Sie gaben nie auf - trotz Schurken und Schikanen - Helene Rempel - E-Book

Sie gaben nie auf - trotz Schurken und Schikanen E-Book

Helene Rempel

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Beschreibung

"Wenn andere es schaffen, schaffe ich es auch!" steht als Motto über dem Leben von Helene Rempel und gibt Einblick in das Schick¬sal einer ganz einfachen Frau, die Schweres, ja Un¬mensch¬li-ches erlebt hat, sich aber durch nichts unterkriegen lässt! Mit neun Monaten verliert sie ihren Vater, der auch als ange¬se¬hener Dorf¬schul¬lehrer nicht vor Sta¬lins Repressalien geschützt ist. Ihre Mut¬ter, die selbst mit sie¬ben Jahren den Vater verlor, kämpft mit aller Kraft um das Über¬le¬ben der Familie, die von immer neuen Schick¬salsschlägen getroffen wird. Als Helene viele Jahre später mit ihrem ersten Kind schwan¬ger ist, wird ihr Mann mitten in der Nacht zu einem Kriegsalarm gerufen. Wird er wiederkommen? Oder wird auch ihr Kind ohne Vater aufwachsen müssen? Wer im Kontakt mit Russlanddeutschen einzelne Anmerkungen zu ihrem Leben in der Sowjetunion hört, ahnt, dass sie viel ertragen mussten. Helene Rempel erzählt authentisch, spannend und in einer bestechend schlichten Art ihre Familiengeschichte aus der Zeit der letz¬ten einhundert Jahre. Man wird hineingenommen in die Verluste, Schikanen und den extremen Mangel an Lebens¬gü¬tern, den viele Menschen in Russland während der kommunisti¬schen Revolution von 1917, den zwei Weltkriegen und den Jahren danach erlitten. Der Glaube, obwohl bekämpft und unterdrückt, erwies sich als starke Kraft, musste aber auch immer wieder leben¬dig gehalten werden. Die sehr persönlich erzählte Lebensgeschichte steht exemplarisch für viele andere. Sie atmet trotz allem Leid eine tiefe Dankbarkeit gegen Gott und ist durchtränkt von Hoffnung und einem unbän-di¬gen Lebenswillen.

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Sie gaben nie auf – trotz Schurken und SchikanenEine Familiengeschichte

Autor: Helene Rempel Herausgeberin: Katharina Heinrich

Helene Rempel, geboren 1937, ist seit 50 Jahren mit Wilhelm Rempel verheiratet. Die beiden haben vier Kinder und zehn Enkel und leben in Reichshof-Eckenhagen, NRW.

Jedes Leben ist bemerkenswert. Jedes Leben verändert die Welt.

(Matthias Brömmelhaus)

Stirbt ein alter Mensch, dann verbrennt eine ganze Bibliothek.

Helene Rempel

Sie gaben nie auf – trotz Schurken und Schikanen

Eine Familiengeschichte

Herausgeberin:

Impressum

1. Auflage Erstausgabe Mai 2017

Autor: Helene Rempel Herausgeberin: Katharina Heinrich Die Rechte des Textes liegen bei Katharina Heinrich [email protected]

Lektorat/Korrektorat: Reiner Weber-Nobis Buchsatz & Umschlag: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeberin

Lass mich!

1. Kapitel: Die Vorgeschichte

Aller Anfang ist schwer …

Unsere Vorfahren

Familie Harms, unsere Großeltern väterlicherseits

Kronsgarten in Südrußland

Kurzer Stammbaum väterlicherseits

Unser Vater Franz

Familie Thun, unsere Großeltern mütterlicherseits

Kurzer Stammbaum

Der Hausbau

Der Sonnenstich

Unsere Mutter Helene

Ende der Kindheit?

Zu Besuch bei Mama

Großmutters letzte Jahre

2. Kapitel: Unsere Eltern. Die gemeinsamen Jahre.

Franz und Helene gründen eine Familie

Im Schneesturm

Leidgeprüfte Eltern

Eine unverhoffte Begegnung mit Folgen

Wieder in Stepanovka

Der Überfall

In Todesgefahr

Die Rückkehr aus Moskau

Das Elend der Kolchosen

Der Anfang in Klubnikowo

Was der kleine Landstreicher Willi ausheckte

Zwei mutige Freundinnen

Anna wird krank

Mutter lernt Russisch

Vater und die Wölfe

Die Verhaftung

Besondere Gelegenheit verpasst!

3. Kapitel: Vaterlos

Ein plötzlicher Umzug

Annas „Sonnenuntergang“

Annas Beerdigung

Überraschende Nachricht von Vater

Mutter baut ein Häuschen

Der Schürhaken

Die Melkerin als Feldarbeiterin und Wächterin

Tina in der Schule und zu Hause

Schöne Momente mit Mama

Weihnachtsgeschenke

Die Frau eines Volksfeindes

Wie der Lohn in Naturalien ausgezahlt wurde

Tina wird krank

Was die Armut mit den Menschen macht

Mutters besondere Träume

4. Kapitel: Der Krieg bricht aus!

Tinas erster Schlaganfall

Quer im Bett

Maria hat Typhus

Die Ausmusterung

Der unerwartete Besuch

Wächterin der Getreidespeicher

Tinas 2. Schlaganfall

Marias erste Schuljahre (1943-45)

Die Steuern und der „Plan“

Die große Steuersumme

Der dritte Schlaganfall

5. Kapitel: Die Nachkriegsjahre

Der Deserteur

Meine ersten beiden Schuljahre (1945-47)

Menschengemachte Hungersnot und die „Nummerndörfer“

Marias letztes Schuljahr (1946-47)

Der böse Hund und der Mantel

Ende der Schulzeit

Drei Brote

Brot Nr. 1, oder wie ich das Gehen verlernte

Brot Nr. 2, in Novo Spasskoje

Das Brot Nr. 3 kam durchs Fenster

Ein schwerer Vorfall

6.Kapitel: Mein Arbeitsleben

Unser Alltag und Arbeitsleben in den Jahreszeiten

Ein neuer Chef macht vieles besser!

Endlich Urlaub oder was?

Die Raupenplage

Die Zuchtbullen

Eine Verfolgungswelle

Endlich geht es aufwärts!

7. Kapitel: „Machtwechsel“ auf höchster Ebene und die Auswirkungen

Stalins Tod

Die Typhus-Epidemie

Der Tod „huckepack“

Die Heuschreckenplage (man glaubt es ja kaum!) 1955

Erweckung und die erste Taufe

Folgen der Heuschreckenplage

Der schreckliche Schneesturm, der Menschenleben forderte

Eine neue Fertigkeit angeeignet

Ein schwerer Unfall

Unser Erdhäuschen gibt den Geist auf

Hausbau mit Hindernissen

Ein schlimmer Unfall und große Bewahrung!

Der Bau geht weiter

Doppelter Betrug

Rückblick zwischendurch

8. Kapitel: Das Leben ist ein Abenteuer!

1959 – die erste Fernreise, Motorradkurse, neue Freunde und mehr!

Meine Anfrage nach Moskau oder Vater posthum rehabilitiert

Postträgerin

9. Kapitel: Mein geistliches Leben

Etwas Neues bahnt sich an

Die abenteuerliche Reise nach Barnaul (1965)

„Abrahams Kinder“

Im Gefängnis

Wie die Christen in Sibirien mit Verfolgung umgingen

Konsequenzen der Barnaul-Reise und Gottes Führung

Der Reiseprediger Onkel Kran

Zwei Verhöre

10. Kapitel: Ein neuer Lebensabschnitt beginnt!

Endlich erlöst!

Die Leere wird neu gefüllt

Wir heiraten!

Konsequenzen der kleinen Erweckung

Kriegsalarm!

11. Kapitel: Unsere Kinder

Tina, unsere Erstgeborene

Willi, der Stammhalter ist da!

Der dritte Kriegsalarm

Jakob kommt zur Welt

Leni, das Nesthäkchen ist da!

12. Kapitel: Die letzten Jahre in Russland

Eine einmalige Chance

Meine neue Arbeit als Milchlaborantin und die Prämie

Unsere Reise nach Zentralasien

Mutter stirbt

Und wieder mal ein Hausbau!

13. Kapitel: Unsere Ausreise nach Deutschland

Wir kommen auf die Idee, auszureisen!

Die Reiseerlaubnis und der Kampf um die Freiheit

Die Ausreise – jetzt wird es ernst!

Unser Anfang in Deutschland

Die Übergangslager und erste Schritte in Deutschland

Erste eigene Wohnung und erste Freunde in Deutschland

Meine erste Arbeit in Deutschland

Die Ausbürgerung

Schlusswort

Anhang I: Wie die Deutschen nach Russland kamen. Ein kurzer geschichtlicher Abriss.

Anhang II: Repressalien der 30-er Jahre und das Schicksal von Franz Harms. Geschichtlicher Abriss der Herausgeberin

Bibliographie

Vorwort der Herausgeberin

Dass es dieses Buch gibt, ist für mich ein richtiges Wunder! Ich bin meinen Eltern jahrelang mit der Bitte in den Ohren gelegen, ihr Leben aufzuschreiben. „Es glaubt sowieso niemand, wenn ich aufschreibe, was wir erlebt haben“, sagte Mutter immer. Oder „es ist zu traurig, wir hatten nicht viel zu lachen“. Das stimmt zwar, aber nur zum Teil. Ja, es gab viel Schweres und Trauriges, Unmenschliches sogar. Aber immer wieder gab es auch lustige Momente, witzige Bemerkungen, unerwartete Schicksalswendungen.

Das vorliegende Buch ist ein buntes Mosaik und zugleich ein kleines Puzzlesteinchen im Gesamtbild des 20. Jahrhunderts. Es ist so vielfältig und überraschend wie das Leben selbst. Wenn ich an das Schicksal meiner Mutter denke, dann kommt mir das Bild einer Blume in den Sinn, die sich durch den Asphalt gekämpft hat. Mutter hat einen starken Geist und einen festen, aufrechten Charakter, den keine Widrigkeiten zerstören konnten. Diese Stärke schöpft sie aus einer ewigen Quelle, die schon ihre Mutter, unsere Oma aufrecht gehalten hat und zu der Mama bereits als Kind Zugang fand: dem Glauben an Gott.

Mit denkbar schlechten Startbedingungen, vaterlos, halb verhungert, kaum Bildung, hat sie, sobald es ihr möglich war, ihre Flügel ausgebreitet und sich auf das Abenteuer „Leben“ eingelassen. Obwohl sie die Jüngste war, fällt auf, wie viel Initiative und Mut sie entwickelte! Mutter ging Risiken ein, bestand Abenteuer und ließ sich durch nichts einschüchtern oder zurückhalten! Vielleicht war es auch einfach der Trieb, sich nicht unterkriegen zu lassen, der sie dazu brachte, als junges Mädchen einen Motorradführerschein zu machen oder ferne Zugreisen zu unternehmen. Ein Satz, den ich oft von ihr gehört habe, lautet: „Wenn andere es schaffen, dann schaffe ich es auch!“ Sie hat einfach nie aufgegeben und nie aufgehört, etwas Neues anzufangen! Als ich 1997 nach England ging, um Englisch zu lernen, fing sie auch an, Englisch zu lernen. Sie besitzt ein englisches Neues Testament und liest hin und wieder englische Andachten. Mit über 60 Jahren lernte sie noch, mit dem Computer umzugehen und hat den gesamten Text dieses Buches selbst eingetippt! Als ich Anfang 2000 nach Russland ausreiste, lernte sie, wie man E-Mails schreibt, um mit mir in Verbindung zu bleiben.

Mutter hat sich auch die Reiselust und Neugier bis ins hohe Alter erhalten. Sie ist drei Mal in Israel gewesen, das letzte Mal im Jahr 2011 und wäre gern noch einmal hingefahren, aber da durfte sie aus Gesundheitsgründen nicht mehr. Auch hat sie sich ständig selbst Neues beigebracht, ob es sich um ausgefallene Rezepte oder komplizierte Handarbeiten wie Hardanger Stickerei handelte. Und was sie an Büchern verschlungen hat! Bis heute liest sie viel und gern und ist eine begnadete Erzählerin!

Ja, unsere Mama hatte kein einfaches Leben, aber sie hat das Beste draus gemacht! Da sie nun schon fast 80 ist, müssen wir uns darauf einstellen, dass sie eines Tages heimgeht zu ihrem „Guten Hirten“ und den vielen Lieben, die ihr voraus gegangen sind: ihre Eltern und vier Geschwister sowie manche Freunde. Aber durch das vorliegende Buch kann Mutters Leben auch nach ihrem Tod noch sprechen. Es ist nicht nur ein Zeugnis einer starken Frau, sondern spricht laut von der Treue und Kreativität Gottes, der aus furchtbaren Umständen etwas derart Schönes gemacht hat!

Mir war es ein echtes Vergnügen, die Notizen meiner Mutter zu ordnen, Überschriften zu finden und dem Ganzen Gestalt zu geben. Dabei ist mir bewusst, wie viel es noch zu erzählen gäbe, denn solch ein langes und ereignisreiches Leben passt niemals auf einige Hundert Seiten! Man könnte zum Beispiel erzählen, wie Mutter einmal Oma vom Rücksitz ihres Motorrads „verlor“ auf ihrer Reise zu Verwandten. Eine weitere etwas kuriose Geschichte war es auch, als wir 1978 ein 20 Jahre altes Auto von Onkel Isaak, Mutters Cousin kauften. Der hatte sich ein neues Gefährt angeschafft und hätte uns seinen alten Moskvitsch gerne geschenkt. Leider ging das aus rechtlichen Gründen nicht. Aber er konnte uns das Auto aufgrund der Verwandtschaft mit Mutter etwas billiger verkaufen. Dafür gehörte der Wagen nun Mutter und Vater musste immer eine Vollmacht mit sich führen. Sonst hätte er bei einer der häufigen Dokumentenkontrollen große Strafen zahlen müssen, weil er mit einem „fremden“ Auto unterwegs war. Der Wagen hat uns noch bis zu unserer Ausreise nach Deutschland gedient. Allerdings nur im Sommer – im Winter streikte die Batterie und Winterreifen gab es auch keine.

Auch viele andere Erlebnisse müssen ungenannt bleiben. Dennoch ist dieses Buch ein echter Schatz! Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den vielen Menschen bedanken, die zur Gestaltung dieses Buches beigetragen haben, auch im Namen meiner Mutter! Zunächst danke ich ihr selbst für das jahrelange Aufschreiben und späteres Eintippen ihrer Erinnerungen. Ein großes Dankeschön gilt Traudel Schieber, die den Erstentwurf gelesen und viele wertvolle Anmerkungen gemacht hat. Auch Sandra Berke (geb. Althöfer), die Schulfreundin meiner Schwester, hat zur Verbesserung des Textes beigetragen. Korrektur gelesen haben außerdem Matthias und Christine Steup sowie Rainer Weber-Nobis, um nur einige zu nennen. Die Bildbearbeitung hat Irina Repp gemacht, auch dafür herzlichen Dank! Dr. Helmuth Egelkraut danke ich ganz herzlich für den Klappentext, den er trotz vollem Terminkalender geschrieben hat. Ein weiterer Dank gilt den vielen Freunden, die uns immer wieder ermutigten, diese wichtige Sache durchzuziehen. Die Namen kann ich hier gar nicht alle aufzählen.

Übrigens, das Leben meines Vaters ist nicht minder spannend, wir sind nur noch nicht dazu gekommen, sein Leben auf diese Art festzuhalten.

April 2017, Katharina Heinrich, geb. Rempel

Die Autorin freut sich über Rückmeldungen, Fragen und Anmerkungen zu ihrem Buch unter der Anschrift: Helene Rempel, Im Grund 17, 51580 Reichshof oder elektronisch unter: [email protected]

Lass mich!

Die kleine Justa zappelte auf dem Arm ihrer großen Schwester. Immerhin hatte sie vor Kurzem laufen gelernt und fand es nun wesentlich interessanter, im Hof die Hühner aus dem Schatten der Büsche zu scheuchen, als von Helene herumgetragen zu werden. Außerdem gab es hinter dem Haus eine Sandgrube, in der sie am liebsten mit Gerhard und Maria, ihren Geschwistern, spielte.

Woher sollte das gerade mal elf Monate alte Kind aber auch wissen, dass die Mutter dem älteren Mädchen befohlen hatte, es nicht vom Arm zu lassen, wenn der Vormund vorbeikommen würde? Der Mann saß jetzt mit Mutter in der guten Stube. Helene wusste, dass es um sie ging. Schon seit dem Tode des Vaters letzten Sommer wollte Onkel Wiens, dass sie sich als Magd verdingen und damit zum Auskommen der Familie beitragen sollte, wie ihre drei älteren Schwestern. Das bedeutete, dass sie zu einer wohlhabenden Familie ziehen würde, um dort für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Der Mutter war es bisher gelungen, den Vormund davon zu überzeugen, dass die Achtjährige dringend in der Familie gebraucht wurde. Zumindest, solange das jüngste Kind noch nicht laufen konnte. Helene selbst graute es davor, von der Familie wegziehen zu müssen. Wie sollte sie ohne ihre Mama und Geschwister leben? Jetzt, wo sie schon ihren Papa verloren hatte. Sie würde alle ganz fürchterlich vermissen, besonders den kleinen Sonnenschein Justa! Die war noch zu klein, um zu begreifen, wie schwer es die Familie hatte. Es war aber auch ein schlimmer Sommer gewesen, damals vor einem Jahr. Dabei hatte alles so verheißungsvoll ausgesehen im Frühsommer 1914…

1. Kapitel: Die Vorgeschichte

Schematische Darstellung eines Teils unserer Ansiedlung. Quelle und Rechte konnten leider nicht festgestellt werden.

Deutsche gab es in Russland schon immer, wenn auch nur vereinzelt. Ab dem 17. Jahrhundert gab es zunächst unter dem Zaren Peter I. und später unter der Zarin Katharina II. mehrere Einwanderungswellen aus Deutschland nach Russland. Die ersten Einwanderer – meist Mennoniten – siedelten in der Ukraine. Als das Land dort knapp wurde, wanderten Ende des 19. Jahrhunderts viele jungen Familien weiter östlich und ließen sich in den weiten Steppen am Südural nieder. Unser Dorf Klubnikowo wurde 1898 gegründet. Etwa um dieselbe Zeit wurden auch für Kubanka, Stepanovka, Dolinovka (Nr. 9) [1], Rodnitschnoje (Nr. 10), Dobrovka (Nr. 11), Kitschkass (Nr. 12), Alisowo und viele weitere die Grundsteine gelegt. Im Anhang finden sich weitere Informationen zu dem geschichtlichen Hintergrund dieser Ereignisse.

Aller Anfang ist schwer …

… heißt es in einem Sprichwort, und so war es auch für diese Anfänger sehr, sehr schwer. Was sie an Werkzeugen, Maschinen und Möbeln mit großer Mühe und viel Beschwerden mitgebracht hatten, wurde ihnen von den Baschkiren in der Umgebung schonungslos geklaut. Die Deutschen hatten wirklich sehr gute Geräte dabei! Wir haben noch Jahrzehnte später mit einigen dieser Geräte und Maschinen gearbeitet. Da waren Mähmaschinen, die wir Grasmaschinen nannten. Man spannte drei Pferde davor und so wurde Gras gemäht. Die Maschinen waren aus Eisen und hatten den Namen ihres Besitzers eingegossen. Da stand auf einer der Grasmaschinen in großen Buchstaben „Neufeld“. Aber auch jedes andere Gerät hatte seinen Namen. Da waren Maschinen zum Getreidedreschen, auch Pflüge und Eggen waren da. Man hatte alles mit, was für ein Leben auf dem Lande gebraucht wurde.

In den Steppen lebten schon Russen und Baschkiren. Die neuen deutschen Dörfer waren zunächst nur klein und lagen zudem ziemlich weit auseinander und die einheimischen Bewohner waren flink und auf leichte Beute aus. Als sie merkten, dass neue Siedler eingetroffen waren, da erschienen sie auch bald. Es war ihnen nicht zu viel, auch von weither zu kommen. Sie besuchten die neuen Ansiedlungen und lernten die Deutschen kennen. Diese waren arglos und freundlich zu ihnen. Sie zeigten den Besuchern ohne Bedenken, was sie sich für den Anfang mitgebracht hatten, erklärten, wie sie es machen wollten und wie froh sie waren, in solch schönes Land gekommen zu sein! Die Baschkiren merkten sich manches und kamen dann nachts, um zu holen, was ihnen gefallen hatte. Mit reicher Beute machten sie sich dann davon.

Freilich, Geld hatten die jungen Leute auch nicht viel. Das Wichtigste, was sie hatten, war ihr Vieh. Sie hatten Pferde, Kühe und Schafe, alles, was sie zum Leben ganz dringend brauchten, mehr nicht. Darum war die Übersiedlung so schwer und dauerte sehr lange. Am wichtigsten waren ihnen die Pferde. Und da kam es oft vor, wenn der junge Bauer am Morgen aufstand, waren seine Pferde nicht mehr da. Die Baschkiren hatten sie in der Nacht gestohlen. Da stand der arme Mann dann hilflos da. Er konnte nirgends hinfahren, konnte sich nichts holen, er konnte gar nichts ohne seine Pferde. Meist haben die anderen Männer sich dann erbarmt und wer konnte, lieh dem Bestohlenen ein Pferd, so dass er doch sein Land pflügen und besäen konnte. Wenn dieser dann von seiner Ernte etwas verkauft hatte, dann wurde als erstes wieder ein Pferd gekauft! Weil alle in gleicher Lage waren, und weil man wusste, dass es jeden treffen konnte, waren die Siedler sich sehr einig und haben sich immer gegenseitig geholfen. Dadurch wurden sie stärker und kamen voran. Irgendwann stellten sie Wachen auf. Es war für sie auch nicht leicht, nach einem schweren Arbeitstag die Nachtwache anzutreten. Aber alle nacheinander kamen einmal dran, um in der Nacht die Baschkiren zu verscheuchen. Manchmal mussten sie großen Lärm machen, damit sie nicht beraubt wurden. Die Nachtwache hat ihnen dann auch wirklich geholfen: Die Baschkiren sahen ein, dass sie nicht mehr so einfach auf Beute gehen konnten und das Stehlen wurde weniger.

Anfänglich mussten die jungen Leute sich etwas Einfaches zum Wohnen anfertigen. Keiner von ihnen hatte so viele Mittel, dass er sich gleich ein richtiges Haus bauen konnte. Das kam erst mit der Zeit. So bauten sich die Meisten erst ein Erdhäuschen. Es musste aber doch so stabil, dicht und warm sein, dass sie den kalten sibirischen Winter überleben konnten und vielleicht nicht nur einen. Daniel Hoppe, den wir als alten Großvater noch kannten, hat uns manches aus der Anfangszeit erzählt. Er starb in den fünfziger Jahren. So erzählte er aus der Zeit, als sie noch in ihrem Erdhäuschen lebten. Seine Frau hatte ihr erstes Kind geboren und es war sehr eng in ihrem Stübchen. Sie hatten ein Bett, einen Tisch und dazwischen stand die Wiege. Es mag noch eine Sitzgelegenheit gegeben haben. Als das Kind in der Nacht unruhig wurde, stand die Frau auf, um es zu versorgen und zündete die Petroleumfunzel an. Der erste Winter war gerade vorbei und nun im Sommer hatten sie das Fenster in ihrem kleinen Zimmer nachts offen. Als Frau Hoppe ihr Lichtlein angezündet hatte und sich über die Wiege beugte, merkte sie, dass jemand von unterm Tisch zu ihrem Licht blies, um es zu löschen. Einmal und ein zweites Mal. Da wurde ihr unheimlich zumute und sie rief ihren Mann: „Du, wo ist die Flinte?“ Sie hatten nämlich über ihrem Bett eine Flinte hängen, die diente zur Abwehr von wilden Tieren, die es in Mengen gab, denn es war ein wenig bewohntes Gebiet. Onkel Hoppe, müde von der Tagesarbeit, antwortete ihr im Halbschlaf: „Die ist nicht geladen.“ „Was?“ schrie die Frau, drehte sich um, schnappte sich die Flinte von der Wand und sagte: „Damit werde ich jetzt zurechtkommen!“ In dem Moment, als sie die Flinte ergriff und sich umdrehte, hatte der Mann unterm Tisch das Licht gelöscht und sprang zum Fenster raus! Frau Hoppe, am ganzen Leibe zitternd, zündete das Licht wieder an und versorgte ihr Kind. Es war wohl jemand gewesen, der sich durchs Fenster eingeschlichen hatte, um sie zu berauben. Diesmal war es ihm nicht gelungen, sie waren bewahrt geblieben. Aber solche Fälle haben die Siedler zu der Zeit in Mengen erlebt.

Das Land war wirklich gut und so gab es reiche Ernten. Das verkaufte Getreide war die einzige Einnahmequelle der Neuankömmlinge, wovon sie ihr Leben bestritten und ihr Vermögen verbesserten – wenn es denn gut ging. So hatte der eine junge Bauer reichlich Geld eingenommen durch den Verkauf von seinem Getreide und etwas davon gespart. Nun wollte er nach Pokrowka – das war die nächste Eisenbahnstation und ca. 90-100 Kilometer entfernt – um dort Holz für ein richtiges Haus zu kaufen. Die Lehmziegel hatte er schon angefertigt. Das machten die Leute alle gemeinsam. So fuhr dieser Bauer mutig los, in der Hoffnung, gutes Holz zu kaufen. Er kam glücklich dort an, kaufte das Holz und verlängerte mit einem Teil davon seinen Wagen, so dass er die langen Balken und Bretter gut verladen konnte. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause. Aber weil es eine recht lange Strecke war, konnte er sie nicht an einem Tag mit den Pferden bewältigen. Er musste irgendwo übernachten. Da wurde er von Baschkiren überfallen und ausgeraubt. Sie nahmen ihm einfach alles: Pferde, Wagen, Holz und was er sonst noch bei sich hatte! Er kam grad noch mit dem bloßen Leben davon! Zu Fuß brauchte er etliche Tage, bis er traurig und mutlos in seinem Dorf ankam. Kann man sich vorstellen, wie ihm zumute gewesen sein muss? Da sind die anderen Siedler wieder zusammengerückt und haben ihm nach Möglichkeit geholfen. Denn keiner von ihnen wusste, wann er in eine ähnliche Lage geraten könnte.

Die beiden Weltkriege trafen auch die deutschen Dörfer hart. Viele verarmten und die Dörfer verkamen. Die Leute mussten arbeiten, ohne Lohn zu bekommen. Viele haben sich einfach nur „durch-gehungert“. Da wurde an Dorfpflege kein Gedanke verschwendet. Erst in den fünfziger Jahren kamen die Menschen langsam wieder auf die Beine. Die Arbeit wurde endlich bezahlt, wenn auch nur spärlich, aber wir bekamen doch jeden Monat ein wenig Geld. Und die Leute waren ja nicht faul! Es wurden gute Häuser gebaut und Bäume gepflanzt. Sogar wir, meine Schwester Maria und ich, haben mit einiger fremder Hilfe, die wir aber alle bezahlten, im Jahr 1957 ein richtiges Haus gebaut. Obwohl unsere Mutter in diesem Jahr so schwer unter Rheumatismus litt, dass sie manchmal nicht einmal imstande war, den Löffel zu halten, um unsere kranke Schwester Tina zu füttern. Aber wir haben es geschafft! Das alte Erdhäuschen hatte uns neunzehn Jahre gedient. Nun schafften wir es von Hand mit dem Schubkarren weg, legten ein Fundament aus Steinen und bauten ein Haus. Es war für uns auch nicht leicht. Da wir keinen Vater oder Bruder hatten, mussten wir alles selbst machen. Und zudem jeden Tag von früh bis spät zur Arbeit gehen. Aber bei der Auswanderung nach Deutschland Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre hinterließen wir Deutsche blühende Dörfer.

Unsere Vorfahren

Wir können unseren Stammbaum von der Harms Seite bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts verfolgen. Viele Stammbücher, die vor allem unsere Großmutter väterlicherseits als Hebamme besaß, sind in den schweren Jahren verloren gegangen. Manches wurde konfisziert, weil nach der Revolution 1917 alles Deutsche verdächtig war. Anderes ist als Brennmaterial drauf gegangen, als es ums pure Überleben ging. Deshalb sind wir umso dankbarer für alles, was wir über unsere Vorfahren wissen, sei es aus Erzählungen der Älteren oder was unsere Kinder in ihren Bemühungen um die Ahnenforschung im Internet und verschiedenen Datenbanken finden konnten.

Familie Harms, unsere Großeltern väterlicherseits

Kronsgarten in Südrußland

Im Jahre 1794 beschloss eine Gruppe von ca. 15 Familien aus dem Dorf Schönwiese, Kolonie Chortiza ohne Anführer in den Regierungsbezirk Mariewerder, was später Kronsgarten genannt wurde, umzusiedeln. Das liegt in der heutigen Ukraine im Gebiet Dnepropetrovsk. Die Siedler fanden neben ihrem Ansiedlungsplatz zwei Gebäude vor, die der Regierung gehörten. Darin konnten sämtliche 15 Familien bis zur Erbauung ihrer eigenen Häuser unterkommen. Die Zarenregierung half ihnen mit Bauholz beim Neuanfang. Die ersten Häuser wurden 1797 gebaut.

Die neue Kolonie wurde in der Niederung des Flusses Kiltschin angelegt, zwischen der Provinzhauptstadt Jekaterinoslaw (heute Dnepropetrovsk) und der Kreisstadt Nowomoskowsk. Das Flüsschen Kiltschin, das in südöstlicher Richtung die Ländereien dieser Kolonie durchfließt, ergießt sich in den Samarafluss, welcher weiter in den Dnepr fließt. An dieser Stelle stand in früherer Zeit eine Kronsgartenanlage, eine Gartenanlage, die der „Krone“, also der Regierung, gehörte. Davon zeugten damals aber nur noch verkrüppelte Kirschbäume. Diese Spuren einer Gartenanlage veranlassten die Ansiedler dazu, der Kolonie den Namen Kronsgarten zu verleihen [2].

Das Dorf, das von den 15 Familien zwischen den beiden Städten angelegt wurde, war recht hübsch, ganz der Schönheit seines Namens entsprechend, aber zu niedrig gelegen. Bei hohem Wasserstand war es Überschwemmungen ausgesetzt. Eine besonders schlimme Überschwemmung traf Kronsgarten im Jahr 1845. Sie vernichtete die gesamte Ernte und auch die meisten neu angepflanzten Obstbäume. Daraufhin beschlossen die Siedler, den Ort an eine höhere Stelle zu verlegen. So bauten sie von Neuem ihre Häuser, Schulen für die Kinder, Bethäuser und Windmühlen, diesmal aus gebrannten Ziegeln. Unter den Einwanderern muss sich auch eine Familie Harms befunden haben. Oder sie sind im Laufe der Jahre hinzugezogen, denn 1854 wird hier unser Großvater,Heinrich Harms, geboren, dessen Vater Peter Harms 1820 zur Welt kam. Vermutlich wurde er auch schon in Kronsgarten geboren, aber sicher ist das nicht.

Kurzer Stammbaum väterlicherseits

Wann unsere Urgroßeltern Peter Harms und Sara, geborene Abrams die Ehe eingegangen sind, ist uns nicht bekannt, aber sie hatten vier Söhne und eine Tochter, deren Name und Geburtenfolge uns ebenfalls nicht bekannt sind. Vielleicht ist sie früh gestorben? Das war damals keine Seltenheit. Die Namen der Söhne sind:

Gerhard  1850

Heinrich

  1854

Isaak  1856

Jakob  ?

Unser Großvater Heinrich Harms ist am 15. September 1854 geboren und am 11. November 1879 hat er Anna Kröker, geb. am 11. August 1860 im Dorf Margenau, geheiratet. Annas Eltern, unsere Urgroßeltern von der anderen Seite waren Jakob Kröker und Anna geb. Braun. Was wir von dieser Urgroßmutter wissen, ist, dass sie eine berühmte Hebamme war. Dieses „Handwerk“ hat sie ihrer Tochter, unserer Großmutter Anna Harms, weitergegeben.

Aus der Ehe von Heinrich und Anna Harms entstammen acht Kinder, eine Tochter und sieben Söhne.

Anna

[3]

26. März 1886, Hamberg

[4]

Heinrich 21. Mai 1888, Hamberg

Gerhard 25. Juli 1890, Hamberg (gest. 28. Jan.1906 in Stepanovka)

Jakob 11. Juni 1892, Hamberg (gest. 31. Jan. 1901 in Stepanovka)

Peter 10. Juni 1894, Hamberg

Isaak 18. März 1897, Stepanovka

Bernhard 16. August 1901, Stepanovka

Franz

30. März 1906, Stepanovka

Unsere Großeltern, Heinrich und Anna Harms, haben sich irgendwann zwischen 1894 und 1897 im Gebiet Orenburg [5], im Dorf Stepanovka angesiedelt. Onkel Heinrich, der älteste Sohn von Großvater Heinrich Harms, hatte ein großes Haus gebaut, das letzte in der rechten Reihe, wenn wir von Klubnikowo nach Stepanovka gingen. Als unsere Eltern 1926 heirateten, wohnten sie noch kurz bei Großmama Anna. Sie war damals schon Witwe. Großvater war ein kränklicher Mann, auch nicht groß gewachsen. So mussten die Söhne von klein auf immer mit anpacken. Denn Großvater hatte viel Land, das bearbeitet werden musste. So waren die Söhne angelernt und gewöhnt zu arbeiten und wussten, dass man nur mit Fleiß etwas erreichen kann. Großvater ist am 15. Januar 1922 gestorben.

Um 1920-21. Meine Großeltern Anna und Heinrich Harms mit Franz (ca. 14), meinem Vater.

In den zwanziger Jahren war das Dorf noch nicht sehr groß, doch es gab schon ziemlich viele Bewohner. Ein Baschkirendorf, Kutlumbetowo, war ca. drei Kilometer von Stepanovka entfernt und etwa sechs Kilometer von Klubnikowo. Die Baschkiren machten den Deutschen immer noch zu schaffen. Diese mussten immer auf der Hut sein, damit sie nicht beraubt wurden. Trotzdem fehlte manchmal bei dem einen dies und bei dem andern das. Manchmal haben sie es sofort gemerkt. Wenn sie dann den Gaunern nachjagten, konnten sie noch manches retten, aber das war eher selten.

Eines Abends im Sommer – es dämmerte schon langsam – da merkten die Jungs, Vaters ältere Brüder, dass auf dem Hof etwas vor sich ging. Einer schaute zum Fenster raus. Da im Zimmer noch kein Licht brannte, konnte man von draußen nichts sehen, von innen dafür aber umso besser. Da rief er leise seine Brüder und sagte: „Guckt mal, was bei uns auf dem Hof vorgeht, aber seid still!“ Sie schauten heraus und sahen: Auf dem Hof, bei den Schafen waren zwei Männer. Sie fingen die Schafe, banden ihnen die Füße zusammen und trugen sie auf den Wagen, den sie hinter der Scheune abgestellt hatten. Einer der Jungs brauste sofort auf und wollte raus laufen. Doch die anderen hielten ihn zurück und sagten: „Wir machen es anders. Die müssen jetzt an unserem Garten entlang, dann unten rechts und über die Wiese zur Straße. Wir laufen vom Hof links auf die Straße und fangen sie ab. Diesmal entkommen sie uns nicht!“

Unterdessen hatten die Diebe mehrere Schafe gebunden, auf den Wagen gelegt und sich davon gemacht. Was waren sie überrascht, als ihnen plötzlich die jungen Burschen in den Weg traten und die Beute zurück verlangten! Sie kannten die Männer und die Männer kannten auch die Jungs. Als die Brüder Harms sie zur Rede stellten und sie bedrohten, da überkam sie eine so große Angst, dass sie nur noch um Gnade bettelten. „Nehmt Eure Schafe und vergebt uns noch dieses eine Mal! Wir werden nie mehr bei Euch stehlen! Nur lasst uns am Leben und schießt uns nicht tot!“ Die Brüder konnten sich vor Lachen kaum halten, aber sie ließen es sich nicht anmerken. So brachten die Diebe alle Schafe zurück, lösten ihnen die Fesseln und ließen sie zu den anderen. Ein Schaf haben die Brüder Harms den Dieben sogar gelassen. Dafür mussten diese aber versprechen, nie mehr zu stehlen, sonst würde es ihnen nicht gut bekommen. Das Versprechen haben die Männer gehalten und blieben dem Hof fern. Die Baschkiren vergessen nichts, ob Gutes oder Böses. Hat man einmal das Vertrauen eines Baschkiren gewonnen, so hat man einen treuen Freund. Unser Vater hat später manch einen Baschkiren zum Freund gehabt. Aber wenn man die Baschkiren nicht zum Freunde hat, dann ist es schlimm. Das haben wir auch erlebt.

Unser Vater Franz

Franz war der Jüngste in der Familie und ein echter Glückspilz! Weil er nach der Silberhochzeit der Eltern geboren war, wurde er in seiner Kindheit oft „der Silberne“ genannt. Er war also das Nesthäkchen, von allen geliebt, vielleicht auch etwas verwöhnt. Und so wuchs er heran als ein lustiger, fröhlicher Knabe. Die Brüder gaben alles für ihn und so bekam er mit 16 Jahren schon seine eigene Flinte. Er jagte Hasen, wilde Enten, Steppenhühner, usw. Seine Mutter wusste das freilich nicht und Großvater war gerade gestorben.

Die Brüder merkten, dass der junge Franz sehr begabt war. So wurden sie sich einig und sagten zu ihm: „Wir werden Dich alle zusammen unterstützen, damit Du die Möglichkeit hast, etwas zu lernen. Du kannst studieren und Dir einen Beruf erwählen, der Dir gefällt.“ Das war eine große Sache! Mutter konnte ihm als Witwe nicht viel bieten.

Franz wählte den Lehrerberuf. Als er die Schule beendet hatte und sich bewarb, um weiter zu lernen, wurden seine Zeugnisse überprüft und dann wurde ihm gesagt: „Du kannst studieren, aber das kannst Du als Fernstudium machen. Uns fehlen so dringend Lehrer in vielen Schulen. Wir schicken Dich sofort in ein entlegenes Dorf, wo Dich keiner kennt und keiner weiß, dass Du noch so jung bist und setzen Dich als Lehrer ein.“ So wurde es dann auch gemacht. So arbeitete Franz als Lehrer und verdiente sein eigenes Geld. Freilich war das anfänglich nicht sehr viel, aber er war schon nicht mehr ganz abhängig von seinen Brüdern. Damals war er gerade 17 Jahre alt. In den Ferien kam er nach Hause und half den Brüdern, wo er konnte. Abends war er mit der Dorfjugend zusammen. Am Ende der Ferien ging es dann wieder an seine Arbeit in die Schule, je nachdem, in welches Dorf er geschickt wurde.

Familie Thun, unsere Großeltern mütterlicherseits

Kurzer Stammbaum

Unsere Urgroßeltern:

Urgroßvater Peter Thun, geboren in Steinfeld, Ukraine, war verheiratet mit Justina Petker geboren in Rückenau, ebenfalls Ukraine. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: Susanne, Margarethe, Peter und Gerhard, unser Großvater.

Susanne heiratete einen Abram Janzen, Margarethes Mann hieß Derksen mit Nachnamen. Peter hatte mit seiner Frau (Name unbekannt) drei Kinder: Peter, Jakob und Helene.

Unsere Großeltern

Gerhard Thun 24. Mai 1867 in Steinfeld, getauft Pfingsten 1888 in Margenau

Helene Fast 13.August 1875 in Mariental, getauft Pfingsten 1895 in Margenau

Eheschließung 18. Februar 1897.

Kurz darauf zogen die jungen Leute von der Ukraine nach Russland in das Gebiet Orenburg, wo sie zunächst im Dorf Karaguj ansiedelten. Später wohnten sie in Seljonoje (ru: Grün).

Kinder aus dieser Ehe:

Katharina 6. April 1899 in Karaguj, getauft am 22. Mai 1917 in Stepanovka

Margarete 4. April 1901 in Karaguj, getauft am 9. Juni 1919 in Stepanovka

Susanne 26. Juni 1905 in Seljonoje, getauft am 16. Juni 1929 in Stepanovka

Helene 28. April 1907 in Seljonoje, getauft am 2. Juni 1926 in Stepanovka

Gerhard 11. Juni 1909 in Seljonoje

Maria 30. Juni 1912 in Seljonoje

Justina 16. Juni 1914 in Seljonoje

Unsere Mutter war schon die vierte Tochter und bekam den Namen ihrer Mutter, Helene [6].

Der Hausbau

Helenes Vater, mein Großvater Gerhard Thun, besaß im Russendorf Abramovka, etwa sechs bis acht Kilometer von Seljonoje entfernt, eine eigene Mühle, die er selbst bediente. Von fern und nah kamen Menschen, um ihr Getreide mahlen zu lassen. Nicht nur aus den deutschen Dörfern, sondern auch viele Russen aus den umliegenden Dörfern kamen. „Jegor“ – wie ihn die Russen nannten – war bei allen beliebt und geachtet. Großvater war aufrichtig und sparsam und hatte vor, seiner Familie ein größeres Haus zu bauen. Er hatte vor Jahren ein ehemaliges Lagerhaus gekauft, das zwar stabil gebaut, aber nicht sehr groß war. Es bestand zu großen Teilen aus Holz. Im Keller gab es geräumige Regale, die aus doppelten Brettern bestanden und früher zum Lagern von Stoffballen gedient hatten. Die Fußböden, Türen und Innenwände waren ebenfalls doppelt aus Holz gezimmert.

Die Familie hatte keine Knechte – man machte alles selbst. Nun wuchsen die Töchter heran. Vor allem die ältesten, Katharina und Margarethe, konnten schon tüchtig mit anpacken. Weil das Einkommen jedoch gering war, brauchte es seine Zeit, bis Großvater alles Nötige für den Bau zusammen hatte.1914 war es dann so weit. Er hatte von den Baschkiren Lehmziegel herstellen lassen, ausreichend für ein richtig großes Haus. Außerdem hatte er Holz für Fußböden, Zimmerdecken und den Dachstuhl gekauft. Alles lag auf seinem Grundstück bereit. Im Frühling bestellte er noch seine Felder und fing gleich danach mit dem Bau an. Dazu hatte er wieder Baschkiren eingestellt, denn allein konnte er diese schwere Arbeit nicht bewältigen. Inzwischen war das Fundament gelegt und die Wände bis zu den Fenstern hochgezogen. Die Türgerüste standen schon, auch die Fensterrahmen waren eingesetzt. Alle waren froh, dass es so weit war.

Der Sonnenstich

Dann kam die Heuernte. Diese Arbeit machte Gerhard Thun wieder mit seinen ältesten Töchtern, Katharina (15) und Margarete (13). Susanne (9) und Helene (7) halfen der Mutter in der Küche und mit den kleineren Geschwistern. Den fünfjährigen Gerhard und die zweijährige Maria konnte man ja schlecht mit dem Baby alleine lassen. Justina (Justa) war am 16. Juni zur Welt gekommen.

Großvater mähte also das Gras und brachte es, nachdem es getrocknet war, in den Heuschober auf dem neuen Grundstück. Man beabsichtigte, bis zum Winter fertig zu werden und dann musste alles an Ort und Stelle sein. Da wurde er plötzlich sehr krank und zwar bekam er einen Sonnenstich! Das geschah durch seinen alten Strohhut, der oben ein Loch hatte, durch das die Sonnenstrahlung direkt auf seinen Kopf fiel. Er starb an den Folgen.

Der 20. August wurde zu einem „schwarzen Donnerstag“ für die Familie. Helene erinnerte sich fast ein Jahr später noch genau an diesen Morgen und an den unglaublichen Schmerz, der sie durchfuhr, als man ihr sagte, ihr geliebter Papa sei tot. Die kleine Justa war gerade zwei Monate und vier Tage alt. Erst viel später erfuhr Helene, dass knapp drei Wochen vor ihrer persönlichen Tragödie der Erste Weltkrieg ausgebrochen war. Für Großmutter Helene war es ein besonders schwerer Schlag! Sie hatte als Waise jahrelang bei fremden Leuten arbeiten müssen, bis Großvater sie mit seinem Heiratsantrag befreite. Nun hatte ihre Kinder das gleiche Schicksal ereilt – sie würden ohne Vater aufwachsen müssen. Und sie selbst stand als Witwe da, ohne Angehörige, von denen sie Rat oder Hilfe erwarten konnte. Die Geschwister ihres Mannes wohnten in der ca. 100 Kilometer entfernten Samara-Ansiedlung und hatten genug eigene Sorgen. Zunächst hoffte Großmutter auf Hilfe seitens der Regierung, aber da wurde sie bitter enttäuscht…

In den Wochen nach Großvaters Tod haben sie alle oft und viel geweint. Manchmal war Helenes Kopfkissen nass von Tränen, bevor sie endlich einschlief. Tagsüber gelang es dann nur dem kleinen Wirbelwind Justa, die allgemeine Traurigkeit zu verscheuchen. Zugegeben, viel Zeit zum Trauern hatten sie sowieso nicht, da es von morgens bis abends im Haus und Hof genug zu tun gab. Aber nun sollte Helene fort, bei fremden Leuten im Haus und Hof dienen. Die Aussicht, ihre kleinen Geschwister wochen- oder gar monatelang nicht mehr sehen zu können, war für Helene eindeutig zu viel! Und wie sollte Großmutter mit all der Hausarbeit fertig werden? Nun ja, die kleinen Geschwister halfen schon mit, wo sie konnten. So war Gerhard für die Hühner zuständig: füttern und dafür sorgen, dass das Federvieh abends vollständig im Stall war. Er half auch mit den Kühen und Schafen. Beim Unkrautjäten im Garten halfen alle mit, manchmal sogar die dreijährige Maria, obwohl es ihr doch sehr schwer fiel, die nützlichen Pflanzen von den schädlichen zu unterscheiden. Oft mangelte es ihr auch an Ausdauer. Dafür konnte sie gut mit Justa spielen und auf sie aufpassen, wenn die anderen beschäftigt waren. „Oh, wenn es der Mutter doch bloß gelingen würde, Onkel Wiens, den Vormund, zu überreden, dass ich noch einige Monate zu Hause bleiben darf!“ dachte das Mädchen sehnsüchtig. Irgendwann gäbe es kein Entrinnen mehr, das wusste sie bereits, aber bitte noch nicht jetzt!

Unsere Mutter Helene

Auf einmal öffnete sich die Tür. „Helene, kommst Du mal?“ rief die Mutter. Am ganzen Leib zitternd setzte diese ihre kleine Schwester in den Hochstuhl und ging hinein. Sie traute sich nicht, die Augen zu heben und blieb in der Tür stehen, die Hände vor sich gefaltet. „Lenchen, Onkel Wiens hat eine gute Familie gefunden, die eine Magd braucht, Onkel Heinrich und Tante Neta Dickmann. Sie wohnen in Tschornojeosero (ru. „Schwarzer See“), also gar nicht so weit weg von uns. Du könntest uns etwa alle zwei oder drei Monate besuchen. Er ist bereit, Dich gleich dorthin zu bringen. Am besten legst Du Deine Schürzen und Hemden in ein Bündel und dann essen wir noch einmal alle zusammen zu Mittag, bevor er Dich hinfährt.“

Obwohl Mutter sich bemühte, tapfer zu klingen, hörte das junge Mädchen doch, dass sie den Tränen nahe war. Aber das durfte der Vormund natürlich nicht merken. Eine Witwe galt nicht als geschäftsfähig und hatte keine Rechte, deshalb war Onkel Wiens seit Großvaters Tod für die Familie zuständig. Helene verspürte einen dicken Kloss im Hals. Jetzt nur nicht weinen! Ändern konnte man es ohnehin nicht mehr. Sie musste da durch.

Ende der Kindheit?

Das Leben als Magd war kein Zuckerschlecken. Meist verdingte man sich für eine Saison, also vom Frühling bis zum Herbst. Danach konnten die Wirtsfamilie und auch die Magd entscheiden, ob das Verhältnis verlängert wurde oder nicht. Wechselte man in eine andere Stelle, gab es oft die Möglichkeit, für ein paar Wochen nach Hause zu kommen, bis die neue Stelle angetreten wurde. Manche Herrschaften waren sehr freundlich und großzügig, aber viele nutzten die Not der armen Leute schamlos aus und behandelten ihre Knechte und Mägde sehr schlecht. Unsere Mutter Helene hat beides erlebt und auch einiges dazwischen. Mal wurde sie in der Familie ihrer Arbeitgeber wie ein eigenes Kind behandelt, dann wiederum wie eine rechtlose Sklavin ausgenutzt.

Ihre erste Stelle trat sie mit acht Jahren bei der Familie Heinrich Dickmann an. Es waren junge Leute, die ein drei Monate altes Kind, Heini, hatten. Dort hatte sie es sehr gut! Die Eheleute betrachteten Helene nicht wie ein Dienstmädchen, sondern eher als eine arme Waise und behandelten sie wie ihr eigenes Kind. Helene hatte aber trotz der guten Behandlung öfters Heimweh nach ihrer Mama und den Geschwistern. Eines Tages beim Unkrautjäten erwischte es sie wieder. Sie schaute sich nach allen Seiten um und fragte sich: „In welcher Richtung wohnt nun meine Mama?“ Sie schaute und schaute, es war aber nirgends zu sehen, wo ein Weg über die Berge führte. Rundherum waren Berge und der Himmel hatte sich überall bis auf die Berge niedergelassen. Es wurde ihr schwer ums Herz. Sie dachte, „wenn der Himmel sich nun überall auf die Berge runtergelassen hat, dann bin ich nun von dieser Seite des Himmels und meine Mama von jener Seite. Also kann ich nie mehr zu ihr!“

Das war zu viel für das arme Kind, sie legte sich zwischen die Gemüsereihen und weinte und schluchzte vor sich hin. Sie wusste nicht, wie lange sie da geweint hatte, aber auf einmal fand sie eine von Onkel Dickmanns Schwestern, die bei ihm lebten. „Was ist denn das?“ fragte sie „warum weinst Du hier allein? Ist Dir was passiert, oder hast Du Dir weh getan?“ „Nein“, sagte Helene „nichts von alldem.“ Sie wollte zuerst nicht sagen was sie entdeckt hatte. Aber das Mädchen gab nicht nach, sie fragte immer wieder: „Was ist mit Dir und warum weinst Du?“ Schließlich sagte Helene zu ihr: „Es ist was ganz Schlimmes passiert. Schauen Sie doch mal selbst: rund um uns hat sich der Himmel runtergelassen bis auf die Berge. Nun bin ich auf dieser Seite des Himmels und meine Mama ist auf jener Seite. So kann ich nun nie mehr zu ihr, wie soll ich da nicht weinen?“ „Was sagst Du da, Kind?“ sagte das ältere Mädchen. „Wo nimmst Du so was her? Oder wie ist Dir so was eingefallen?“ Und dann fing sie an zu lachen. „Komm“, sagte sie, „wir gehen Mittag essen.“ Sie nahm Helene an der Hand und ging mit ihr ins Haus, wo das Essen auf dem Tisch dampfte. Das Mädchen konnte sich vor Lachen nicht halten und sagte: „Nun horcht mal alle her und Helene wird Euch erzählen, was sie entdeckt hat!“ Die Familie staunte. Sie konnten nicht verstehen, was hier vorging. Die Große krümmte sich vor Lachen, während der Kleinen dicke Tränen die Wangen herab kullerten und sie gar nichts sagen konnte. „Nun mal raus mit der Sprache“, forderte Onkel Heinrich sie auf. Er nahm Helene bei der Hand, zog sie zu sich und nahm sie auf den Schoß. So richtig liebevoll und väterlich fragte er sie: „Kannst Du mir sagen, was passiert ist?“ Helene war aber viel zu aufgeregt, ihr war das Herz so schwer, dass sie kaum was sagen konnte. Da erzählte die Schwester mit vielen Lachunterbrechungen, wie sie Helene im Garten gefunden und was die Helene entdeckt hatte.

„Beruhigt Euch nur alle! Wir werden mit Helene schon zurechtkommen“, sagte Onkel Heinrich. Sie setzten sich alle zu Tisch, er nahm das traurige Mädchen neben sich, sprach ihr Mut zu, und so wurde gegessen. Nach einer kurzen Mittagspause nahm Onkel Heinrich sie an der Hand und ging mit ihr in den Laden. Dort kaufte er ihr eine wunderschöne Schachtel vom teuersten Konfekt! Die Schachtel war von innen und außen mit weißer Spitze ausgeklebt, also ein wunderbares Geschenk für Helene. Dann versprach er, ihr zu erklären, wie das sei mit dem heruntergefallenen Himmel und versprach ihr außerdem, am Sonntag zu ihrer Mutter zu fahren. Da wurde sie wieder mutig und froh.

Am Sonntag nach dem Gottesdienst und Mittagessen wurden die guten Pferde vor die Droschke gespannt, dann setzte Onkel Heinrich sich auf den Kutschbock und nahm Helene zu sich. Seine beiden Schwestern und die junge Frau mit ihrem kleinen Heini nahmen hinten Platz. „Ihr werdet zur Strafe, weil Ihr so über Helene gelacht habt, hinten sitzen!“ sagte Onkel Heinrich zu ihnen. „Helene wird vorne neben mir sitzen, damit sie auch alles gut sehen kann.“ So saß sie nun vorne und starrte nur voraus, um zu sehen, wo sich der Himmel nun aufheben würde, damit sie durchfahren konnten. Währenddessen erklärte Onkel Heinrich ihr, was es mit dem Horizont auf sich hat und dass der Himmel sich immer weiter entfernt, wenn wir fahren oder gehen. So haben sie dann Großmutter besucht und Helene hat dieses Erlebnis ihr Leben lang nicht vergessen!

Nach den Dickmanns kam die jetzt Neunjährige zu Kliewers aus Suvorovka (Nr. 13). Hier erlebte Helene das genaue Gegenteil ihrer ersten Stelle!

Die Familie hatte drei Kinder. Der Älteste war sieben Jahre alt, das Jüngste, ein Junge namens Jascha, Koseform von Jakob, noch nicht ganz ein Jahr und einer dazwischen. Die Frau war froh, ein Dienstmädchen zu haben! Nun konnte sie sich alles erlauben, weil die Magd ihr den Haushalt vom Leibe hielt. Schon am ersten Tag musste Helene das Mittagessen kochen. Frau Kliewer sagte: „Helene, koch uns Reis zu Mittag. Aber da musst Du ganz besonders aufpassen! Sonst, geht die Milch über den Rand, wenn sie kocht und hoch kommt. Und dann behältst Du nichts im Grapen [7].“ Helene hörte sich das an und versprach, aufzupassen. Mit diesen Worten ging die Frau zur Nachbarin und ließ das junge Mädchen an ihrem allerersten Tag im fremden Haushalt allein. Diese holte Stroh und machte sich an die Arbeit. Dabei ging ihr der Satz ihrer neuen Herrin nicht aus dem Sinn. „Wieso meinte die Frau, dass ich nichts im Grapen behalte?“ dachte sie. „Ich habe ja schon manchmal gekocht und nie hat mir jemand so was gesagt.“ Na, sie heizte vorsichtig mit dem Stroh und rührte fleißig in ihrem Reis. Sie wollte ja auch nicht einen Tropfen überkochen lassen. Nach anderthalb Stunden kam die Frau mit den Kindern, die sie diesmal mitgenommen hatte, nach Hause. Gleich darauf kam auch der Mann von seiner Arbeit. Helene war gerade fertig mit dem Kochen und deckte schnell den Tisch. „Na“, sagte der Mann mit einem Mal, „was hast Du denn heute für Reis? So hast Du ihn noch nie gekocht!“ „Das Dienstmädchen hat heute gekocht“, sagte die Ehefrau spöttisch.

Da Frau Kliewer mit Helene zufrieden war, verlangte sie immer mehr von ihr. Bald stand sie morgens nicht mehr auf, um die Kühe zu melken, sondern überließ es ihrer jungen Magd. Es waren fünf Kühe, jede mit einem Kalb, das getränkt werden musste. Dann galt es, die Kühe zur Straße zu treiben, wenn der Kuhhirte früh morgens durchs Dorf ritt, um das Rindvieh auf die Weide zu treiben. Verpasste man die Herde, blieben die Kühe zu Hause und mussten auch noch versorgt werden. Danach ging es ans Milchschleudern, die Schleuder auswaschen, dem Mann das Frühstück richten. Es war ein einziges Jagen und Hetzten, um allem nachzukommen! Wenn das Frühstück fertig war, erschien auch Frau Kliewer, um mit ihrem Mann zu frühstücken. Als der Mann sah, dass alles so gut in Ordnung war, meinte er zu seiner Frau. „Wenn das alles hier so gut aussieht, hast Du ja nicht mehr so viel zu tun. Ich nehme Helene mit aufs Feld, sie kann mir dort helfen.“

So ging es dann auch. Nach dem Frühstück fuhr sie mit aufs Feld. Dann kochte die Frau die Mittagsmahlzeit und ging mit den Kindern schlafen. Helene spülte schnell das Geschirr, tränkte wieder die Kälber und wenn der Mann vom Mittagsschlaf aufstand, ging es wieder aufs Feld. Sie musste mit. Dabei hatte sie als Einzige keine Pause gehabt! Abends wiederholte sich alles. Nach dem Essen Geschirr spülen, das Jungvieh versorgen, den Kindern die Füße waschen und sie ins Bett bringen. Dann kamen die Kühe: melken, schleudern, spülen und, und, und. Wenn die anderen schon alle im Bett lagen, kam noch die Wäsche dran. Der älteste Sohn, Isaak, war nämlich behindert und machte alles in die Hosen. Da Frau Kliewer nun eine Hilfe hatte, warf sie alle dreckigen Hosen in der Küche in eine Ecke und Helene musste sie nach der Arbeit waschen. So kam sie selten vor Mitternacht zur Ruhe. Aber um vier, halb fünf musste sie wieder auf.

Dann gewöhnte sich Mutter Kliewer noch etwas anderes an. Anstatt den kleinen Jascha nach dem Abendessen schlafen zu legen, ging sie mit ihm ins Bett, legte sich ihn an die Brust und schlief ein. Wenn Helene dann endlich fertig war, hatte der Kleine ausgeschlafen und fing an, zu quengeln. Er wollte spielen, nicht schlafen! Da sprach Frau Kliewer mit ihrer Magd: „Sollte der Kleine weinen, dann gehst Du die Wiege schaukeln." Helene gehorchte. Sie war aber so müde, dass sie beim Schaukeln einschlief. Dann meldete sich der Kleine gleich und weinte wieder. Sie schaukelte weiter. Und so ging es Nacht für Nacht. Der Mann hatte schon manchmal seiner Frau gesagt; „Du, der Kleine ist unruhig.“ „Der wird gleich wieder still“, sagte sie dann.

Eines Abends, als Helene mit der Arbeit fertig war und sich eben ins Bett gelegt hatte, fing der Kleine wieder sein Konzert an. Sie stand auf, setzte sich neben die Wiege und schaukelte. Der Kleine weinte und sie schaukelte. Er war hellwach und wollte raus aus der Wiege, doch sie schaukelte und schaukelte immer stärker. Dabei war sie selbst todmüde und wollte einfach nur schlafen, aber der Kleine gab nicht nach. Dann kam ihr eine Idee, sie steckte ihre Hand unter seine Decke und drückte ihm sein zartes dickes Fleisch am Hintern zusammen. Nicht dass sie ihn richtig kniff, sie drückte einfach fest zu. Jascha schrie, sie wiegte und drückte ihn. Der Mann wachte auf und sagte zu seiner Frau: “Hörst Du nicht, wie der Kleine weint?“ „Der wird gleich aufhören“, sagte diese wie immer. Sie wusste ja, Helene ist an der Wiege und wird das Kind beruhigen. Aber diesmal war es anders: Helene wiegte und drückte ihn und er schrie aus Leibeskräften! Sie weinte auch selbst schon, vor Müdigkeit und Hilflosigkeit. Es tat ihr furchtbar leid um den Kleinen, aber sie konnte nicht mehr und irgendwie musste das alles mal ein Ende haben! Da wurde es dem Mann zu bunt, er sprang aus dem Bett und kam zur Wiege. Nun würde er mal den Kleinen beruhigen! Er trat herzu und sah das Dienstmädchen zusammengekauert bei der Wiege sitzen und schaukeln. Erschrocken sagte er: „Helene, was tust Du hier in der Nacht?“ „Ja“, sagte sie, „das muss ich doch jede Nacht machen.“ „Was?“ sagte er, „Du?“ „Ja, ich muss immer nachts die Wiege schaukeln, wenn er weint.“ „Aber jetzt marsch ins Bett! Und nicht noch einmal kommst Du nachts an die Wiege!“ Dann holte er seine Frau aus dem Bett und schimpfte richtig mit ihr. „Was denkst Du Dir? Helene ist den ganzen Tag am Arbeiten und dann soll sie noch nachts das Kind wiegen? Bist Du noch bei Trost? Das soll das letzte Mal gewesen sein! Hier nimm und versorge ihn!“ Helene war erleichtert, aber um den kleinen Jascha tat es ihr so leid, was sie ihm wohl angetan hatte, vielleicht hatte er da blaue Flecken bekommen? Am Tag schaute sie sich unauffällig den kleinen Hintern an, aber da war nichts zu sehen. Da war sie froh und von dieser Plage erlöst! Und noch mehr freute sie sich, als sie am Ende der Frist in eine andere Familie wechseln konnte.

Nach den Kliewers hat sie u. a. bei den Familien Peter Penner, Abram Janzen, Heinrich Harms, Daniel Hildebrand und wieder bei H. Harms gearbeitet. Das war ihre letzte Stelle bevor Vater sie heiratete. Alles kann man gar nicht erzählen, aber zwei weitere Stellen verdienen es noch, erwähnt zu werden.

Zu Familie Abram und Susanne Janzen kam Helene mit zehn oder elf Jahren und blieb eine längere Zeit, jedenfalls mehr als eine Dienstperiode, soviel ich mich erinnern kann, bis 1920 herum, als sie 13 wurde. Susanne Janzen war ihre Tante, die Schwester ihres verstorbenen Vaters, unseres Großvaters Gerhard Thun. Obwohl es nahe Verwandte waren, hatte sie es sehr schwer bei ihnen. Die Familie war wohl reich, aber leider war Tante Susanne ziemlich geizig. Die Butter durfte nur sehr sparsam aufs Brot gestrichen werden, sonst kratzte die Tante sie ab. Es war ihr sehr schnell zu viel, was gegessen wurde. Onkel Abram war zwar ein lieber, aber kranker und schwächlicher Mann, der nicht viel zu sagen hatte. Wenn er sich für Helene einsetzen wollte, wurde ihm das immer abgeschlagen. Aber Arbeit wurde viel von ihr verlangt. Sie musste drinnen allem nachkommen, beim Kochen immer dabei sein und dann auch noch viel im Stall beim Vieh helfen. Ja, mehr noch: am liebsten hätte sie das Mädchen für immer behalten! Helene musste richtig erfinderisch sein, um von dort weg zu kommen und ergriff ihre Chance, als reisende Evangelisten bei den Janzens übernachteten. Da war sie regelrecht verzweifelt, weil sie ein für sie erschreckendes Angebot ihrer nur wenige Jahre älteren Cousine Suse bekommen hatte. Helene war noch nicht lange im Dienst bei der Familie, als ihre Cousine zu ihr sagte: „Helene, Du bist ein gutes und fleißiges Mädchen. Sag doch Mama zu mir. Das wäre doch so gut, dann brauchst Du nicht immer wieder eine andere Stelle zu suchen und kannst Dich gut hier bei uns einleben.“ Damit war Helene keinesfalls einverstanden, sagte aber zunächst nicht viel dagegen.

Neben Onkel Abram war noch ein freundlicher Mensch auf dem Hof: der Knecht. Er hatte eine Tochter in Helenes Alter und ihm tat das Mädchen leid. Deshalb half er ihr, so oft er konnte, vor allem beim Wasserschleppen für die Apfelplantage.

So ging es Woche für Woche. Drinnen verlangte Tante Susanne das Unmögliche und dann war noch deren Tochter Suse da, die immer und immer wieder Helene ihr Angebot wiederholte, sie an Mutters Stelle anzunehmen. Langsam wurde Helene unwillig. Als sie eines Tages wieder im Garten beschäftigt war, kam die junge Frau zu ihr und sagte ganz eindringlich: „Helene, sag doch Mama zu mir! Ich nehme Dich gern als mein Kind an. Und wenn Du 20 Jahre alt bist, schenken wir Dir eine Färse und eine Kommode als Aussteuer.“ Das war zu viel! Sie war so beleidigt und verletzt, dass sie nicht mehr an sich halten konnte: „Nein!“ schrie sie. „Du bist meine Cousine und ich werde niemals Mama zu Dir sagen! Ich hab eine Mama und eine andere will ich nicht! Und Deine Kuh und Kommode will ich auch nicht! Ich will so schnell wie möglich weg von hier zu meiner Mama!“ „Wie willst Du denn da hin kommen? Das geht doch gar nicht. Es ist ein Weg von über 100 Kilometern, wie willst Du das schaffen?“ „Das weiß ich noch nicht, aber es wird schon irgendwie gehen.“ Damit hatte die junge Frau nicht gerechnet. Sie begriff aber, dass Helene sie niemals als Mutter akzeptieren würde. Und wie bereits erwähnt, schaffte diese es, von dort wegzukommen.

Ich kann nicht genau sagen, bei wem unsere Mutter danach im Dienst war, aber ihre vorletzte Stelle bei Hildebrands war wieder eine von der schwierigen Sorte. Sie kam im Herbst 1925 zu Daniel und Agathe, einer jungen Lehrersfamilie mit einem kleinen Mädchen. Agathe war nur ein Jahr älter als Helene, kannte sich aber nicht mit der Hausarbeit aus und war auch nicht besonders fleißig. Sie wurde schon mit ihrem Kind nicht alleine fertig, geschweige denn mit der Hausarbeit und von Kochen verstand sie so gut wie gar nichts. Dabei verlangte Daniel, dass das Dienstmädchen nicht das Essen kochen durfte. „Nein“, sagte er, „dann esse ich es nicht!“ Da seine Frau aber nicht imstande war, eine vernünftige Mahlzeit herzustellen, hatte sie ein Problem. So musste Helene ihr zur Seite stehen, sagen und helfen, aber auf eine Art, dass der Mann nichts davon merkte. Eines Tages wollte Agathe Nudeln machen. Die gab es nicht zu kaufen – es wurde Teig gemacht, ausgerollt und Nudeln geschnitten. Helene, die sich damit auskannte, stand also am Tisch und war voll beschäftigt mit ihrem Teig, als die junge Herrin plötzlich herein stürzte und sie wegschob: „Schnell! Geh zur Seite, Daniel kommt!“ Helene drehte sich weg, wusch sich die Hände und ging davon. Agathe stellte sich an den Tisch, machte sich die Hände voll Mehl und da kam ihr Mann auch schon herein. „Na, wie steht's, machst Du Mittag?“ „Ja“, sagte sie, „bin eben dabei.“ „Gut“, sagte er, guckte sich um und ging raus. Wenn die Frau Mittag kocht, ist ja alles in Ordnung. Kaum war er zur Tür raus, wurde getauscht und Helene machte weiter. Als Daniel zu Mittag am Tisch saß, lobte er seine Frau, wie gut sie das gemacht hatte.

Immer wieder bekam Helene es zu spüren, dass die Hildebrands sich für was Besseres hielten. So durfte sie abends nach getaner Arbeit nicht mit Agathe und Daniel in einem Zimmer sitzen. Das war vor allem im Winter schwierig, weil die Familie nur eine Öllampe hatte und diese stand natürlich in deren Wohnzimmer. Sie war somit in die Dunkelheit des Nebenzimmers verbannt. Erst, wenn die Beiden ins Bett gingen, durfte sie die Lampe haben, um ihre Handarbeiten zu machen, wie Stricken, Flicken oder Nähen. Eines Abends saßen die Beiden wieder zusammen und unterhielten sich bis spät. Da kam Agathe heraus und sagte: „Helene, Daniel möchte noch eine Wurst haben. Hol uns eine geräucherte Wurst vom Speicher.“ So musste sie ohne Licht im Finstern auf den Speicher gehen. Freilich kannte sie sich da aus, aber sie war schon etwas verärgert, dass er so was in der Nacht verlangte und ihr noch nicht einmal dafür die Lampe mitgab. So stolperte sie hin und her auf dem Dachboden und machte so viel Krach wie nur möglich, um zu beweisen, dass es nicht so einfach war, in der Finsternis etwas zu finden. Bevor sie herunter kam, setzte sie sich auf die oberste Stufe, brach ein Stück von der Wurst ab und aß es genüsslich auf. Sie wusste ja, dass man ihr nichts davon anbieten würde. Dann kam sie runter, gab Agathe die Wurst und ging.

Zu Besuch bei Mama

Hin und wieder bekam Helene Urlaub und durfte zu Großmutter und den jüngeren Geschwistern nach Hause. Bei einem dieser Besuche ereignete sich folgende Geschichte.

Es war im Sommer und es gab manches, wobei sie ihrer Mutter helfen konnte. Die wohnte damals noch im Erdhäuschen. Das Wasser wurde vom Fluss geholt. Helene sah, dass der Wassereimer leer war, nahm ihn und ging zum Fluss. Der Weg führte bergab und sie ging munter herunter und sang vor sich hin. Währenddessen ging Jakob Löwen, ein junger Mann aus der Nachbarschaft mit seiner Flinte spazieren. Als er ein paar wilde Enten über dem Wasser kreisen sah, schoss er in den Schwarm hinein. Im gleichen Moment sah er, dass Helene hinfiel und den Hang herunter rollte, ihr Eimer mit ihr. Nun merkte er, dass er viel zu niedrig gezielt und vermutlich das Mädchen getroffen hatte! Ihn überfiel eine so große Angst, Helene erschossen zu haben, dass er seine Flinte unter den Arm klemmte und ganz gebückt davon lief. Die Großmutter, Helenes Mutter, sah ihn fortlaufen und dachte noch so bei sich: Was hat der denn, warum läuft er so gebückt? Sie machte sich aber weiter keine Gedanken darüber. Irgendwann fiel ihr auf, dass Helene noch immer nicht zurück war mit dem Wasser. Sollte ihr was zugestoßen sein? Sie wartete noch eine Weile ab und ging ihr dann entgegen. Als sie zu der Stelle kam, sah sie, dass ihre Tochter ganz zusammen gekrümmt lag und sich nicht bewegte. Die Mutter bekam Angst, sie fing an zu schreien und rief sie immer wieder beim Namen. Nach einer Weile rührte diese sich. Großmutter rüttelte und schüttelte weiter und rief sie immer wieder. Schließlich schlug Helene die Augen auf. „Was ist mit Dir passiert?“ fragte die Mutter besorgt. „Warum liegst Du hier so bewusstlos?“ „Ich weiß nicht. Ich hörte nur, dass ich von weitem gerufen wurde, aber das war so weit weg, ich konnte das fast nicht hören und konnte auch keine Antwort geben.“

Später stellte sich heraus, dass es tatsächlich Jakobs Schuss gewesen sein musste. Er hatte so niedrig gezielt, dass der Schuss knapp über den Kopf des Mädchens gegangen war und sie betäubt hatte. Ach, was war er froh, als er erfuhr, dass Helene Thun doch nicht tot war!

Großmutters letzte Jahre

Großmutter hat noch viele schwere Jahre verbracht. 1920 wurde sie als Witwe zwangsverheiratet mit Karl Boneles, einem Witwer, etliche Jahre älter als sie und ein Taugenichts, wie er im Buche steht! Ihm war die Frau gestorben, die Kinder waren verheiratet, aber wegen seines schwierigen Charakters wollte ihn keiner bei sich haben. Wenn das Dorf sich seiner annehmen müsste, dann ginge er von Haus zu Haus und würde in jedem Hause einen Tag lang verpflegt, was schon gut war. Aber er musste ja auch einen Platz zum Schlafen haben. Und da wurden wieder die Vormünder aktiv. Sie berieten sich und beschlossen: „Den stecken wir zu Frau Thun in ihr Häuschen, mag sie sehen, wie sie mit ihm zurechtkommt.“