Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert - Corinne Rufli - E-Book

Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert E-Book

Corinne Rufli

4,8

Beschreibung

Renate (84) nennt sich Lesbe, ist aber mit einem Mann verheiratet. Berti (78) liebt Elisabeth (77) seit über vierzig Jahren, ist vierfache Grossmutter und geschieden. Margrit (81) führte in den 1960er-Jahren Tanzabende für Frauen durch. Liva (82) betete nach ihrem ersten Mal mit einer Frau das Vaterunser. Ältere Frauen, die Frauen lieben, sind in unserer Gesellschaft bis heute nicht sichtbar. Erstmals blicken in diesem Band elf Frauen über siebzig auf ihr Leben zurück. Sie erzählen, wie sie ihre Beziehungen in der bürgerlichen Enge der Schweiz gestalteten, wie sie einen Mann heirateten oder sich in eine Frau verliebten und wie sie heute leben. Ihre Geschichten sind voller Lebenslust - berührend und bislang unerhört. Sie zeigen aber auch die Ausgrenzung von Frauen, die sich nicht dem Ideal der Hausfrau und Mutter unterwerfen wollten, und dokumentieren die Vielfalt eines Frauenlebens jenseits von Kategorien.

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Für meine Mutter

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

«Meine Liebe zu Karin machte mich frei.»

Eva Schweizer, 74, Aargau

«Ich bin gerne die, die ich heute bin.»

Karin Rüegg, 77, Aargau

«Ich wurde zum Glück nie in eine Schublade gesteckt.»

Olga Schmid, 74, Freienbach

«Ich wurde stärker für mein Frausein diskriminiert als für mein Lesbischsein.»

Margrit Bernhard, 81, St. Gallen

«Dieser Schritt war nicht einfach, aber er hat sich gelohnt.»

Berti Schell, 78, Zürich

«Das Tabu war, dass sie verheiratet ist, nicht, dass sie eine Frau ist.»

Elisabeth Waser, 77, Zürich

«In der Frauenbewegung waren wir ziemlich frech.»

Irène Schweizer, 74, Zürich

«Mit einem Mann zusammen zu sein, ist keine Strafe für mich, sondern eine Erlösung.»

Renate Winzert, 84, Bern

«Ich bin unehelich, dumm und dann auch noch schwul.»

Liva Tresch, 82, Zürich

«Ich bin eine Spätzünderin.»

Verena Lüdi, 76, Zürich

«Mein Sohn hat nie etwas anderes gekannt, als dass ich mit Frauen zusammen bin.»

Rita Kappeler, 73, St. Gallen

Glossar

Dank

Vorwort

Lesbische Frauen haben sich bereits in den 1930er-Jahren in Zürich organisiert – um politisch für die Rechte von Lesben und Schwulen zu kämpfen, um einander Zuwendung und Unterstützung zu geben und um dafür einen sicheren Raum zu schaffen. Die Lesben- und Schwulenbewegung in Zürich hatte internationale Ausstrahlung, aber sie entfaltete sich dennoch im Versteckten, im kleinen Kreis, unter Gleichgesinnten. Denn: Frauen und Männer, die gleichgeschlechtliche Liebe lebten oder begehrten, wurden gesellschaftlich stigmatisiert, diskriminiert und ausgegrenzt.

Lesbenpolitik, eingetragene Partnerschaften oder lesbischen Lifestyle – das gab es noch nicht, als die in diesem Buch porträtierten frauenliebenden Frauen aufwuchsen und erwachsen wurden. Heute ist Frauenliebe nicht mehr (so) tabuisiert wie damals. Das Alter ist es leider noch, und alte frauenliebende Frauen auch. Sie stehen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht im Mittelpunkt, auch dann nicht, wenn sie im Rampenlicht stehen, wie einzelne der hier porträtierten Frauen.

Die Frauen, die uns hier Einblick geben in ihr Leben, mussten als Mädchen, Jugendliche und als Erwachsene ihren Weg in einer stark patriarchal geprägten Welt finden, in einer Welt, die ihre Lebensweise ablehnte. Sie haben sich mit eigener Kraft und mit Umsicht den Spielraum geschaffen, den sie für ihr frauenliebendes Leben brauchten. Sie taten dies zäh und gegen alle Konventionen – auf ihre je individuelle Art und Weise und nicht in einem politischen Kampf. Aber dass sie es tun mussten und wie sie es taten, hat einen zutiefst politischen Kern: Als Frauen geboren, konnten und wollten sie den Weg, der für sie vorgezeichnet war, nicht gehen. Sie sind keine Opfer. Sie sind starke und selbstbestimmte Frauen. Auch wenn sich viele nicht als Feministinnen verstehen. Als lesbisch lebende Frau, als Feministin, als Zürcherin und als Stadtpräsidentin von Zürich danke ich den in diesem Buch porträtieren Frauen für die Offenheit, mit der sie uns an ihrem Leben teilhaben lassen. Sie zeigen uns, wie verschieden die Wege frauenliebender Frauen, wie unterschiedlich ihre Entscheidungen und Lebensgestaltungen sind. Und wie Freiheit im Alter aussehen kann.

Corine Mauch, Stadtpräsidentin von Zürich

Einleitung

«Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert», erzählte mir Rita Kappeler. Sie war 22 Jahre alt, als sie sich in eine Frau verliebte. Die heute 73-Jährige empfand diese Liebesnacht wie ein Eintauchen in eine neue Welt. Die Ostschweizerin wusste seitdem, dass sie Frauen liebt, und suchte sich ihren Weg – jenseits der gesellschaftlichen Zwänge und Ideale.

In diesem Buch werden zum ersten Mal überhaupt die Lebensgeschichten von älteren frauenliebenden Frauen in der Schweiz zugänglich gemacht. Elf Frauen über siebzig blicken auf ihr Leben zurück. Es sind Zeugnisse einer bisher nicht wahrgenommenen Generation von Frauen. Während jüngere lesbische Frauen heute Hand in Hand durch die Strassen spazieren, gemeinsam Kinder haben, sich in TV-Serien küssen oder als Politikerinnen offen reden, sieht man die ältere Generation nicht. Oft wurde mir gar die Frage gestellt: Gibt es lesbische Seniorinnen überhaupt? Ja, es gibt sie, und sie haben etwas zu erzählen.

Die Geschichte frauenliebender Frauen in der Schweiz ist kaum erforscht. Man weiss von einer Organisierung lesbischer Frauen in den 1930er-Jahren in Zürich. In den 1940er- und 1950er-Jahren ging sie wieder verloren. In einer Schweiz, die vor bürgerlicher Enge strotzte, die das Ideal einer Kleinfamilie mit der Frau als Ehefrau, Mutter und Hausfrau hochhielt, gab es keinen Platz für eine lesbische Öffentlichkeit. «Ich kämpfte mich alleine durch dieses Dickicht. Frauenliebe gab es nicht. Es gab mich nicht», sagte Karin Rüegg (77), eine der Frauen aus dem Buch, über die Zeit, als ihr ihre Liebe zu Frauen bewusst wurde. Frauenliebende Frauen waren bis weit in die 1980er-Jahre weder gesellschaftlich akzeptiert noch sichtbar.

Die Lebensgeschichten älterer lesbischer Frauen sind vorhanden, sie müssen nur gesehen werden. Mit dieser Überzeugung machte ich mich auf die Suche und kam in Kontakt mit Frauen, die mir eine neue Welt eröffneten. Ich stiess auf Geschichten, die noch nie erzählt wurden. Wie war es, Mitte der 1950er-Jahre als Frau eine Frau zu lieben? Wie gestalteten diese Frauen ihr Leben angesichts der bürgerlichen Ideale, mit denen sie aufgewachsen sind? Wie lernten sie andere Frauen kennen? Welche Widerstände spürten sie – in sich selber und in ihrem Umfeld? Wie viel Öffentlichkeit war möglich? Wie leben sie heute?

Auch wenn meine Anfrage an die Frauen, ob sie mir aus ihrem Leben berichten würden, für sie ungewöhnlich war – bisher hatte sich kaum jemand in dieser Intensität für ihre Biografie interessiert –, waren die meisten schnell für ein Gespräch bereit. Mit einer grossen Offenheit, lebhaft und mit viel Charme erzählten sie ihre Geschichten, die berührend und faszinierend sind. Der Fokus der Gespräche lag aber nicht auf ihrem «lesbischen Leben», sondern auf dem freien Erzählen aus ihrer gesamten Biografie. Ich liess den Gesprächspartnerinnen offen, über was und wie sie reden wollten. Chronologisch, sprunghaft oder assoziativ. Jede in ihrem Tempo, in ihrer Eigenart, in ihrem Dialekt und aus ihrer Erinnerung.

Mit der Zeit entstand die Idee, aus den Gesprächen ein Buch zu machen. Elf Frauen entschieden sich dafür, mitzumachen. Darunter gibt es zwei Paare, Karin und Eva aus dem Aargau und Berti und Elisabeth aus Zürich. Der gemeinsame Lebensabschnitt liest sich aus zwei verschiedenen Perspektiven, denn jede Frau erzählt ihre eigene Geschichte.

Zum Buchprojekt ja zu sagen, war für die Frauen ein schwieriger Entscheid und ein grosser Schritt. Keine hatte selbst die Öffentlichkeit gesucht. Gewisse Frauen entschieden sich für ein Pseudonym, eine Frau wollte ganz anonym bleiben und auch ohne Bild erscheinen. Jede Frau entschied sich aus unterschiedlichen Motiven so, wie es für sie stimmte. Durch die Erzählungen dieser Frauen wird es möglich, mehr über die Lebensrealitäten lesbischer Frauen in der Schweiz zu erfahren – und über die Gesellschaft, in der sie leben. Wo Zeugnisse fehlen, die etwas über die Vergangenheit aussagen, ist es ein Glück, wenn sich Menschen finden, die ihre eigenen Erfahrungen weitergeben können. Diese Frauen sind lebendige Quellen, sie sind die Expertinnen ihres Lebens. Sie zeigen nicht nur ein unerforschtes Stück weiblicher Geschichte, sondern auch ein Stück Schweizer Geschichte. Und das wollte ich sichtbar machen.

In diesem Band kommen Frauen über siebzig zu Wort. Denn sie, anders als die jüngeren Frauen, wurden mehrheitlich ihr ganzes Leben lang nicht als lesbisch gesehen und lebten ihr Leben teils fernab der heutigen Konzepte von lesbischen Beziehungen und lesbischer Selbstwahrnehmung. Sie suchten sich ihren Weg in einer Zeit, als eine Frauenbeziehung noch keine mögliche gesellschaftlich akzeptierte Lebensform war. Diese Frauen haben die rasante gesellschaftliche Entwicklung von der Tabuisierung bis zum heute öffentlichen Zelebrieren des Lesbischseins an lesbisch-schwulen Paraden miterlebt.

Das Nachdenken und Erzählen über die eigene Biografie löste bei einigen Gesprächspartnerinnen einen Reflexionsprozess aus. Es war eine intensive Auseinandersetzung, die schmerzhafte und erlösende Momente zur Folge hatte. Manche Frauen schilderten mir Dinge, die sie bislang niemandem anvertraut hatten. Sie sprachen von schwierigen Situationen in ihrem Leben, von Momenten des Scheiterns oder grösster Unsicherheit. Sie teilten aber auch Augenblicke des Glücks und der Hoffnung mit. Es ist ein Geschenk, dass ich diese Lebensgeschichten hören durfte und einige Frauen ein Stück auf ihrem Weg begleiten kann. Meine Achtung und mein Respekt davor, wie sie ihr Leben leben, ist gross.

Ich entdeckte in den Frauen Vorbilder in vielerlei Hinsicht: für das Leben von Frauenbeziehungen oder für die Gestaltung des Lebensabends als lesbische Frau. Aber auch für das Einstehen für seine Wünsche, für Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Diese Begegnungen stellen neue Bezüge zu meiner eigenen Zukunft her und eröffnen gleichzeitig den Blick in die Vergangenheit. Zusätzlich vermittelt mir der Austausch über Generationen hinweg auch eine neue Ebene in der Gegenwart.

Die Biografien der elf Frauen sind so unterschiedlich wie die Frauen selbst. Doch was sie alle verbindet, ist ihre Liebe zu Frauen. Wie diese Liebe bemerkt wurde, wie sie gelebt wurde und wird und wie die Frauen heute darüber sprechen, ist sehr verschieden. Jede dieser Frauen lebte und liebte innerhalb eines Handlungsspielraums, der gesellschaftlich vorgegeben war. Die Möglichkeiten, diesen Spielraum auszuloten, nutzten sie ganz individuell. Manche Frauen hatten mehr, andere weniger Freiheiten in der Gestaltung ihres Lebens. Unter den porträtierten Frauen sind solche, die geheiratet haben und Kinder bekamen, sich auf einmal in eine Frau verliebten und sich von ihrem Ehemann scheiden liessen. Frauen, die unehelich schwanger wurden, sich aber nicht an einen Mann gebunden haben. Dann wiederum gibt es Frauen, die schon als Mädchen wussten, dass sie nie einen Mann heiraten wollten. Frauen, die eine lange Beziehung zu einer Frau führen und andere, die alleine leben. Oder eine Frau, die sich als lesbisch bezeichnet, heute aber mit einem Mann verheiratet ist. Es sind Feministinnen, die aktiv an der Frauenbewegung teilnahmen, und andere, die nach einem Besuch im «Milieu» nie mehr dorthin zurückkehrten. Mit der Jazzmusikerin Irène Schweizer ist auch eine Person aus der Öffentlichkeit porträtiert.

Es kommen Frauen zu Wort, die sich als lesbisch bezeichnen, und andere, die diesen Begriff von sich weisen. Der Begriff «lesbisch» wurde erst mit der Lesbenbewegung in den 1970er-Jahren als positive Selbstbezeichnung genutzt – aber dann meistens als Kampfbegriff. Weil sich nicht alle Frauen damit identifizieren können, wählte ich bewusst die Bezeichnung «frauenliebende Frauen» im Untertitel dieser Publikation.

Bei der Auswahl der Gesprächspartnerinnen folgte ich weder soziologischen noch geografischen Kriterien. Dennoch sind Frauen aus allen Schichten, verschiedenen Kantonen der Deutschschweiz und mit unterschiedlichen familiären Hintergründen zusammengekommen. Auffallend ist, dass die meisten der Frauen heute in einer Stadt leben – zumeist in Zürich. Frappant ist zudem, dass fünf der elf Frauen den Beruf Lehrerin gewählt haben. Einen Beruf, der angesehen war, eine gewisse Selbständigkeit und Freiheit liess und der genug Geld zum Leben einbrachte, ohne dass sie von einem Mann abhängig wurden.

Als Basis für die Gesprächsführung diente mir die in der Geschichtswissenschaft angewandte Methode der Oral History. Die auf Schweizerdeutsch geführten mehrstündigen Gespräche wurden ins Hochdeutsche übertragen. Einige schweizerdeutsche Ausdrücke wurden beibehalten und sind im Glossar erklärt. Mein Ziel war, dass der individuelle Sprach- und Erzählstil spürbar bleibt und der Text gleichzeitig klar und verständlich ist. Das Erzählte mit der nötigen Distanz sowie der nötigen Nähe niederzuschreiben, war eine grosse und spannende Herausforderung. Mit jeder Frau besprach ich die Texte, strich gewisse Aussagen und ergänzte andere. Es war eine gute und wichtige gemeinsame Arbeit am Text.

Der rigiden Gesellschaftsstruktur zum Trotz war den Frauen gewissermassen im Schatten des Patriachats einiges möglich. Das System der Tabuisierung nicht heterosexueller Lebensformen liess Freiräume entstehen, nach dem Motto: «Was nicht sein darf, ist nicht.» Zwei Frauen, die sich nahe sind, müssen also Schwestern oder gute Freundinnen sein, etwas anderes konnte gar nicht gedacht werden. Je sichtbarer die lesbische Lebensweise war, desto eher wurde sie auch verfolgt, das gilt bis heute in den meisten Ländern. Auch in der Schweiz haben junge lesbische Frauen, die in konservativen oder stark religiösen Kontexten aufgewachsen sind, bis heute grösste Mühe, sich selber Gefühle für Frauen einzugestehen, geschweige denn sich in der Familie zu outen.

Dieses Buch soll einen Beitrag leisten, die kulturell geprägten Bilder von Frauen allgemein wie auch von lesbischen Frauen zu entlarven. Gleichzeitig fördert die Sichtbarkeit lesbischer Seniorinnen das Bewusstsein für die Existenz von älteren Frauen im nicht heterosexuellen Kontext. Ihre Geschichten dehnen die starren patriarchalen Machtstrukturen aus und stellen sie in Frage. Dadurch ergibt sich ein erweitertes Verständnis für die Vielfalt eines Frauenlebens. Mit den Erzählungen werden zudem die mehr oder weniger subtilen Formen von erlebter Diskriminierung, welche die Frauen ihr Leben lang aushalten mussten, sichtbar wie auch die gesellschaftlichen Zwänge, denen sie ausgesetzt waren, und die Strategien, die sie angewendet haben, um ihr Leben zu gestalten. Zusätzlich wird eine neue Sicht auf Alterungsprozesse und alternative Bedürfnisse im Alter gewonnen. Das Buch soll aber ebenso jungen wie alten Menschen Mut machen, einen selbstbestimmten Weg zu gehen und den eigenen Träumen und Wünschen zu folgen.

Und ganz zum Schluss noch: In diesem Band fehlen die Geschichten von älteren frauenliebenden Frauen, die heute abhängig und pflegebedürftig sind, ein isoliertes oder verstecktes Leben führen und aus Angst vor Diskriminierung ein Leben lang nicht über ihre Liebe oder ihr Begehren sprechen konnten. Das hinterlässt eine grosse Lücke. In der Schweiz leben mehr als 500000 Frauen, die über siebzig Jahre alt sind, davon viele frauenliebende Frauen. Das sind eine Menge Geschichten, die noch nicht erzählt wurden … Wer mir ihre Geschichte erzählen möchte, melde sich bei der Autorin unter [email protected] oder Corinne Rufli, Stichwort: Wie verzaubert, Verlag Hier und Jetzt, Langacker 16, Postfach, 5405 Baden (ab Juli 2015: Kronengasse 20, 5400 Baden). Jede Anfrage wird mit grösster Diskretion behandelt.

Corinne Rufli

«Meine Liebe zu Karin machte mich frei.»

Eva Schweizer, 74, Aargau

Eva Schweizer (1941) ist geschieden, Mutter zweier Adoptivkinder und sechsfache Grossmutter. Sie war als Lehrerin, Heilpädagogin und in der Gewaltprävention tätig. Seit 35 Jahren lebt sie glücklich mit Karin zusammen. Nur mühsam hat Eva sich von ihrem engen pietistischen Herkunftsmilieu emanzipiert und zu ihrer Identität gefunden.

Hans verliebte sich sofort in mich. Ich hatte keine vergleichbaren Gefühle für ihn. Wir lernten uns in einem Blaukreuz-Ferienlager kennen. Ich war 17 und er 15. Hans stammt aus einer Chrischona-Heilsarmee-Familie und war felsenfest davon überzeugt, dass wir von Gott für einander bestimmt seien. Er bearbeitete mich so lange, bis auch ich daran glaubte. Schliesslich hatte ich bereits als Zwölfjährige das Versprechen vor Gott abgelegt, in die Mission zu gehen, und er wollte in die Indianermission.

Hans war offensichtlich davon ausgegangen, dass ich vor ihm noch keinen Jungen geküsst hatte. Als er später erfuhr, dass das nicht stimmte, fiel er aus allen Wolken. Mein Eingeständnis stürzte ihn in eine Glaubenskrise. Er haderte mit seinem Gott, der meine Reinheit für ihn nicht bewahrt hatte, und trat mit rigoroser Konsequenz aus der Bibelschule aus. Er ging ins Ausland, um neue Perspektiven für sich zu entwickeln. Später begann er als kritischer Student ein Theologiestudium.

Nach seinem Auslandaufenthalt fühlte ich mich von Hans bedrängt und gequält durch ständige unterschwellige Vorwürfe. Es gab in unserer Beziehung keine Leichtigkeit und keine Fröhlichkeit mehr. Ich wartete vergeblich darauf, dass Gott, wenn er uns schon für einander bestimmt hatte, gefälligst auch noch die Liebe für unsere Beziehung nachliefere. Ich redete mir hartnäckig ein, dass es doch noch gut kommen werde. Als ich dennoch an einen Punkt kam, an dem ich die Beziehung beenden wollte, überredete mich Hans zum Bleiben. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich meine Trennungsabsicht meinen Eltern beibringen könnte. Sie schätzten Hans sehr, besonders in seiner Eigenschaft als angehender Pfarrer.

Zwei Jahre dauerte unsere Beziehung bis zur Verlobung, vier Jahre bis zur Hochzeit. Ich konnte mich aus dieser Schlinge nicht mehr herauswinden. Ich entwickelte Hautallergien und Heuschnupfen. Ich kaute Fingernägel bis aufs Blut. Am Hochzeitstag musste ich einen Kamillendampf machen, weil ich mit völlig verquollenen Augen erwacht war. Ich schluchzte am Hochzeitsfest, als meine Brüder ihre Schnitzelbank sangen. Sehenden Auges ging ich in die Falle, und diese schnappte nun zu. Ich hatte in meiner Naivität «Ja» gesagt. Ich war 25, als ich heiratete.

Der eheliche Vollzug fand statt – von meiner Seite widerwillig und unter Schmerzen. Erst Jahre später erinnerte ich mich wieder, dass meine Mutter manchmal gesagt hatte: «Sie muss dann noch früh genug.» Jetzt verstand ich die Bedeutung dieser Worte: Sie muss früh genug eine Frau werden, einen Mann glücklich machen, Kinder gebären …

Hans und mich verband zwar eine gute Kameradschaft und wir teilten ähnliche Wertvorstellungen, doch das genügte mir nicht. Er war eher der Intellektuelle, der stundenlang mit seinen Theologenfreunden über Gott und über Weltverbesserungsideen reden konnte, während ich als Lehrerin täglich konkret mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert war. Ich absolvierte in dieser Zeit berufsbegleitend ein Heilpädagogikstudium und unterrichtete an einer anspruchsvollen Sonderschule.

Als ich 31 Jahre alt war, erfüllte sich Hans seinen Traum, der zu meinem Albtraum werden sollte: Er wollte nur mit mir zusammen den Atlantik in seinem Segelboot überqueren und anschliessend in Südamerika eine Stelle als Pfarrer antreten. Bereits auf der Überfahrt zu den Kanarischen Inseln wurde ich schrecklich seekrank, und die Reise wurde für mich unerträglich. Mitten auf dem Atlantik fiel dann auch noch die Selbststeuerungsanlage unserer Yacht aus. Eine Unterlagsscheibe fehlte, und mein Ehering wurde zu ihrem Ersatz. So mussten wir wenigstens nicht pausenlos Wache halten. Gewaltige Stürme fegten später durch die Karibik. Ich litt unter Todesängsten und dachte, das letzte Stündchen habe uns geschlagen. Ich wollte nur noch sterben. Wir kamen beide völlig geschwächt in Kolumbien an. Im Hafen erwartete uns ein Telegramm mit der Nachricht, dass mein Lieblingsbruder sich umgebracht hatte. Mit seinem Tod ging ein Stück meiner Welt unter.

Ich machte mir schwere Vorwürfe, dass ich meinen Bruder vor diesem Schritt nicht hatte bewahren können. Er hatte seine wahren Gefühle hinter einer heiteren Fassade verborgen, eine Tarnkappe getragen, so wie ich sie trug, so wie andere Mitglieder der Familie dies weiterhin taten. Das hatte in der Folge furchtbare Konsequenzen: Mein Grossvater beging Selbstmord, auch der Bruder meiner Mutter und einer ihrer Cousins brachten sich um. Die Umstände dieser Todesfälle wurden aber unter dem Deckel gehalten, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

In Kolumbien fand Hans eine Stelle als Vikar in einer Deutschschweizer Gemeinde. Mein Wunsch war es, Kinder zu haben, obwohl wir keine eigenen bekommen konnten. Ich hoffte, dass sie meinem Leben wieder Sinn geben würden. Ich musste mich entscheiden, entweder an der Deutschen Schule zu unterrichten oder mich um eine Adoption zu bemühen. Ich wählte die Adoption.

1973, sechs Tage nach ihrer Geburt konnte ich Susanne aus dem Kinderheim abholen. Im ersten Jahr war ich eine überglückliche Babymutter. Ich hatte eine unsägliche Freude an dem Mädchen und war selig. Noch ahnte ich nicht, wie anstrengend dieses kleine Persönchen zuweilen sein konnte. Susanne entwickelte sich zu einem äusserst temperamentvollen Kind.

Nach zwei Jahren kehrten wir zurück in die Schweiz, und Hans trat eine Stelle als Pfarrer im Aargau an. Wenig später adoptierten wir Patrick, der ebenfalls aus Kolumbien stammte. Susanne war furchtbar eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder, und ich kam oft an meine Grenzen. Ich arbeitete in dieser Zeit nicht mehr als Lehrerin. Trotz der Kinder wurde ich immer unzufriedener mit meiner Familiensituation.

Am 7. 7. 77 kamen meine Eltern in einem Gewitter ums Leben, als im Berner Oberland ein kleiner Bach die Strasse, auf der sie gerade unterwegs waren, blitzartig in einen wilden Strom verwandelte und ihr Auto mitriss. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich in unkritischer Selbstverständlichkeit meine traditionelle Frauenrolle gelebt. Ich hatte versucht, alle um mich herum glücklich zu machen, meine Eltern, meinen Mann und meine Kinder. Doch der plötzliche Tod der Eltern stellte mein ganzes Werte- und Glaubenssystem völlig auf den Kopf. Ich haderte mit Gott. Hans, der Seelsorger, konnte mit meiner Fassungslosigkeit und meiner abgrundtiefen Wut und Trauer nicht umgehen. Ich fühlte mich sehr allein.

Ich verfiel in meinem Innersten in Depressionen. Dennoch hielt ich meine heitere Fassade nach aussen aufrecht. Im privaten Alltag aber hatte ich kaum mehr die nötige Kraft und Geduld für meine Kinder. Ich fühlte mich Susanne gegenüber ständig als Versagerin. Ich, die angesehene Heilpädagogin, kam mit den eigenen Kindern oft nicht zurecht. Ich, die Fachfrau, die gelernt hatte, im Beruf ihre Wut zu beherrschen, war im häuslichen Kreis sehr oft ärgerlich und unzufrieden. Ich hatte mich nicht mehr im Griff. Schliesslich beanspruchte ich psychiatrische Hilfe. Ich hatte Angst, völlig den Boden unter den Füssen zu verlieren.

Dank der ärztlichen Unterstützung und dank der Psychopharmaka, die ich erhielt, fühlte ich mich 1979 wieder imstande, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich begann im Alter von knapp vierzig Jahren eine Ausbildung zur Erwachsenenkursleiterin. Dieser Schritt brachte die Wende in meinem Leben, da er mich mit meiner späteren Lebenspartnerin zusammenführte. Karin faszinierte mich sogleich. Mir gefielen ihr selbstbewusstes Auftreten und die Offenheit, mit der sie ihre Liebe zu Frauen bekannte. Dass jemand zu seinen Gefühlen stehen kann, war eine ganz neue Erfahrung für mich. Wenn Karin wütend war, zeigte sie ihre Wut, und wenn sie traurig war, zeigte sie ihre Trauer. Im weiteren Verlauf der Ausbildung öffnete sich mir eine neue und attraktive Welt. Ich stand im Austausch mit vielen Frauen, die eine bessere Selbstwahrnehmung und einen freieren Zugang zu ihren Gefühlen hatten als ich, und ich bewunderte sie dafür.

Schliesslich kam der Tag, an dem mir Karin die Frage stellte, die mein Leben verändern sollte: «Was steckt eigentlich hinter deinem immerwährenden heiteren Lächeln?» Diese Frage und die Erkenntnis, dass diese Frau meine Fassade durchschaut hatte, liessen meine seelischen Dämme brechen. Meine ganze Verzweiflung, meine unterdrückte Wut und meine fassungslose Trauer hatten bei Karin Platz. Ich fand bei ihr mit all meinen inneren Konflikten und mit all meinen ungeordneten Gefühlen Gehör und Verständnis.

Es ist mein Glück, dass ich heute mit einer Frau und gerade mit dieser Frau zusammenleben darf. Meine Liebe zu Karin machte mich frei, endlich konnte ich die Frau sein, die ich bin. Die Frau, die in Ordnung ist, so wie sie ist, die Frau, die liebesfähig ist. Ich hatte mir vorher jegliche Liebesfähigkeit abgesprochen, da ich es nicht geschafft hatte, einen in den Augen vieler Menschen idealen Mann zu lieben. Nicht lieben zu können, war mein tiefster Schmerz – und heute darf ich solche Freude erleben! Doch bis dahin war es ein langer Weg.

Meine Kindheit im Baselland war geprägt von pietistischen Strömungen. Als ich zwölf Jahre alt war, schwappte eine von Billy Graham angeführte Evangelisationswelle von Amerika her über ganz Europa. Da mein Urgrossvater väterlicherseits seinen Hof wegen seiner Trunksucht verloren hatte, waren meine Eltern aus Überzeugung beim Blauen Kreuz und mit ihnen das halbe Dorf.

Meine Geschwister und ich bekehrten uns gemeinsam in der Dorfkapelle und versprachen, unser Leben Gott zu widmen. Ich war im Bibellesebund aktiv. Dieser Bund organisierte auch sogenannte Venner-Ferienlager für Jugendliche, wo es ebenfalls zu Bekehrungen und zu Sündenbekenntnissen kam. Noch lange danach rechnete ich mit einem strafenden Gott, der alle Verfehlungensieht und ahndet. Mir steht noch ein Bild vor Augen vom Jüngsten Gericht mit dem schmalen Pfad zum Himmel und dem breiten Weg der Sünder zur Hölle. Dieses Bild hatte grossen Einfluss auf mich. Ich lebte ständig mit Schuldgefühlen, und nach der Bekehrung suchten mich nachts jahrelang apokalyptische Träume heim, weil ich mich ständig, nach jeder kleinen Lüge und nach harmlosesten Verfehlungen, als Sünderin fühlte.

Eva, 16, Konfirmation

Mein Vater stammte aus einer Erfinderfamilie. Schon der Grossvater hatte seinerzeit Wasser über den Berg in unser kleines Dorf gebracht. Kein Mensch hatte geglaubt, dass das funktionieren könnte. Er schaffte es auch, Elektrizität in das zuvor recht verkommene Nest zu bringen. Danach entwickelte er kleine Elektromotoren für Posamenter-Webstühle. Die Seidenbandindustrie war damals eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Menschen in der Gegend. Mein Vater seinerseits erfand im Jahr 1950 einen Kombiherd, der gleichzeitig Holz- und Elektroherd war. Er belieferte in der ganzen Schweiz und im nahen Ausland Hotelküchen und Bauerngüter. Vater wurde Fabrikbesitzer. Daneben war er Schulpflegepräsident und Feuerwehrkommandant. Man kann sagen, dass meine Eltern im Dorf den Ton angegeben haben.

Meine Mutter amtete als Kirchenpflege- und Frauenvereinspräsidentin. Sie stammte aus einer Lehrerfamilie. Ihr Vater nahm mich schon als kleines Mädchen mit in sein Schulzimmer. Bereits als Fünfjährige durfte ich mitmachen, wenn mein Grossvater unterrichtete. Von Anfang an war für mich sonnenklar, dass ich Lehrerin werden würde. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich endlich zur Schule gehen durfte. Von der ersten bis zur fünften Klasse war ich die Hilfslehrerin meines Klassenlehrers. Ich übte mit den schwächeren Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen. Wenn der Unterricht mich langweilte, las ich unter dem Pult heimlich ein Buch.

Erst viel später wurde mir klar, dass mich der Grossvater, den ich so sehr liebte, sexuell ausgebeutet hat. Unterdessen glaube ich zu verstehen, warum ich bis heute auf Zuwendung häufig misstrauisch und zurückweisend reagiere.

Ich habe vier jüngere Brüder. Sie kamen im Jahresabstand zur Welt, was eine grosse Belastung für meine Mutter war. Mich ärgerte zutiefst, dass es jedes Mal wieder ein Bruder war und nie eine Schwester. Als ich dreieinhalb Jahre alt war und mein dritter Bruder zur Welt kam, wusste man lange nicht, ob meine Mutter sich von der Geburt wieder erholen würde. Sie war ein halbes Jahr lang gelähmt, musste wochenlang im Spital bleiben und auch nachher daheim im Bett liegen. Mich brachte man in dieser Zeit bei den Grosseltern unter. Dort müssen Grossvaters Übergriffe geschehen sein. Kaum sass ich jeweils im Auto, um wieder zu den Grosseltern zu fahren, schnürte es mir den Hals zu.

Damals war ich auch einige Wochen bei meiner Gotte in Basel in den Ferien. Ende 1944, Anfang 1945 sah ich die Kriegsfeuer im Elsass, was mir furchtbare Angst machte. Diese Ängste verstärkten sich noch durch die Ängste meines Vaters vor dem Krieg. Er war nicht militärtauglich, er war eben ein sensibler Erfinder, weder gross noch kräftig. Er zeigte uns Kindern Bombenlöcher von versehentlich im Baselbiet abgeworfenen Bomben.

Mein Vater war ein Patron alter Schule. Er beschäftigte immer auch Behinderte im grösser werdenden Betrieb. Meine Mutter war die Sozialarbeiterin des Dorfes und kümmerte sich auch um randständige Familien. Sie war trotz ihren fünf Kindern keineswegs auf ihre Mutterrolle beschränkt und lebte mir ihre breite Kompetenz und ihre Tüchtigkeit auch vor. Sie erledigte meist in der Nacht noch die Buchhaltung für das florierende Geschäft mit den Kombiherden, das sie mit meinem Vater führte, und nahm eine wesentliche Position in der Geschäftsleitung ein. Alles, was mit Planungsarbeit zu tun hatte, fiel in ihr Ressort. Das machte sie stolz und selbstbewusst, belastete sie aber auch.

Als Älteste übernahm ich schon früh freiwillig viel Verantwortung. Ich wollte immer ein Vorbild für meine Brüder sein. Es war mir wichtig, den Erwartungen meiner Eltern zu entsprechen. In der Folge setzte auch ich mich mein Leben lang für sozial benachteiligte Menschen ein.

Die Eltern gaben sich Mühe, uns Kinder gleich zu behandeln. Ich musste als Mädchen nicht besonders viel Haushaltsarbeit übernehmen. Meine Mutter sagte im Gegenteil immer wieder: «Sie muss dann noch früh genug.» Wie ein Damoklesschwert hingen diese Worte jahrzehntelang über mir: Mein Frau-Sein wurde mir durch sie zum belastenden Muss. Meine Mutter hat erst mit 28 Jahren geheiratet. Vorher teilte sie ein unbeschwertes Leben mit ihrer Schwester. Mit ihr war sie viel gereist, was damals noch ungewöhnlich war. Gerne wäre meine Mutter Lehrerin geworden. Sie musste aber eine kaufmännische Ausbildung machen, weil ihren Eltern klar war, dass sie einmal heiraten würde. Ich spürte immer mehr, wie unzufrieden meine Mutter mit ihrem Leben war, besonders mit ihrer Ehe, in der sie allein zuständig war für alle Familien- und Erziehungsaufgaben.

Uns Kindern wurde sehr früh vermittelt, dass wir mehr Glück als alle anderen Kinder um uns herum hätten, weil es uns eben besonders gut gehe. Darüber hinaus gab es nichts zu wollen. Mir und meinen Brüdern wurde so das Wünschen gründlich abgewöhnt. Ich musste vierzig und älter werden, bis ich lernte, eigene Wünsche ernst zu nehmen. Erschwerend war auch, dass mir die Mutter viele Aufgaben aus der Hand nahm und diese selbst erledigte. Dadurch war es mir auch verwehrt, aus Fehlern zu lernen. Heute sehe ich in diesem Umstand eine der Erklärungen für meine häufigen Handlungsblockaden. Schritt für Schritt lernte ich später, zu mir zu stehen, zu handeln und zu ertragen, dass es zum Leben gehört, Fehler zu machen. Heute kann ich Fehler als wichtige Lernchancen akzeptieren.

Unsere Eltern waren auf der einen Seite unglaublich hilfsbereit und engagiert in der reformierten Kirche sowie im Blauen Kreuz. Auf der anderen Seite praktizierten sie in der Familie rigorose Erziehungsmethoden. Ich erlebte, wie hart mein ältester Bruder bestraft wurde, wenn er nicht gehorchte. Mein Grossvater, Lehrer und Pädagoge, sagte meinen Eltern, dass der Wille des Bürschleins gebrochen werden müsse – und zwar von Anfang an, sonst hätten sie später keine Chance mehr, sich durchzusetzen.

Durch solche Erfahrungen kam ich zum Schluss, dass ich meine Wut und meine Gefühle herunterschlucken und auf die Zähne beissen müsse, um nicht anzuecken.

Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass in einem meiner Lieblingsmärchen die Tarnkappe, mit der ein Büblein andere Menschen überlisten konnte, eine entscheidende Rolle spielte. Ich versteckte mein wahres Gesicht sehr lange unter einer imaginären Tarnkappe.

Mit sechzehn machte ich die Aufnahmeprüfung für das Evangelische Lehrerseminar Unterstrass in Zürich. Dafür setzte sich meine Mutter ein. Sie stellte sich gegen die Meinung der Verwandtschaft, die fand, dass ich ein Mädchen sei, das später heiraten werde, während andererseits noch vier Buben da seien, die studieren sollten. Ich bin meiner Mutter für ihre Unterstützung bis heute unendlich dankbar. Ich trat unter Direktor Konrad Zeller, einem strenggläubigen Calvinisten und Pietisten, in das Seminar ein, das für Mädchen noch nicht lange offenstand. Viele der Seminaristinnen und Seminaristen liessen sich durch den strengen Verhaltenskodex, der gelehrt wurde, unter Druck setzen. Insbesondere Erotik und Sexualität waren stark tabuisiert. Wer sich verliebte, musste sich im Büro des Direktors unter Umständen peinlichen Befragungen und Ermahnungen aussetzen und Verhaltensweisen, die als sündig galten, konnten zum Ausschluss aus der Schule führen, wenn jemand erwischt wurde.

Ich war sehr lange diesem calvinistischen Denken verpflichtet. Vorehelicher Sex war für mich undenkbar. Mit Rico, einem Mitschüler, war ich etwa ein halbes Jahr lang eng befreundet. Aber zu mehr als zu Küssen und Spaziergängen Hand in Hand kam es zwischen uns nicht. Die Grenzen waren für mich ganz klar: Hätte er mehr von mir gewollt, hätte ich mich sofort von ihm getrennt.

Im Verlauf der Ausbildung fand eine Projektwoche in Zoologie unter der Leitung unseres Biologielehrers statt. Er trug die gleiche Art Schnauz wie mein Grossvater. Dadurch müssen unbewusste Erinnerungen an die sexuelle Ausbeutung in mir aufgekommen sein. Denn kurz bevor diese Intensivwoche begann, bekam ich plötzlich vierzig Grad Fieber. Man brachte mich ins Krankenzimmer, wo ich halluzinierte und Lähmungserscheinungen hatte. Der Kurs fand ohne mich statt. Wenn ich jetzt über dieses Erlebnis spreche, fühle ich mich erneut wie gelähmt. Das widerfuhr mir schon lange nicht mehr: Eine Mattscheibe, Erinnerungsfetzen, die hochkommen und mir den Hals zuschnüren …

Diese lange zurückliegenden Übergriffe waren mir damals noch nicht bewusst. Deshalb verstand ich auch nicht, warum dieser Lehrer so heftige Reaktionen in mir auslöste. Den Zusammenhang begriff ich erst, als ich mich viel später, mit über vierzig Jahren, in einer Therapie mit dem Thema auseinandersetzen konnte.

Eva, 33, mit ihrer Tochter

Nicht nur die Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendzeit sind teilweise schmerzhaft, sondern auch jene an meine Verlobungszeit und an die 15-jährige Ehe. Immer wieder habe ich mich krampfhaft angepasst. Ich glaubte, die Erwartungen der Aussenwelt und besonders diejenigen der Eltern erfüllen zu müssen. Doch wo blieb ich mit meinen eigenen Bedürfnissen und Träumen?

Während der Ausbildung zur Erwachsenen-Kursleiterin lernte ich nicht nur Karin kennen, ich lernte vor allem auch mich neu kennen. Endlich spürte ich wieder Energie und Lust, etwas anzupacken. Ich fing an, an mich zu glauben, lachte viel mit den inspirierenden Frauen meiner Ausbildungsgruppe und fühlte mich wahrgenommen und angenommen. Ich nahm meine Arbeit als Heilpädagogin wieder auf und konnte in eine Praxisgemeinschaft mit Psychologinnen eintreten. Die Arbeit ausser Haus und der Austausch mit den Kolleginnen taten mir gut.

Der Zufall wollte es, dass Karin und ich in einer Ausbildungswoche im gleichen Zimmer untergebracht waren. Ich fühlte mich ausgesprochen wohl in ihrer Gegenwart. Niemand kannte mich inzwischen besser als sie. Am Ende der Woche sassen wir beide ein letztes Mal auf dem Bett im gemeinsamen Zimmer. Karin gab mir einen sanften Kuss auf den Mund. Ich war elektrisiert und verzaubert. Aber es machte mir auch Angst. Daheim schrieb ich umgehend einen Brief an Karin, in dem ich versuchte, mich von ihr und dem Geschehenen zu distanzieren. Karin gab vor, meine Bedenken und Ängste zu verstehen, war ich doch verheiratet, und sie sei in einer langjährigen Frauenbeziehung gebunden.

Vordergründig glaubten wir beide unseren Versicherungen. Dennoch telefonierten wir häufig, und ich fuhr fortan mit Karin in ihrem roten Honda Cabriolet an die Wochenendkurse. Immer mehr widerstrebte es mir nach den Wochenenden, daheim wieder auszusteigen, und ich mochte auch gar nicht mehr erzählen, wie gut es mir ergangen war.

Dann kam der unwirkliche und unvergessliche Abend im Januar 1981, zwei Monate vor meinem vierzigsten Geburtstag. Karin sass mir in meiner Wohnung gegenüber. Hans war in Frankreich und machte die neue Segelyacht bereit für seinen jüngsten Traum: eine Weltumsegelung mit Frau und Kindern. Ich hatte Karin gebeten, vorbeizukommen statt nur zu telefonieren. Sie kam, hatte aber keine Lust zu reden. Sie wollte einfach da sein, bei mir. Beim Abschied umarmte und küsste mich Karin – im selben Moment ging im ganzen Städtchen das Licht aus, und wir sassen beim Schein einer Kerze im Dunkeln. Am nächsten Tag war in der Zeitung zu lesen, dass eine Katze sich ins Transformatorenhäuschen verirrt und so den Stromausfall verursacht hatte …

In der Anfangszeit mit Karin war ich wieder froh um meine Tarnkappe, denn unsere Beziehung musste zunächst im Verborgenen stattfinden. Ich spürte aber deutlich, dass ich die Geheimhaltung nicht lange ertragen würde. Nachdem ich Karin körperlich nähergekommen war, sass ich an einem Sonntag in einer Predigt in der vordersten Kirchenbank. Während des Abendmahls fiel plötzlich ein Sonnenstrahl durch das Kirchenfenster genau auf mich. Für mich gab es keinen Zweifel mehr: Meine Liebe zu Karin, die ich als so überwältigend erlebte, konnte nur ein Geschenk Gottes sein. Kurz danach legte ich Hans gegenüber alles offen. Glücklicherweise hatte er sich gleichzeitig in eine meiner Freundinnen verliebt, wenn auch nur platonisch.

Es kam die schönste Zeit meines bisherigen Lebens: Ich strahlte vor Glück und wollte und konnte das nicht mehr verstecken. Karin und ich liefen in gelben Stiefeln durch den Regen – an der Hand die Kinder, die eine ganz neue Mutter kennenlernten. Ich erlebte mit Karin zum ersten Mal auch sexuelle Erfüllung.

In diese Zeit meiner Rückkehr auf seelisches Festland fielen die letzten Vorbereitungen für die kühne Unternehmung von Hans, die Welt zu umsegeln, nur mit Frau und Kindern in einer kleinen Yacht auf hoher See. Ich, die mit Karin endlich Freiheit zu entdecken begann, dachte in panischer Angst an diese Reise, an das Eingesperrtsein auf dem engen Boot, zusammen mit dem Mann, den ich zwar schätzte, jedoch nicht liebte. Die Kinder, die bald aus ihrem Beziehungsnetz herausgerissen werden sollten, waren inzwischen acht und sechs Jahre alt. Der Gedanke, ihnen auf mich allein gestellt während zwei oder drei Jahren Lehrerin und Mutter sein zu müssen, war für mich furchtbar, insbesondere auch weil ich wusste, dass ich auf dem unablässig schwankenden Boot schwer seekrank werden würde.

Während der letzten Vorbereitungsmonate nahm ich innert kürzester Zeit elf Kilogramm ab. Hans belastete mich mit einer eigenartigen Geschichte von einem Mann, der vom Bürgenstock heruntergesprungen sei, weil sich seine Frau von ihm trennen wollte. Ich litt unter Todesängsten und stand unter einem unerträglichen Druck. Ich fürchtete, dass ich auf dem Schiff in Verzweiflung über Bord gehen oder verrückt werden könnte. Karin war damals wie ein Anker für mich. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass Verrücktwerden nicht Schicksal, sondern eine Wahl sei,