Shalom zusammen! - Tanya Raab - E-Book

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Tanya Raab

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Beschreibung

Jüdisches Leben abseits von Klischees: Aktivistin Tanya Raab räumt mit Vorurteilen auf "Du siehst ja gar nicht jüdisch aus" ist ein Satz, den Tanya beim Dating schon oft gehört hat. Seitdem sie auf dem Pausenhof mitbekam, wie ein Mitschüler den anderen mit "Du Jude" beschimpfte, beschäftigen sie viele Fragen: Was bedeutet es, jüdisch auszusehen? Gibt es so etwas überhaupt? Muss ich mich für mein Jüdischsein schämen oder darf ich stolz darauf sein? Geboren in der Ukraine, zog Tanya Raab mit 3 Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Ihre Mutter ist jüdisch, ihr Vater nicht. Über die Jahre wird ihr immer wieder geraten,diesen Teil von ihr zu verschweigen, um sich selbst zu schützen. Doch eines Tages beschließt sie, sichnicht länger zu verstecken. Ob mit Davidstern-Kette im Fitnessstudio oder Regenbogen-Kippah beim Einkaufen - die queere und feministische Aktivistin zeigt, dassjüdisches Leben anders gelebt werden kann, als man es erwartet. Selbstbewusst erzählt sie von ihrem Alltag zwischen Tradition und Moderne sowie tagtäglichen Erfahrungen mit Antisemitismus, klärt auf über weit verbreitete Stereotype und rechnet mit der deutschen Erinnerungskultur ab.  Mit Scharfsinn und Witz gibt Tanya Raab Impulse für eine Zukunft, in der Jüdinnen und Juden ein Leben ohne Angst und Vorurteile in Deutschland führen können.

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Seitenzahl: 286

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tanya Raab

Shalom zusammen!

Warum wir falsche Vorstellungen von jüdischem Leben haben und das gemeinsam ändern sollten

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Jüdisches Leben abseits von Klischees: Aktivistin Tanya Raab räumt mit Vorurteilen auf

 

»Du siehst ja gar nicht jüdisch aus« ist ein Satz, den Tanya beim Dating schon oft gehört hat. Seitdem sie auf dem Pausenhof mitbekam, wie ein Mitschüler den anderen mit »Du Jude« beschimpfte, beschäftigen sie viele Fragen: Was bedeutet es, jüdisch auszusehen? Gibt es so etwas überhaupt? Muss ich mich für mein Jüdischsein schämen oder darf ich stolz darauf sein?

Geboren in der Ukraine, zog Tanya Raab mit drei Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Ihre Mutter ist jüdisch, ihr Vater nicht. Über die Jahre wird ihr immer wieder geraten, diesen Teil von ihr zu verschweigen, um sich selbst zu schützen. Doch eines Tages beschließt sie, sich nicht länger zu verstecken.

Ob mit Davidsternkette im Fitnessstudio oder Regenbogen-Kippah beim Einkaufen – die queere und feministische Aktivistin zeigt, dass jüdisches Leben anders gelebt werden kann, als man es erwartet. Selbstbewusst erzählt sie von ihrem Alltag zwischen Tradition und Moderne sowie tagtäglichen Erfahrungen mit Antisemitismus, klärt auf über weitverbreitete Stereotype und rechnet mit der deutschen Erinnerungskultur ab.

Mit Scharfsinn und Witz gibt sie Impulse für eine Zukunft, in der Jüdinnen und Juden ein Leben ohne Angst und Vorurteile in Deutschland führen können.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorbemerkung

Vorwort: Mehr als nur jüdisch

»Gibt es hier so was eigentlich noch?«

Wer sind wir und wenn ja, wie viele?

Was das Judentum mit Deutschland zu tun hat

Falsche Jüd*innen gibt es nicht

»Haben Sie vielleicht eine Grußkarte für Rosch Haschana?«

Von einer, die zur unperfekten Jüdin wurde

Heute keine Extrawurst

Warum der Shabbat zu schön ist, um ihn nur einmal zu feiern

Das jüdische Nicht-Weihnachten

Erntedank unterm Blätterdach

Ist das der jüdische Karneval?

Passiert den Besten

Pessach und die Speisegesetze

»Du siehst ja gar nicht jüdisch aus!«

Die Macht des Äußeren

Darf man das jetzt noch sagen?

Der eurozentrische Blick

Warum sich Judentum und Feminismus nicht gegenseitig ausschließen

So bin ich eben

Was ist schon normal?

Let’s talk about Sex, Baby

»Wir brauchen einen positiven Ausblick.«

Wir müssen mal über was reden

Der vergessene Holocaust

Representation matters

Stolpersteine im wahrsten Sinne des Wortes

Was sich in der Schule ändern muss

Über den wichtigsten Widerstand von allen

Die Sache mit dem Geld

»Euch Juden geht’s doch heute gut!«

Warum es irgendwie noch nicht so wirklich vorbei ist

Ist das noch Tradition oder kann das weg?

Auch Jesus kann nichts dafür

Warum wir nicht die Welt regieren

Von langen Nasen und krummen Rücken

»Bin ich jetzt auch Antisemit?«

Über Jüd*innen, die mich wütend machen

Nachwort: Schwarz, Rot, Gold

Danksagung

Für meine Tochter, die hoffentlich irgendwann eine noch stolzere Jüdin sein wird, als ich es bin.

Und für meinen Großvater, der den größten Akt des Widerstandes gegen das menschenverachtende NS-Regime leistete: Er überlebte es.

Wenn ich von Gott spreche, spreche ich von ihm*ihr, nicht von einem, sondern eine*m*r Gott. In meinen Augen ist Gott nicht männlich, sondern hat kein festgelegtes Geschlecht. Jede*r von uns kann sich Gott unterschiedlich vorstellen, abhängig davon, womit er*sie sich wohlfühlt.

Vorwort: Mehr als nur jüdisch

Mein Name ist Tanya Yael Raab, aber eigentlich bin ich mit keinem dieser Namen geboren worden. Den Vornamen Tanya habe ich gewählt, als ich mit 20 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen habe. Meinen ukrainischen Vornamen Tetyana, dessen Kurzform Tanya ist, habe ich abgegeben, weil ich wegen ihm regelmäßig diskriminiert wurde.

Mein zweiter Name ist Yael. Er kommt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie »Bergziege«. Eigentlich spielt der Name aber an die biblische Jaël an, die dem kanaanitischen Feldherrn Sisera, einem Feind der Israeliten, einen Zeltpflock durchs Herz trieb. Ziemlich cool, dachte ich, als ich diesen hebräischen Namen aussuchte, um ganz offiziell Teil der jüdischen Community zu werden. Ehrlicherweise fand ich auch den Klang einfach nur schön.

Und dann wäre da noch mein Nachname. Es ist der meines Ex-Mannes und Vaters meiner Tochter. Ich habe ihn behalten, um weiterhin denselben Nachnamen wie sie zu haben. Eher unspektakulär also.

Es war ein ziemlich komisches Gefühl, meinen kompletten Namen abzulegen und einen neuen anzunehmen. Ich hatte Angst, dass meine Eltern mich verurteilen würden, wenn ich keinen der Namen behalte, die ich von ihnen bekommen habe. Aber einen Namen zu ändern, bedeutet erst mal nicht, sich neu zu erfinden. Es bedeutet auch nicht, dass man seine Geschichte und seine Herkunft verleugnet. Es bedeutet lediglich, dass man sich gezwungenermaßen an neue Gegebenheiten anpassen muss oder will.

Wenn es aber etwas an mir gibt, das ich nicht ändern kann und möchte, dann ist es mein Jüdisch-Sein. Es hat sehr lange gedauert, bis ich stolz darauf sein konnte, da mir Deutschland von Anfang an gezeigt hatte, dass ich anders bin. Weil meine eigene Familie mich gelehrt hatte, mich zu verleugnen und wachsam zu sein. Und weil andere Jüd*innen mir das Gefühl gaben, nicht richtig jüdisch zu sein. Und irgendwann hatte ich keine Lust mehr darauf. Ich hatte keine Lust mehr, in Angst zu leben, und ich lernte, dass sich meine jüdische und meine queere Seite nicht gegenseitig ausschließen. Ich begann also, beide auszuleben. Ich trug meine Davidsternkette ins Fitnessstudio und meine Regenbogen-Kippah zum Einkaufen. Mal mehr, mal weniger selbstbewusst.

Ich ging meinen eigenen Weg.

Viele jüdische Menschen, die ich kenne, würden sich aus Angst vor Antisemitismus niemals in der Öffentlichkeit jüdisch zeigen, was ich gut verstehen kann. Trotzdem mache ich mittlerweile aus Protest genau das Gegenteil, nicht nur wegen mir selbst, sondern weil ich anderen Jüd*innen zeigen will, dass sie nicht allein sind. Dass es auch andere jüdische Menschen in ihrer Stadt und in ihrem Umfeld gibt, die ihre Erfahrungen und Ängste teilen. Denn ich weiß, was es bedeutet, die einzige Jüdin weit und breit zu sein. Doch irgendwie reichte mir das damals nicht.

Mitten in der Corona-Pandemie wurde ich Mutter und brachte mit 20 Jahren meine kleine Tochter zur Welt. Während der Elternzeit suchte ich also nach einem Ventil, um all die Erfahrungen, die ich als jüdische Frau in Deutschland machte, irgendwo loszuwerden. Also startete ich meinen Instagram-Account oy_jewish_mamma, auf dem ich über jüdisches Leben, aber vor allem auch über meine ganz persönliche Auslegung davon spreche. Als angehende Lehrerin fielen mir die Informationsbeschaffung und die didaktischen Posts überhaupt nicht schwer. Und es bereitete mir großen Spaß. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches ist der Account schon drei Jahre alt.

Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, dass mir jemals so viele Menschen folgen würden. Jeden Tag schreiben mir nichtjüdische und jüdische Menschen, die sich darüber freuen, dass sich eine jüdische Person in die Öffentlichkeit traut und Dinge anprangert, die auch sie stören. Mir schreiben Jüd*innen, dass sie nur meinetwegen wieder häufiger einen Davidstern tragen. Nichtjüdische Menschen erzählen, dass sie erst durch mich und meine Beiträge verstanden haben, wie präsent Antisemitismus noch immer in unserer Gesellschaft ist. Viele zeigen vermehrt antisemitische Schmierereien, die sie an Hauswänden und Laternenpfählen sehen, bei der Polizei an. Einfach, weil ich das auch so mache. Solche Momente erfüllen mich mit genug Kraft und Stolz, um mit meiner Arbeit weiterzumachen.

Meine Familie hat deshalb oft Angst um mich. Fast jedes Telefonat mit meiner Mutter beginnt damit, dass sie mich fragt, ob ich »das auf Instagram« wirklich noch weiter machen möchte. Mir wird dann immer wieder aufs Neue bewusst, dass ich ein Leben führe, wie es seit Generationen niemand in meiner Familie getan hat. Offen jüdisch zu leben ist für sie nicht selbstverständlich und war es für mich auch lange nicht.

Dass ich so lebe, macht mich aber nicht besser als andere Jüd*innen. Es macht mich nicht besser als jene, die keine Kippah in der Öffentlichkeit tragen, die ihre Davidsternkette unter dem Pullover verstecken, deren Nachbarn nicht einmal wissen, dass sie jüdisch sind, oder die ihre Menora nicht aufs Fensterbrett, sondern irgendwo mitten in den Raum stellen, damit sie keiner sieht. Aber ich weiß, dass ihr da seid.

Im Herbst 2023 wollte ich daher einen Schritt weitergehen und dieses Buch schreiben. Ich will damit nicht nur jüdischen Menschen Mut machen und ihnen zeigen, dass Judentum anders gelebt werden kann, als sie es vielleicht gewohnt sind. Ich will vor allem auch nichtjüdischen Menschen diese so »geheimnisvolle und unbekannte Religion« näherbringen, die immer schon ein Teil Deutschlands war. Ich möchte davon erzählen, was ich mir für die Zukunft erhoffe und welche Sorgen und Ängste ich habe. Doch vor allem werde ich zeigen, dass man problemlos Jüdin, Gymmaus, Mama, Feministin und Lehrerin in einem sein kann.

Also sage ich: Shalom zusammen.

»Gibt es hier so was eigentlich noch?«

Wie die jüdische Gemeinschaft in Deutschland aussieht

Gibt es hier so was eigentlich noch?«, fragt der Kommilitone, der mir gegenübersitzt, nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich Jüdin bin. »Sind die nicht alle tot?«

Ich habe das Gefühl, gleich vom Barhocker auf den Boden zu segeln, schaffe es aber gerade noch rechtzeitig, mich an meinem Cocktailglas festzuhalten. Ich nehme einen tiefen Schluck von dem orangeroten Getränk, um der Antwort erst mal aus dem Weg zu gehen. Als die Stille zwischen uns nicht mehr auszuhalten und mein Cocktailglas leer ist, sage ich schließlich zögerlich: »Na ja, es gibt schon einige jüdische Menschen in Deutschland.«

»Wie viele?«, will er fordernd wissen. Und da ich die Antwort auch nicht so genau weiß, googeln wir gemeinsam.

»Das sind aber nicht gerade viele«, murmelt er über mein Handy gebeugt.

Wundert’s dich?, will ich eigentlich fragen, mache es dann aber doch nicht. Ich möchte jetzt nicht über den Holocaust sprechen, nicht an diesem ungezwungenen Abend, den ich eigentlich mit ein paar Kommiliton*innen verbringen will. Können wir uns stattdessen nicht lieber über Serien und die Uni unterhalten?

Natürlich passiert es trotzdem und jede*r fängt an, sich einzumischen. Ich höre den anderen aber gar nicht mehr wirklich zu, da ich zu sehr damit beschäftigt bin, die Zahl der übrig gebliebenen Jüd*innen in Deutschland anzustarren. 100000. Das erscheint mir irgendwie verdammt wenig.

Wer sind wir und wenn ja, wie viele?

Später recherchierte ich, dass es vor dem Holocaust mehr als 560000 jüdische Menschen in Deutschland gegeben hatte. Vor dem Strom der jüdischen Kontingentflüchtlinge nach Deutschland in den 1990er- und 2000er-Jahren hatte es hier nur noch etwa 30000 Jüd*innen gegeben. Wir können also davon ausgehen, dass es ohne die Jüd*innen aus der ehemaligen Sowjetunion quasi kein jüdisches Leben außerhalb großer Städte geben würde, denn nach wie vor machen diese 90 Prozent der jüdischen Community Deutschlands aus.1

Auch ich komme aus einer solchen jüdischen Gemeinde, die vollkommen russischsprachig war und aus der Sowjetunion kam. Ich wurde am 17. Februar 2000 in der ukrainischen Stadt Krementschuk geboren, in genau demselben Krankenhaus wie mein Vater 23 Jahre zuvor. Krementschuk ist eine Kleinstadt am rechten Ufer des Dnepr-Flusses, etwa 250 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Kiew.

Das erste Mal auf einer Landkarte habe ich die Stadt in der Schule im Geografieunterricht gesehen, als wir eine Wirtschaftskarte von Europa betrachteten. Krementschuk ist der Standort einer der größten Ölraffinerien der Ukraine und für kaum etwas anderes bekannt als für seine Industriegebiete. Im Juli 2022 ging meine kleine Heimatstadt ganz schön durch die deutschen Schlagzeilen, als dort bei einem russischen Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum mindestens 13 Menschen starben und zahlreiche weitere verletzt wurden. Mehrere meiner Angehörigen waren in dem Moment vor Ort, überlebten den Angriff aber mit leichten Verletzungen. Als Kind mochte ich dieses Einkaufszentrum namens Amstor übrigens nie, da für dessen Errichtung ein ganzer Park hatte weichen müssen. Deshalb bestand ich darauf, dass wir es boykottierten, wenn wir im Sommer zu meinen Großeltern in die Ukraine fuhren.

Ich verbrachte nur meine ersten drei Lebensjahre in Krementschuk, weswegen ich mich an nichts aus dieser Zeit erinnern kann. Wir lebten auf engstem Raum in einer Zweizimmerwohnung mit meinen Großeltern zusammen. Den Entschluss, nach Deutschland auszuwandern, fasste meine Mutter bereits Jahre vor meiner Geburt, denn in den 1990er-Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Bedingungen für die Einreise nach Deutschland für jüdische Menschen sehr erleichtert.

Es gab ein sogenanntes Kontingentprogramm für jüdische Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, daher auch der Name »Kontingentflüchtlinge«.2

Schon damals sagte man scherzhaft, Deutschland wollte die »Reserven« an jüdischen Menschen nach dem Holocaust wieder auffüllen und möglichst viele jüdische Menschen nach Deutschland locken.3 Meine Uroma, die die Massenerschießungen an der Ostfront überlebt hatte, hatte bis an ihr Lebensende im stolzen Alter von 102 Jahren allerdings nie verstanden, wie wir nur »zu den Faschisten« ziehen konnten.

Die erste Kindheitserinnerung, die ich an Deutschland habe, ist die an das Bällebad bei McDonald’s in Frankfurt (Oder). Wir lebten in einer Flüchtlingsunterkunft in der unmittelbaren Nachbarschaft des Fast-Food-Restaurants, nur wenige Gehminuten von der polnischen Grenze entfernt. Bereits kurz nach unserer Ankunft nahm die örtliche jüdische Gemeinde Kontakt mit uns auf. Die Mitglieder halfen uns in unserer Anfangszeit in Deutschland vor allem bei bürokratischen Fragen, für die meinen Eltern schlichtweg die Sprachkenntnisse fehlten. Bald darauf verbrachte ich schon jedes Wochenende in der Gemeinde.

Als Kind habe ich mir nie die Frage gestellt, warum wir dort immer nur russisch sprachen, es Russischunterricht gab und vor allem die älteren Gemeindemitglieder kaum Deutsch sprechen konnten. Jüdisch und russischsprachig war für mich lange Zeit untrennbar miteinander verbunden. All unsere Bekannten, die russisch sprachen und aus der ehemaligen Sowjetunion kamen, waren jüdisch und alle Jüd*innen, die ich zu diesem Zeitpunkt kannte, waren russischsprachig und (post)sowjetisch.

Diese sprachliche Barriere bereitete mir lange Zeit große Probleme. Als wir nach Deutschland kamen, sprach ich bereits sehr gut Russisch und konnte mich mit Erwachsenen und anderen Kindern auf Russisch verständigen. In Deutschland konnte ich das aber plötzlich nicht mehr.

Ich erinnere mich daran, wie frustriert ich im Kindergarten war, als mich andere nicht verstehen konnten. Ich beschwerte mich bei meiner Mutter über die »Dummheit« der anderen Kinder, weil sie nie das taten, was ich von ihnen wollte. Es fiel mir auch schwer, einen Bezug zu den Erzieherinnen aufzubauen. Ich hatte daher oft Angst und klammerte mich sehr an meine Mutter. Zeitweise durfte sie nicht einmal ohne mich auf die Toilette gehen, weil ich sonst große Angst bekam, dass ich sie nie wiedersehen würde.

Als wir von der Flüchtlingsunterkunft in eine richtige Wohnung zogen, veränderte sich zum Glück auch die Kita-Situation und ich kam in eine andere Einrichtung.

Dort gingen die Erzieherinnen sehr behutsam mit mir um und ich fand sogar eine Freundin. Sie war nur ein halbes Jahr jünger als ich und im Gegensatz zu den anderen Kindern ließ sie mich nicht links liegen. Wir blieben bis zum Abitur befreundet und standen nebeneinander auf dem Foto der Abizeitung.

An dem Tag sagte ich zu ihr: »Danke, dass du mir Deutsch beigebracht hast«, denn genau das hatte sie getan. Durch das Spielen mit ihr lernte ich die Sprache und kam besser zurecht.

Bei meiner Community und meinen Eltern sah das allerdings anders aus. So richtig bewusst wurden mir deren Sprachdefizite erst, als meine damalige evangelische Religionslehrerin einen gemeinsamen Ausflug in meine jüdische Gemeinde organisierte. Nach unserer Ankunft konnte uns dort niemand eine deutschsprachige Führung geben, sodass die zehnjährige Tanya all ihr kaum vorhandenes Wissen über das Judentum zusammenklauben und ihre Lerngruppe auf eigene Faust durch das Gemeindehaus führen musste.

Es waren nicht nur die fehlenden Sprachkenntnisse, die meine Gemeinde ein wenig von der Außenwelt abschnitten, sondern auch deren generelle Verschlossenheit.

Als Kind und Jugendliche empfand ich meine jüdische Community als wenig divers und es würde Jahre dauern, bis ich lernte, wie vielfältig jüdisches Leben und Jüd*innen sein konnten. Doch bis in meine Teenagerjahre hinein blieb ich beispielsweise umgeben von alten Jüd*innen, Kinder gab es nur wenige. Die meisten Menschen waren so alt wie meine Großeltern und ich fand sie sehr altbacken und unfassbar konservativ. Man hielt an Altbewährtem fest und wenn ich heute meine alte jüdische Gemeinde betrete, hat sich dort nur wenig verändert. Es hängen sogar noch dieselben Fotos an den Wänden. Fotos von Kindern wie mir, die schon längst erwachsen geworden sind und bereits eigene Kinder haben. Es sind immer noch dieselben Menschen in der Gemeinde, nur dass sie noch deutlich älter geworden sind. Junge jüdische Menschen gibt es dort mittlerweile nicht mehr und somit auch keine Angebote für Kinder und Jugendliche, die diese vielleicht anlocken könnten.

Wie überall verlassen auch die jungen jüdischen Menschen immer öfter ihre ländlichen Heimatgemeinden, um in großen Städten Arbeit und Zukunft zu finden, weshalb vor allem das junge jüdische Leben auf dem Land langsam ausstirbt. In großen Städten wie Berlin ist es daher noch viel präsenter. Dort gibt es zahlreiche Synagogen und Gemeinden, aus denen man eine passende für sich auswählen kann. Auf dem Land sind wir oft gezwungen, der Gemeinde beizutreten, die eben gerade da ist, was es vielen Jüd*innen nicht gerade einfach macht. Gemeinden können sehr unterschiedlich sein, da jüdisches Leben und jüdischer Glaube sehr unterschiedlich gelebt werden. So wie es im Christentum verschiedene Strömungen gibt, gibt es sie auch im Judentum.

Trotzdem ist mir im Laufe meiner aktivistischen Tätigkeit aufgefallen, dass die meisten Deutschen sich einen orthodoxen männlichen Juden vorstellen, wenn sie das Wort »Jude« hören. Auch irgendwie nicht verwunderlich, da männliche Rabbiner die präsentesten und »offensichtlichsten« jüdischen Gestalten auf Deutschlands Straßen sind. Umso mehr wundern sich die Menschen, wenn ich sage, dass ich jüdisch bin und nicht diesem Erscheinungsbild entspreche. Logisch, jüdische Frauen gibt’s ja irgendwie auch noch. Tatsächlich entsprechen aber nur sehr wenige jüdische Menschen, die ich kenne, diesem orthodoxen Erscheinungsbild, da die wenigsten jüdischen Menschen in Deutschland so leben.

Als 2020 die auf den Memoiren von Deborah Feldman basierende Miniserie Unorthodox auf Netflix erschien, ging es heiß her. Die Serie erzählt die Geschichte einer jungen jüdischen Frau, die aus einer ultraorthodoxen jüdischen Community in Brooklyn flieht, um ein neues Leben in Berlin zu beginnen. Wir befanden uns gerade mitten in der Corona-Pandemie und mein damaliger Partner und ich hörten oft den Podcast Fest und Flauschig von Jan Böhmermann und Olli Schulz, die sich kurz nach Erscheinen der Serie über diese unterhielten. Ich weiß noch, wie sehr ich mich über Böhmermann ärgern musste, weil er meinte, man solle die Serie gucken, wenn man einen Einblick in jüdisches Leben und jüdische Traditionen bekommen wolle.

»Er hat überhaupt keine Ahnung von jüdischem Leben«, echauffierte ich mich später bei einer Freundin, die mich erst mal beruhigen musste. »Ich meine, da geht es um eine ultraorthodoxe Community und auf einmal wollen alle wissen, ob das noch meine echten Haare sind oder ich auch eine Perücke trage wie Esti aus der Serie.«

Über die Serie wurde viel gesprochen und diskutiert und viele Menschen sahen zum ersten Mal eine Produktion über jüdisches Leben, die mal kein Spielfilm oder eine Doku über den Holocaust war. Einerseits ist das ja super. Andererseits wurde die Serie aber nicht als Einblick in eine sektenartige ultraorthodoxe Gemeinschaft in Brooklyn angesehen, sondern oft als Dokumentation über jüdisches Leben par excellence. So müssen jüdische Menschen in Deutschland also auch leiden, war häufig der Konsens.4

Ich habe einige orthodoxe Freund*innen hier in Deutschland und keine*r von ihnen lebt auch nur ansatzweise so, wie es in dieser Serie beschrieben wurde. Die meisten von ihnen würde ich eher als modern-orthodox bezeichnen. Sie halten sich sehr streng an die Halacha (das jüdische Religionsgesetz), den Kaschrut (das jüdische Speisegesetz), halten den Shabbat ein, fasten an bestimmten Feiertagen und die Frauen besuchen gelegentlich eine Mikwe (das rituelle Bad). Das wäre auch schon alles. Während (ultra)orthodoxe jüdische Männer und Frauen einen besonderen Dresscode haben – Männer schwarze Mäntel, Hüte und Kippot und Frauen nur Kleider und Röcke sowie Tichel oder Perücke nach der Hochzeit –, sehen das modern-orthodoxe Jüd*innen etwas lockerer. Ich kenne sogar einige modern-orthodoxe Frauen, die Hosen tragen. Skandalös, ich weiß.

Die erst mal ganz logische Schlussfolgerung, dass orthodoxe Jüd*innen bestimmt auch strenggläubiger sind als liberale Jüd*innen, halte ich für durchaus fragwürdig. Glaube ist immer etwas ganz Persönliches und ich sehe es kritisch, wenn behauptet wird, dass dieser oder jener gläubiger sei als jemand anderes. Das gilt auch für alle anderen Religionen.

Wir können uns darauf einigen, dass ein Mensch strenger praktiziert oder dass er oder sie sich anders kleidet und dementsprechend einem bestimmten Erscheinungsbild entspricht, aber das bedeutet nicht, dass jemand gläubiger ist. Auch mein Glaube hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Ich habe eine Zeit lang versucht, in eine modern-orthodoxe Richtung zu gehen, habe mich damit auf Dauer aber einfach nicht wohlgefühlt – und das ist okay. Es bedeutet nicht, dass ich plötzlich weniger glaube als vorher, sondern einfach nur, dass ich diese strenge Praxis in meinem Alltag und für meinen Glauben nicht benötige.

Eigentlich bin ich sogar selbst in einer konservativen jüdischen Gemeinde groß geworden, die eine starke Tendenz zur Orthodoxie hatte. Die Rabbiner, die in die Gemeinde zu den Gottesdiensten extra aus Berlin kamen – weil wir keinen eigenen hatten und Rabbiner*innen ohnehin bis heute Mangelware sind –, waren ausnahmslos männlich. Einige waren noch recht jung und kamen direkt aus dem Rabbinatseminar oder der Jeshiwa, einer jüdischen Hochschule, an der die Torah studiert wird. Ähnlich wie junge Lehrkräfte hatten sie viele moderne und innovative Ideen und spielten viel mit uns Kindern. Die älteren Rabbiner mit ihren grauen Bärten widmeten sich lieber den erwachsenen Gemeindemitgliedern. Die waren eher von der langweiligeren Sorte. Alle hatten sie jedoch eins gemeinsam: Sie waren männlich.

Ich lernte erst viel später als liberale Jüdin auch Rabbinerinnen kennen. In bestimmten Untergruppen des konservativen Judentums gibt es für Frauen die Möglichkeit, eine Rabbinerausbildung zu bekommen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Masorti-Bewegung, die im Jahr 1985 in New York beschloss, auch Frauen auszubilden.

Eine Pionierin, die schon lange vor dieser Zeit, nämlich im Jahre 1935, zur Rabbinerin beordert wurde und die ich in diesem Kontext unbedingt erwähnt haben will, ist Regina Jonas. Sie studierte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und schrieb ihre Abschlussarbeit über die Frage, ob eine Frau das rabbinische Amt bekleiden dürfe.

Diese Arbeit war ein ganz schöner Kracher, denn sie stellte die jüdische Welt von damals ziemlich auf den Kopf. Jonas untersuchte zahlreiche jüdische Texte und Quellen, die Torah, den Talmud und diverse rabbinische Kommentare und Aufsätze und zeigte deutlich auf, dass es überhaupt keine expliziten halachischen Verbote gegen die Ordination von Frauen gibt. Sie plädierte dafür, dass sich das Judentum in dieser Frage erneuern sollte. Obwohl ihre Ausführungen sehr überzeugend waren, stießen sie trotzdem erst mal auch in der damaligen liberalen jüdischen Gemeinschaft auf heftigen Widerstand. Jonas fand jedoch einen Verbündeten – den Rabbiner Max Dienemann, der sie 1935 ordinierte.5

Die Geschichte von Regina Jonas ist tragisch, denn trotz ihrer großen Vorreiterrolle, ihres Mutes und ihres wichtigen Einflusses auf das Judentum geriet sie schnell in Vergessenheit. Während der NS-Zeit wurde sie zunächst nach Theresienstadt deportiert und 1944 nach Auschwitz, wo sie kurz nach ihrer Ankunft ermordet wurde. Erst in den 1990er-Jahren entdeckte man sie und ihr Vermächtnis wieder und sie wurde zu einer der wichtigsten Inspirationen für Frauen in der jüdischen Community.

In der Regel gibt es in konservativen Gemeinden auch keine verbindliche Geschlechtertrennung, sodass Frauen und Männer gemeinsam beten dürfen. Auch das habe ich in der jüdischen Gemeinde, in der ich meine Kindheit verbracht habe, davor anders erlebt. Dort gab es (ähnlich wie in vielen orthodoxen Gemeinden) eine Trennwand namens Mechitza zwischen den Männern und den Frauen im Gebetssaal. Ich habe ein ganzes Kapitel den Klischees über jüdische Menschen gewidmet – denn da gibt es einige – und werde dort auch noch genauer die Rolle der Frau und explizit den Feminismus im Judentum unter die Lupe nehmen, also macht euch bereit!

Vom orthodoxen Judentum unterscheidet sich das konservative vor allem in der Herangehensweise an die Halacha, also die jüdischen Religionsgesetze. Das konservative betrachtet die Halacha zwar als bindend, gleichzeitig aber auch als flexibel und anpassungsfähig. Rabbiner*innen spielen dabei eine superwichtige Rolle, denn sie sollen bei der Interpretation der Gesetze helfen und sie an die Gegebenheiten einer modernen Welt und Gesellschaft anpassen. Für orthodoxe Jüd*innen steht die Halacha fest und sollte nicht verändert und neu interpretiert werden.

Trotz der Freiheiten des konservativen Judentums gehe ich noch einen Schritt weiter und bezeichne mich mittlerweile als liberale Jüdin. Das geschah nach einer langen Selbstfindungsphase, in der ich mich mehr mit dem jüdischen Glauben und seiner Geschichte beschäftigt und gemerkt hatte, dass ich mir meine eigene Strömung aussuchen kann.

Als ich mich anfangs erst mal ins modern-orthodoxe Judentum stürzte, stellte ich recht schnell fest, dass ich mich damit einfach nicht identifizieren konnte. Also setzte ich mich als Nächstes mit den anderen beiden Strömungen – der modernen und der konservativen – auseinander, die mich gleichermaßen ansprachen. Beide bemühen sich um Innovation und haben einen großen Willen zur Veränderung. Beide sehen ein, dass wir in einer modernen Gesellschaft leben und uns dieser anpassen und somit auch die sehr alten Religionsgesetze in die moderne Zeit übertragen müssen. Auch die Gleichberechtigung der Geschlechter ist in beiden Strömungen ein zentrales Thema, denn beide verzichten auf Geschlechtertrennung und lassen Frauen als Rabbinerinnen zu.

Hier kommt jetzt aber der kleine, aber für mich doch sehr feine Unterschied: Konservative Jüd*innen halten sich, soweit es geht, an Religionsgesetze und beraten meist in Absprache mit ihren Rabbiner*innen, inwiefern deren Regeln auf den modernen Alltag übertragbar sind. Das Religionsgesetz spielt im Leben konservativer Jüd*innen also nach wie vor eine zentrale Rolle. Das ist bei liberalen Jüd*innen etwas anders. Wir betrachten die Halacha eher als eine Art ethische Richtschnur und als etwas, das zwar wünschenswert, jedoch nicht bindend ist. Im liberalen Judentum wird viel Wert darauf gelegt, dass Religionspraxis sehr individuell sein kann, was mir gut gefällt.

In einem Instagram-Post erzählte ich mal, dass ich nur manche Traditionen und Rituale praktiziere und andere bewusst weglasse, weil sie mir nicht gefallen oder ich mich damit einfach nicht identifizieren kann. Ich bekam daraufhin sehr viele wütende Nachrichten, in denen mir vorgeworfen wurde, ich würde »cherry picking« betreiben, also mir nur das herauspicken, was mir gefällt und Spaß macht, während ich die anstrengenden Sachen auslassen würde.

Wenn Glauben anstrengend sein soll, möchte ich mich bewusst dafür entscheiden. Ich treibe viel anstrengenden Kraftsport und auch in meinem Glauben gibt es Dinge, die körperlich anstrengend sind, wie das Fasten an bestimmten Feiertagen. Aber dazu habe ich mich bewusst entschieden und genieße nach der Anstrengung dann das gute Gefühl, etwas geschafft zu haben.

Glaube ist aber individuell und oft abhängig von unseren körperlichen und mentalen Ressourcen. Manche von uns haben nicht die Möglichkeit, in einen koscheren Supermarkt zu gehen und dort die Lebensmittel einzukaufen. Manche von uns haben keine Synagoge in der Nähe, in die sie regelmäßig gehen können. Ich halte nicht immer den Shabbat ein, weil ich es mir manchmal als Selbstständige überhaupt nicht erlauben kann, mir einen kompletten Tag freizunehmen. Manchmal passiert es mir, dass ich vor lauter Stress auch mal ’nen jüdischen Feiertag komplett vergesse, und das ist okay, das passiert. Und nichts daran macht uns zu »schlechten« Jüdinnen und Juden.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den beiden ist die Gestaltung der Gottesdienste. Während bei konservativen Gottesdiensten sehr viel mit traditionellen Gebeten in der hebräischen Sprache gearbeitet wird, bieten liberale Gottesdienste häufig auch Gebete in der jeweiligen Landessprache an, wie Deutsch oder Englisch. Ich kann nämlich – Trommelwirbel – gar kein Hebräisch! Ich kann es weder schreiben noch lesen, noch es ausreichend verstehen, um einer Konversation zu folgen.

Oft kommt die Frage auf, ob sich die Anhänger*innen der einzelnen jüdischen Strömungen untereinander gut verstehen, und ich kann den Impuls hinter der Frage gut nachvollziehen. Denkt man an die zahlreichen Konflikte und Kriege, die es zwischen katholischen und evangelischen Christ*innen allein in Europa im Laufe der Geschichte so gab, geht man natürlich davon aus, dass es bei uns bestimmt auch so heiß hergeht.

Diese Frage zu beantworten ist tatsächlich nicht einfach, denn man kann in dieser Hinsicht sehr unterschiedliche Erfahrungen machen.

Ich habe aus allen drei jüdischen Strömungen Freund*innen und Bekannte. Viele von ihnen habe ich auf Veranstaltungen kennengelernt, die grundsätzlich allen jüdischen Menschen offenstehen. Im Mai 2024 war ich zu meiner ersten jüdischen Hochzeit eingeladen und habe dort eine wahnsinnig große Vielfalt jüdischer Menschen erlebt, die alle zusammen die Liebe des Paares gefeiert haben. Von Missgunst oder Feindseligkeit war da keine Spur. Ich glaube, dass Jüd*innen deswegen oft so gut miteinander auskommen, weil wir außerhalb jüdischer Communitys selten andere jüdische Menschen treffen, und wenn wir das dann doch tun, freuen wir uns meist sehr darüber.

Einmal begleitete ich meinen früheren Partner wegen eines kleinen operativen Eingriffs zum Arzt und trug an dem Tag einen Davidsternanhänger an meiner Halskette. Als der behandelnde Arzt das sah, öffnete er seinen OP-Kittel im Kragenbereich und zeigte mir seine eigene Davidsternkette. Bevor wir wieder gingen, wünschte er mir mit einem sanften Lächeln einen schönen Shabbat, da es ein Freitagvormittag war.

Was das Judentum mit Deutschland zu tun hat

Jüdisches Leben in Deutschland unterscheidet sich wesentlich von dem in anderen Ländern. Das liegt zum Großteil an der jüdisch-deutschen Geschichte noch weit vor dem Holocaust und der NS-Zeit. Jüdisches Leben ist aber schon immer ein Teil der deutschen Geschichte gewesen und es ist mir ein Anliegen, das noch einmal ganz deutlich zu machen.

Die ersten Jüd*innen kamen wohl in der Zeit des Heiligen Römischen Reichs nach Deutschland. Man geht davon aus, dass sie sich in der Region rund um das heutige Köln ansiedelten. Lange Zeit war die Stadt wahrscheinlich das bedeutendste Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland. Was die jüdische Gemeinde dort im Mittelalter erlebte, ist beispielhaft für das Schicksal, das auch andere jüdische Gemeinden deutschlandweit erlitten. 1349 drangen aufgebrachte deutsche Bürger*innen in das jüdische Viertel ein und töteten zahlreiche Bewohner*innen. Dies war inmitten der Pestepidemie, als sich Gerüchte verbreiteten, jüdische Menschen würden die Brunnen vergiften (dazu später mehr, ich freu mich drauf). Wer noch am Leben blieb, wurde vertrieben. Viele jüdische Geflüchtete auch aus anderen Städten machten sich auf den Weg nach Polen, wo die neuen jüdischen Metropolen Europas entstanden.

Tatsächlich gab es nur zwei deutsche Städte, aus denen Jüd*innen im Zuge der Pestpogrome nicht vertrieben wurden: Frankfurt am Main und Worms. Sie wurden jedoch gezwungen, in Ghettos zu leben. So entstand in Frankfurt am Main 1462 das erste jüdische Ghetto überhaupt. Auch davor haben sich jüdische Menschen schon oft in bestimmten Vierteln zusammengefunden und dort abgeschirmt von den mehrheitlich christlichen Stadtbewohner*innen gelebt. Diese Viertel sind oftmals noch immer im Stadtbild dieser Städte erkennbar, am auffälligsten in Form von Straßennamen wie »Judengasse«, »Judenberg« oder »Judengraben«. In den meisten dieser ehemaligen jüdischen Viertel gab es früher auch eine Synagoge und ein rituelles Bad, eine Mikwe. Viele davon wurden, wie wir wissen, in der NS-Zeit zerstört und danach nie wieder aufgebaut.

Der Unterschied zum Frankfurter Ghetto: Die jüdischen Menschen siedelten sich in diesen Vierteln freiwillig an und es gab keine Mauer und auch keinen Zaun, wie es bei einem Ghetto der Fall war. Das Frankfurter Ghetto war ursprünglich auf nur 15 Familien ausgelegt und wurde erst Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst. Bis dahin waren dort 3000 Jüd*innen in einer nur drei Meter breiten und 330 Meter langen Gasse zusammengepfercht. Sie wurde somit die am dichtesten besiedelte Straße Europas.6

Im Mittelalter entstand in Deutschland auch das Jiddische, die Sprache der aschkenasischen Jüd*innen (auch dazu später mehr). Zunächst einmal war es eine Mischung aus dem Mittelhochdeutschen und dem Hebräischen und entstand, weil das Hebräische von den Jüd*innen als heilige Sprache angesehen wurde, die einzig und allein im Gottesdienst oder bei explizit religiösen Handlungen verwendet werden sollte. Als Alternative dazu entstand das Jiddische als Sprache, die im Alltag genutzt werden sollte. Das Jiddische hat sich im Laufe der Zeit stark verändert und weiterentwickelt. Als im Zuge der Pestpogrome viele jüdische Menschen die deutschen Gebiete verließen und sich in Osteuropa niederließen, wurde das Jiddische immer mehr von slawischen Sprachen, wie dem Russischen und Polnischen, beeinflusst.

Trotzdem ist die Tatsache, dass sich Jiddisch aus der deutschen Sprache heraus entwickelt hat, nicht zu leugnen. Es zählt sogar zu den germanischen Sprachen. Und wir finden bis heute zahlreiche Wörter jiddischen Ursprungs in der deutschen Sprache. Bei einigen Wörtern und Redewendungen ist es sehr offensichtlich, beispielsweise wenn wir sagen, dass uns »etwas nicht ganz koscher ist«. Einige Wörter benutzen wir aber auch in ihrer ursprünglichen Bedeutung wie die Redewendung »Schmiere stehen«, die vom Hebräischen schmiera, sprich »Wache«, kommt, oder das Wort »Ganove«, das auch schon im Jiddischen einen Dieb bezeichnete.

Andere Worte wie Ische wurden stattdessen umgedeutet. Heute wird es als abfällige und sogar beleidigende Bezeichnung für eine Frau verwendet, während es im Jiddischen einfach nur »Frau« bedeutet. Wenn wir heute von einer Ische sprechen, meinen wir in den seltensten Fällen eine jüdische Frau. In der Sprachwissenschaft geht man aber davon aus, dass dieses Wort ursprünglich von deutschen Nichtjüd*innen genutzt wurde, um jüdische Frauen abzuwerten und zwischen der deutschen »Frau« und der jüdischen »Ische« zu unterscheiden.7

Mein Partner sagt gerne »mauscheln«, und egal, wie oft ich ihn bitte, das Wort nicht zu benutzen, er macht es trotzdem. Es ist zu fest in seinem Sprachgebrauch verankert.

»Es drückt einfach am besten das aus, was ich sagen möchte«, verteidigt er sich, und wenn ich vorschlage, er könne doch stattdessen »tricksen« sagen, meint er: »Nein, mauscheln passt einfach besser in der Situation.«

»Mauscheln«ist vermutlich ein Paradebeispiel dafür, dass Antisemitismus auch vor unserem alltäglichen Sprachgebrauch nicht haltmacht und uns das wahrscheinlich nicht einmal bewusst ist. Das Wort leitet sich ab vom jiddischen Vornamen Mauschel, einer Form von Moses. Im 17. Jahrhundert wurde »Mauschel«dann relativ schnell zu einer Spottbezeichnung für männliche Juden im Allgemeinen, insbesondere aber für jüdische Händler.

Ein Äquivalent aus der heutigen Zeit dazu ist die Bezeichnung Ali für jeglichen türkisch oder arabisch gelesenen Mann. »Mauscheln«bedeutete bald »so zu reden wie ein Jude«, was natürlich negativ gemeint war. Heute bedeutet esnicht mehr einfach nur reden, sondern unehrlich zu sein, zu betrügen und auszutricksen.

Ronen Steinke vergleicht es in seinem Buch Antisemitismus in der Sprache8 mit dem Wort »türken« im Sinne eines »getürkten«, sprich gefälschten, Dokuments. In beiden Fällen wird oder wurde einer ungeliebten Menschengruppe Unehrlichkeit und Betrug vorgeworfen. Was die beiden allerdings voneinander unterscheidet, ist, wie der Duden mit ihnen umgeht. Während es beim Verb »türken«einen Vermerk gibt, dass das Wort als diskriminierend empfunden werden kann und man es deshalb »im öffentlichen Sprachgebrauch lieber vermeiden sollte«, fehlt so ein Hinweis beim Wort »mauscheln«komplett.9