Schwestermutter - Ich bin ein Inzestkind - Ulrike M. Dierkes - E-Book

Schwestermutter - Ich bin ein Inzestkind E-Book

Ulrike M. Dierkes

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Beschreibung

Ulrike M. Dierkes ist einem breiten Publikum aus zahlreichen Fernsehsendungen zur Inzestproblematik bereits bekannt. Unermüdlich setzt sie sich für die Rechte von Inzestopfern ein, sie klärt auf, informiert und hilft. Doch auch sie selbst ist eine Betroffene. In diesem Buch erzählt sie ihre eigene Lebens- und Leidensgeschichte als Inzestkind, ganz persönlich und hautnah. Ihre Geschichte ist auch die Geschichte ihrer "Schwestermutter", die vom gemeinsamen Vater jahrelang missbraucht wurde, bis sie schließlich ein Kind aus dieser Missbrauchsbeziehung gebar. Und sie ist die Geschichte eines Netzwerks von Abhängigkeiten, Manipulationen und pädophilen Übergriffen, die der Vater jahrzehntelang erfolgreich aufrechterhielt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumDANKSAGUNGVORWORTTEIL 1: DER INZEST, MEINE GEBURT UND EINE KINDHEIT IN LÜGEKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5TEIL 2: LEBEN MIT DER WAHRHEITKAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10TEIL 3: AUF DER SUCHE NACH EINEM BESSEREN LEBENKAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14TEIL 4: ICH SEHE NICHT WEG, ICH SEHE NACH VORNKAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20NACHWORTANHANGERKLÄRUNG AN DAS GERICHT:ANSCHRIFTEN UND INTERNETADRESSENLITERATURHINWEISE

Über dieses Buch

Ulrike M. Dierkes ist einem breiten Publikum aus zahlreichen Fernsehsendungen zur Inzestproblematik bereits bekannt. Unermüdlich setzt sie sich für die Rechte von Inzestopfern ein, sie klärt auf, informiert und hilft. Doch auch sie selbst ist eine Betroffene. In diesem Buch erzählt sie ihre eigene Lebens- und Leidensgeschichte als Inzestkind, ganz persönlich und hautnah. Ihre Geschichte ist auch die Geschichte ihrer »Schwestermutter«, die vom gemeinsamen Vater jahrelang missbraucht wurde, bis sie schließlich ein Kind aus dieser Missbrauchsbeziehung gebar. Und sie ist die Geschichte eines Netzwerks von Abhängigkeiten, Manipulationen und pädophilen Übergriffen, die der Vater jahrzehntelang erfolgreich aufrechterhielt.

Über die Autorin

Ulrike M. Dierkes ist Vorsitzende des Vereines M.E.L.I.N.A. e.V., der die Interessen von Inzestopfern vertritt. Informationen unter: www.melinaev.de

Ulrike M. Dierkes

SCHWESTERMUTTER

Ich bin ein Inzestkind

Aufgezeichnet unter Mitarbeit von Martina Sahler

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2004 by Bastei Lübbe AG, Köln

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Zum Schutz der Rechte sämtlicher Personen wurden alle Namen verändert.

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung eines Motives © shutterstock: Voyagerix

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7457-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

DANKSAGUNG

Mein Dank gilt den Medien, Privatpersonen und Prominenten, die mich auf meinem Weg fachlich beraten und menschlich begleitet haben, besonders meiner eigenen Familie und der Verwandtschaft sowie den unerschrockenen, unverwüstlich optimistischen MitkämpferInnen meines Vereines M.E.L.I.N.A. e.V.

Ulrike M. Dierkes, 2004

VORWORT

Ich bin ein Inzestkind.

Ich wurde geboren, weil mein Vater die älteste seiner vier Töchter sexuell missbrauchte – Marina wurde mit dreizehn Jahren schwanger. Ich wurde geboren, weil ein junges Mädchen, ein Kind, keine Hilfe erhielt – mein Vater missbrauchte Marina ab ihrem siebten Lebensjahr.

Als die Schwangerschaft festgestellt wurde, befand sich Marina bereits im sechsten Monat, und für eine Abtreibung war es zu spät. Der runde Bauch war nicht mehr zu verbergen, und die Nachbarn in dem kleinen westfälischen Dorf, aus dem ich stamme, tuschelten, das Kind sei vom eigenen Vater. Nur wenige Wochen nach ihrem vierzehnten Geburtstag brachte mich Marina zur Welt.

Meine leibliche Mutter ist also zugleich meine älteste Schwester, deshalb werde ich Marina im Folgenden auch Schwestermutter nennen.

Die Frau, die ich elf Jahre lang für meine leibliche Mutter gehalten habe, war in Wirklichkeit meine Großmutter. In diesem Buch nenne ich sie manchmal Mutter, denn als Kind wusste ich es nicht besser. Doch meist schreibe ich die Frau meines Vaters. Die Distanz, die sich darin ausdrückt, entspricht mehr meinem Verhältnis zu ihr.

Was es bedeutet, das Produkt eines Verbrechens zu sein, können sich Nichtbetroffene wohl kaum vorstellen – wie viel Kraft und Zeit mir mein Schicksal bis heute abverlangt, wie viel Disziplin, Überlebensarbeit und eigene Opfer es erforderte, ehe ich mich als Inzestüberlebende bezeichnen konnte.

Wie lebt man mit solch einer Familiengeschichte? Ist es für ein Inzestkind überhaupt möglich, sich mit seinem Schicksal zu versöhnen, es anzunehmen, sich selbst lieben zu lernen? Oder zerbricht es zwangsläufig daran, scheitert es?

In diesem Buch berichte ich, woran ich in meinem Leben fast zerbrochen und weshalb ich beinahe gescheitert wäre und wie ich es geschafft habe, zu überleben und die Person und Persönlichkeit zu werden, die ich heute bin.

Jeder Tag, an dem ich erwache und feststelle, dass ich gesund bin, einen erfüllenden Beruf, Familie und Freunde habe, ist für mich ein guter Tag. Mittlerweile bin ich ein lebensfroher und optimistischer Mensch, doch das ist nicht selbstverständlich. Ich habe hart an mir arbeiten müssen, denn ich war nicht immer glücklich, nicht immer erfolgreich und selten gelassen. – Zu einem in sich ruhenden Menschen, einer starken Frau habe ich mich erst nach und nach entwickelt.

Über manches habe ich bereits geredet, bevor ich dieses Buch schrieb, doch mit Rücksicht auf Lebende und Tote verschwieg ich vieles. Ich habe Täter, Mittäter und Mittäterinnen sowie einige der Mitwissenden, die trotz ihres Wissens geschwiegen haben, inzwischen überlebt. In diesem Buch nun wird nichts beschönigt; ich schone auch mich selbst nicht.

Weil ich trotz meines Schicksals überlebt habe und weil ich die komplexen Zusammenhänge des Geschehenen heute verstehe, bin ich dieses Buch Menschen schuldig, die an ihrem Schicksal zu zerbrechen drohen: den vielen sexuell missbrauchten Mädchen und den aus Missbrauch entstandenen Kindern, die lebenslang unter den Auswirkungen der Verbrechen an ihren Müttern leiden.

Wenn nur ein einziger Missbrauch durch dieses Buch verhindert wird, Inzestopfer und Inzestüberlebende menschlicher behandelt werden oder auch nur ein einziger Pädophiler nach Lektüre dieses Buches die Abartigkeit und Grausamkeit seines Handelns einsieht, dann hat sich das Schreiben gelohnt.

TEIL 1

DER INZEST, MEINE GEBURTUND EINEKINDHEIT IN LÜGE

KAPITEL 1

Meine Kindheit ist überschattet von Geheimnissen und Rätseln, und die Menschen, die an der verbrecherischen Entstehungsgeschichte meines Lebens beteiligt sind, tun von Beginn an alles dafür, die Wahrheit zu verschleiern. Als Kind ahne ich noch nicht, welch weiter Weg vor mir liegt und wie weit ich zurückgehen muss, um die Spuren zu verfolgen, die mein Leben bestimmt haben. Viele Jahre vor meiner Geburt fängt alles an.

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges flüchtet die Frau meines Vaters mit ihrer Tochter Marina und gemeinsam mit anderen Frauen der Familie aus ihrer Heimat in Schlesien. Marina kam in Breslau zur Welt, während der Vater an der russischen Front kämpfte. Durch den Krieg hat die angesehene schlesische Familie alles verloren, was sie besaß.

In Ostbevern, einem Bauerndorf in Westfalen, nahe der Provinzhauptstadt Münster, finden die Frauen Zuflucht. Nach Kriegsende folgt ihnen der Vater, beinamputiert. Die Familie entscheidet, nicht ins zerstörte Schlesien zurückzukehren, sondern sich in Ostbevern ein neues Zuhause zu schaffen.

Im Dorf kennt damals jeder jeden. Wer hier leben möchte, hat sich den Regeln und Ritualen der Dorfgemeinschaft anzupassen. Fremde gehören nicht hierher, und fremd ist, wen man nicht mit Namen kennt oder wessen Familienverhältnisse nicht hinlänglich bekannt sind.

Der Familienname Jagsch, der Name unserer schlesischen Vorfahren, klingt fremd in den Ohren der Einheimischen. Hier heißen die Leute Beckmann, Haverkamp, Kötter, Loddenkötter oder Schulte. Der ungewöhnliche Name erregt Misstrauen.

Dennoch kann mein Vater vom Lastenausgleich, einer Entschädigung für Vertriebene, günstiges Bauland von der Kirche erwerben.

Gemeinsam mit einem Architekten entwirft er für sich und seine Familie ein Haus, das 1956 bezogen wird. Im Erdgeschoss des Hauses sind der Ess- und Wohnraum, die Küche und das Badezimmer sowie das Elternschlafzimmer, im oberen Stockwerk das Atelier, die Kinderzimmer und ein Zimmer mit Kochgelegenheit, in das die Mutter meines Vaters einzieht.

In Abständen von etwa zwei Jahren kommen Regina, Angelina und Babette zur Welt. Der einzige Sohn, Reginas Zwillingsbruder, stirbt und wird auf dem Dorffriedhof begraben.

Das Dorfleben hat feste Strukturen. Die Menschen gehen fleißig ihrer Arbeit nach – auf Wiesen und Äckern, für die Familie, im Haushalt, in Betrieben oder Firmen. Sonntags besuchen sie den Gottesdienst. Sie nehmen aktiv und ehrenamtlich am Gemeindeleben teil, helfen bei kirchlichen Dorffesten und Vereinsfeiern, treffen sich bei Beerdigungen und zu Geburtsfeiern, an Gedenktagen und zu Prozessionen, feiern gemeinsam Schützenfeste und Kirmes.

Mein Vater ist bald ein bekannter Mann in der Gegend. Obwohl er der ländlichen Bevölkerung, die mehr mit Ackerbau und Viehzucht vertraut ist, reichlich exotisch vorkommt, beeindrucken seine künstlerischen Begabungen und Talente die Menschen über die Dorfgrenzen hinaus. Dies mag auch daran liegen, dass mein Vater Menschen auf Anhieb für sich einnehmen und andere zu seinen Gunsten manipulieren kann. Allerdings zahlen sich diese Eigenschaften nicht finanziell aus, er bleibt sein Leben lang unterbezahlt.

Einige der Dorfbewohner mögen ihn nicht, weil er aufbrausend, jähzornig und aggressiv sein kann und eher arrogant und selbstverliebt durchs Leben geht.

Als Grafiker und als Experte für Schrift und Gestaltung – er beherrscht die Kalligrafie – ist er jedoch gefragt. Er erstellt für Taubenzüchtervereine und Künstlergilden werbewirksame Logos und berät die Honoratioren des Dorfes.

In dem großzügigen, hellen Atelierzimmer mit den großen schrägen Dachfenstern entwirft mein Vater viele Firmenlogos. Weltbekannte Unternehmen, die moderne und traditionelle Marken anbieten, lassen nach dem Krieg ihre Firmenzeichen erneuern oder überarbeiten. Kirchen- und Tageszeitungen geben die Gestaltung ihres Briefpapiers in Auftrag, und für Kirchentage und ähnliche große Veranstaltungen werden Plakate von ihm entworfen.

Doch nicht nur für die beruflichen Zwecke dient meinem Vater sein Atelier. Hier porträtiert er auch seine älteste Tochter Marina. Ab ihrem siebten Lebensjahr muss sie ihm als Modell dienen – und zwar als Nacktmodell. Denn Vater malt keine gewöhnlichen Kinderporträts von der Tochter, er fertigt Aktzeichnungen von dem Kind an.

Wer hierin, so seine Auffassung, etwas Schändliches sähe, sei in seinen Augen nicht normal, habe keine natürliche Einstellung zu Körperlichkeit, Nacktheit und Sexualität.

Doch es geht ihm keinesfalls bloß um Freizügigkeit und künstlerisches Schaffen. Mein Vater nimmt das Aktzeichnen lediglich als Vorwand, um sich Gelegenheit zu verschaffen, seine sieben Jahre alte Tochter sexuell zu missbrauchen. Er ist ein so genannter Pädophiler.

Wenn Marina sich den Übergriffen zu entziehen versucht, zitiert er sie zu sich. Er zwingt sie kraft seiner Autorität als Vater. Ist sie nicht willig oder versucht sich zu wehren, wendet er Gewalt an, würgt sie schließlich.

Wo ist die Mutter des Kindes in diesen Momenten? Wieso gibt es keine Hilfe für das Kind? – Die Frau meines Vaters wendet sich in ihrer Hilflosigkeit an den katholischen Seelsorger des Dorfes. Sie klagt über das Tun ihres Mannes und bittet um Rat und Unterstützung. Der Pfarrer bekniet sie bestürzt, aber ebenso hilflos, sie solle beten und schweigen, dass »es« vorübergehen möge. »Denken Sie an die Familie! An die Kinder! Nicht auszudenken, wenn im Dorf darüber gesprochen wird! Es würde Ihre Existenz zerstören und die Ihrer Familie, wenn es herauskäme!«

Beten und Schweigen helfen jedoch nicht.

Niemand hindert meinen Vater während der nächsten sieben Jahre daran, immer wieder die Ateliertür hinter sich und Marina zu verschließen.

Die anderen Mädchen spielen währenddessen im Haus oder im Garten. Die damals fünfjährige Regina spürt sicher die bedrohliche Atmosphäre, die dreijährige Angelina und Babette, die noch ein Baby ist, wachsen in diese unheilschwangere Stimmung hinein.

Vater vergewaltigt Marina, sooft er dazu Lust verspürt. Weder die Einwände seiner eigenen Mutter noch die Tränen seiner betrogenen, gedemütigten und verratenen Ehefrau rühren ihn. Auch das Gemunkel und Getratsche der Nachbarn gebietet ihm keinen Einhalt.

Es kann nie nachgewiesen werden, wie viele Dorfbewohner, Familienangehörige, Nachbarn und Verwandte von seinem schändlichen Treiben wussten und warum sie Stillschweigen bewahrten. Für einige sind die Mitglieder des Künstlerhaushalts vermutlich Zugezogene, Kriegsflüchtlinge, »Polacken«, mit denen man nicht verkehrt. Sie halten sich von der Familie wahrscheinlich fern und können also auch nicht feststellen, was sich tatsächlich in dem Haus abspielt. Viele Dorfbewohner achten und respektieren das künstlerische Schaffen meines Vaters und lassen sich womöglich von seinen Ehrenämtern als Schöffe am Landgericht Münster und Ombudsmann der Vertriebenen blenden.

Viele Leute spazieren sonntags an unserem Haus vorbei, bleiben stehen und bewundern das Kunstwerk an der weiß verputzten Front. Dort prangt das Bild eines kämpfenden Engels, ein künstlerisch und religiös gleichermaßen beeindruckendes Bibelmotiv des Erzengels Michael, der mit einer Schlange als Sinnbild des Bösen kämpft. Fotos des Motivs werden in den Tageszeitungen abgebildet; mein Vater erhält nicht nur für dieses Kunstwerk Preise von Kirchen und anderen Einrichtungen.

Weshalb schweigen die Menschen? Wie kommt es, dass ein fremd klingender Familienname Misstrauen hervorruft, aber die Gerüchte über Kindesmissbrauch niemanden aufhorchen lassen? Wollen die Menschen nicht wahrhaben, dass so etwas Schreckliches in ihrem Ort, nur ein paar Häuser weiter geschieht? Ist es einfacher, keine Meinung zu haben, Ohren und Augen zu verschließen, statt hinzugucken und zu helfen?

KAPITEL 2

Das Kind ist vom eigenen Vater!«, tuscheln die Leute, als sich der Bauch der dreizehnjährigen Marina im sechsten Monat sichtbar wölbt. Aber ganz sicher sind sie sich anscheinend nicht – die Gerüchteküche brodelt.

Mein Vater hat keine Angst davor, von Marina verraten zu werden. Er beherrscht seine Familie, hat jeden Einzelnen eingeschüchtert.

»Wehe, du sagst etwas«, bläut er seiner Tochter ein, »dann komme ich ins Gefängnis und du in ein Heim!« Seiner Frau droht er: »Und du bist fällig wegen Mitwisserschaft! Überlege dir also, was du sagst!«

Doch so viel Druck ist gar nicht nötig. Seine Frau ahnt, was ihr bevorsteht, wenn der Missbrauch ans Licht kommt. Dass Marina schwanger wurde, ist in ihren Augen schon Schande genug … Die Leute gucken ihrer dreizehnjährigen Tochter mit dem dicken Bauch hinterher und reden hinter vorgehaltener Hand über sie. Wenn jetzt noch herauskommt, dass der eigene Vater … Eine Vorstellung, die der Frau meines Vaters schlaflose Nächte bereitet, ebenso wie ihrer Schwiegermutter.

Marinas Seelenschmerz jedoch interessiert niemanden.

Während die Mädchen schlafen, sitzen Vater und seine Frau in der Wohnstube und stecken die Köpfe zusammen. Die Vorhänge zugezogen, die Türen verschlossen, hecken sie einen perfiden Plan aus, wie sie ihr eigenes Ansehen im Dorf retten können.

Sie rufen am nächsten Abend Marina zu sich.

Eingeschüchtert und sehr verunsichert, die Hände auf dem Rücken, den Blick gesenkt, steht sie vor ihnen wie vor dem Jüngsten Gericht. Sie hört die strenge Stimme ihrer Mutter, während der eiskalte Blick des Vater auf ihr ruht.

»Ein Wort über das, was vorgefallen ist, und du bist im Heim! Hast du das verstanden?«

Marina nickt. Sie wird bestimmt nichts verraten. Niemals.

»Wenn dich jemand darauf anspricht«, fährt ihre Mutter fort, »wirst du erzählen, du seiest auf dem Sportplatz vergewaltigt worden. Als es schon dunkel war. Den Täter hast du nicht erkannt. Hast du das begriffen?«

Marina nickt abermals.

»Kriegst du die Zähne nicht auseinander? Wiederhole, was ich gesagt habe! Damit du es dir merkst.«

»Ich war auf dem Sportplatz im Dunkeln. Da bin ich vergewaltigt worden.«

»So ist es.« Die Mutter wechselt einen Blick mit Vater. Die beiden sind sich einig. Falls Marina nicht schweigen sollte, werden sie ihre geistige Zurechnungsfähigkeit anzweifeln. Sie haben beschlossen, die Einlieferung ihrer Tochter in eine psychiatrische Anstalt zu beantragen, falls Marina auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlieren sollte, dass ihr eigener Vater der Erzeuger ihres ungeborenen Kindes ist.

Es ist ja so einfach: Hört man nicht immer wieder, dass vergewaltigte Mädchen hysterisch werden und Fantasie und Wahrheit nicht mehr auseinanderhalten können?

Wenige Tage später muss sich Marina auf dem Polizeirevier bewähren. Zusammengesunken sitzt sie dem Beamten an dem Holztisch gegenüber, zu ihrer Rechten der Vater, zur Linken die Mutter, beiden ist die Anspannung nicht anzumerken. Nur Sorge und Bestürzung über das, was dem Kind widerfahren ist, heucheln ihre Mienen, während sie innerlich vermutlich darum flehen, dass das Kind keinen Fehler machen möge.

Marina sitzt da und weint, und es könnten vorgetäuschte Tränen über das sein, was ihr auf dem Sportplatz angetan wurde, aber sie weint, weil sie nicht weiß, was richtig und was falsch ist, und sie weint, weil sie sich so allein wie noch niemals zuvor in ihrem Leben fühlt.

Stockend gibt sie wortwörtlich die Geschichte zu Protokoll, die ihre Eltern ihr eingebläut haben, während der Beamte dienstbeflissen ein Formblatt in die Rolle der altmodischen Adler-Schreibmaschine einzieht und dann umständlich die Tasten drückt.

Als die drei das Revier verlassen, fällt die Anspannung von ihnen ab. Marina ist froh, nicht versagt zu haben, und die Eltern sind überzeugt, auf überaus geschickte Art das drohende Unheil von der Familie abgewendet zu haben. Was sie ihrer Tochter antun, hat für sie keine Bedeutung.

Doch die Erleichterung kam verfrüht. Nach Marinas Aussage auf dem Polizeirevier veranlasst das Jugendamt kriminalpolizeiliche Ermittlungen: wegen Vergewaltigung durch einen Unbekannten.

In dieser Phase bricht ein Dorfbewohner – nur dieser eine – das Schweigen. Er erstattet Anzeige wegen Inzests und sexuellen Missbrauchs.

Es ist bis heute unklar, woher dieser Mann sein Wissen hat. Ob Marina sich womöglich einer Mitschülerin anvertraut hat, die dann mit ihren Eltern sprach?

Die Zivilcourage eines anonym bleibenden Dorfbewohners macht einen Strich durch den skrupellosen verbrecherischen Vertuschungsplan. Der ausgesprochene Verdacht, der eigene Vater des Mädchens sei der Erzeuger des Ungeborenen, genügt, um sofort einen richterlichen Haftbefehl zu erlassen.

Am Tag der Festnahme des Vaters wird Marina von einer Fürsorgerin abgeholt und in das klösterliche Erziehungsheim »Zum Guten Hirten« nach Münster gebracht. Der Vater wird in Handschellen aus seinem Atelier geführt und in einem Polizeiwagen zum Untersuchungsgefängnis des Landgerichtes Münster gefahren. Hier sitzt er ein, bis die Vaterschaft und der Vorwurf des Verbrechens bewiesen sind. In der Nacht nach der Festnahme erleidet die Mutter meines Vaters einen schweren Asthmaanfall und stirbt.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht im Dorf: Dieser beeindruckende, intelligente und gut aussehende Mann – Vater ist eine imposante Erscheinung, groß, schlank, hat strahlend blaue Augen, volle Lippen und interessante Gesichtszüge, die von halblangen Haaren verwegen eingerahmt sind –, dieser Mann, dem man weder anmerkt noch ansieht, dass er im Krieg ein Bein verloren hat, und dem das Eiserne Kreuz verliehen wurde, ist festgenommen und sitzt wegen Missbrauchs der eigenen Tochter, wegen »Blutschande«, in Untersuchungshaft! Die meisten können es nicht glauben.

»Sicher war er besoffen.« – »Vielleicht sah sie ihrer Mutter so ähnlich.« Die Dorfbewohner spekulieren. Sie merken nicht, dass sie sich mit ihren Versuchen, sein Verhalten zu erklären, auf seine Seite stellen.

Auf die einzig richtige Erklärung kommen sie jedoch nicht: Er ist pädophil veranlagt. Nicht mehr, nicht weniger.

»Blutschande« ist der einzige Ausdruck, den die Menschen in den Sechzigerjahren für solche Verbrechen haben. Sie kennen Begriffe wie »Inzest«, »sexueller Missbrauch«, »Pädophilie« nicht. Der Wissensstand um diese Themen ist in der allgemeinen Bevölkerung zu dieser Zeit beinahe gleich null. Über so etwas wird nicht gesprochen. Es fehlt 1957 an Informationen, die nicht zuletzt den Opfern und den Angehörigen hätten helfen können.

Inzestverbrechen sind die am seltensten aufgedeckten Familienverbrechen. Sie unterliegen einer extrem hohen Dunkelziffer. Nicht zuletzt dieser Umstand erschwert die Aufklärungsarbeit. Dabei werden sexuelle Beziehungen zwischen Blutsverwandten schon seit vielen Jahrhunderten beobachtet. In ländlichen Gebieten wurden inzestgeschädigte Kinder mit körperlichen Auffälligkeiten zumeist als »Dorfdeppen« verhöhnt. Niemand hinterfragte jedoch die Ursache der Schädigungen. Man nahm die Folgeschäden als gottgewollt hin.

Marina muss es sich gefallen lassen, als »Hure« bezeichnet zu werden. »Warum hat sie nicht den Mund aufgemacht, bevor es zu spät war?«, lautet ein indirekter Vorwurf. »Sie wird wohl freiwillig mitgemacht haben«, vermuten andere. Weil ihnen einsichtige Erklärungen fehlen, verurteilen sie das Opfer als Mittäterin.

Der Vorwurf des Inzests ist geäußert, aber noch nicht bewiesen. Meine Geburt soll den Fall klären. Nicht nur sensationslüsterne Dorfbewohner, auch die Nonnen, in deren Obhut sich Marina bis zur Entbindung befindet, Kriminalbeamte und Staatsanwälte erwarten gespannt, dass ich auf die Welt komme – ob es auch Menschen gibt, die sich einfach bloß auf mich freuen, die mich willkommen heißen?

KAPITEL 3

Der Chefarzt der Privatfrauenklinik, in der mich meine Schwestermutter zur Welt bringt, entscheidet auf Grund des jugendlichen Alters der Kindesmutter, dass sie per Vollnarkose entbunden wird. Er greift zur Zange, damit die Geburt nicht zu lange dauert.

Ich komme am 9. Oktober 1957, einem Mittwoch, um 9.25 Uhr auf die Welt.

»Gesund« lauten die ersten Untersuchungsergebnisse der Ärzte. Ich messe 48 Zentimeter, wiege 2480 Gramm, habe blaue Augen und eine leichte Sichelfußstellung, wahrscheinlich durch die Enge im jugendlichen Mutterleib.

Sofort nach der Geburt wird mir eine Blutprobe aus meiner Ferse entnommen. Sie bringt den Beweis: Der Vater von Marina, meiner biologischen Schwester väterlicherseits und meiner leiblichen Mutter, ist auch mein Erzeuger. Mein biologischer Vater ist also zugleich mein Großvater.

Erst sieben Jahre nach dem ersten sexuellen Übergriff beschäftigt sich die Justiz mit dem Vergehen meines Vaters an meiner Schwestermutter Marina, und plötzlich ist auch eine ganze Region entsetzt, weit über die Grenzen unseres Dorfes hinaus. Nun fühlt sich beinahe jeder aus dem Dorf in der Lage, das Geschehene zu kommentieren.

Meine Geburt fördert alle schrecklichen Erkenntnisse zu Tage, und mein Vater wird des inzestuösen sexuellen Missbrauchs angeklagt. In den nachfolgenden Gerichtsverhandlungen wird er zu zweieinhalb Jahren Haftstrafe verurteilt. Es mutet zynisch an, dass er an dem Landgericht verurteilt wird, an dem er selbst das Ehrenamt des Schöffen innehatte.

Wegen der Schwere seines Vergehens kommt er ins Zuchthaus, nicht ins Gefängnis. 1957 gibt es diesen Unterschied noch. Er verliert die bürgerlichen Ehrenrechte, wozu zum Beispiel das Recht zur Wahl gehört. Er wird von der direkten Teilnahme und der Mitgestaltung am demokratischen System ausgeschlossen.

Aus der Untersuchungshaft wird er auf direktem Wege nach Verl transportiert, wo er seine Strafe absitzt.

Zu seinem eigenen Schutz darf keiner der Mithäftlinge erfahren, weswegen er tatsächlich einsitzt, dass er ein Kinderschänder ist. Die Straftat bleibt geheim, und er macht sich unter den Gefangenen als Lehrer für Kalligrafie und Schriftgrafik verdient.

Marina wird nach der Entbindung von einer Fürsorgerin zurück in das Erziehungsheim gebracht, wo sie eine Ausbildung und schulische Erziehung erhält.

Und wo bleibe ich?

Die Menschen um mich herum sind mit der Situation, ein Inzestkind unterbringen zu müssen, überfordert, sie suchen nicht nach der besten Lösung für das Neugeborene und seine Mutter, sondern wollen die Angelegenheit bloß möglichst rasch hinter sich bringen.

Der Vater verweigert meine Freigabe zur Adoption. Die noch unmündige Kindesmutter kann zu einer solch weit reichenden Entscheidung nicht befragt werden, also auch keine Einwilligung geben.

Es kommt daher keine Adoption, sondern lediglich eine Pflegefamilie in Betracht.

Da rechtlich mein Vater für die Kosten meiner Unterbringung – gleichgültig ob in einer Familie oder in einem Heim – aufkommen müsste, er aber inhaftiert ist und dementsprechend kein Geld zahlen kann, wird die Frau meines Vaters finanziell herangezogen, denn sie gilt auf Grund des Hausbesitzes als nicht mittellos.

Doch die Frau meines Vaters lehnt es zunächst vehement ab, für meine Unterkunft und Verpflegung auch nur einen Pfennig zu berappen. Stattdessen bezichtigt sie Marina, eine »Hure« zu sein, die ihren Vater verführt, sich mit ihm eingelassen und ihr »schändliches Verhalten«, wie sie es nennt, nicht mal gebeichtet hat, als ich unterwegs war.

Schließlich bietet sie den Behörden mit berechnendem Pragmatismus an, mich bei sich aufzunehmen und gemeinsam mit ihren drei Mädchen, die inzwischen zwölf, zehn und acht Jahre alt sind, großzuziehen. »Wo drei Kinder satt werden, wird auch ein viertes satt. Hauptsache, ein Kind hat ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen, mehr braucht es nicht« – so ihre Worte.

Dafür, dass sie mich bei sich aufnimmt, erhält sie ein Pflegegeld der Jugend- und Sozialbehörden, sozusagen für ihren Status als Pflegemutter. Dies ist die billigste und einfachste Lösung.

Bei meiner Taufe übernimmt sie zusammen mit Josefine Fellmer, einer angesehenen Werbegrafikerin und Präsidentin ihres Berufsverbandes, die Patenschaft über mich. Die Feier findet im kleinen Kreis nur mit den engsten Angehörigen statt.

Andere Verwandte werden ab jetzt nicht mehr in dieses Haus eingeladen, in dem es ein Geheimnis zu hüten gilt. Aus Scham erzählt die Frau meines Vaters den entfernt wohnenden Verwandten, ich sei ein Nachzügler; an dieser Lüge hält sie über Jahrzehnte hinweg fest.