Seine Geschichte ist meine Geschichte - Elke McKee - E-Book

Seine Geschichte ist meine Geschichte E-Book

Elke McKee

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Beschreibung

Unter dem Titel "His story is my story" erschien das Buch erstmalig 2020 in den Vereinigten Staaten. Es beruht auf den Tonbandaufzeichnung des Vaters der Autorin über dessen einschneidende Erlebnisse während der 10 Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien. Elke McKee durchwebt seine Geschichten mit ihrer eigenen Lebensgeschichte, wobei beide ein authentisches, mitreißendes Zeitzeugnis abliefern - unbarmherzige Wärter stehen neben liebsamer, russischer Landbevölkerung kommunistische Einkesselung neben dem amerikanischen Traum von Freiheit, Liebesbande im Gefangenenlager neben Flucht und familiären Schicksalsschlägen, wobei sich zu keiner Zeit ein Jammertal auftut. Es entspricht der Philosophie der Autorin, den Begebenheiten des Lebens mit Humor und Zuversicht zu begegnen, somit liest sich das Buch allezeit leicht und beherzt.

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Dieses Buch ist meinem Mann Tom gewidmet, dessen Idee es war, meinen Vater darum zu bitten, seine Erinnerungen an die russische Kriegsgefangenschaft für uns auf Tonband zu sprechen. Nachdem ich den Wortlaut meines Vaters auf Deutsch niedergeschrieben hatte, wollte mein Mann, der Amerikaner ist, natürlich eine Übersetzung haben. Einmal fertig gestellt, teilte ich sie mit Freunden und Nachbarn hier in Amerika. Sie fanden Interesse daran und rieten mir, auch über meine Kindheit in der Besatzungszone zu schreiben. Dann kam die Frage auf, wie ich nach Amerika gekommen sei – und so nahm die Geschichte des Buches ihren Lauf.

„His story is my story“ erschien erstmalig im Jahre 2020 in den Vereinigten Staaten. Für deutsche Leser mag sich die ein oder andere Erzählung als selbstverständlich erweisen – hier sei daran erinnert, dass das Original in erster Linie dafür gedacht war, meinen amerikanischen Freunden die deutsche Geschichte, von der sie vergleichsweise wenig wissen, nahe zu bringen.

Mein Dank gilt sowohl meiner Großcousine Corinna Gehre, die mir angeboten hat, die Übersetzung und Publikation in Deutschland zu übernehmen, als auch meinem Großcousin Friedemann Geyer mit seiner Frau Cornelia, meinem Cousin Frieder Venus und dessen guten Freund Berndt Stichler, die ihr dabei behilflich waren.

Sei zufrieden mit dem, was du hast; erfreu dich der Dinge, so, wie sie sind. Wenn du begreifst, dass es dir an nichts mangelt, gehört dir die ganze Welt.

Lao Tzu

Vorwort der Herausgeberin

Es war jedes Mal Aufregung angesagt, wenn es hieß: Elke kommt! Alle Verwandten gaben ihr Bestes, um den Besuch aus Amerika würdig zu empfangen. Ich erinnere mich gut und gern an jene Momente der Kindheit – nicht eben, weil sie weit hergereist war oder aus einer vermeintlich besseren Welt kam: Elke ist tatsächlich eine strahlende Frau, die es versteht, jeden Raum mit ihrem großherzigen und Anteil nehmenden Wesen zu füllen.

Die Arbeit an diesem Buch bedeutete für mich nicht nur die Beschäftigung mit einem bewegenden und authentischen Zeugnis vergangener Zeiten, sondern ermöglichte mir darüber hinaus, ein Stück weit in die Geschichte meiner Ahnen einzutauchen – Elkes Vater war der Bruder meiner Großmutter väterlicherseits. Als ich es im Sommer 2020 erstmals in Händen hielt, war es mir sofort ein Herzensanliegen, die Übersetzung dafür zu schreiben. Cornelia Geyer, die Schwiegertochter von Elkes Cousin Reinhard, hatte es sich, ehe ich mit der Arbeit begonnen hatte und ohne, dass ich davon wusste, zur Aufgabe gemacht, ihrem Schwiegervater, der Anfang 2021 unerwartet verstarb, die Geschichte seines Onkels und seiner Cousine als Weihnachtsgeschenk in Form einer Übersetzung zugänglich zu machen. Was für ein Glück, dass Reinhard das Buch so noch hat lesen können!

Ich habe die Übersetzung von Cornelia Geyer als Grundlage genommen, den Text, nicht zuletzt mit dem Anspruch, ihm einen einheitlich literarischen Anstrich zu verleihen, komplett überarbeitet, die Originaltexte von Hans Oertel, dessen Sinn für Sprache (er hat alles fast genau so auf Band gesprochen!) nicht von der Hand zu weisen ist, sowie von Wilhelm Scheid transkribiert und nun freue mich, dass das Buch endlich in Druck gehen kann, um sich alsbald auf den Weg in die deutschsprachige Welt zu machen.

„Lasst es nie wieder geschehen!“, wurde Elkes Generation. und auch der Meinen noch, immer und immer wieder zu Recht gesagt. Mich hat die langwierige Beschäftigung mit den Inhalten des Buches nachhaltig darin bestärkt, dass wir Deutsche endlich unseren Schuldkomplex zu Grabe tragen und unseren Feinsinn für aufkeimende diktatorische und kriegerische Verhältnisse schärfen dürfen, gegen welche wir (gerade wir Deutsche!), wenn wir sie denn als solche erkennen, entschieden aufzubegehren haben.

Es sei Elke einerseits von Herzen gedankt, dass sie uns neben historisch interessantem Zeitzeugnis diesen intimen Einblick in die Familiengeschichte gewährt - und darüber hinaus, wie sie all die Jahrzehnte sagenhaft viel Kraft in die Pflege der familiären Bande nach Deutschland investiert, uns gern beschenkt und noch immer ein offenes Herz für jedermann hat! Möge sie stets ein freier Geist bleiben.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Elke

Schuldgefühle

Das Wunder

Versteckt in den Wäldern

Verhaftung

Geschichtliches

Bitterarmes Volk

In der Brotfabrik

Arbeit, Arbeit über alles

Die Kommissionen

Verurteilung

Meine Behinderung

Eine heile Kindheit

Die wirkliche Welt

Unser täglich Brot

Wir tanzten nur einen Sommer

Sowjetische Geheimhaltung

Der Kommodenheini

Die Ziegelei

Diverse Tätigkeiten

Unsere Spanischen Kameraden

Begegnung mit dem Leben

Pakete aus der Heimat

Die Entlassung

Erinnerungen

Als mein Vater heimkam

Das Geheimnis

Unser erstes Heim in Familie

Besuch von Opa

Nicht angepasst

Auf Besuch bei Verwandten

August 1961

Maximo

Urlaub in Spanien

Die spanische Villa

Au-pair in London

Ankunft in Amerika

Raus aus dem Dschungel

Stadt an der Bucht

Unglück

Der große Bruder

Die Kraft der Vorstellung

Scheidung

August 1989

Hochzeit

Meine Montessorri-Schule

Ein alleinstehender Mann

Der Anruf

Vorwort von Elke

Dies ist die Geschichte der Erinnerungen meines Vaters an die zehn Jahre als Deutscher in russischer Kriegsgefangenschaft, seiner Eindrücke von der liebenswürdigen russischen Landbevölkerung, von grausamen Wachen und vom Überleben unter unfassbar harten Bedingungen. Zurück in Deutschland, hat er nie über seine Erfahrungen sprechen wollen, weil sie zu schmerzhaft waren. Erst als sein Schwiegersohn Tom ihn 1989 darum bat, alles auf Band zu sprechen, ging er dem nach. Zu jenem Zeitpunkt war meine Mutter bereits gestorben – vermutlich fühlte er sich daher zum ersten Mal frei, offen zu reden. Mein Vater sprach seine Erinnerungen auf Deutsch ein. Ich, seine Tochter, brachte sie zu Papier und übersetzte sie für das Buch, welches in erster Linie meinen amerikanischen Landsleuten einen authentischen Einblick in europäische Geschichte vermitteln sollte, ins Englische.

Es ist weithin bekannt, dass sich die drei Siegermächte kurz vor Ende des 2. Weltkriegs, im Februar 1945, in Jalta auf der Krim über die jeweiligen Besatzungszonen Deutschlands einigten. Weniger bekannt ist, dass Stalin dabei außerdem noch die Verwendung deutscher Arbeitskraft forderte. Es wird behauptet, Roosevelt habe dem widerstrebend zugestimmt, aber Churchill habe gesagt: „Nicht einen!“ Die Gefangenen der Engländer und der Amerikaner wurden bald darauf freigelassen, während die von den Russen Inhaftierten zur Zwangsarbeit in Lager nach Sibirien gebracht wurden. Als ich meinen Vater fragte, warum er nicht fliehen konnte, meinte er, die Entfernung sei schlichtweg zu groß gewesen. Sein Lager war doppelt so weit von Deutschland entfernt, wie Moskau. Um eine Vorstellung der riesigen Fläche, welche die UdSSR damals ausmachte, zu erhalten: Vom ewigen Eis im Norden bis hin zu den Wüsten Zentralasiens, von der Ostsee bis zum Pazifik, erstreckte sich das Land über elf Zeitzonen.

Es geht auch um meine Geschichte – darum, wie ich im nach 1945 von den Russen besetzten Osten Deutschlands aufwuchs, wie ich das Erziehungssystem unter den Kommunisten wahrnahm, um den Grund für unsere Flucht, als ich elf war, mein Leben in Westdeutschland sowie mein erstes Abenteuer England. Und schließlich darum, wie ich nach Amerika kam.

Schuldgefühle

von Elke

„Ihr Deutsche habt uns bombardiert!“

In England bekam ich stets wiederkehrende Albträume. Ich war neunzehn Jahre alt und es war meine erste Reise in ein fremdes Land. Im Traum saß ich auf einem Stuhl wie beim Friseur und fühlte, wie mir die Spitze einer geöffneten Schere von vorne in meinen Hals gerammt wurde. Dann wurde die Haut rund um meinen Hals aufgeschlitzt, sodass sie über mein Gesicht hinweg abgezogen werden konnte. Das heiße Blut rann mir die Brust herab. Ich bat darum, man möge mich töten - doch meine Freunde standen um mich her, sahen bloß zu und taten nichts, um mir zu helfen.

Erstmalig in meinem Leben wurde ich mit der Frage konfrontiert, inwieweit ich mich als Deutsche angesichts des verheerenden Schadens, welchen mein Land der Welt zugefügt hat, schuldig zu fühlen habe. Ich hatte viele Dokumentationen darüber gesehen, was den Juden in Konzentrationslagern angetan worden ist. Das Ausmaß der Zerstörung jedoch, welches andere Länder wie England, Frankreich, Holland, Italien und Norwegen durch uns erfahren hatten, war mir nicht bewusst. Ganz Europa wurde von Hitler und der deutschen Armee verwüstet.

Es gibt keine Entschuldigung, keinen Erklärungsversuch, wie all das hatte geschehen können oder warum es diesem Wahnsinnigen gelungen war, dass Menschen seinen Befehlen folgten. Dich ihm zu widersetzen konnte deinen Tod bedeuten. Überleben war möglich, wenn du den Kopf in den Sand stecktest und versuchtest, nicht aufzufallen.

Mein Vater hatte es sich nicht ausgesucht, Soldat zu sein. Er wurde eingezogen. Um die Wahrheit zu sagen, genoss er anfangs die Reise durch Frankreich. Es war aufregend, als armer, junger Mann auf Reisen gehen zu können. Er erzählte mir, dass die Farben dort anders seien - strahlender und prächtiger! Er malte für sein Leben gern Landschaften, und nachdem er gestorben war, nahm ich mir vor, seine These zu überprüfen. Ich bereiste die Provence im Rahmen eines Malurlaubs und war so in der Lage, sie mit seinen Augen sehen.

Als nunmehr alte Dame habe ich viel über die Erfahrungen und Leiden der Menschen anderer Länder gelesen. Es gab unzählige Diktatoren und Egomanen, denen es erlaubt war, die Massen zu regieren. So geht es immer fort. Wir haben nicht gelernt, Frieden in der Welt zu schaffen. Nach dem Krieg wurden wir, die deutsche Jugend, mit Slogans wie: „Erinnert euch an die Geschichte!“ und „Lasst es nie wieder geschehen!“ indoktriniert. Ich hoffe sehr, dass wir in der westlichen Welt gelernt haben, als vereinigtes Europa und als ein vereinigter Planet Erde miteinander auszukommen.

Das Wunder

von Elke

Meine Eltern Hans und Else lernten sich beim Tanz kennen, was nicht verwunderlich ist, denn tanzen war ihre Leidenschaft. Es war 1938. Demitz-Thumitz ist ein Dörfchen am Fuße des Lausitzer Berglands, berühmt für Granitabbau und sein Eisenbahnviadukt, welches unweit der polnischen Grenze im Osten und der tschechischen Grenze im Süden gelegen ist. Hans war ein neuer Lehrer im Ort, ein recht gutaussehender obendrein. Physik und Mathe waren seine Spezialität, Kunst jedoch seine Leidenschaft.

Lehrer waren Geringverdiener und oft hungrig. Deshalb war er froh darüber, der Familie meiner Mutter vorgestellt worden zu sein. Nachdem klar war, dass die beiden Liebenden es ernst miteinander meinten, lud meine Großmutter ihn häufig zum Essen ein. Ein hungriges Maul mehr oder weniger zu stopfen, fiel in der Großfamilie nicht auf. Meine Mutter Else war das jüngste von acht Kindern. Die fünf Schwestern und beiden Brüder hatten bereits ihre eigenen Kinder. Die meisten von ihnen lebten im selben Dorf, einige sogar im Haus mit Elses Eltern, Max und Martha Venus.

Hans und Else heirateten im Dezember 1939. Der Krieg hatte gerade begonnen und Hans wurde an die Front nach Frankreich geschickt. Ich habe ein schmales Büchlein von seinen dortigen Eindrücken mit Landschaftszeichnungen sowie seinem ersten, flüchtigen Blick auf den Ozean. Frankreich war aufregend für einen jungen Mann, der nie Gelegenheit hatte, zu reisen - ganz besonders Paris!

Das junge Paar bekam sich in den folgenden vier Jahren kaum zu sehen, da er die meiste Zeit ihres Ehelebens Kriegsdienst leistete. Sie wünschten sich Kinder, waren aber wohl nie zur rechten Zeit beieinander. Als er später an die russische Front geschickt wurde, schlug der mentale Zustand der Soldaten ins Gegenteil um. Sie sahen sich unsäglichem Elend konfrontiert. Aus den die Champs Élysées hinab marschierenden, glorreichen Eroberern waren hungernde Männer in dreckigen Lumpen geworden, die in den Gräben der endlosen Tundra Zuflucht suchten. Die Hoffnung, den Krieg zu gewinnen, schwand rasch dahin.

Mein Vater war ein Leutnant der Infanterie. Im Januar 1944 erhielt er den Befehl, von seiner Stellung an der russischen Front nahe Leningrad zu einem anderen, viele Kilometer entfernten Posten zu wechseln. Er befand, dass niemand bemerken würde, wenn er für ein, zwei Wochen verschwände, denn zu der Zeit gab es beim Militär bereits viel Durcheinander. Er beschloss, sich per Anhalter auf den Heimweg zu machen und seiner Frau einen Überraschungsbesuch abzustatten. Ich bin sicher, dass dies im Dorf hatte geheim bleiben müssen, denn sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen war ein schreckliches Vergehen und konnte mit dem Tode bestraft werden.

Die wenigen Tage, die er mit seiner jungen Ehefrau verbrachte, resultierten darin, dass Else mit mir schwanger wurde. Ich erachte es als ein Wunder, dass die Hormone meines Vaters so stark waren und er, alle Vorsicht beiseite gelassen, ein neues Leben erschuf, für das ich dankbar bin. Die Lebenslust ist mein Erbe, welches mir bei vielen Entscheidungen hilfreich war und mein eigenes Leben außergewöhnlich gemacht hat.

Nach dem geheimen Urlaub 1944 kehrte mein Vater an die russische Front zurück und sah seine Frau bis 1955 nicht wieder. Als der Krieg am 10. Mai 1945 endete, machte er sich, allein und unbewaffnet, durch die Tschechoslowakei auf den Heimweg. Dort wurde er von ein paar Tschechen gefangen genommen und an die Russen ausgeliefert.

Ich wurde im Oktober 1944 geboren. Meinen Vater traf ich zum ersten Mal im Oktober 1955, als er aus der russischen Gefangenschaft entlassen wurde. Ich war elf Jahre alt.

Versteckt in den Wäldern

von Elke

Ich war sechs Monate alt, als der Krieg im Mai 1945 endete. Die russische Armee überrannte Deutschland vom Osten her. Sie hatten die polnische Grenze überschritten und arbeiteten sich weiter westwärts vor, in Richtung unserer Stadt. Es wurden Gerüchte laut, dass die zornigen und frustrierten Männer jede Frau vergewaltigten, die ihnen unter die Finger kam. Meine Mutter, 25 zu der Zeit, war eine schöne, blonde Frau mit blauen Augen. Es wurde ihr angeraten, ihr Heim zu verlassen und sich im Wald zu verstecken. Sie packte einige wichtige Papiere und mich, ihre Tochter, in einen Kinderwagen und machte sich mit noch ein paar anderen Frauen und Kindern auf den Weg. Ihr Gedanke war es, nach Westen zu der Stadt, aus der die Familie meines Vaters stammte (Chemnitz), zu gelangen, um bei ihr Unterschlupf zu finden. Damit sie den sich nähernden Russen entkämen, wählten sie die südliche Route durch das heutige Tschechien.

Sie hatte damals keine Ahnung, dass sie sich in derselben Gegend befand, von welcher aus mein Vater die Flucht nach Hause hatte antreten wollen. Dieselbe Straße wurde von den aus Russland heimkehrenden, deutschen Soldaten genutzt! Ab dem ersten Kontrollpunkt war meine Mutter ohne den Kinderwagen unterwegs und sie musste mich auf dem Arm weitertragen. Es war ihr gelungen, eine Schlinge aus den Ärmeln ihrer Jacke zu winden, um mein Gewicht stützen zu können.

Zuweilen konnten die Frauen ein Stück weit mit einem Armeelaster voller Soldaten mitfahren, die ebenfalls das Weite suchten. Die russische Armee war ihnen dicht auf den Fersen. Meine Mutter erzählte mir, wie sich eines Tages ein freundlicher Herr, der neben ihr saß, bereit erklärt hatte, mich ein Weilchen zu halten. Nur wenige Minuten freute sie sich der Erleichterung, denn bald schon hatte er eine russische Kugel im Kopf. Was für ein Schock, so unmittelbar Tod zu erfahren! Der Laster wurde konfisziert und man war wieder auf die eigenen Füße zurückgeworfen.

Die hügelige Landschaft bot endlose, dunkle Wälder zum Durchstreifen und sich verstecken. Die Nächte waren kalt. Die Kinder weinten. Das war katastrophal, denn die Frauen wurden bös aufeinander, wenn sie die Geräusche ihrer Kinder nicht im Griff hatten. Es war strengstens verboten, sich in den Wäldern zu verstecken, denn du wurdest als „vogelfrei“ betrachtet und durftest bei bloßem Anblick erschossen werden. Um Nahrung zu betteln war schwierig, denn auf ihrer Wanderschaft durch Böhmen trafen die Frauen auf allerhand Menschen, die Deutsche hassten. So war ihr Bemühen selten von Erfolg gekrönt und viele erkrankten an der Ruhr. Meine Mutter erzählte mir, wie ein deutscher Arzt, der auf dem Weg von der Front heimwärts war, sie ermahnte, dass, wenn es ihr nicht gelänge, eine Tasse Milch für mich zu erbetteln, ich alsbald würde sterben müssen. Ich frage mich, ob mein Bestreben, jederzeit genug zu essen für unerwarteten Besuch im Hause zu haben, vielleicht von da her rührt?

Nach etwa drei Wochen erreichte meine Mutter die Stadt, aus der mein Vater stammte. Chemnitz. Sie war erschöpft und wusste, dass sie für die nächste Zeit gut bei meiner Großmutter aufgehoben sein würde.

Verhaftung

von Hans

Ich wurde am 10. Mai 1945 gefangen genommen. Der Krieg war vorüber und jeder Soldat musste selbst zusehen, wie er heimkam. Von der russischen Front musste ich mich über die Tschechoslowakei bis zu meiner Heimat in Ostdeutschland durchschlagen. Anfangs kamen wir per Anhalter mit Transportwagen des Militärs fort, die allerdings bald beschlagnahmt wurden. Wenn man zu Fuß in der Gruppe unterwegs war, konnte man sich schlecht verstecken. Ich beschloss, alleine zu gehen und hatte es beinahe geschafft. Beinahe heißt, bis etwa 200 Kilometer von zu Haus. Aber das Schicksal nahm einen anderen Lauf…

In der Gegend von Kolin schwamm ich durch die Elbe. Ich war hungrig und elend. Meine Anziehsachen waren nass, und ich hatte sie zum Trocknen über flaches Gebüsch gehängt. Nackt und erschöpft schlief ich ein. Als ich aufwachte, war ich von elf Tschechen umgeben. Da war keine Möglichkeit des Entkommens, also ergab ich mich.

Nach drei Tagen in einem Sammellager wurden wir den russischen Behörden ausgeliefert. Damals erschien uns das als eine Erleichterung, denn die Russen behandelten uns besser als die Tschechen, denen wir verhasst waren. Kurz darauf wurden wir ins berüchtigte Vernichtungslager Auschwitz gebracht. Die meisten von uns hatten keine Ahnung, was sich während des Krieges hier abgespielt hatte. Allein die Wachen haben uns darauf aufmerksam gemacht – und natürlich war es, abgesehen davon, dass die Lebensverhältnisse aufgrund der Masse an Menschen unerträglich waren, auch deprimierend, ausgerechnet an diesem Ort gelandet zu sein. Es waren über 30.000 Kriegsgefangene dort, und täglich wurden es mehr.

Ende Juni war es an mir, einem unbekannten Ziel zugeführt zu werden. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Lager nahe der Stadt Tscheljabinsk, die sich im Osten des Urals, dem Grenzgebirge zwischen Europa und Asien, befindet, knapp 4000 km von der Heimat entfernt. Es dauerte 26 Tage, bis wir dort waren.

Anfangs waren wir 45 Männer pro Waggon. Wie die Sardinen lagen wir da, ohne Pritschen und ohne Decken, eng aneinander gequetscht. Nachdem wir die Grenze zu Russland passiert hatten, mussten wir den Zug wechseln, denn die Spuren der russischen Eisenbahn waren breiter als die der Unseren. In die weit größeren Waggons passten 90 Leute.

Einmal täglich gab es ein warmes Essen, das aus gestampften Bohnen und ein wenig Brot bestand. Wir bekamen nicht genug zu trinken und litten furchtbaren Durst. Wenn es regnete, versuchten wir, mit den Deckeln unserer Feldflaschen einige Tropfen zu erhaschen, indem wir die Arme aus den winzigen Wagenfenstern streckten.

Die sanitäre Lage war grauenhaft. In der Nähe der Tür gab es eine Pissrinne, doch für das andere Geschäft mussten wir ein Loch im Boden treffen. Es stank wie im Saustall, denn viele von uns hatten bereits Durchfall.

Es gab Verluste. Sechs oder sieben von uns starben auf dem Weg durch die Ukraine. Die Wachen mussten peinlichst darauf achten, mit ebenso vielen Gefangenen anzukommen, wie es zur Abreise gewesen waren. Wir waren ursprünglich 800 Mann. Sie griffen an Haltestellen herumlungernde Männer auf und zwangen sie in den Zug. So ging die Rechnung wieder auf. Was mit den Leichen geschah, weiß ich nicht.

Wir erreichten Tscheljabinsk am 26. Juli 1945.

Unseres war das Lager Nummer 22 namens Korkino. Es war ein leerstehendes, ehemaliges Gefängnis. Da es nicht genug Platz für 800 Leute bot, mussten einige von uns in Zelten schlafen, was ich bevorzugte. Das eigentliche Gefängnis war nämlich voller Bettwanzen, die das Schlafen unmöglich machten. Im Zelt war es bis Mitte Oktober erträglich. Ab da wurde es bitterkalt. Nach zwei Wochen wurde uns die Arbeit zugeteilt. Einige mussten neue Baracken für uns bauen, andere untertage in Kohleminen schuften.

Geschichtliches

von Elke

Um den Kontext meiner Erzählungen verständlicher zu machen, scheint mir ein Blick in die Geschichtsbücher der westlichen Welt hilfreich (bestimmt würden es russische Geschichtsbücher anders darstellen).

Nach Beendigung des zweiten Weltkriegs und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands kamen die Alliierten im August 1945 überein, Deutschland zeitweise in vier Besatzungszonen aufzuteilen, um Recht walten zu lassen und sicher zu stellen, dass die Nazis nie wieder an die Macht kämen. Sie wollten Deutschland die Fähigkeit zur Kriegsführung nehmen, Abrüstung forcieren und eine zentrale Regierung verhindern. Zu der Zeit war auch die Hauptstadt Berlin, inmitten der russischen Besatzungszone gelegen, viergeteilt. Somit war Westdeutschland gänzlich von den Siegermächten USA, England und Frankreich, Ostdeutschland hingegen von der UdSSR abhängig. Die Sowjets bestanden, weil sie die meisten Opfer zu verzeichnen hatten (mindestens so viele, wie die anderen Alliierten zusammen), auf dem größten Stück Land. Um die 20 Millionen Sowjets, Soldaten wie Zivilisten, waren im Krieg ums Leben gekommen. Der Gedanke an Revanche war also nicht abwegig.