Schönheit aus Asche - Eleanor Isaacson - E-Book

Schönheit aus Asche E-Book

Eleanor Isaacson

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Beschreibung

"Er gab mir Schönheit statt Asche und Freudenöl statt Trauer." Jesaja 61,3 Eleanor Isaacson ist zwei Jahre alt, als ihre Mutter sie in Deutschland bei Verwandten zurücklässt. Das kleine Mädchen wächst in der Obhut ihrer Tante auf, von der sie zwar Nahrung bekommt, aber keine Liebe. Dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Gemeinsam überstehen die beiden Frauen Bombennächte, Hunger, Einsamkeit und den Verlust naher Angehöriger. Kurz bevor sich der Eiserne Vorhang schließt, holt Eleanors Mutter die inzwischen 13-Jährige zu sich in die USA. Doch auch im "Land der Freiheit" erlebt Eleanor nur Kälte und Ablehnung. Erst als sie entdeckt, wer ihr unsichtbarer Freund ist, der sie von klein auf begleitet und beschützt hat, findet ihr Herz endlich Heimat …

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Seitenzahl: 329

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Eleanor Isaacson | Jeanette Windle

Schönheit aus Asche

Wie ich als zurückgelassenes Kindden Zweiten Weltkrieg überlebteund endlich Heimat für mein Herz fand

Deutsch von Esther Middeler

Originally published in the U.S.A. under the title: Dancing from Darkness

Copyright © 2017 by Eleanor Isaacson and Jeanette Windle

Published by arrangement with Eleanor Isaacson Publications.

Titel der englischen Originalausgabe: Dancing from Darkness

© 2017 Eleanor Isaacson und Jeanette Windle

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Eleanor Isaacson Publications.

Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben, dem Text der Neue Genfer

Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft;Genesis u. Exodus © 2020 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, undBrunnen Verlag GmbH, Gießen.

Ferner wurden verwendet und sind wie folgt gekennzeichnet:

NLB – Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM

R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.

SLT – Bibeltext der Schlachter, Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft.

Wiedergegeben mit der freundlichen Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

LUT – Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017,

© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

ELB – Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM

Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen

© der deutschen Ausgabe: 2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Umschlag- und Innenfotos: © Eleanor Isaacson privat

Satz: Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-3702-8

ISBN E-Book 978-3-7655-7648-5

www.brunnen-verlag.de

Ich widme dieses Buch meinem geliebten MannRobert B. Isaacson, der mich nicht nur dazu ermutigthat, öffentlich über meine Kriegserfahrungen inDeutschland zu sprechen, sondern auch dieses Buchzu schreiben. Es tut mir leid, Bob, dass du nicht mehrhier bist und das fertige Buch sehen kannst. Danke fürachtzehn wundervolle Ehejahre. Danke, dass du durchdeine Liebe, Hingabe und dein Verständnis die Dunkelheitzu Licht gemacht hast. Du hast mir geholfen,zu der Frau zu werden, die ich heute bin.Wir sehen uns in der Herrlichkeit.Ich liebe dich.Deine Eleanor

Außerdem ist dieses Buch

meinen Cousinen und Cousins gewidmet:

Ruth Händel Wunderlich

Ursula Lorenz Bauer

Roland Drechsler

Ursula Reinecke Bergler

Wolfgang Grahmann

Christa Müller

Rosemarie Händel Anderson

Inhalt

Prolog: Das fertige Gemälde

Kapitel 1: Unfröhliche Weihnachten

Kapitel 2: Verlassen

Kapitel 3: Hitler

Kapitel 4: Schlüsselkind

Kapitel 5: Die Flut steigt

Kapitel 6: Der Krieg kommt nach Plauen

Kapitel 7: Die Vorahnung

Kapitel 8: Nachwirkungen

Kapitel 9: Hungersnot

Kapitel 10: Ein dunkles Verließ

Kapitel 11: Bewahrt

Kapitel 12: Vater der Vaterlosen

Kapitel 13: An Bord

Kapitel 14: Amerika

Kapitel 15: Nicht gewollt

Kapitel 16: Auf der Suche

Kapitel 17: Gefunden

Kapitel 18: Zufluchtsort

Kapitel 19: Königstochter

Kapitel 20: Neuanfang

Kapitel 21: Hochzeitsglocken

Kapitel 22: Geliebt

Kapitel 23: Im Glutofen des Leidens

Kapitel 24: Nach vorne sehen

Kapitel 25: Tanzen hat seine Zeit

Kapitel 26: Erfülltes Witwenleben

Kapitel 27: Endlich versöhnt

Epilog: Den Dirigentenstab übergeben

PROLOG

Das fertige Gemälde

Der Herr hat mich gesalbt …,um es den Trauernden zu ermöglichen,dass ihnen ein Kopfschmuck anstelle von Asche,Freudenöl anstelle von Trauerkleidern,und Lobgesang anstelle eines betrübten Geistesgegeben werde.

Jesaja 61,1+3 (NLB)

Meine Mutter gab mich weg, als ich noch ein kleines Kind war. Dieses eine Puzzleteil meines Lebens bestimmte über so viele weitere, die darauf folgten: Ich musste Unterdrückung, Bombenangriffe und Hunger ertragen, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Ich überlebte das diktatorische Regime Hitlers, nur um dann von der russischen Besatzung verschluckt zu werden. Im Alter von nur zwölf Jahren war ich als Grenzschmugglerin großen Gefahren und Ängsten ausgesetzt. Als ich schließlich von meiner amerikanischen Staatsbürgerschaft, die ich durch meine Geburt in New Jersey erlangt hatte, Gebrauch machte, merkte ich schnell, dass Einsamkeit, Ablehnung und Verzweiflung keine geografischen Grenzen kennen.

So viele graue, schwarze und schmutzig-braune Puzzleteile. Auch ein sandfarbenes ist dabei: Es steht für die Gehörlosigkeit, die mich so lange von der farbenfrohen, lauten, vernetzten Welt abschnitt, in der die anderen lebten. Dann gibt es noch ein schiefergraues Puzzleteil: für meine Verzweiflung darüber, dass niemand so ein ungeliebtes und deshalb ganz sicher nicht liebenswertes Kind lieben konnte, wie ich es offenbar war. Ein eisblaues Puzzleteil erzählt von einem persönlichen Verlust, der so tiefe Wunden riss, dass sogar meine Tränen gefroren.

Doch nicht alle Puzzleteile meines Lebens haben eine trübe Farbe, auch wenn ich lange brauchte, um das zu erkennen. Da war fröhliches Grün: Durch die Schönheit der Natur hatte ich mit dem allmächtigen und liebenden Schöpfer Bekanntschaft gemacht. Da war das reine Weiß meines unsichtbaren Freundes, dessen Gegenwart und Schutz ich genoss, lange bevor ich seinen Namen kannte. Das Löwenzahn-Gelb: Ich war Teil einer großen Familie geworden, deren Mitglieder zwar nicht meine DNA teilten, aber eine Herzensverbindung zueinander. Das zarte Rosa, das an Frühling denken lässt, steht dafür, wie ich die wahre Schönheit entdeckte, mit der mich mein Schöpfer höchstpersönlich entworfen hat. Das leidenschaftliche, flammende Rot zeugt davon, dass ich in der Ehe eins wurde mit meinem Seelenverwandten und besten Freund.

Das leuchtendste Puzzleteil von allen – in Sonnengelb – steht für den Tag, an dem ich die Person kennenlernte, die meine Verletzungen heilen, mein Leben verändern und jedes bisschen Asche, das ich auf meinem Weg angesammelt hatte, in eine Krone der Schönheit verwandeln würde: Jesus Christus. Menschensohn. Gottessohn. Der Erlöser meiner Seele.

Mit der Zeit überstrahlten die hellen Farben die dunklen und tristen. Und auch wenn die Form, die Größe und die Farbe der Puzzleteile meines Lebens für mich selbst ein Rätsel darstellten, habe ich erkannt: Mein Schöpfer hat seine eigenen Absichten für jedes dieser Teile, die dunklen wie die hellen. Tatsächlich habe ich gelernt, dass das Leben einem Puzzle sehr ähnelt.

Wenn wir uns ein Puzzle kaufen, suchen wir es nach dem Bild auf dem Karton aus. Vielleicht eine prachtvolle Berglandschaft in den Schweizer Alpen. Oder eine Wiese, übersät von Blumen. Oder eine Szene auf hoher See, in der die Wellen mächtig wie Berge aufragen. Aber wenn wir die Schachtel öffnen, finden wir darin Tausende, wahllos durcheinander liegende Teile in Blau, Grün, Gelb, Grau, Braun, Schwarz.

Wie bei unserem Leben ist schwer zu erkennen, wie ein einzelnes Teil in ein zusammenhängendes Bild passt, von einem schönen Bild mal ganz abgesehen. Wir sehen auf einen Tag, der deprimierend grau oder fahlbraun ist, und fragen uns, welcher Sinn dahinter verborgen liegt. Wir wissen nicht, dass er in dem Muster unseres Lebens die Rückseite einer wogenden weißen Wolke bildet oder den Ast eines majestätischen, hoch emporragenden Mammutbaums.

Doch anders als beim Kauf eines Puzzles können wir während unseres Lebens hier auf der Erde nicht ausmachen, wie unser Bild am Ende aussehen wird oder wie es auch nur aussehen soll. Doch Gott, der uns geschaffen hat und jeden Moment unseres Lebens kannte, bevor wir unseren ersten Atemzug taten, sieht nicht nur das fertige Bild. Er hat ein Kunstwerk daraus entworfen. Im Glauben können wir in das jubelnde Dankgebet von König David, dem Psalmisten Israels, einstimmen:

Du hast alles in mir geschaffen und hast mich im Leib meiner Mutter geformt. Ich danke dir, dass du mich so herrlich und ausgezeichnet gemacht hast! … Du hast zugesehen, wie ich im Verborgenen gestaltet wurde, wie ich gebildet wurde im Dunkel des Mutterleibes. Du hast mich gesehen, bevor ich geboren war. Jeder Tag meines Lebens war in deinem Buch geschrieben. Jeder Augenblick stand fest, noch bevor der erste Tag begann.

Psalm 139,13-16 (NLB)

Ich schreibe dieses Buch über 60 Jahre, nachdem ich Jesus Christus begegnet bin und mein Leben seiner Leitung anvertraut habe. Jeder einzelne Tag setzt sich aus vielen Puzzleteilen zusammen. Ich weiß nicht, wie viele noch übrig sind, bevor Gott das letzte Teil einsetzt und ich an seiner Seite endlich das gesamte wunderschöne Bild sehen darf, das er über all die Jahre gestaltet hat.

Doch bereits jetzt, wenn ich zurückblicke auf all meine Erfahrungen von Vernachlässigung, Krieg, Hunger, Trauer, Schmerz und Verlust, kann ich sehen: Gerade durch diese Erfahrungen war es mir möglich zu erkennen, wie leer mein Leben ohne Gott ist. Er gebrauchte die dunkelsten Schattierungen meiner Vergangenheit, um mich zu seinem Licht zu ziehen. Vielleicht hätte ich mich mit meinem eigensinnigen, unabhängigen Wesen ohne die Wucht von Schmerz und Trauer nie an meinen himmlischen Vater gewandt. Mein Schöpfer weiß es und ich vertraue seinen Absichten – ob die Erfahrungen, die ich mache, nun dunkel sind oder hell.

Ebenso wie bei mir hat Gott auch für jedes Puzzleteil, aus dem Ihr Leben besteht, eine bestimmte Gestaltung vorgesehen und einen besonderen Zweck. Vielleicht führen Sie gerade ein Leben, das weit mehr düstere als helle Farben aufweist. Vielleicht sieht das Durcheinander an Puzzleteilen, aus denen Ihre Tage bestehen, mehr nach reinstem Chaos aus als nach einem wunderschönen Muster.

Wenn das der Fall ist, ermutige ich Sie, mit mir gemeinsam den Weg meines Lebens entlangzugehen. Ich bete dafür, dass Sie beim Lesen der folgenden Seiten Ihr Leben auf dieselbe Weise sehen lernen wie ich meines – ein exzellentes Gemälde, entworfen von dem Schöpfer des Lebens höchstpersönlich. Und wenn Sie dies erkennen, wünsche ich Ihnen, dass Sie auch erfahren, wie sehr Sie Ihr Schöpfer liebt.

Nun will ich Sie einladen, mit mir zurück in eine Zeit und an einen Ort zu reisen, der Gott sei Dank nicht mehr existiert – in den Todeskampf von Hitlers Drittem Reich.

KAPITEL 1

Unfröhliche Weihnachten

Du brauchst dich nicht zu fürchtenvor dem Schrecken der Nacht …Denn er hat für dich seine Engel entsandtund ihnen befohlen,dich zu behüten auf all deinen Wegen.

Psalm 91,5.11

Hatte es je ein schlimmeres Weihnachten gegeben? Ganz sicher nicht in meiner zehnjährigen Erinnerung! Im Dezember 1944 zog sich Hitlers Angriffskrieg bereits über fünf Jahre hin. Selbst in einer Nazihochburg wie Plauen, einer stolzen Industriestadt in Mitteldeutschland nahe der Grenze zu Bayern und zur Tschechoslowakei, konnten sich die Einwohner nicht länger einreden, dass die mächtige Wehrmacht ihres Führers den Krieg gewann. Monatelang schon legten die Bomben der Alliierten Plauen mehr und mehr in Schutt und Asche.

Für die Kinder dort war Weihnachten immer eine Zeit voller glitzernder Magie gewesen. Schnee hüllte sanft die Hügel ein, die Plauen umgaben. Tannenzweige und anderer Weihnachtsschmuck verzierten den Marktplatz. Glocken und Chorgesänge erfüllten die Luft mit Musik. Der Duft von Zimt, Melasse, Ingwer, Anis und Schokolade strömte aus den Häusern, wo Weihnachtskekse gebacken wurden. Auf der Zunge lag der Geschmack von Plätzchen und Stollen.

Doch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte ich fast vergessen, wie solche Luxusgüter wie Butter, Zucker und Melasse schmeckten. Lisbeth, wie ich meine Tante nannte, die mir Vormund und Ersatzmutter war, hatte im Wohnküchenbereich unserer winzigen Wohnung bereits einen Baum aufgestellt. Diese Tradition war natürlich, wie alles andere an Weihnachten unter der Naziherrschaft, jeglicher Symbolik beraubt worden, die auf den jüdischen Messias hinwies. Der Baum stand nun für die Sonnenwende und jährliche Wiedergeburt der Sonne – ähnlich wie der bärtige Mann, der den Sack voller Geschenke trug, nicht mehr der Heilige Nikolaus war, sondern der germanische Gott Odin.

Mein Puppenhaus, das lediglich aus einer Küche und einem Schlafzimmer bestand und unserer echten Wohnung damit nicht unähnlich war, wurde ebenfalls vom Speicher geholt. Wie jedem anderen deutschen Kriegsmädchen wurde mir erlaubt, von Heiligabend bis zum 6. Januar mit seinen winzigen Möbeln zu spielen. Dann wurde es wieder bis zum nächsten Jahr auf den Dachboden gebracht.

Trotz Nahrungsmittelknappheit hatte meine Tante es sogar geschafft, die winzigen Lebensmitteldosen wie immer mit etwas echtem Zucker und Mehl für mich zu füllen, damit ich damit spielen konnte. Und wie jedes Jahr hatte Lisbeths Nähfreundin Elsa für meine Puppe Helga ein neues Kleid gemacht, das ich gemeinsam mit den anderen spärlichen Geschenken am Weihnachtsabend auspackte.

Doch ich hatte kein Interesse an Puppenkleidern oder am Puppenhaus, auch nicht an den SS-Soldaten aus Schokolade, den Spielzeugpanzern und Kriegsflugzeugen, die man auf dem Weihnachtsmarkt kaufen konnte. Wie konnte es Weihnachten sein, wenn die ganze Luft so durchdrungen war von Angst und Unsicherheit, dass ich kaum atmen konnte? Wenn die Klänge der Weihnachtslieder – die ebenfalls neue Texte hatten und nun Deutschlands großen Retter statt ein Judenbaby priesen – schon lange in Fliegeralarm und Bombenexplosionen untergegangen waren?

Als ich an jenem Weihnachtsabend 1944 endlich einschlief, dachte ich nicht an Geschenke. Mein zehnjähriges Bewusstsein war nur auf eine einzige Sache fokussiert: auf die Sirene zu lauschen und immer bereit zu sein, sofort loszulaufen, mich zu verstecken und zu überleben. Wie schon seit Monaten schlief ich auch in dieser Nacht komplett angezogen, meine Schuhe ordentlich neben dem Bett aufgestellt, sodass ich augenblicklich in sie hineinspringen konnte.

Es war 2 Uhr nachts am Weihnachtsmorgen, als der Fliegeralarm ertönte. Widerwillig schob ich meine dicke Daunendecke von mir, um in die eiskalte Nacht hinauszulaufen. Vielleicht wäre der Angriff dieses Mal ja kurz genug, dass mein Bett noch warm war, wenn ich wiederkäme. Die durchdringende Sirene tat mir in den Ohren weh, während ich nach meinen Schuhen tastete. Als ich die Tür erreichte, hatte Lisbeth schon meine Hand ergriffen. Wir polterten durch das Treppenhaus drei Stockwerke nach unten, drängelten uns vorbei an anderen Bewohnern, die sich ebenfalls ihren Weg in die Sicherheit erkämpften.

Unser Wohnhaus stand auf dem Hang eines natürlichen Talkessels, in dem Plauen angesiedelt war. Eine Kopfsteinpflasterstraße führte hinunter ins Tal. Dort inmitten der Stadt stand ein großer, von Bäumen bedeckter Hügel. Ob durch die Natur oder menschliche Kraft angelegt – in diesem Hügel befanden sich zwei riesige Höhlen. Während der vergangenen Jahrhunderte war das kalte, feuchte Innere dieser Höhlen von den ansässigen Brauereien genutzt worden, um dort ihr Bier etwas kühler zu lagern. Seit dem Beginn der Bombenangriffe waren sie zu Luftschutzkellern geworden. Manche Leute, die kein Zuhause mehr hatten, blieben auch zwischen den Angriffen dort.

Lisbeth und ich hatten in den letzten Monaten häufig in der nächstgelegenen Höhle Schutz gesucht, da die Bomben mittlerweile nicht mehr nur ab und zu, sondern unaufhörlich fielen. Unter normalen Umständen lag der Hügel zwanzig Minuten Fußmarsch von unserer Wohnung entfernt. In dieser Nacht rutschten und schlitterten wir über das glatte, gefrorene Kopfsteinpflaster und erreichten den Fuß des Hügels in weniger als zehn Minuten. Über uns bildeten der Donner und die Blitze der explodierenden Bomben einen Stakkato-Rhythmus zu dem auf- und abschwellenden Jaulen des Fliegeralarms.

Während wir rannten, wurde mein Blick nach oben gezogen. Das Feuerwerk der explodierenden Artillerie bot die Illusion eines sternenbedeckten Nachthimmels. Doch sicher halluzinierte ich, denn es sah für mich so aus, als würden herrliche Weihnachtsbäume aus reinem goldenen Licht herunterfallen und die Landschaft übersäen. Ich zog an Lisbeths Hand. „Schau, sie feiern Weihnachten!“

Meine Tante drückte meine Hand noch fester und zerrte mich hinter sich her. „Wir können nicht stehen bleiben und gucken! Wir müssen weiterlaufen!“

Jahrzehnte später erzählte ich in einem Vortrag in North Carolina, USA, davon. Anschließend kam ein Kriegsveteran auf mich zu und versicherte mir: „Sie haben nicht halluziniert. Im Gegensatz zu unseren amerikanischen Bombern mussten die Briten darauf achten, keine Munition zu verschwenden. Daher beleuchteten sie den Boden mit hellen Markierungsbomben, um den Abwurfbereich zu überprüfen, bevor sie die Bomben fallen ließen. Vom Boden sahen diese Markierungsbomben aus wie ein umgedrehtes V aus hellem Licht.“

Damals verlor ich schnell das Interesse an jeglicher Schönheit am Nachthimmel. Wir hatten nun die massiven Doppeltüren erreicht, die in die nächstgelegene Höhle führten, den Mauerkeller. Der Eingang zur anderen Höhle mit dem Namen Hummerkeller lag eine weitere Viertelstunde Fußweg auf der anderen Seite des Hügels. Um uns herum strömten die anderen Bewohner unseres Wohnhauses durch die Türen, genau wie wir während der vorherigen Fliegeralarme. Doch etwas in meinem Bauch, in der Angst, die mir die Luft abschnürte, schrie mich an, dass wir dort nicht hineingehen sollten. Etwas Schreckliches würde geschehen, wenn wir es taten. Obwohl ich keine Worte hörte, war es genauso klar, als würde eine Stimme mir Anweisungen geben.

Unsanft riss ich an Lisbeths Hand, sodass wir beide stehen blieben. „Nein, wir können da nicht hinein! Nicht heute Nacht! Bitte, bitte, du musst auf mich hören! Wir müssen zur anderen Höhle laufen! Bitte, bitte!“

Obwohl mir die Dringlichkeit ins Gesicht geschrieben stand, ist mir bis heute schleierhaft, warum meine Tante mich nicht einfach packte und durch die Türen des Mauerkellers schob. Vorsehung, mit Sicherheit. Aber Lisbeth war keine Frau, die an Vorsehung glaubte oder überhaupt an etwas, das nicht praktisch und rational war. Doch in dieser Nacht hörte sie auf mich. Ich umklammerte ihre Hand. Nun war ich es, die sie mit sich fortzerrte. Wir erreichten den Eingang des Hummerkellers in olympischer Geschwindigkeit. Gerade in diesem Augenblick wurden die riesigen Türen, die genauso aussahen wie die des Mauerkellers, schwerfällig geschlossen.

„Haltet die Türen auf!“, rief meine Tante scharf. „Wir kommen!“

Wir quetschten uns durch die enge Öffnung, während sich die Türen direkt hinter unseren Fersen schlossen. Wir waren kaum drinnen, als der Boden zu beben begann. Die Bomben fielen offenbar sehr nah. Die Höhle war so voller Menschen, hätte jemand einen Herzanfall gehabt, wäre er nicht zu Boden gefallen. Verstreut leuchteten Taschenlampen auf entsetzte Gesichter und die Schreie, die man zwischen den Explosionen und Sirenen hörte, stammten sowohl von Männern als auch Frauen und Kindern.

Ich schlängelte mich zur Höhlenwand, wo ich einen Vorsprung fand, der gerade hoch und breit genug war, um mir als Sitzgelegenheit zu dienen. Der Fels in meinem Rücken war kalt und klamm, aber die Körperwärme der vielen Menschen ließ es in der Höhle schnell warm werden, sodass ich schläfrig wurde. Ich lehnte mich an meinen Sitz und fing an, mit mir selbst zu reden, da es viel zu laut war, um mit jemand anderem zu sprechen. Vielleicht war auch der unsichtbare Freund, diese Gegenwart, deren Identität ich nicht kannte, aber die für mich so real geworden war, die eigentliche Person, mit der ich sprach.

Was ist der Tod? Werde ich sterben, bevor dieser Krieg vorbei ist? Wenn ich von einer Bombe getroffen werde, wo gehe ich dann hin? Was geschieht danach? Warum müssen wir so leben, mit so viel Kampf und Tod? Gibt es einen Ort auf dieser Welt, wo ich Sicherheit finden kann? Warum lebe ich überhaupt? Warum bin ich hier im Hummerkeller? Wessen Stimme hat mir gesagt, dass ich hierher rennen soll?

Meine Fragen wandten sich zu der unsichtbaren, aber so realen Gegenwart. Wer bist du? Was bist du? Wo bist du? Und dann: Wie kann ich dich kennenlernen?

Schließlich hörte der Boden auf zu beben und es waren nur noch die Sirenen zu hören. Erschöpft kletterte ich von meinem Sitz herunter und ging mit Lisbeth zusammen wieder aus der Höhle heraus. Der Rest der Menge zerstreute sich. Die Leute gingen zurück in die nächstgelegenen Häuser, da sie aus diesem Teil der Stadt kamen. Doch Lisbeth und ich mussten wieder um den Hügel herumlaufen, zurück zum Mauerkeller, wo die Straße aus Kopfsteinpflaster begann, die uns zurück nach Hause führte.

Als wir die andere Seite des Hügels erreichten, war ich fassungslos ob des Anblicks, der sich mir bot: Die großen Doppeltüren, die in den Mauerkeller führten, standen nicht offen, sodass die Leute, die darin Schutz gesucht hatten, wieder hinauskonnten. Stattdessen war der ganze Hang des Hügels ein einziger Trümmerhaufen. Der Eingang hatte offenbar einen direkten Treffer abbekommen, der die Türen hineingedrückt und bewirkt hatte, dass die ganze Höhle in sich zusammengestürzt war. Später erfuhren wir, dass Hunderte von Menschen erdrückt worden oder erstickt waren.

Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Wenn ich nicht auf diese wortlose innere Stimme gehört hätte, wären Lisbeth und ich jetzt unter den Toten gewesen. Aber warum lebten wir und die anderen nicht? Wer hatte mir gesagt, dass wir von hier fliehen sollten?

Lisbeth sah so erschüttert aus, wie ich mich fühlte. Dann nahm sie meine Hand und führte mich weg. Während wir die steile Straße zu unserem Zuhause hochgingen, schüttelte sie nüchtern ihren Kopf. „Nun, Eleanor, ich schätze, Gott wollte nicht, dass wir heute Nacht sterben.“

Ihre Worte waren so verblüffend für mich wie unser knappes Entkommen. Lisbeth und ihre ganze Familie waren Atheisten, wie Hitler es für alle guten deutschen Bürger angeordnet hatte. In den zehn Jahren meines Lebens hatte ich fast noch nie eine Kirche betreten. Ich hatte nie eine Bibel gesehen. Ich hatte nie von Jesus Christus gehört, nie einen Christen getroffen oder jemals jemanden beten gehört. Ich hatte keine Erinnerung daran, dass vorher irgendjemand Gott erwähnt hätte. Und doch musste es wahrscheinlich jemand gemacht haben, denn ich verstand, was meine Tante meinte.

Die Offenbarung in diesem Moment veränderte mein Leben für immer. Ich hatte schon lange gespürt, dass es in dieser Welt etwas gab, das größer war als ich selbst. Nicht nur etwas, sondern Jemanden. Und jetzt war klar, dass dieser Jemand mich, Eleanor, kannte. Und nicht nur kannte, sondern sich genug um mich sorgte, um persönlich in mein Leben einzugreifen.

Als wir uns von dem stummen Grab aus Fels und Fleisch wegschleppten, fragte ich Lisbeth nicht, was sie mit ihren Worten gemeint hatte. Aber ich wandte meine stummen Fragen wieder gen Himmel. Ist das mein unsichtbarer Freund – Gott? Wenn es so ist, wie hast du mir gesagt, dass wir nicht zum Mauerkeller gehen sollen, wo wir seit Oktober immer hingehen – ohne Stimme, ohne ein Flugblatt, das vom Himmel fällt, mit genauen Anweisungen, einfach so? Ich wünschte, ich könnte dich so kennen, wie du mich kennst. Dann hätte ich vielleicht nicht so große Angst davor zu sterben. Dann müsste ich nicht mehr fortlaufen, weil du immer weißt, wo ich bin. Und wenn ich dich kennen würde, wie du mich kennst, wäre ich bei dir immer sicher.

Viele Jahre später, Tausende Meilen von Plauen entfernt, als ich endlich eine Bibel in meinen Händen hielt, begegneten mir darin Worte, die Gottes direkte Antwort auf mein Rufen hätten sein können:

Wer unter dem Schutz des Höchsten wohnt, darf bleiben im Schatten des Allmächtigen. Darum sage ich zum HERRN: „Du bist meine Zuflucht und meine sichere Festung, du bist mein Gott, auf den ich vertraue.“ … Er deckt dich schützend mit seinen Schwingen, unter seinen Flügeln findest du Geborgenheit. … Du brauchst dich nicht zu fürchten vor dem Schrecken der Nacht oder vor den Pfeilen, die am Tag abgeschossen werden … Denn er hat für dich seine Engel entsandt und ihnen befohlen, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie werden dich auf Händen tragen, damit du mit deinem Fuß nicht an einen Stein stößt.

Psalm 91,1-2.4-5.11-12

In jener Nacht wusste ich nur, dass ich lebte. Und dass Jemand mich gerettet hatte. In dem verblassenden Morgenlicht dieses freudlosen Weihnachtsmorgens, mit dem Gestank von Sprengsätzen und Staub und verbranntem Fleisch in meiner Nase, gelobte ich aus der Tiefe meines einsamen, liebeshungrigen, zehnjährigen Herzens: Ich weiß, dass du real bist. Und ich weiß, dass du ein Ziel damit verfolgt hast, mein Leben zu verschonen. Wenn du mich diesen Krieg überleben und zu einer Frau heranwachsen lässt, werde ich nach diesem Ziel suchen. Und ich werde dich als Freund kennenlernen.

Ich hielt mich an dieses Versprechen.

Oder vielmehr: Gott tat es.

KAPITEL 2

Verlassen

Kann eine Mutter etwa ihren Säugling vergessen?Fühlt sie etwa nicht mit dem Kind,das sie geboren hat?Jesaja 49,15 (NLB)

Ich wurde in den USA geboren. Die Tatsache, dass meine Mutter mich verließ, sollte meinen Lebensweg ebenso sehr bestimmen wie das Einfordern meines Geburtsrechtes. Auch wenn ich keine Erinnerung an das Leben mit meinen Eltern als Kind oder als Amerikanerin hatte.

Sowohl meine Großeltern väterlicherseits, Otto und Minna Drechsler, als auch meine Großeltern mütterlicherseits, Paul und Elsa Händel, kamen aus Plauen. In ihrer Jugendzeit hatte die Stadt ihren Höhepunkt als aufstrebende Industriestadt erreicht, die weithin bekannt war für die maschinelle Produktion feinster Seide. Großvater Otto war Bäckergeselle. Während des Ersten Weltkriegs wurde er eingezogen und hatte das Pech, von den Russen gefangen und in ein Arbeitslager geschickt zu werden. Als seine Widersacher erst einmal von seinen Broten und seinem Gebäck gekostet hatten, waren sie so beeindruckt, dass er den Rest seiner Haft in der Lagerbäckerei verbringen durfte.

Als Otto nach dem Krieg nach Hause zurückkehrte, beschloss er, selbst eine Bäckerei zu eröffnen. Er heiratete und lehrte seine drei Söhne sein Handwerk. Zu jener Zeit emigrierte Tante Klara, die Schwester seiner Frau Minna, mit ihrem Mann Michael in die Vereinigten Staaten. Dort eröffneten sie eine Bäckerei in Newark, New Jersey. Das Paar hatte selbst keine Söhne. Daher luden sie 1927 meinen Vater Arthur und seine beiden Brüder Kurt und Erich ein, zu ihnen zu kommen und in der Bäckerei zu arbeiten.

Arthur war zu diesem Zeitpunkt achtzehn Jahre alt. Er und meine Mutter Hilda waren seit der Grundschule ineinander verliebt und er willigte nur ein, in die USA zu ziehen, wenn Tante Klara sich bereit erklärte, auch Hildas Überfahrt zu bezahlen. Sie stimmte zu, und sobald meine Mutter bei meinem Vater in New Jersey war, heirateten sie. Arthur arbeitete weiter in der Bäckerei, Hilda steuerte als Putzkraft zu ihrem Lebensunterhalt bei.

Doch die Ehe erwies sich für die jungen Leute bald als Enttäuschung. Beide hatten Probleme damit, Englisch zu lernen und sich an die amerikanische Kultur zu gewöhnen. Schnell zeigte sich auch ihre emotionale Unreife. Hilda war gerade erst achtzehn geworden, als sie heirateten. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, das gern auf Partys ging und erwartete, immer im Mittelpunkt zu stehen. Sie hasste es ebenso sehr, die Häuser anderer Leute zu putzen, wie mein Vater seinen Status als Tagelöhner in der Bäckerei eines anderen verabscheute. Arthur war ebenfalls nicht unattraktiv für das andere Geschlecht. Er war athletisch und sah sich selbst als großen Sportler, insbesondere Fußballspieler. Bei diesen Gelegenheiten lernte er andere Frauen kennen. Hilda erfuhr schließlich von seinen Affären, was die Ehe umso mehr belastete.

Meine Eltern waren sieben Jahre verheiratet, als Hilda bemerkte, dass sie schwanger war. Wie die meisten Einwanderer hatten Arthur und Hilda anfangs wenig Geld. Doch im Gegensatz zu vielen anderen hatten sie Familie in der Nähe und zwei regelmäßige Einkommen. Sie mussten keine weiteren Kinder durchbringen, während zahlreiche andere Einwanderer hart arbeiteten, um für Essen und Kleidung für ihre wachsende Kinderschar zu sorgen. Daher ist es für mich bis heute zu schwer zu verstehen, was dann geschah.

Als ich als Teenager meiner Mutter zum ersten Mal wieder begegnete, erzählte sie mir, dass sie, nachdem sie von der Schwangerschaft mit mir erfahren hatte, nach Hause ging und anfing, den Kühlschrank umherzuschieben, in der Hoffnung, dass sie durch die Anstrengung eine Fehlgeburt erleiden würde. Als das nicht funktionierte, ergab sie sich wütend in ihr Schicksal. Am 7. November 1934, im Alter von 25 Jahren, gebar sie eine Tochter, Eleanor Drechsler.

Während Hilda erbost die Verantwortung ablehnte, ein Kind großzuziehen, war Arthur wütend, weil ich kein Junge war. So erzählte es mir zumindest damals meine Mutter. Ich habe keinerlei Erinnerung an diese Zeit. Doch aus anderen Dingen, die mir Hilda irgendwann berichtete, schloss ich, dass sie mich wechselweise völlig ignorierte oder anzog wie ein Sammlerpüppchen. Auf den wenigen Fotos, die ich von meiner Kindheit habe, sieht man tatsächlich ein süßes Baby mit üppigen schwarzen Locken und großen Augen. Wenn meine Mutter mich ihren Freundinnen präsentierte, trug sie Rouge auf meine Wangen auf und schminkte meine Lippen.

Wenn Hilda oder Arthur geglaubt hatten, dass ein Kind sie einander wieder näherbringen würde, hatte sich das als abgrundtiefer Irrtum entpuppt. Laut meiner Mutter war mein Vater eifersüchtig auf jedes bisschen Aufmerksamkeit, das sie mir schenkte. Nichts von dem, was später geschah, wies darauf hin, dass Arthur mehr Interesse an seiner kleinen Tochter hatte als Hilda. Was schließlich darin gipfelte, dass sie beschloss, mich wegzugeben. Ihre Hoffnung, wie sie mir später erläuterte, war, dass ihre instabile Beziehung mit ihrem Mann sich verbessern würde, wenn kein zweijähriges Kind mehr um sie herumtanzte. Doch auch dies erwies sich als abgrundtiefer Irrtum.

Trotzdem buchte Hilda eine Überfahrt für sich und mich auf einem Schiff nach Deutschland. Als wir bei meinen Großeltern in Plauen angekommen waren, fing sie an, von Tür zu Tür zu gehen und zu fragen, ob jemand ein kleines Mädchen namens Eleanor haben wollte. Als Oma Elsa erfuhr, was Hilda da tat, wurde sie fuchsteufelswild.

„Du bist eine schreckliche Frau!“, schrie sie Hilda ins Gesicht. „Was für eine Mutter gibt ihr kleines Kind weg? Raus aus meinem Haus. Ich will dich nie wieder sehen!“

Hilda verließ das Haus und sah ihre Eltern tatsächlich nie wieder. Doch sie beharrte hartnäckig darauf, dass sie allein in die USA zurückkehren würde, ohne Rücksicht darauf, ob mich jemand aufnahm oder nicht. Was geschehen wäre, wenn es wirklich so weit gekommen wäre, werde ich nie erfahren. Doch an diesem Punkt traten die jüngere Schwester meiner Mutter, Tante Lisbeth, und ihr Mann Walter auf den Plan. Sie waren zwar nicht reich, aber führten einen erfolgreichen Schönheitssalon und waren nun etliche Jahre verheiratet, ohne eigene Kinder bekommen zu haben. Sie willigten ein, mich aufzunehmen. Hilda übergab ihnen meine Geburtsurkunde und andere wichtige Dokumente, bevor sie wieder Segel gen New Jersey setzte.

Eines der merkwürdigsten Details an dieser Geschichte ist, dass Arthur nie fragte, was Hilda mit mir gemacht hatte, als sie ohne sein einziges Kind wieder nach Hause kam. Die Geschichte, die Hilda Freunden und Familie erzählte, die danach fragten, war, dass ich in Plauen krank geworden sei und sie mich dort gelassen habe, damit meine medizinische Behandlung fortgesetzt werden könne. Doch sie erklärte nie, warum sie sich nicht die Mühe machte, mich irgendwann zurückzuholen. Insbesondere, als Hitlers Invasion in Polen im September 1939 den Beginn eines Krieges in der Heimat markierte, wo sie ihre Tochter zurückgelassen hatte. Was die Beziehung zu meinem Vater anging: Anstatt sich durch die neue Freiheit von der Erziehung eines Kindes zu verbessern, endete die Ehe, nur wenige Jahre nachdem ich in Plauen zurückgelassen worden war, in einer Scheidung.

Heute kann ich von Herzen sagen, dass ich meinen Eltern vergeben habe. Ich habe sogar gelernt, Gott dafür zu danken, dass er mir solche Eltern gab, denn ihre Abkehr von mir hat mich zu der Frau gemacht, die ich heute bin. Sie gab mir Mitgefühl und Empathie für andere, die Hilda und Arthur nie besaßen. Ich durfte so viele junge Leute als Mentorin und, ja, auch als Mutter begleiten, die ebenfalls vernachlässigt, abgelehnt und missbraucht worden sind.

Doch zu verstehen, warum es meiner eigenen Mutter so leicht fiel, ihr einziges Kind ohne große Emotion wie ein ungewolltes Päckchen abzuwerfen, ist mir deutlich schwerer gefallen. Im Laufe der Zeit erfuhr ich, dass Hilda als uneheliches Kind geboren worden war und sich immer als peinlich und lästig empfunden hatte. War ihre Rückkehr nach Hause mit mir eine verzweifelte Bitte um die Liebe ihrer eigenen Mutter gewesen? Wie hatte sie sich gefühlt, als Oma Elsa sie hinausgeworfen und ihr deutlich gemacht hatte, dass sie ihre Tochter nie wiedersehen wollte? War die Art, wie Hilda mich behandelte, einfach nur eine Wiederholung der fehlenden mütterlichen Fürsorge, die sie selbst erfahren hatte?

Was auch immer der Grund gewesen sein mag, letztlich macht es keinen Unterschied. Und auch wenn ich mutterlos zurückblieb, lernte ich im Laufe der Zeit den wahren Vater der Mutter- und Vaterlosen kennen. Vor vielen Jahrhunderten, als Gottes erwähltes Volk, die Kinder Israel, jammerten, dass sie vergessen und verlassen wären, erinnerte Gott sie:

Kann eine Mutter etwa ihren Säugling vergessen? Fühlt sie etwa nicht mit dem Kind, das sie geboren hat? Selbst wenn sie es vergessen würde, vergesse ich dich nicht! Sieh, ich habe dich in meine Handflächen gezeichnet.

Jesaja 49,15-16 (NLB)

Ich war der traurige Beweis, dass es Mütter gibt, die tatsächlich die Kinder, die sie geboren haben, vergessen und ihnen gegenüber kein Mitgefühl zeigen. Was das Bild von Gottes Liebe in diesen Versen für mich noch kostbarer macht. Viele Eltern haben ein Bild von ihren Kindern auf ihrem Schreibtisch oder in ihrer Brieftasche. Manche lassen sich sogar den Namen ihres Kindes tätowieren. Ich, die Mutterlose, die Vaterlose, kann mich darüber freuen, dass mein Schöpfer, mein himmlischer Vater, mich nie vergessen oder verlassen wird. Er liebt mich so sehr, dass er meinen Namen als ewige Erinnerung in seine Handflächen gezeichnet hat.

KAPITEL 3

Hitler

Denn so spricht der Herr: … Ich will euch trösten,wie einen seine Mutter tröstet.

Jesaja 66,12-13 (LUT)

Natürlich hatte ich zu jener Zeit keine Ahnung davon, dass ich verlassen worden war. Meine ersten Erinnerungen sind nicht negativ. Ich lebte mit meiner Tante Lisbeth und meinem Onkel Walter an einer Straße mitten in Plauen, der Trochenthalstraße. Ihr Schönheitssalon war im Erdgeschoss. Wir lebten in einer gemütlichen, wenn auch kleinen Wohnung im vierten Stock. Da Lisbeth und Walter beide die meiste Zeit arbeiteten, war unsere Küche auch parterre, direkt neben dem Salon.

Meine ersten Erinnerungen sind mit diesem Salon verbunden. In einem Rüschenkleid und mit einem Haarreifen in meinen dicken schwarzen Locken fuhr ich mit dem Dreirad durch den Salon, während Walter Haare und Bärte schnitt und Lisbeth Dauerwellen machte und manikürte. Oder ich schob eine Puppe im Puppenwagen durch die Gegend. Die Kunden behandelten mich wie eine Prinzessin. Sie gaben mir Süßigkeiten und spielten mit mir. Zur Teezeit machte Lisbeth immer heiße Schokolade in der Küche nebenan. Dann brachte sie mir eine Tasse davon, zusammen mit einem halben Butterbrötchen, und ließ mich in einem der Frisierstühle sitzen wie ein erwachsener Kunde, während ich mein Brötchen in den Kakao tunkte. War das lecker!

Aber es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass ich in einer Hinsicht anders war als die anderen Kinder in meinem Umfeld. Sie alle hatten eine Mutter und einen Vater. Ich hatte Lisbeth und Walter, aber obwohl sie mich in ihr Zuhause aufgenommen hatten, durfte ich nie Mutter und Vater zu ihnen sagen. Noch nicht einmal Tante und Onkel. Ich nannte meine Tante immer nur Lisbeth und ihren Mann Walter.

Auch behandelten mich Lisbeth und Walter nicht wie ihre Tochter, obwohl mir das erst viele Jahre später bewusst wurde. Sie gaben mir zu essen, kleideten mich ein und behandelten mich freundlich. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass Lisbeth mich auch nur ein einziges Mal umarmt oder geküsst hätte oder Walter mich auf seinen Schoß genommen hätte. Meine beiden Großeltern lebten noch in Plauen und die Bäckerei Drechsler, die Opa Otto gehörte, war nur eine Straße vom Salon entfernt. Aber ich sah Otto und Minna nur, wenn Lisbeth mich mit in die Bäckerei nahm, um Brot oder Gebäck zu kaufen. Sie erwähnten meinen Vater nie, und soweit ich weiß, erkundigten sie sich auch nie, warum Arthur seine einzige Tochter fortgeschickt hatte.

Wir besuchten Opa Paul und Oma Elsa einmal im Monat und so lernte ich einige meiner Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen kennen. Aber auch wenn ich mich von meinen Verwandten mütterlicherseits mit Sicherheit angenommen und sogar geliebt wusste, kann ich mich doch nicht an Umarmungen, einen Kuss auf die Wange oder andere zärtliche Berührungen erinnern. In Deutschland, besonders unter der Naziherrschaft, wurden Kinder nicht verhätschelt, sondern zu starken zukünftigen Mitstreitern für Hitlers Reich aufgezogen.

Hitler war im Januar 1933 Reichskanzler geworden, fast zwei Jahre vor meiner Geburt. Er war in Plauen nicht unbeliebt. Plauen war sogar der Ort, wo sich der erste Ortsverband der Nazis außerhalb von Hitlers Wahlheimat im nahen Bayern gründete. Diese Popularität ließ sich teilweise darauf zurückführen, dass Hitler kontrollierte, was die Deutschen im Radio hörten und in den Zeitungen lasen. Alles, was wir in Plauen zu hören bekamen, war, was für ein wunderbarer Führer Hitler war und wie er Deutschlands Wohlstand wiederherstellte.

Auch Hitlers Angriffe gegen die umliegenden Länder wurden als Ausdruck seiner Besorgnis um das deutsche Volk erklärt. Die Deutschen waren überlegen; sie waren schlauer und fleißiger als andere Nationalitäten. Sie verdienten mehr Land für ihre wachsende Bevölkerung und Hitler vertrieb „minderwertige Rassen“, um den Deutschen Raum zum Aufschwung zu geben. Diese Strategie nannte sich „Lebensraum“ und basierte auf Hitlers Überzeugung, dass die „rassisch überlegenen“ Deutschen alles Recht hatten, die „minderwertigeren“ osteuropäischen Rassen zu vertreiben und ihr Land mit deutschen Kolonien neu zu bevölkern.

Ich war gerade vier geworden, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Schreckliches geschah. Diese Nacht ging in die Geschichte ein als Kristallnacht, da am nächsten Morgen die Straßen voller Glas waren. In einem koordinierten Angriff hatten SA-Truppen und randalierende Zivilisten in ganz Deutschland jüdische Geschäfte, Synagogen, Krankenhäuser, Schulen und Häuser verwüstet. Ihre Legitimation sahen sie in dem Mord an Ernst vom Rath, einem Nazi-Diplomaten, der in der Deutschen Botschaft in Paris von einem polnischen Jugendlichen jüdischer Abstammung namens Herschel Grynszpan getötet worden war. In jener Kristallnacht wurden etwa 7000 jüdische Geschäfte und 1000 Synagogen zerstört. Unzählige Juden wurden ermordet oder zusammengetrieben, um (wie wir später erfahren würden) in Konzentrationslager geschickt zu werden.

Da ich noch so klein war, bekam ich von alldem nichts mit. Aber Jahre später erzählte mir Onkel Werner, ein Onkel väterlicherseits, der aufgrund seiner Behinderung nicht von der Armee eingezogen worden war, wie er in jener Nacht die Synagoge von Plauen hatte brennen sehen. Er versammelte einige Nachbarn und gemeinsam gingen sie zum Polizeirevier, in der Annahme, dass die Ordnungshüter noch nicht davon in Kenntnis gesetzt worden seien. Aber als er dem diensthabenden Revierleiter von dem Feuer berichtete, blieb der Polizist einfach sitzen und starrte auf die Dokumente auf seinem Schreibtisch.

„Wollen Sie nicht irgendetwas tun?“, fragte Onkel Werner immer wieder. Als der Polizist ihn weiterhin ignorierte, stieß einer der Nachbarn meinen Vater an und flüsterte ihm zu: „Ich glaube, wir gehen besser.“

In diesem Moment begriff Onkel Werner, dass die Polizei nicht nur davon wusste, sondern es tatenlos hinnahm. Unzufrieden kehrten er und seine Begleiter nach Hause zurück. Sie wussten, dass sie, wenn sie ihrem Zorn Luft machten, ebenfalls zu Zielen der SA werden würden. Was passiert wäre, wenn sie und andere Deutsche ihren Mann gestanden und ihren jüdischen Nachbarn geholfen hätten, werden wir nie erfahren. Diese passive Duldung bestärkte Hitler mit Sicherheit. Nur zehn Monate später marschierte er in Polen ein und läutete damit den Zweiten Weltkrieg ein.

Zu jener Zeit wusste ich wenig davon. Aber im Schönheitssalon lief zur Unterhaltung der Kunden das Radio. Nach dem Beginn des Krieges hörten wir die Berichte über die tapfere deutsche Wehrmacht, die die britischen und französischen Unterdrücker bekämpfte. Wir konnten das Dröhnen der Kampf- und Bombenflugzeuge über Berlin hören, das Stakkato der Fliegerabwehrgeschütze und das schrille Heulen der Sirenen. Natürlich verlasen die Nachrichtensprecher immer, dass die Deutschen diese Luftkämpfe gewonnen hatten. Auch Hitlers eigene Stimme dröhnte häufig über den Äther.

„Ihr Deutschen seid Herrenmenschen“, schrie er. „Ihr seid die arische Rasse. Wir werden die Welt erobern, um euch mehr Raum zu geben.“

Die Kunden des Salons und die Nachbarn, die sich um das Radio scharten, glaubten ihm. Warum sollten sie auch nicht? Der Krieg war noch nicht nach Plauen gekommen. Die Einwohner waren unter Hitlers stahlharter Führung zu Wohlstand gekommen. Wenn es etwas Negatives an dieser Führung gab, wurde es nicht öffentlich gemacht.

Für mich waren Hitlers Tiraden und lärmende Berichte von der Front nichts anderes als andere Radioprogramme. Manchmal spielte ich „Krieg“, lief im Flur herum und machte dabei den Ton eines Fliegeralarms nach. Wenn Lisbeth und Walter dann eilig mit einer Decke aus dem Salon liefen, als wollten sie Schutz vor den Bomben suchen, sagte ich streng zu ihnen: „Ich tu doch nur so!“

Unsere vogtländische Region an der Grenze zu Bayern und der Tschechoslowakei war sehr römisch-katholisch geprägt. Doch meine Verwandtschaft fühlte sich keiner Religion zugehörig. Ob es an dem Druck der Nazis lag oder mit der Familiengeschichte zusammenhing, weiß ich bis heute nicht. In den Jahren, die folgten, erlebte ich selbst, mit welch harter Hand die Nazipartei jede Art von Anbetung einer Gottheit unterdrückte, die nicht Hitler hieß. Ich besuchte nie einen Gottesdienst, hatte nie eine Bibel gesehen oder irgendjemanden beten gehört. Ich hatte keine Ahnung, was „Gott“ und „Jesus Christus“ bedeuteten, außer als Schimpfwort.