Singen Vögel in der Hölle? - Horace Greasley - E-Book

Singen Vögel in der Hölle? E-Book

Horace Greasley

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Beschreibung

Die faszinierende Geschichte eines britischen Kriegsgefangenen, seiner deutschen großen Liebe und dem hundertfachen Ausbruch aus einem streng bewachten Lager. Als Großbritannien in den 2. Weltkrieg eintrat, musste der 20-jährige Horace "Jim" Greasley an die Front in Nordfrankreich. Bereits am 25. Mai 1940 geriet er in deutsche Gefangenschaft und fand sich in einem Kriegsgefangenenlager in Polen wieder. Dort begann die leidenschaftliche Liebes­geschichte zwischen ihm und einem deutschen Mädchen, das für seine Wärter übersetzte. Über 200 Mal brach er nachts aus dem Camp aus, um sie zu sehen, und kehrte stets vor Morgengrauen mit Nahrung für seine Kameraden zurück. Gegen Kriegsende schmuggelte er sogar Radio-Bauteile mit ein. Jeden Tag hörten so über 3.000 Gefangene die Nachrichten von BBC News. Eine unglaubliche Geschichte über Liebe und Tapferkeit vor der Kulisse des 2. Weltkriegs.

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Seitenzahl: 471

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel„Do the birds still sing in hell?“Horace GreasleyISBN 978-1-78219-227-5

Copyright der Originalausgabe 2014:Text Copyright © Horace Greasley and Ken Scott 2014.All rights reserved. Published by John Blake Publishing Ltd.

Titelfoto © Brenda Greasley

Trotz größter Bemühungen konnten wir einige Inhaber von Urheberrechten nicht mehr ermitteln. Wir sind für jeden hilfreichen Hinweis dankbar.

Copyright der deutschen Ausgabe 2015:© Börsenmedien AG, KulmbachBildquellen Innenteil: Thinkstock

Übersetzung: Dr. Tilmann KleinauCover: Johanna Wack, Börsenmedien AGGestaltung und Satz: Sabrina Slopek, Börsenmedien AGHerstellung: Daniela Freitag, Börsenmedien AGLektorat: Karla SeedorfDruck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-246-4

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 KulmbachTel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444E-Mail: [email protected]/plassenverlag

Für Brenda

INHALT

Danksagung

Vorwort des Autors Ken Scott

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

DANKSAGUNG

Dieses Buch ist für all die Jungs, die es nicht geschafft haben, besonders für Jock, der mit seiner Kochkunst aus dem, was ich zu unserem Essen beisteuern konnte, so viel gemacht hat. Und für Rose, die mir mein Leben als Gefangener ein bisschen erträglicher gestaltet hat. Besonders danke ich meiner Frau Brenda, die mich immer wieder darin bestärkt hat, dieses Buch zu schreiben. Ich danke ihr für ihre selbstlose Pflege und Zuwendung, die sie mir während unserer gesamten Ehe geschenkt hat, ganz besonders in den letzten acht Jahren, in denen meine Gesundheit mich im Stich gelassen hat. Ohne sie könnte ich diese Geschichte nicht erzählen.

Brenda, dieses Buch ist für dich.

Mein Dank geht auch an Ken Scott, ohne den dieses Buch nie geschrieben worden wäre, sowie an seine Frau Hayley, seine Tochter Emily und seinen Sohn Callum. Ich bin ihnen so dankbar für ihr tiefes Interesse. Sie zählen inzwischen zu unseren engsten Freunden.

VORWORT

DES AUTORS KEN SCOTT

Im Frühjahr 2008 sagte ich nach anfänglichem Zögern zu, mich mit einem älteren Herrn zu treffen. Er war neunundachtzig Jahre alt. Damals versuchte ich gerade verzweifelt, mein drittes Buch fertig zu schreiben und hatte noch zwei weitere Projekte in der Schublade, als man mir sagte, ein ehemaliger Kriegsgefangener wolle seine Weltkriegsmemoiren schreiben. „O nein“, sagte ich zu meiner Frau, „nicht schon wieder so ’ne alte Kriegsgeschichte!“

Ein Mann namens Filly Bullock machte uns an jenem ungewöhnlich heißen Tag im März miteinander bekannt – in der kleinen Stadt Alfaz del Pi an der spanischen Costa Blanca. Filly hatte mich bereits vorgewarnt, es sei die verrückteste Story aus dem Zweiten Weltkrieg, von der er je gehört habe, und wenn ich sie erst gehört hätte, würde ich alles dafür geben, sie schreiben zu dürfen.

Ich war davon ganz und gar nicht überzeugt. Der alte Knabe weiß gar nicht, wie viel ich zu tun habe, dachte ich bei mir, und außerdem ist er schon neunundachtzig. Warum, verdammt noch mal, hat er bis jetzt gewartet, um sein Buch schreiben zu lassen?

Ich saß in Horaces ordentlichem Wohnzimmer, während seine Frau Brenda uns Kaffee machte. Ich wollte zehn Minuten mit ihm sprechen, entschied ich, und ihm dann eine höfliche Absage erteilen. Was sollte ich hier? Ich bin doch eigentlich ein Romanschriftsteller. Zwar war ich gerade dabei, die Memoiren eines nicht allzu berühmten, nicht besonders spannenden englischen Abgeordneten zu schreiben, doch das Buch hatte noch keinen Verlag gefunden. Ich hatte keinerlei Erfahrung, wie man als Ghostwriter an so ein Buch herangeht. Ich hatte keine Ahnung, wusste nicht einmal, wie und wo man da anfängt.

Mehr als zwei Stunden lang saß ich da und hörte Horace zu, der mir seine Lebensgeschichte in Kurzform erzählte – zuerst tranken wir etliche Tassen Kaffee, dann ein paar Bier (Horace trank lieber Gin). Mit offenem Mund lauschte ich, wie dieser alte Krieger mir das Drama seiner unglücklichen Gefangennahme schilderte, den Horror des Todesmarsches und die Reise im Güterzug, während alle paar Stunden alliierte Gefangene starben. Dabei war das erst der Anfang der Story.

Horace „Jim“ Greasley sprach – und ich hörte ihm zu.

Horace erzählte mir von seinem Nahtoderlebnis im ersten Lager und ließ mich teilhaben an seinem ersten Treffen mit Rose im zweiten Lager. Die junge deutsche Dolmetscherin und der ausgemergelte Gefangene fühlten sich sofort zueinander hingezogen. Binnen weniger Wochen hatte er Sex mit ihr auf einer schmutzigen Werkbank in der Lagerwerkstatt, wo jederzeit ein deutscher Wachtmann hereinkommen konnte. Es war keine Liebe auf den ersten Blick – bis dahin sollte es ein paar Monate dauern. Als er merkte, was er für Rosa empfand und wie sehr er sie liebte, verlegten ihn die Deutschen in ein anderes Lager. Er war am Boden zerstört.

Doch das Beste kam erst noch, erzählte mir Horace. Er schilderte mir seine Zeit im dritten Lager, in Freiwaldau in Schlesien, in Polen, mit seiner sanften Flüsterstimme, fast eine Stunde lang.

Schweigend saß ich ihm gegenüber. In meinem Kopf formte sich die Story zu Sätzen. Ich musste gegen den Drang ankämpfen, meinen Stift hervorzukramen und gleich mit der Niederschrift zu beginnen. Ich hatte eine Menge Fragen. Warum hat er fast siebzig Jahre lang gewartet, bevor er dieses Buch schreiben wollte? Warum ich? Wie geht es ihm wohl gesundheitlich? So ein Buch zu schreiben, kann gut und gern ein Jahr dauern – ob er wohl noch so lange durchhält?

Diese Fragen habe ich ihm niemals gestellt, weil ich keine Antworten hören wollte, die mir vielleicht nicht gefallen würden. Ich erklärte mich einverstanden, das Buch mit ihm zu schreiben. Fünf Monate lang saß ich mit Horace zusammen, während er mir die meiner Ansicht nach spektakulärste Fluchtgeschichte aller Zeiten erzählte. Ich erinnerte mich an meine Jugendzeit, an den Film Colditz – Flucht in die Freiheit und an Steve McQueen in dem Film Gesprengte Ketten, der von einem Massenausbruch aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager während des Zweiten Weltkriegs handelt. Die Geschichte, die mir Horace Greasley erzählte, stellt alle diese Storys in den Schatten.

Noch erstaunlicher ist, dass jedes Wort darin wahr ist. Wenn ich versuchte, die Story mit dichterischer Freiheit auszuschmücken, erlaubte Horace es mir nicht. Es war auch gar nicht nötig. Die Worte in diesem Buch sind nicht die des Ghostwriters Ken Scott, es sind die Worte des einstigen Kriegsgefangenen Horace Greasley. Horace konnte wegen seiner schlimmen Arthritis weder von Hand schreiben noch tippen. Ich habe dieses Buch nicht geschrieben – ich habe ihm sozusagen lediglich seine Finger ersetzt.

Horace hat ein bemerkenswertes Langzeitgedächtnis, sein Sinn für Details ist bemerkenswert. Manchmal trieb ihm die Erinnerung an die Brutalität seiner Wärter die Tränen in die Augen. Dann ging es mir wie ihm – ich habe nahe am Wasser gebaut. Wenn jemand weint, muss ich auch weinen.

Es wäre schön für mich zu wissen, dass Horace dadurch, dass er mir seine Geschichte erzählt hat, ein bisschen mit dem Horror, den er damals erleben musste, abschließen konnte. Er sagte mehr als einmal zu mir, dieses Buch sei für seine Mitgefangenen – für alle Menschen, die unter ihren Mitmenschen zu leiden hatten.

Dass ich dieses Buch mit ihm schreiben durfte, hat mein Leben bereichert – einen Mann wie Horace kennenzulernen und von seinen Leiden aus seinem eigenen Mund zu erfahren, hat mich demütig gemacht. Ich habe meine Zweifel, ob meine Generation die Erlebnisse dieser Kriegsjahre überstanden hätte. Ein paar Episoden habe ich meinen Kindern Callum, neun Jahre alt, und Emily, zwölf Jahre alt, erzählt. Sie waren fasziniert davon und konnten es manchmal gar nicht glauben, wenn ich ihnen das Leid der Gefangenen und die barbarische Grausamkeit ihrer Bewacher beschrieb. Ich finde es wichtig, dass das Leid der gewöhnlichen Menschen im Krieg niemals in Vergessenheit gerät. Immerhin zählt Horace zu denen, die das Glück hatten, heimkehren zu dürfen.

Wir müssen unseren Kindern immer wieder von der Grausamkeit und Sinnlosigkeit eines jeden Krieges erzählen. Die Politiker, die Kriege anzetteln, sollten ihr Gewissen prüfen. Nicht sie sind es, die darunter zu leiden haben, sondern die jungen Frauen und Männer ihres Landes und der Länder, mit denen sich ihr Land im Krieg befindet.

Meine Kinder haben Horace kennengelernt. Wir haben uns mit ihm und seiner Frau Brenda angefreundet. Ich schätze mich glücklich, dass ich einen Menschen wie Horace Greasley persönlich kennenlernen durfte und fühle mich geehrt, dass er mich fragte, ob ich ihm helfen könne, sein Buch zu schreiben.

Ich kann nur hoffen, dass ich der Verantwortung, die in diesem Auftrag liegt, gerecht geworden bin.

Im Mai 2013Ken Scott

Dieses Buch beruht auf einer wahren Geschichte, auf Augenzeugenberichten und über einhundert Stunden Interviews.Es ist eine Geschichte über Armut, über Völkermord und Sklaverei ... die Geschichte eines Mannes, der im Kampf gegen seine Lebensumstände sein Leben riskiert und gerettet hat.

PROLOG

Es war Anfang Februar 1945. Der Krieg war schon fast zu Ende. Die Rote Armee hatte Auschwitz und andere Vernichtungslager befreit. Die Welt hörte die schockierenden Geschichten, was man dort vorgefunden hatte, und war entsetzt. Aus Bergen-Belsen sendeten die Fernsehnachrichten Bilder von toten und halb verhungerten Männern, Frauen und Kindern, die zivilisierte Menschen krank machten. Selbst deutsche Zivilisten konnten oder wollten nicht glauben, was sie da sehen und hören mussten. Die britischen Befreier fanden im niedersächsischen Bergen-Belsen mehr als dreißigtausend tote oder sterbende Insassen. Die skelettartigen Gestalten derer, die die Vernichtungslager überlebt hatten, starrten in die Kameras. Sie hatten kaum die Kraft zu stehen und zu verstehen, dass sie jetzt befreit wurden und dass ihr körperliches Leiden vorüber war. Ein paar von ihnen sprachen über die unglaublichen Haftbedingungen, unter denen sie hier gehalten wurden, über Folter und die Brutalität ihrer Bewacher. Ein Mann ließ beschämt den Kopf sinken, als er berichtete, dass ein Landsmann von ihm zum Kannibalen wurde, nur um den nächsten Tag noch zu erleben.

Die Kamera-Crew schwenkte hinüber zu dem ekelerregenden Haufen toter nackter und ausgezehrter Frauen, der sich am äußersten Ende des Lagers befand. Nackte junge Mädchen, Frauen, Mütter und Großmütter – niemand war verschont geblieben. Der Haufen verwesten Fleisches war dreiundsiebzig Meter lang, neun Meter breit und durchschnittlich eineinhalb Meter hoch. Die Bilder wurden weltweit in den Kino-Wochenschauen gezeigt. Als General Dwight D. Eisenhower, der Oberkommandierende der alliierten Truppen, die Opfer der Nazilager sah, ordnete er an, dass möglichst viele Fotos gemacht und die deutschen Dorfbewohner durch die Lager geführt und sogar angewiesen werden sollten, die Toten zu begraben. Er sagte: „Zeichnet das alles auf, macht Filme und befragt Zeugen, denn irgendwann einmal wird irgendein Bastard kommen und behaupten, dies alles wäre niemals geschehen.“ Wie recht er haben sollte ...

Zwei russische Soldaten der 322. Schützendivision saßen in einem provisorisch errichteten Lager sechzehn Kilometer außerhalb von Posen an der deutsch-polnischen Grenze in Schlesien. Ein paar Wochen zuvor waren ihre Kameraden nach Österreich eingedrungen und hatten Danzig besetzt. Die britischen und amerikanischen Streitkräfte hatten den Rhein bei Oppenheim überquert. Nun wurde Deutschland von allen Seiten unter Beschuss genommen.

Der jüngere der beiden Soldaten hieß Iwan. Der Neunzehnjährige hatte sich schon vor drei Jahren zum Kriegsdienst gemeldet und war bereits ein hartgesottener Kämpfer. Aber auch er war entsetzt über einige der Berichte der Alliierten, die durchgesickert waren. Obwohl er sich darauf freute, an der Befreiung der Lager teilzunehmen, zu der er abkommandiert worden war, fürchtete er sich vor den Schreckensbildern, die dort auf ihn warteten.

Er hatte eine Phobie – eine Angst, die ihm mehr als alles andere zusetzte. Es ging um Kinderleichen. Eigentlich waren sie für ihn inzwischen schon ein gewohntes Bild. Er erinnerte sich noch lebhaft an die erste Kinderleiche, die er gesehen hatte, als er mit seiner Division Stalingrad verteidigt hatte. Warum?, hatte er sich damals gefragt. Der Junge, nicht mehr als vier Jahre alt, hatte sich verzweifelt an den toten Körper seiner Mutter geklammert, bis er in dem rauen Winter einfach erfroren war. Der Schädel seiner Mutter war von einem Schrapnell einer deutschen Mörsergranate zerfetzt worden, als sie den verzweifelten Versuch unternommen hatte, in der Stadt Zuflucht zu finden. Sie war auf der Stelle tot. Ihr kleiner Junge würde niemals wissen, wie es ist, ein Buch zu nehmen und zu lesen, er würde nie den ersten schüchternen Kuss eines Mädchens auf der Wange spüren und niemals die Freuden der Vaterschaft kennenlernen.

Iwans Kamerad spürte seine Angst. Er versuchte Iwan davon zu überzeugen, dass das, was ihnen bevorstand, der eigentliche Grund sein würde, wofür sie beide in den Krieg gezogen waren.

„Kamerad, man wird uns als Helden ansehen. Wir sind dazu da, unsere Verbündeten zu befreien, die jahrelang in den Händen der Nazis waren. Die armen Gefangenen sind fünf Jahre lang misshandelt worden. Wir werden den deutschen Hunden so die Hölle heißmachen, dass sie es nie mehr vergessen werden.“

Iwan starrte in die Flammen des Feuers. Eigentlich hätte er spüren müssen, wie die Wärme in ihm hochkroch, aber alles, was er fühlte, war eine seltsame körperliche und geistige Benommenheit.

„Werden wir dort auch Kinderleichen sehen, Sergej?“, fragte er.

Der ältere Soldat zuckte mit den Schultern.

„Kann schon sein, Kamerad. Vielleicht sogar noch Schlimmeres.“

„Etwas Schlimmeres kann ich mir nicht vorstellen, Sergej.“

Er schüttelte den Kopf und trank den inzwischen kalt gewordenen Tee aus, den sie vor Kurzem aufgebrüht hatten. Selbst im Frühjahr war es in diesem Teil Polens entsetzlich kalt, sobald die Sonne unterging.

„Diese Nazis sind zu allem fähig, Kamerad. Erst neulich haben sie ein französisches Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Sie haben alle Männer und Jungen zusammengetrieben und jeden einzelnen erschossen, dann haben sie die Frauen und Kinder in der Dorfkirche zusammengepfercht.“

Ivan hielt sich die Ohren zu. Was jetzt kam, hätte er am liebsten nicht gehört.

„Hör auf, Sergej!“

„Sie haben die Kirche in Brand gesteckt und die Frauen und Kinder bei lebendigem Leib verbrannt. Die Schreie der armen Kinder konnte man kilometerweit hören.“

Iwan wischte sich eine Träne aus dem Auge. Sein Kamerad packte ihn an seiner schlecht sitzenden Uniformjacke.

„Wir müssen diese Frauen und Kinder rächen, Kamerad. Wir müssen tun, was zu tun ist, wir müssen die Toten von Charkiw, Kiew und Sewastopol rächen und dürfen keinen russischen Mann, keine Frau und kein Kind vergessen, die durch die Hände der widerlichen Deutschen in ihren riesigen Todesfabriken gestorben sind. In Stalingrad haben sie uns mit voller Absicht vom Nachschub abgeschnitten, sie haben uns verhungern lassen, weil sie uns auf faire Weise nicht umbringen konnten. Wir mussten Hunde und Katzen, ja sogar rohe Ratten essen, den Leim von gebundenen Büchern und Industrieleder. Es ging sogar das Gerücht um, einige unserer Landsleute hätten das Fleisch unserer Brüder und Schwestern gegessen.“

Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Iwan versuchte zu begreifen, was Sergej ihm gerade erzählt hatte.

„Sie sind also wirkliche Unmenschen, Sergej?“

Der Angesprochene seufzte nur und nickte.

„Ja, Kamerad, das sind sie.“

„Aber sie werden doch bestimmt fliehen, Sergej, oder? Sie wissen doch, dass wir kommen. Da werden sie bestimmt abhauen, nicht wahr?“

Sergej lächelte.

„Und wie, Kamerad, aber wir werden schneller und länger rennen als sie. Wir werden sie einholen und sie fangen wie die Ratten und werden unseren Spaß mit ihnen haben.“

Plötzlich streckte Sergej die Hand aus und griff Iwan zwischen die Beine. Er packte seine Hoden mit festem Griff.

„Die beiden hier werden spätestens morgen Abend von ihrer abgestandenen Milch befreit, Kamerad. Das garantiere ich dir.“

Iwan kämpfte gegen den festen Griff seines Freundes an. Er hatte Tränen in den Augen und blickte erstaunt drein.

„Wir werden ihre Fräuleins ficken, während ihre Väter und Brüder uns dabei zusehen müssen, und dann töten wir sie alle – einen nach dem anderen. Es ist besser für sie, wenn sie fliehen, schnell wie der Wind, in die Hände der verweichlichten Amis.“ Er seufzte. „Na ja, die Amis haben eben nicht das erlebt, was wir durchmachen mussten. Diese Yankees sind zu spät in den Krieg eingetreten.“

Der junge Soldat sah seinen Kameraden, seinen Mentor an – den Mann, der sich wie ein Vater seiner angenommen hatte, seit sich ihre Wege vor gefühlten Jahren gekreuzt hatten. Er blickte den Mann an, der ihm mehr als einmal auf dem Schlachtfeld das Leben gerettet hatte. Derselbe Mann, den er wie seinen Vater liebte und achtete, trat plötzlich für Taten ein, die keinen Deut besser waren als die der widerlichen Nazis.

Der junge Iwan war verwirrt. Vor ihnen knisterte das Feuer in hohen und tiefen Tönen. Es war niedergebrannt, aber es glühte noch. Iwan griff hinüber zu dem Holzstapel und warf zwei große, kräftige Holzscheite ins Feuer. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde die Glut ausgehen, aber dann züngelte ganz allmählich eine Flamme am neuen Holz. Sofort wurde es wieder wärmer, Iwan jedoch spürte es nicht.

„Du, Sergej ...“

„Spuck es aus. Was ist?“

„Diese Todeslager – gibt es in diesen schrecklichen Orten noch Vögel, die singen?“

Sergej legte die Stirn in Falten, Er wusste nicht recht, was er sagen sollte.

„Ich meine, die Vögel, Sergej ... die haben doch bestimmt alles mit ansehen müssen? Und trotzdem singen sie noch?“

Sergej seufzte.

„Du wirst allmählich so sentimental wie die Amis, Kamerad. Demnächst schreibst du womöglich noch Gedichte.“

„Wenn die Vögel morgen früh, wenn ich aufwache, immer noch singen, ist alles für mich in Ordnung... Die Vögel, Sergej ... die Vögel . sie sagen’s uns.“

„Ruhe!“, rief jemand ein paar Meter entfernt. „Wir brauchen unseren Schlaf für morgen. Wir brauchen unsere Kraft für die deutschen Nutten.“

Sergej grinste. Seine Zähne leuchteten im blassen Licht des Mondes, und Iwan wunderte sich darüber, dass sie so gesund aussahen, wenn man bedenkt, wie wenig Essen und vor allem Vitamine sie in den letzten Tagen zu beißen bekommen hatten. Es gab Zeiten, da mussten sie tagelang gegen die Deutschen kämpfen, ohne dass sie auch nur ein Stück Brot zu beißen hatten.

„Du siehst, Kamerad, das wird von dir erwartet. Morgen musst du deine Pflicht tun. Wir müssen die Nazis vernichten und weitermachen, bis wir nach Berlin kommen.“

„Ja, die Nazis, das sehe ich ein, aber es werden doch nicht alle Deutschen Monster sein. Unsere Kameraden benehmen sich wie die Tiere – sie stürzen sich auf wehrlose Bauern, sogar auf alte Frauen und Männer.“

„Das ist die Rache, Kamerad. Wer will es ihnen verdenken? Wer will es uns übelnehmen? Diese deutschen Zivilisten haben keinen Finger gekrümmt und haben das alles geschehen lassen. Wir Russen haben eine Revolution gemacht, als wir mit unserer Führung unzufrieden waren. Warum haben die Deutschen das nicht gemacht?“

Iwan hatte genug davon. Er ahnte, heute Nacht würde er nicht gut schlafen. Er zog den Schlafsack unter seinem Kopf fester und kauerte sich näher ans Feuer. Er war von dem langen Marsch völlig erschöpft und gerade dabei einzuschlafen, als Sergej sich zu ihm hinüberbeugte und ihm ins Ohr flüsterte: „Morgen, Kamerad, morgen und in den darauffolgenden Tagen und Wochen werden wir den Deutschen, den Soldaten und Zivilisten, den Männern, Frauen und Kindern auf der Straße zeigen, was wirklich grausam ist. Die Hundesöhne werden sich wünschen, sie wären nie geboren worden.“

Wer in den Herzen und Köpfen der Leser weiterlebt, der wird nicht sterben.

KAPITEL 1

Joseph Horace Greasley hatte immer gern auf dem kleinen Bauernhof seiner Eltern im englischen Leicestershire gelebt, solange er sich erinnern konnte. Gerne hatte er das halbe Dutzend Kühe gemolken, die Hühner und Schweine gefüttert, und besonders gerne hatte er die walisischen Ponys seines Vaters gepfl egt.

Obwohl die eleganten Tiere ihn als kleinen Jungen überragten, wenn er ihre Salzlecksteine im Stall austauschte, ihr Heu wendete und fast täglich bei ihnen ausmistete, hatte er keine Angst vor ihnen. Auch sie schienen mit dem kleinen Jungen, der da unter ihnen herumrannte, mehr als zufrieden zu sein. Schließlich fütterte er sie täglich und gab ihnen ihr Wasser. Joseph Horace Greasley wurde immer nur Horace genannt, dafür sorgte schon seine Mutter, von Anfang an. Niemand rief ihn Joe, wie seinen Vater. Seine Mutter konnte nicht verstehen, warum die Leute Vornamen immer abkürzen wollten.

Horace mochte auch die für den Rücken anstrengende Arbeit hinterm Pflug, auch das Säen und überhaupt alles in Schuss zu halten. So konnte die kleine Familie die Früchte der dreißig Morgen Ackerland ernten, die ihnen ihr Großvater vor vielen Jahren vermacht hatte. Sie wohnten in Hausnummer 101 am Ende einer langen Reihe von Bergarbeiterhäuschen in der Pretoria Road in Ibstock.

Horace und sein Zwillingsbruder Harold, seine ältere Schwester Sybil, die jüngere Schwester Daisy und Baby Derick hatten es besser als die Mehrzahl der englischen Familien in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl Lebensmittel damals noch nicht rationiert wurden, waren es schwere Zeiten, und obgleich Horaces Vater einen Vollzeit-Arbeitsplatz im Bergwerk hatte, war das Geld knapp, um es vorsichtig auszudrücken. Wie auch immer – Horace und sein Vater kümmerten sich darum, dass es der Familie gut ging.

Joseph Greasley senior war ein schwer arbeitender Bergarbeiter mit kohlschwarzem Gesicht, ein Mann, der jeden Tag um halb vier Uhr morgens aufstand, um die Kühe zu melken, bevor er seine Zehn-Stunden-Schicht in der nahe gelegenen Bagworth-Zeche antrat. Bevor er zur Arbeit ging, weckte er Horace, und der machte, obwohl er noch sehr müde war und kaum aus den Augen gucken konnte, mit der Hofarbeit weiter. Die Tiere vertrauten ihm. Er fühlte sich bei ihnen wohl und sie sich bei ihm auch. Er fütterte sie regelmäßig, er war der Mensch, der ihren Stall sauber machte und ihre Wunden versorgte, und es hatte den Anschein, als spürten sie es. Sie waren seine Tiere – er war der glücklichste Junge der ganzen Schule. Wenn man die Hühner und die Ponys mitzählte, besaß er fast fünfzig Tiere. Die Schweine mochte er am liebsten – auch wenn sie hässlich und schmutzig waren. Das Leben meinte es nicht gut mit ihnen, aber sie waren seine Lieblingstiere.

Eines Tages gab John Forster, der Nachbarsjunge aus Hausnummer neunundvierzig, in der Klasse an, er besitze sieben Haustiere – drei Goldfische, einen Hund, zwei Katzen und eine Maus. Na und! Horace verwies ihn gleich mal auf den zweiten Platz, indem er all die Namen seiner Ponys, Kühe, Schweine und Hennen herunterratterte. Es waren allein zweiundzwanzig Hennen, und jede davon trug einen eigenen Namen.

Allerdings waren sie keine Haustiere – das wusste auch Horace. Jedes Jahr im November war er traurig, wenn sein Vater eins der Schweine tötete, um die Familie zu ernähren. Das Fleisch des geschlachteten Tieres reichte ihnen mindestens bis Weihnachten. Horace akzeptierte es, denn er bekam am Wochenende immer sein Schinkenspeck-Sandwich oder am Sonntagnachmittag eine schöne Scheibe Schinken mit Bratkartoffeln und einem oder zwei Eiern, die er am Morgen gesammelt hatte.

So war nun einmal die Nahrungskette, das Gesetz des Dschungels, nur die Stärksten überleben. Der Mensch brauchte Fleisch, und Familie Greasley hatte zufällig genug davon auf ihren Feldern herumlaufen. Nachdem das Schwein geschlachtet war, saß Horace stundenlang da (nicht weil es ihm Spaß machte, sondern weil es von ihm erwartet wurde) und rieb das Fleisch mit Salz ein, um es zu pökeln. Zwischendurch kam sein Vater immer wieder in die große offene Spülküche, in der der junge Horace saß und den toten Körper seines einstigen Freundes einrieb. Sein Vater sah sich das Fleisch genau an, drückte es mit den Fingern zusammen, schnitt gelegentlich auch eine Kostprobe mit dem Messer ab, probierte und sagte dann: „Mehr Salz!“

Dann ließ Horace die Schultern sinken, seine Finger waren schon wund vom Salz und klebten, aber er beklagte sich mit keinem Wort. Das Schwein, das nur ein paar Tage zuvor noch einen Namen gehabt hatte, wurde jetzt wie ein Stück Holz umgedreht, sodass sein Hinterteil in die Luft ragte, und noch ein Pfund Salz wurde in den Körper gerieben.

Wenn das Salzen endlich vorbei war, kam Horaces Vater mit einem großen Knochenmesser in die Spülküche und zerlegte das Schwein fachmännisch. Die Schinken wurden entfernt und in einer kühlen Speisekammer gelagert, die Speckseiten wurden über dem Treppenhaus aufgehängt, das zu den Schlafzimmern der Familie im ersten Stock führte. Das sah seltsam aus, aber es war der beste Ort für sie, wie sein Vater oft gegenüber seiner Mutter argumentierte. Denn der ständige Luftzug im Flur sorgte für genügend Sauerstoff, um das Fleisch wochenlang frisch zu halten.

Mabel diskutierte darüber nicht lange mit ihm. Sie wusste, ihr Mann hatte recht, und keine andere Familie in ihrer Straße hatte so oft Fleisch auf dem Tisch wie sie. Es sah nur so unappetitlich aus, vor allem dann, wenn sie dem Herrn Vikar die Tür aufmachte. Dann schämte sie sich immer deswegen.

Eines Tages kam der Priester Gerald O’Connor eine Woche nach der Schlachtung zu ihnen zu Besuch. Mabel bat ihn herein, und als er den Speck im Flur an der Decke hängen sah, blickte er missbilligend drein. Seine Laune wurde erst besser, nachdem er eine Tasse Tee getrunken hatte und Mabel ihm ein ordentliches Stück Speck schenkte, das er, wie er sagte, für den Weihnachtsbasar gut gebrauchen konnte.

„Heißer Wintereintopf“, schwärmte er, „die Tasse zu zwei Pence. Für die Gemeindekasse.“

Zwei Wochen später besuchte Mabel den Weihnachtsbasar, aber so sehr sie auch suchte, sie fand den Stand mit dem Wintereintopf nicht.

An seinem vierzehnten Geburtstag – an Heiligabend 1932 – schenkte sein Vater Horace sein erstes Gewehr, ein einläufiges 410er Parker-Hale-Gewehr. Es war als Belohnung für seine vielen Arbeitsstunden auf dem Bauernhof seiner Eltern gedacht – die Art seines Vaters, sich bei ihm zu bedanken. Harold bekam ein paar Bücher, einen Apfel, eine Orange und ein paar Nüsse geschenkt, die älteste Schwester Sybil bekam gar nichts. Die Mutter sagte, sie sei schon zu alt für Weihnachtsgeschenke. Daisy und Derick erging es kaum besser – Derick bekam eine kleine Holzeisenbahn und Daisy eine kleine Puppe. Horace hatte nur Augen für eines. Seine Hände zitterten vor Aufregung, als er nach dem Gewehr griff.

Das Warten auf den ersten Schuss war wie eine Folter für ihn. Sein Vater bestand darauf, dass die Familie zuerst zum Weihnachtsessen bei Schinken und Eiern, ofenwarmen Butterbrötchen und heißem Tee zusammenkam, wobei nach alter Greasley-Tradition jeder einen Löffel Whisky in den Tee bekam, weil Weihnachten war. Das Gewehr lag auf der Kommode, es kam ihm vor, als verhöhnte es ihn. Bei jedem Bissen Schinken oder Brötchen sah er seinen Vater an, dann das Gewehr und dann wieder seinen Vater.

„Denk dran, das ist kein Spielzeug!“, ermahnte ihn sein Vater, als sie auf das Wäldchen am Ende der Farm zugingen. Die gefrorene Erde unter ihnen knirschte bei jedem ihrer Schritte. Eine Schneeschicht bedeckte den Boden und die Bäume wie Zuckerguss.

„Du musst die Waffe mit Respekt behandeln. Sie kann töten – Kaninchen, Enten und Hasen, aber auch Menschen.“

Er deutete auf die Waffe, die Horace mit beiden Händen fest umklammerte, wobei er sich wünschte, der Stahl wäre nicht so kalt und er hätte daran gedacht, seine Wollhandschuhe mitzunehmen. Aber selbst wenn Horace im hintersten Sibirien bei minus vierzig Grad hätte ausharren müssen, er wollte um keinen Preis umkehren.

„Dieses Gewehr kann einen Menschen töten, vergiss das nicht und denk immer daran, wohin du damit zielst. Wenn ich dich dabei erwische, dass du auf mich zielst, dann schlage ich es dir auf den Kopf!“

In den darauffolgenden Wochen brachte sein Vater Horace alles über seine Neuerwerbung bei. Er zeigte ihm, wie man ein Gewehr auseinandernimmt, wie man es reinigt und welche Art Patronen man für welches Tier nimmt. Vor allem brachte er ihm das Schießen bei. Stundenlang schossen sie auf an die Bäume geheftete Zielscheiben und auf Blechbüchsen, die sie auf Äste und Zaunpfosten stellten. Schon am vierten Tag erlegte Horace sein erstes Kaninchen. Der Vater holte ihn und zeigte ihm, wie man so ein Tier häutet, ausnimmt und im Topf kocht. An diesem Abend aß die ganze Familie Kaninchenpastete, und der Vater sagte allen mehrmals, dass sie diesen Schmaus Horace verdankten. Beide waren sie stolz auf sich und aufeinander.

Sein Vater erklärte ihm auch, wie wichtig es sei, ein Tier nur zu töten, weil man sein Fleisch brauchte und nicht um des Tötens willen. Horace wurde ein hervorragender Schütze. Bald konnte er einen Star oder einen Zaunkönig aus fünfzig Metern Entfernung treffen. Aber jedes Mal, wenn er es tat, und das war nur selten der Fall, hatte er hinterher Gewissensbisse. Eines Tages schoss er auf ein junges Rotkehlchen, er dachte gar nicht, dass er etwas so Kleines abknallen könnte. Als die Kugel sein zartes Fleisch zerriss, explodierten die Federn des kleinen Vogels und er fiel vom Telegrafenmast, auf dem er gesessen hatte, ins Gras. Horace kreischte vor Freude, als er seine Beute in Augenschein nahm. Aber dann, als er das Vögelchen in der Hand hielt und seine Wärme spürte, verwandelte sich seine Freude in Kummer. Warum?, dachte er, als Blut auf seine Hand tropfte und das Rotkehlchen den letzten Atemzug tat. Warum habe ich das getan? Was hat das für einen Sinn?

Er schwor sich, er wollte von heute an nie wieder auf ein Lebewesen schießen, es sei denn, um es zu kochen und zu essen. Er brach sein Gelübde im Jahr 1940 auf den Feldern und in den Schützengräben von Nordfrankreich.

Im nächsten Jahr ging Horace von der Schule, zusammen mit seinem Zwillingsbruder Harold. Man nannte sie liebevoll „die beiden Hs“. Sie waren nicht unzertrennlich wie so viele andere Zwillinge. Das lag daran, dass sie sehr verschieden waren. Harold war intelligenter als Horace, immer der Klassenbeste, er liebte Bücher und das Studium. Horace hingegen saß gelangweilt in der Klasse herum und sehnte das Ende des Schultages herbei. Er wollte lieber auf der Farm jagen, sich um seine Tiere kümmern und den hübschen Mädchen auf ihrem Nachhauseweg nachsehen.

Arbeitsplätze waren im Jahr 1933, dem Jahr, in dem ein gewisser Adolf Hitler deutscher Reichskanzler wurde, Mangelware. Aber es dauerte nicht lange, und Harold bekam dank seiner schulischen Verdienste eine sehr beliebte Stelle in der Eisenwarenabteilung ihrer Landwirtschaftsgenossenschaft. Dort arbeitete schon seine große Schwester Sybil. Wie sie gab Harold einen Großteil seines Lohns an die Familie weiter. Jetzt verdienten drei Greasleys ein festes Gehalt. Mabel buk frisches Brot und Kuchen, und mitten auf dem Küchentisch stand eine Obstschale mit exotischen Früchten wie Bananen und Orangen.

Horace war gerade von einem Jagdausflug zurückgekehrt. Er konnte es kaum erwarten, seinem Vater zu erzählen, dass er einen laufenden Hasen aus einer Entfernung von achtzig Metern erlegt hatte. Sein Vater hatte ebenfalls Neuigkeiten für ihn – er hatte einen Arbeitsplatz für ihn gefunden.

„Was? Friseurlehrling?“, flüsterte Horace ganz verblüfft.

„Ja, drei Jahre Lehrzeit, Horace, davon zwölf Monate als Anfänger ...“

„Aber –“

„... weitere zwölf Monate halb qualifiziert und das letzte Jahr als Fortgeschrittener.“

„Aber – aber –“, stammelte Horace, doch sein Vater hörte gar nicht richtig hin.

„Du kannst nächste Woche anfangen. Bei Norman Duncliffe in der High Street.“

Ab der darauffolgenden Woche trugen schon vier Greasleys zum Haushaltsgeld bei. Horaces unfreiwillige Laufbahn als Herrenfriseur begann. Die ersten zwei Lehrjahre gingen schnell vorbei, und im dritten Lehrjahr stieg sein Lohn auf zehn Schilling pro Woche. 1936 wird ein gutes Jahr, dachte Horace, als er sich ein Herz fasste und die junge, hübsche Eva Bell ins Kino einlud. Während sie eines Samstagabends im Roxy in der letzten Reihe miteinander rummachten, zeigte die Wochenschau Bilder von Adolf Hitler und Benito Mussolini, die in ihren schicken Uniformen Paraden abnahmen. Horace nahm die Bilder gar nicht wahr, seine Hand glitt über den Pullover und unter den Rock seiner neuen Freundin.

Eva war ein Jahr älter als Horace, aber hundert Jahre erfahrener. Als sie ein paar Wochen miteinander gingen, bat sie ihn, zu ihrem nächsten Date ein Päckchen Kondome mitzubringen. Sie wurden in dem Herrensalon, in dem er arbeitete, verkauft. Manchmal war es eben doch ganz praktisch, ein Friseur zu sein.

Eines Samstagabends, als die Tanzveranstaltung, die sie beide in Evas Dorf Coalville besuchten, erst nach Mitternacht zu Ende war – zu spät für Horace, um noch einen Bus zu kriegen – überredete Eva ihre Mutter, ihn in einem freien Zimmer im Haus übernachten zu lassen. Frau Bell mochte Horace. Sie und Eva überzeugten Herrn Bell davon, dass nichts Schlimmes dabei herauskommen würde. Das Gegenteil war der Fall. Eva mochte Horace, und sie fand es an der Zeit, einen Mann aus ihm zu machen.

Gegen sechs Uhr morgens an diesem Sonntag verlor Horace seine Jungfräulichkeit. Evas Vater war Bergmann und ging um halb sechs zur Sonntagsschicht. Zwanzig Minuten später schlich Eva auf Zehenspitzen in das Zimmer, in dem Horace schlief. Kaum hatte sie ihr Nachthemd ausgezogen, hatte Horace schon einen Ständer. Er versuchte sich das Kondom überzuziehen, und Eva widmete ihm, wie man so sagt, ihre ganze Aufmerksamkeit. Sobald der Gummi drüber war, übernahm Eva die Regie. Wie ein Jockey auf sein Pferd, schwang sie sich auf ihn und schob sein bestes Stück vorsichtig in sich hinein. Horace sah irritiert zu, wie Eva ächzte und stöhnte, bis sie zum Höhepunkt kam. Horace fürchtete, es könne nicht mehr lange dauern, bis Evas Mutter sie hörte und auftauchte. Er blickte immer wieder abwechselnd unruhig zur Tür und auf Evas schöne wippende Brüste nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. Aber Evas Mutter schlief weiter, und Horace erreichte seinen eigenen Orgasmus, so schnell er konnte. Egal. Von nun an würden sie diesen wundervollen Akt der Natur wiederholen, wo und wann immer es ging. So wurde Horace jeden Samstagabend Gast in Evas Haus.

Horace blieb bei Norman Duncliffe bis 1938, dann überredete man ihn zu einem Wechsel zum Herrenfriseur Charles Beard. „Bart“, was für ein toller Name für einen Friseur und Barbier, dachte sich Horace, und die Bezahlung war hier auch besser. Natürlich kam er auch hier an einen genügend großen Vorrat an Kondomen heran, und das ohne die Kosten und Mühen, die seine Freunde hatten. Es gibt schlechtere Jobs als meinen, dachte er.

Obwohl die Bezahlung hier gut war, musste Horace fünfundvierzig Kilometer zu seinem neuen Arbeitsplatz in Leicester zurücklegen. Zwar war sein Fahrrad mit der neuesten Technik ausgerüstet – mit einem AW-Sturmey-Archer-Dreiganggetriebe –, aber der alte Drahtesel war schwer, und an manchen Tagen blies ihm ein starker Gegenwind ins Gesicht und sorgte dafür, dass er nur langsam vorwärts kam. Aber das machte Horace nichts aus. Sein junger Körper war gut trainiert und entwickelt, und die zusätzliche Kraft und Ausdauer fand auch Eva im Bett prima.

Gegen Ende des Jahres 1938 wechselte Horace zu Charles Beards Friseurladen in Torquay. Zum ersten Mal zog er von zu Hause aus. Zuerst schüchterte ihn alles etwas ein, aber er gewöhnte sich schnell an seine neue Umgebung und genoss das Leben in vollen Zügen. Natürlich vermisste er Eva, aber dafür gab es hier eine Menge anderer Zerstreuungen, die ihn ablenkten und nicht an seine Freundin in Leicestershire denken ließen. Er beobachtete auch, was sich politisch auf der anderen Seite des Kanals tat.

England atmete – zumindest vorübergehend – auf, als Premierminister Neville Chamberlain nach seinen Verhandlungen mit Adolf Hitler aus München nach London zurückkehrte und in seiner Rede auf dem Flughafen von Heston ankündigte, er bringe mit dem von Hitler und ihm unterzeichneten Abkommen „Frieden in unserer Zeit“. Hitler hatte das Abkommen unterzeichnet und sich verpflichtet, sich auf friedliche Methoden zu beschränken. Horace hörte Chamberlains Rede im Radio in Charles Beards Friseursalon. Irgendwie war er nicht so ganz von der Friedensabsicht überzeugt.

Er sollte mit seiner Skepsis Recht behalten. Der Spaß an der englischen Riviera dauerte für Horace nur sechs Monate lang, dann rief man ihn nach Leicestershire zurück, denn die britische Regierung zog alle wehrtauglichen Männer im Alter von zwanzig bis einundzwanzig Jahren ein. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Horace und Harold eingezogen wurden. Der Krieg, so schien es, rückte in greifbare Nähe.

Horace nahm seine Arbeit in Charles Beards Laden in Leicester wieder auf, und tatsächlich, binnen zwei Wochen, als er an einem Mittwochabend heimkam, lag ein Brief an ihn ungeöffnet auf dem Küchentisch. Es war die offizielle Mitteilung an die beiden Zwillingsbrüder, sie sollten sich in sieben Tagen im Gemeindehaus in der King Street in Leicester zum Militärdienst melden, wo das zweite und das fünfte Bataillon von Leicestershire Soldaten rekrutierte. Harold war an diesem Tag früher als sonst aus der Arbeit heimgekehrt. Er saß am Küchentisch und blickte zerstreut drein. Horace dachte zuerst an seinen Zwillingsbruder. Er wusste: Damit kommt er nicht zurecht. In all den Jahren, in denen sie gemeinsam auf dem Bauernhof der Eltern aufwuchsen, hatte Harold nicht ein einziges Mal versucht, mit dem Gewehr zu schießen, einem Kaninchen die Haut abzuziehen oder ein Huhn zu töten, nicht ein einziges Mal hatte er aus Wut mit einem Katapult oder einer Zwille einen Stein geschleudert. Er konnte, wie ihr Vater einmal sagte, keiner Fliege ein Bein krümmen. Harold zitterte bei dem bloßen Gedanken daran, ein Gewehr in die Hand nehmen und auf einen anderen Menschen zielen zu müssen.

Harold war in letzter Zeit sehr religiös geworden. Er ging oft in die Kirche – etwas, womit Horace als Atheist, der er war, nichts anfangen konnte. Horace konnte nicht begreifen, wie ein intelligenter Mensch glauben konnte, dass ein allwissendes höheres Wesen als wir irgendwo da oben auf einer Wolke sitzt und alles sieht und hört, was jeder Mensch hier unten auf der Erde sagt und tut. Das kam Horace zu anmaßend, ja geradezu albern vor.

Harold trank nicht und er rauchte nicht, und Horace war sich ziemlich sicher, dass er so etwas wie den Spaß, den er mit Frauen in Torquay hatte, nicht kannte. Während Horace jedes Wochenende sein Dreierpack Kondome mitnahm – manchmal auch zwei Päckchen – las sein Bruder in der Bibel. Harold war inzwischen ein praktizierender Laienprediger. Jeden Sonntag predigte er vor Konvertiten in der Kapelle ihrer Pfarrgemeinde. Harolds religiöse Überzeugungen verlangten von ihm, alle Menschen zu lieben – sogar die Deutschen. Horace waren ein paar Bier mit seinen Freunden und ein Nachmittag Ausgehen mit Eva lieber.

Als sie jetzt in der Küche saßen, hätte Horace seinen Zwillingsbruder am liebsten mit ins Dorf genommen, ihn betrunken gemacht und ihm klar gemacht, dass alles nicht so schlimm war, wie er glaubte. Aber das ging nicht. Harold war Abstinenzler. Für ihn war Alkohol die Geißel der arbeitenden Bevölkerung, die Wurzel allen Übels. Horace konnte seine Haltung nicht so recht verstehen, aber er hatte nie versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen oder ihn dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern, obwohl Harold seinerseits schon mehr als einmal versucht hatte, ihm das Evangelium nahezubringen.

„Dir ist doch klar, dass er sich in die Hosen scheißt, Horace, nicht wahr?“, sagte sein Vater, nachdem Harold schließlich zu Bett gegangen war.

Horace nickte. „Wir zwei bleiben zusammen, Dad. Ich pass schon auf ihn auf.“

Joseph streckte den Arm aus und drückte seinem Sohn die Hand.

„Ich weiß, mein Junge. Ich verlasse mich auf dich.“

Sie schlossen ein Bündnis. Besser gesagt, Horace versprach etwas. Am nächsten Abend setzte er sich mit Harold zusammen und sagte ihm, dass sie das jetzt miteinander durchstehen müssten. Miteinander würden sie in derselben Einheit dienen, dasselbe tun, auf dieselben Ziele schießen – und wenn es überhaupt möglich war, diesen verdammten Krieg unbeschadet zu überstehen, würden sie es miteinander probieren. Horace hielt die größte Rede seines Lebens, er war aufrichtiger als Chamberlain damals auf dem Flughafen von Heston, und am Ende eines langen Abends, nachdem er ein halbes Dutzend Gläser Whisky getrunken hatte, während Harold ebenso viele Tassen Tee in sich hineingeschüttet hatte, war Horace mit sich und seiner Leistung ganz zufrieden. Er ging glücklich ins Bett. Er war fest entschlossen, das Richtige für sein Land zu tun – und für seinen Zwillingsbruder Harold.

Dieser schien mit der Zusage seines Bruders zufrieden zu sein und sich von ihm beschützt zu fühlen. Zumindest hatte es den Anschein ...

Zwei Tage später, als Horace gerade im Friseursalon von Charles Beard einen Kunden bediente, meinte dieser: „Ich glaube, Sie sind heute nicht so ganz bei der Sache, was, Horace?“

Der Kunde hatte recht. Horace war gerade meilenweit von seiner Schere entfernt. Er war in Gedanken bei Harold, bei seiner Mutter und seinen Schwestern. Er fragte sich, wie sein Vater wohl ohne ihn auf dem Bauernhof zurechtkommen würde und wie es wohl wäre, auf einen Deutschen zu schießen.

Horace erzählte seinem Kunden, Herrn Maguire, dass er schon nächste Woche zum Kriegsdienst eingezogen werden sollte und dass er davon überzeugt sei, dass dem Land ein großer Krieg bevorstand.

„Da könnte was dran sein, Horace. Ich habe den Artikel im Leicester Mercury gelesen: ‚Ibstock-Zwillinge müssen zum Heer‘, lautete die Überschrift.“ Er grinste Horace im Spiegel an. „Jetzt werden Sie noch berühmt, Horace, einer der ersten hier in der Gegend, der eingezogen wird.“

„Mir wäre lieber, wenn es nicht so weit käme, Mister Maguire. Ich bin erst einundzwanzig Jahre alt und soll schon zum Grundwehrdienst gehen und danach womöglich direkt in den Krieg. Ich mag mein Leben hier – ich habe einen guten Arbeitsplatz und eine nette Freundin. Warum können die Politiker die Sache nicht selber klären?“

Eigentlich wollte er noch sagen, welche Sorgen er sich um Harold machte und dass er fürchtete, sein Bruder wäre dem allen nicht gewachsen. Er war ganz in Gedanken verloren und hörte kaum, dass Herr Maguire erwähnte, er sei der Chef der örtlichen Feuerwehr. Er teilte Horace mit, als Feuerwehrmann sei man unabkömmlich und könne auch in Kriegszeiten zu Hause bleiben, und das Auswahlverfahren für neue Feuerwehrleute finde diese Woche noch statt.

„Sie können sich immer bewerben, Horace. Am Mittwoch nehmen wir neue Bewerber auf. Wir machen eine halbstündige Prüfung, ein bisschen Fitnesstraining, und dann schauen wir uns an, wie sehr die Lümmel auf der Zehn-Meter-Leiter zittern.“

Horace sah seinen Kunden im Spiegel an. Seine Hand, die gerade eine Haarsträhne des Mannes abschneiden wollte, hielt inne. Herr Maguire zwinkerte Horace verschwörerisch zu.

Das Zwinkern ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Ihm zitterten die Beine. Er legte die Schere beiseite, aus Angst, dem Kunden mit seinen zittrigen Fingern wehzutun. Horace wusste genau, was dieses Augenzwinkern bedeutete. Herr Maguire warf ihm einen Rettungsring zu, so etwas wie die „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte. Es stand in seiner Macht, Horace vor dem Kriegsdienst zu bewahren und vor all den Schrecken, die dort vermutlich auf ihn warteten.

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie mir die Chance geben, Feuerwehrmann zu werden?“

Maguire schüttelte den Kopf, sah zu Horaces Spiegelbild auf und lächelte.

„Sie sind ein guter Kerl, Horace. Ich kenne Sie schon länger. Sie kommen aus einer guten Familie, sind fit und intelligent. Ich will damit sagen: Wenn Sie eine Leiter hinaufklettern können, wird bestimmt mal ein guter Feuerwehrmann aus Ihnen.“

Horace stammelte: „Da hab ich ja gute Chancen.“

Maguire schüttelte wieder den Kopf, was den jungen Horace in Verwirrung stürzte. Die Worte, die John Edward Maguire nun aussprach, hätten nicht klarer sein können. Sie stellten Horaces Welt auf den Kopf.

„Wenn Sie wollen, kriegen Sie den Job, Horace. Ich sorge schon dafür, dass Sie ausgewählt werden. Es ist meine Entscheidung.“

Danach ging Maguire. Seine Haare waren nicht so sorgfältig getrimmt wie sonst. Horace war immer noch wie in Trance.

Das war’s! Kein Krieg, keine Gewehre und zwei Pfund mehr Gehalt. Er würde immer noch für sein Land kämpfen müssen, das Risiko, verletzt zu werden oder Schlimmeres, bestand nach wie vor, aber er konnte zu Hause bleiben und musste nicht irgendwohin – nach Frankreich, Belgien oder Deutschland. Er hätte immer noch den Bauernhof, könnte seine Eltern sehen und seinen nächtlichen Aktivitäten mit Eva nachgehen. Vielleicht wäre es ein bisschen schwieriger, an die französischen Kondome heranzukommen, aber egal, er käme schon zurecht. Er hatte Herrn Maguire noch gefragt, ob er nicht eine ähnliche Stelle für Harold hätte. Der hatte abgelehnt mit der Begründung, das würde nicht gut aussehen, man könnte ihm Begünstigung vorwerfen. Seine Antwort war nein.

Am Tag danach ging Horace in die Feuerwache im Stadtzentrum von Leicester. Zufällig kam gerade John Maguire herein. Mit einem Stirnrunzeln sah er Horace an.

„Tag, Horace“, sagte er, gab ihm die Hand und schüttelte sie herzlich. „Sie kommen einen Tag zu früh – die Auswahl der Neuen ist erst morgen Abend.“

Horace schüttelte den Kopf – die fünf Pfund Wochenlohn, die Momente der Leidenschaft mit Eva, die Frühstücke am Sonntagmorgen mit seiner Familie und die schönen Momente auf dem Hof mit seinem Vater, all das zog vor seinem geistigen Auge vorüber.

„Nein, Mister Maguire, ich bin nicht zu früh dran. Ich bin gekommen, um Ihnen zu danken und Ihnen zu sagen, dass ich mich doch nicht bewerbe.“

„A– aber ...“, stammelte Maguire ungläubig.

Horace ließ ihn sprachlos zurück. Er stellte den Kragen seines Mantels auf und ging auf das vom Nebel gedämpfte Licht zu. Irgendwo läutete eine Kirchenglocke. Es nieselte, und ein Schauer fuhr ihm den Rücken hinunter. Er konnte nur noch an Harold denken und an sein Versprechen, das er ihm gegeben hatte, und hoffte, dass es auch für ihn die richtige Entscheidung war.

Am nächsten Freitagabend ging Horace ziemlich niedergeschlagen durch das Gartentor auf das Haus seiner Eltern zu – sein einziges wirkliches Zuhause. Das Küchenlicht schien hell in die dunkle Nacht. Er blickte durchs Küchenfenster. Seltsam, dachte er, als er seine Eltern und Harold am Küchentisch sitzen sah. Sonst ist Dad doch so früh noch nicht zu Hause – und Mama steht sonst um diese Zeit immer am Herd und kocht das Abendessen. Warum sitzen sie alle um den Tisch wie ... wie bei einer Konferenz?

Als Horace eintrat, stand sein Vater auf. Seine Mutter suchte nach einem Taschentuch und tupfte sich die Augen. Normalerweise hätte Horace vermutet, ein naher Verwandter von ihnen wäre gestorben. Aber diesmal war es anders.

Horace wusste ... er wusste es einfach – und ein Blick in Harolds Augen genügte, um seinen Verdacht zu erhärten.

KAPITEL 2

Harold war zusammen mit seinem Priester der Wesleyanischen Kirche, der ihn moralisch unterstützte, zu einem speziellen Gremium für Kriegsdienstverweigerer gegangen. Horace hatte den Ausdruck „Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen“, den Harold an jenem verhängnisvollen Freitagabend verwendete, noch nicht einmal gehört.

Harold und der Geistliche hatten überzeugend argumentiert, und das Gremium hatte entschieden, dass Harold nicht an der Front kämpfen müsse, dass er nicht auf einen Menschen zielen müsse und nicht eingezogen werde. Stattdessen verpflichtete sich Harold zum zivilen Dienst in der Sanitätstruppe der Königlichen Armee. Diese Truppe war kein normales Regiment und nahm nicht an Kampfhandlungen teil. Gemäß der Genfer Konvention durften ihre Mitglieder Waffen nur in Notwehr verwenden.

Nun stand Horace vor dem Anmeldungsbüro der Armee in der King Street in Leicester, ganz auf sich allein gestellt, der einsamste Mensch der Welt. Eigentlich wollte er nicht wütend und verbittert sein – aber er war es. Mit offenem Mund, fassungslos hatte er sich anhören müssen, dass sein Vater mehr als eine Woche lang versucht hatte, Harolds Problem zu lösen, dass sogar der Geistliche zu ihnen ins Haus gekommen war. Sie hatten alles gemeinsam geplant – und Horace hatte nichts davon gewusst.

Horace kochte vor Wut, als Harold ihm erzählte, sein guter Freund und Mentor Pastor Rendall habe hier, an diesem Pinienholztisch in der Pretoria Road 101, mehrere Tassen Tee getrunken, und das an jenem Abend, an dem Horace zur Feuerwache gegangen war und dort die Chance seines Lebens ausgeschlagen hatte, um stattdessen auf seinen Bruder aufzupassen.

„Das war ein richtiges Komplott“, knurrte Horace, als er sich an den Streit erinnerte, den er mit seinem Bruder an jenem Abend hatte. Am liebsten hätte er ihn verdroschen – nicht weil er das getan hatte, sondern weil er es hinter seinem Rücken getan hatte. Wie sich herausstellte, wusste jeder außer ihm selbst Bescheid – seine Eltern, Daisy und Sybil und natürlich der nette, ach so gottesfürchtige Pfaffe Rendall.

„Was haben Sie gerade gesagt, Soldat?“, bellte eine Stimme und rief Horace in die Gegenwart zurück. Ein Oberstabsfeldwebel mit einem langen, nach oben gedrehten Schnurrbart stand in Habachtstellung vor Horace. Horace sah die Sterne auf seiner Uniform und dachte, es sei wohl besser, höflich und korrekt zu antworten.

„Nichts, Sir. Ich habe mich nur gefragt, ob ich hier richtig bin.“

Horace zog die Papiere heraus und zeigte sie dem Offizier. Der warf einen Blick darauf und bellte: „Korrekt, Soldat. Zweites und fünftes Bataillon des Leicester-Regiments, eines der besten Regimenter der britischen Armee.“ Er ging einen Schritt nach vorn und fügte hinzu: „Sie wissen gar nicht, wie froh Sie sein können, dass Sie bei uns gelandet sind.“

Horace war verwirrt. Vielleicht lag es daran, dass er im Grunde seines Herzens immer noch wütend war, aber er kannte sich nicht recht aus. In dem Schreiben stand doch, er dürfe zwischen der Armee, der Marine und der Luftwaffe wählen. Er war verlegen, stand ein bisschen unter Druck. Er sah die restlichen jungen Männer in der Schlange an, die alle froh zu sein schienen, dass nicht sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, sondern er. Ich bin auch nur ein armer Teufel wie die da, dachte er und fluchte innerlich. Horace räusperte sich laut. Er wollte sich von diesem Unteroffizier da nicht einschüchtern lassen. Wenn der ihn schon verlegen machte, wie würde es ihm dann erst mit den Deutschen ergehen?

„Wissen Sie, Sir, ich habe mich noch nicht entschieden, zu welcher Einheit ich gehe.“

Der Oberstabsfeldwebel machte erneut einen Schritt nach vorn. Horace konnte seinen Atem riechen – er roch nach kaltem Rauch und Tee. Seine Zähne waren fleckig. Der Mann hob die Stimme, und Horace bemerkte den Pistolenhalfter an seinem Gürtel. Der Offizier bellte ihn an: „Sagen Sie mal, wollen Sie erschossen werden, oder was?“ Ein Spuckefaden traf Horaces Auge.

Horace war ein rauer Kerl, aber er wollte es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen. Er nickte nur stumm und schüttelte dann schnell den Kopf.

„Wenn nicht, stellen Sie sich gefälligst wieder in diese gottverdammte Schlange und lassen Sie es sich nicht noch mal einfallen, mein Regiment zu beleidigen.“

„Nein, Sir ... es tut mir leid ...“, flüsterte Horace so leise, dass die Leute in der Schlange es kaum vernahmen.

Nur zwanzig Minuten später hatte er sich per Unterschrift beim zweiten und fünften Bataillon des Leicester-Regiments verpflichtet. Er bekam achtundvierzig Stunden Freizeit und den Befehl, sich in zwei Tagen zu seinem siebenwöchigen Grundwehrdienst zu melden.

Achtundvierzig Stunden. Was soll ein Mann in achtundvierzig Stunden anfangen? Nun ja, da war doch noch was ... Auf dem Rückweg nach Hause ging Horace bei Eva Bell vorbei. Binnen achtundvierzig Stunden verbrauchte er drei Dreierpacks Kondome. Es war gerade Hochsommer, und sie liebten einander in den Maisfeldern, in den Weizenfeldern und Wiesen der Grafschaft Leicestershire.

Der erste Mann, dem Horace zum Grundlehrgang auf dem Kricketplatz von Leicester County begegnete, war Oberstabsfeldwebel Aberfield, der Mann, der ihn neulich eingeschüchtert hatte und zu überreden versucht hatte, zu diesem Bataillon zu gehen. Aberfield hielt den jungen Rekruten einen Vortrag, was es bedeutete, für seinen König und sein Land zu kämpfen, für die Ehre des Regiments, und dass sie einem gewissen dahergelaufenen Österreicher mit nur einem Hoden und einem albernen Bärtchen mal ordentlich zeigen wollten, wo es langgeht. Horace war völlig seiner Meinung und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nur allzu bereit, kämpfen zu lernen und mitzumischen.

Horace hatte zu seiner eigenen Überraschung keine großen Probleme mit der siebenwöchigen Grundausbildung. Gleich am ersten Tag gab man ihm einen neuen Namen: Jim.

„Ich will in meinem Trupp keinen Typen mit dem albernen Namen Horace haben“, scherzte der junge Unteroffizier. Ein halbes Dutzend Rekruten standen da und grinsten. Von da an war Horace einfach Jim – ein beliebig aus der Luft gegriffener Name. Selbst Arthur Newbold, sein Freund aus Ibstock, mit dem er hier zusammen war, fing an, ihn Jim zu nennen, und das, obwohl Arthur ihn doch schon ewig kannte.

Horace buckelte, wie man es ihm befahl. Er begriff schnell, dass es wenig Sinn hatte, Hass auf seinen Bruder oder auf die britische Regierung oder auf den Oberstabsfeldwebel zu schieben, der ihn hierher, zur Infanterie, gesteckt hatte. Seinen Hass wollte er lieber für die Männer mit den quadratischen Helmen aufheben, die auf der gegenüberliegenden Seite des Ärmelkanals Amok liefen. Horace hatte einen Job zu erledigen und sich darauf zu konzentrieren. Das war’s.

Einmal in der Woche wurden die jungen Rekruten mit dem Bus zu einem Schießübungsplatz an der Grenze zwischen Leicestershire und Northamptonshire gebracht. Horace freute sich schon darauf. Es war sein Heimspiel, seine Lieblingsbeschäftigung. Er mochte das Enfield-303-Gewehr mit der V-förmigen Zielvorrichtung am Ende des Laufes. Jedes Mal, wenn er die Waffe in seine Schulter presste und auf das dreiundsiebzig Meter entfernte Ziel anlegte, sträubten sich ihm die Nackenhaare. Horace war ein ausgezeichneter Schütze. Man sprach schon in der Kompanie über ihn, und es kam auch dem Stabsunteroffizier, der den Schießplatz unter sich hatte, bald zu Ohren. Eines Tages nahm ihn Caswell beiseite, nachdem er zehn Ladungen auf das Ziel gefeuert hatte, alle zehn nicht weiter voneinander entfernt als ein Tennisball. Damit hatte er gute Aussichten, am Ende des siebenwöchigen Lehrgangs die Trophäe des Bataillons zu gewinnen.

Er sagte: „Du bist richtig gut, Greasley, einer der besten Schützen, die ich kenne.“

„Danke, Herr Stabsunteroffizier.“

„Es ist nur so, dass Oberstabsfeldwebel Aberfield ebenfalls gut schießt. Er ist Rekordhalter in unserem Bataillon. Er übt jeden Tag mindestens eine Stunde.“

Der Unteroffizier machte eine kurze Pause. Horace hatte so ein komisches Gefühl im Magen.

„Ja und, Herr Stabsunteroffizier?“

„Schau, Greasley, ich will dir nicht den Spaß verderben, aber glaub mir, du hast kein schönes Leben mehr, wenn du den Kerl schlägst. Der macht dir das Leben zur Hölle.“

Das konnte sich Horace lebhaft vorstellen. Aberfield war ein roher Geselle, ein unangenehmer Kerl, der nie normal sprach, sondern immer nur brüllte und niemals lächelte.

In der darauffolgenden Woche zielte Horace ein paarmal absichtlich daneben. Ein Schuss verfehlte das Ziel ganz. Oberstabsfeldwebel Aberfield gewann die Trophäe des Bataillons mit zwei Punkten Vorsprung. Der Rekrut Horace „Jim“ Greasley wurde Zweiter.

Nach der Hälfte ihres Grundwehrdienstes, am 3. September 1939, saßen Arthur und Horace in der Kantine, als eine Rede des britischen Premierministers Neville Chamberlain über Lautsprecher in den ganzen Speisesaal übertragen wurde. Chamberlain sagte, das Ultimatum für Deutschland, seine Truppen aus Polen zurückzuziehen, sei abgelaufen, „folglich befindet sich England mit Deutschland im Krieg“.

Die Soldaten schwiegen betreten. Ein paar waren voller Begeisterung und erzählten jedem, der es hören wollte, was sie alles mit den Deutschen machen würden, wenn der Krieg endlich losginge. Die meisten saßen nur herum und stierten vor sich hin. Horace dachte an seine Familie, vor allem an seinen Zwillingsbruder.

Horace nützte einen weiteren Achtundvierzig-Stunden-Ausgang, und Eva kehrte angenehm wund zwischen den Beinen in ihr Dorf zurück.

„Sag mal, Horace Greasley, kannst du an nichts anderes denken?“, fragte sie ihn, als sie sich in einer abgelegenen Scheune ungefähr zwei Meilen vom Lager entfernt zärtlich küssten und seine Finger unter ihre Unterhose schlüpften.

Horace dachte über ihre Frage nach und fand sie ziemlich dumm. Natürlich dachte er über viele andere Dinge nach. Es war nur so, dass Evas schöner junger Körper sein Gehirn im Wachzustand ganz schön oft beschäftigte. Er träumte sogar manchmal von ihr. Seine Lust war unersättlich, und Eva stand ihm in nichts nach. Noch wusste er nicht, dass die Lust ihn in den Jahren, die vor ihm lagen, noch ziemlich oft quälen würde.

Zu seiner Enttäuschung zog das zweite und fünfte Bataillon des Leicester-Regiments nicht sofort in den Krieg. Den September, Oktober, November und fast den ganzen Dezember verbrachten sie in der Kaserne mit Drill, Stiefelputzen, dem Erledigen diverser Aufgaben um das Lager herum, sie hörten BBC und besuchten immer wieder den Schießübungsplatz. Es war, als hätte die Armee nichts Richtiges für sie zu tun.

Auf einmal, am 23. Dezember 1939, wurde jedem von ihnen der Weihnachtsurlaub gestrichen. Ein offizieller Brief ging an ihre Familien. Schon am zweiten Weihnachtsfeiertag sollten sie nach Frankreich fahren. Horace war am Boden zerstört. An diesem Abend wollte er zu seiner Familie fahren und an Weihnachten, seinem Geburtstag, dort bleiben. Himmel noch mal, dachte er, hätte der verdammte Krieg nicht noch ein paar Tage warten können? Wissen die Herren Generäle und die Politiker denn nicht, wie wichtig dieser Tag für die Menschen ist? Er stellte sich vor, wie seine Mutter am Küchentisch saß, den Brief in den Händen, und weinte. Horace war wütend und verbittert.

Er wachte am Morgen des 25. Dezember um fünf Minuten vor sechs Uhr auf. Er hatte nicht vorgehabt, sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen -es passierte einfach.