über die Wange und wiederholt nur: »Ich erkläre dir das alles später.«

Und dann zieht er die Kinderzimmertür hinter sich zu. Ich höre ihn noch in Silkes Zimmer gehen. Meine kleine Schwester weint. Offenbar ist sie erst jetzt aufgewacht und hat von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen. Aber es ist schnell wieder ruhig. Silke hat Glück und kann friedlich weiterschlafen. Im Gegensatz zu mir. Mein Herz pumpert vor Aufregung, und ich starre noch Stunden verzweifelt an die Decke, an der sich ab und zu das Licht eines vorbeifahrenden Autos spiegelt. Wie es wohl nun weitergeht?

*

Meine Eltern trennen sich. Für mich wird ein Albtraum wahr.

»Ich habe eine eigene kleine Wohnung gefunden und hole dich zu mir, so oft es geht, mindestens alle zwei Wochen«, versucht mich mein Vater zu trösten, als er die Sachen aus unserer Wohnung holt. Ich bin furchtbar traurig. Ein Leben ohne meinen Vater kann ich mir nicht vorstellen, und zwei Wochen sind für ein Kind eine sehr, sehr lange Zeit. Irgendwie ist auch plötzlich keine Rede mehr davon, dass Silke mitkommt. Warum das so ist, sagt mir niemand. Aber ich schnappe auf, dass mein Vater nicht Silkes Vater sein soll …

Überhaupt gelten jetzt plötzlich für Silke andere Regeln als für mich. Gut, sie war schon immer Mamas Liebling. Aber seitdem Papa weg ist, zeigt Mama mir das mehr als deutlich. So hatten wir vor ein paar Tagen etwa nur noch eine Scheibe Brot im Schrank, und Mama hat sie Silke gegeben, während ich hungrig ins Bett gehen musste. Genauso ist es mit der Kleidung: Ich besaß einen roten Pullover, den ich sehr mochte. Aber als Silke ihn auch haben wollte, hat ihn Mama ihr gegeben. Ich musste dafür ihre alte Bluse anziehen. So ist es ab jetzt immer. Sie bekommt das bessere Essen, die schöneren Sachen, die größere Aufmerksamkeit. Wenn Silke etwas erzählt, hört Mama zu. Wenn ich etwas sage, geht sie einfach weg.

Ich bin eben das Papakind. Ein Kind von dem Mann, den sie jetzt offenbar hasst, und das lässt sie mich bei jeder Gelegenheit spüren, indem sie mich noch weniger wahrnimmt als zuvor. Zudem bekomme ich für alles, was schiefgeht, die Schuld in die Schuhe geschoben. Sogar wenn Silke etwas falsch macht, habe ich Schuld, weil ich es hätte verhindern müssen.

Wenig später ziehen wir vorläufig erst mal zu Oma und Opa und dann im Herbst wieder nach Frankfurt. Die neue Wohnung ist kleiner als die alte, und ich muss mir ein Zimmer mit Silke teilen. Während des doppelten Umzugsstresses wird das Malen meine große Leidenschaft. Als wir unsere Sachen einpacken müssen, male ich vorher mein altes Kinderzimmer, damit ich nicht vergesse, wie es ausgesehen hat. Und ich male auch meine Familie, all meine Stofftiere – aber ich halte auch Mamas wütendes Gesicht und ihre aufbrausenden Gesten fest. Dazu die beiden Häuser und den Umzugswagen. Ich will nichts vergessen. Die Bilder sammle ich in einer schönen bunten Hülle, die mir Papa einmal geschenkt hat. Ich sehe sie mir immer an, wenn ich traurig bin, weil ich nicht mehr so oft zu Oma und Opa kann, oder wenn ich Papa vermisse.

Ich male auch, wenn ich Streit mit Mama habe. Dann setze ich mich an den kleinen Kindertisch und male alles, was ich falsch gemacht habe. Oft spreche ich zu viel und muss deshalb in mein Zimmer gehen. Also male ich Mamas Gesicht und meinen Mund und ein Zimmer mit Gittern vor den Fenstern.

Ich banne auf Papier, was ich fühle, und ich male mein Leben mit all der Unruhe und Unsicherheit, die mich so belastet. Das hilft mir damals sehr, meine schwierige Lebenssituation zu verarbeiten.

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Ich erinnere mich noch genau, dass ich gerade einen von Opas niedlichen Hunden male, als es plötzlich an der Wohnungstür klingelt. Der kleine Vierbeiner heißt Nicki und ist ein süßes kleines Schnauzer-Mädchen mit dunklen schwarzen Knopfaugen und einer glänzenden Knubbelnase. Nicki hat schon einmal sechs Babys bekommen, die ich alle gestreichelt habe. Sie ist eine ganz liebe Mama, die genau aufpasst, wo ihre Kinder sind, und wenn eins wegläuft, holt sie es sofort zurück und leckt es liebevoll ab. Ich mag Nicki sehr und kann es kaum erwarten, bald wieder mit ihr zu spielen. Opa hat einen roten Ball, den ich für Nicki in den Garten werfe. Sie ist dann immer ganz verrückt danach und läuft wild kläffend hinterher.

»Mach mal auf, Nina. Es steht eine Überraschung vor der Tür«, ruft Mama mir aus dem Wohnzimmer zu.

Ich springe sofort auf und renne zur Tür, denn ich bin mir ganz sicher: Das muss Papa sein! Er kommt zu uns zurück!

Doch statt Papa steht ein wildfremder Mann vor mir, der grinsend sagt: »Ich bin der Horst, und ich wohne jetzt hier!«

Es ist November 1980, und ich verstehe überhaupt nicht, was hier vor sich geht. Der Mann schiebt mich zur Seite und geht direkt auf Mama zu, die hinter mir im Flur steht. Er ist sehr schlank, hat kurz geschnittene blonde Haare und einen Vollbart. Mir fällt auf, dass an einem seiner Finger ein dicker Goldring blinkt.

Als er Mama in den Arm nimmt und sich die beiden lange küssen, muss ich weinen. Was wird jetzt mit Papa? Wenn dieser Horst hier wohnt, kann er nicht mehr zurückkommen. Ich halte mir die Hände vors Gesicht und weine immer mehr. Ich kann mich gar nicht mehr beruhigen. Mama merkt sofort, warum. Zur Strafe schickt sie mich in mein Zimmer. »Räum mit Silke die Kisten aus. Los, los, wir haben viel zu tun.«

*

Horst zieht wirklich bei uns ein und führt sich vom ersten Tag an auf wie der Chef im Haus. Er mischt sich in alles ein und sagt mir ständig, was ich zu tun habe.

Schon am ersten Tag bestimmt er, wo mein Kinderbett hingestellt werden soll. Er belehrt mich auch, wie ich den Schrank einräumen müsse und wohin ich das Spielzeug zu legen habe. Er erklärt mir, wie mein Handtuch zu hängen hat und dass ich nicht mehr zu jeder Zeit ins Wohnzimmer darf. Dabei spricht er nicht mit mir, sondern erteilt mir Befehle: »Mach das! Hol das! Lass das!« Mehr sagt er nie.

Über ihn erfahre ich nichts. Ich weiß nur, dass er tagsüber als Versicherungsvertreter arbeitet. Das klingt natürlich spannend. Aber er erzählt nie von seiner Arbeit, zumindest nicht, wenn ich dabei bin.

Ich glaube, er will am liebsten nichts mit mir und Silke zu tun haben. Wenn er abends nach Hause kommt, müssen wir deshalb sofort in unserem Zimmer verschwinden. Nur zum Abendessen dürfen wir noch einmal kurz in die Küche kommen. Aber nur zum Essen, nicht zum Sprechen.

Wir dürfen am Tisch kein Wort sagen. Das ist auch so eine neue Regel, die Horst eingeführt hat, und er nimmt es mit dem Verbot ganz genau. Wir müssen stumm hinunterschlingen, was uns Mama hinstellt, und werden auch nach dem Essen nichts mehr gefragt. Nicht, wie es im Kinderhort war, was wir dort gemacht und erlebt haben, ob wir uns wohlfühlen oder ob uns etwas stört. Es interessiert nicht, was mit uns ist. Wir sind da, und das ist vermutlich schon schlimm genug. Wir dürfen nicht noch zusätzlich auffallen. Zumindest ich nicht. Silke darf sich etwas mehr erlauben. Wenn sie mal ungefragt etwas herausplappert, wird es geflissentlich überhört. Bei mir ist das ganz anders. Wenn ich beim Essen etwas sage, schreit mich Horst sofort an, und ich muss dann sofort ins Bett, natürlich ohne fertig gegessen zu haben und auch ohne etwas zu trinken zu bekommen. Es spielt keine Rolle, ob ich deshalb weine, und wenn ich jammere, weil ich Hunger habe, gibt es von Horst obendrein noch Ohrfeigen.

Beim ersten Mal sehe ich noch Hilfe suchend Mama an und denke, dass sie jetzt einschreitet. Aber das tut sie nicht. Sie nimmt mich nicht in Schutz. Im Gegenteil. Sie feuert »ihren« Horst sogar noch an. Ich höre sie Sätze sagen wie: »Ja, zeig ihr endlich mal, was sie zu tun hat«, oder: »Jetzt setz dich schon durch, und gib bloß nicht nach!« Sie will, dass er streng mit mir ist und mir mit seinen Schlägen klarmacht, »wo es langgeht«.

Zu den Schlägen kommt das Gebrüll. Horst schreit nur.