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Zaubertrankmeister, Hauslehrer von Slytherin und Doppelagent im Kampf gegen Voldemort – kaum eine Figur aus dem Harry-Potter-Universum ist so schwer zu durchschauen und zugleich faszinierend wie Severus Snape. Einst selbst Zauberschüler fällt er als Lehrer in Hogwarts durch seine Abneigung gegenüber Harry auf. Warum scheint er den Jungen zu verabscheuen, den zu beschützen er sich verpflichtet hat? Wo liegt seine wahre Loyalität? Kann ein ehemaliger Todesser die Seite wechseln? In dieser überaus kundigen Biografie werden der Charakter und die Geschichte Snapes mit Blick fürs Detail betrachtet, sein Verhalten gegenüber treuen Verbündeten und vermeintlichen Gegenspielern genauestens untersucht und die Frage aller Fragen beantwortet: Wer steckt wirklich hinter dem mysteriösen Zaubertranklehrer?
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Seitenzahl: 510
Veröffentlichungsjahr: 2024
Snape
Lorrie Kim
Millicent Shacklebolt (HG.)
Snape
Die inoffizielle Biografie des gefürchteten Zaubertranklehrers von Hogwarts
Lorrie Kim
Millicent Shacklebolt (HG.)
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6. Auflage 2025
© 2024 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Dieses Buch ist kein offizielles Lizenzprodukt und wurde weder von J. K. Rowling, ihrem Verlag noch von Warner Bros. Entertainment Inc. autorisiert, genehmigt oder lizenziert.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 bei Topix Media Lab unter dem Titel Snape. © 2022 by Lorrie Kim. All rights reserved.
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Übersetzung: Brigitte Rüßmann und Wolfgang Beuchelt
Redaktion: Desirée Šimeg
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: AdobeStock/VO IMAGES
Satz: feschart print- und webdesign, Michaela Röhler, Leopoldshöhe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7423-2752-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-2518-8
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Einleitung
Kapitel 1: Severus Snape und Der Stein der Weisen
Kapitel 2: Severus Snape und Die Kammer des Schreckens
Kapitel 3: Severus Snape und Der Gefangene
Kapitel 4: Severus Snape und Der Feuerkelch
Kapitel 5: Severus Snape und Der Orden des Phönix
Kapitel 6: Severus Snape und Der Halbblutprinz
Kapitel 7: Severus Snape und Die Heiligtümer des Todes, Teil 1
Kapitel 8: Severus Snape und Die Heiligtümer des Todes, Teil 2
Kapitel 9: Severus Snape und Das verwunschene Kind
Bibliografie
Dank
Über die Autorin
Der großartige Severus Snape
Die Harry-Potter-Reihe mag nach dem Jungen benannt sein, der lebte, aber es lohnt sich, Severus Snape näher zu betrachten. Diese hakennasige, übellaunige Figur mit fettigen Haaren ist eines der großen Geschenke J. K. Rowlings. Mit Snape ist ihr ein nahezu perfekt zwielichtiger Charakter gelungen, ein Doppelagent, der im Krieg zur rechten Hand der Generäle beider Seiten aufsteigt. Jeder Satz, jede Handlung kann mindestens auf zwei Arten interpretiert werden. Snapes wahre Loyalitäten sind für die Mysterien der Buchreihe entscheidend, aber kann man jemals wissen, was sich hinter seiner Fassade verbirgt? Ja! Bei genauerer Betrachtung erfährt man alles über ihn.
Was macht diese Figur mit all ihren hässlichen Facetten bei den Lesern so beliebt? Snape ist clever und kompetent. Sein trockener Sarkasmus ist lustig und seine Bitterkeit kann erfrischen. Es gibt Dinge, die nur Snape tun kann: Ein Zauberer, der Böses getan und bereut hat, kann schwarze Magie bekämpfen, wie das kein guter Magier je könnte. Er ist aber auch abscheulich und empfindlich. Er hasst es, verspottet zu werden, vor allem von Kindern. Als Erwachsener wird er nicht attraktiver, aber mächtig und geradezu magnetisch. Er vermag es zu beeindrucken. Wenn er Mut zeigt, ist er beinahe schön. Er ist freundlich zu Müttern, wenn auch nicht zu ihren Kindern. Er weiß, wie es sich anfühlt, machtlos oder ungewollt zu sein. So bösartig er sein kann, gibt es nichts, was er nicht täte, um Leben zu bewahren.
Wiegen seine Verdienste seine Grausamkeiten auf? Absolut nicht, doch genau das ist ein Teil der Faszination und Wirkung dieser Figur. Er ist oft unsympathisch, unreif, unattraktiv und unfreundlich – aber er macht etwas aus sich. Seine Geschichte zeigt, dass jeder ein Anrecht auf Hoffnung und Größe hat, nicht nur diejenigen, die immer schon gut waren.
Unter Dumbledore lernt er, seine Fehler wiedergutzumachen. Er wählt immer den richtigen Weg, nie den leichten. Er widersteht dem menschlichen Bedürfnis, seine Unschuld zu beteuern. Er verzichtet auf Anerkennung und Liebe, nutzt seine beachtlichen Gaben zu übermenschlichen Leistungen unter undenkbaren Bedingungen und weiß, dass er dafür nie Anerkennung erfahren wird. Er zwingt sich, gegen jeden Instinkt das Notwendige zu tun. Sein größtes Opfer ist, dass er das Recht aufgibt, sein wahres Ich zu zeigen. Er bewahrt seine Geheimnisse bis zum letzten Atemzug, als er endlich dem Helden der Buchreihe befehlen kann: »Sieh mich an.«
Abkürzungen
HP/SdWHarry Potter und der Stein der Weisen
HP/KdSHarry Potter und die Kammer des Schreckens
HP/GvAHarry Potter und der Gefangene von Askaban
HP/FKHarry Potter und der Feuerkelch
HP/OdPHarry Potter und der Orden des Phönix
HP/HBPHarry Potter und der Halbblutprinz
HP/HdTHarry Potter und die Heiligtümer des Todes
HP/VKHarry Potter und das verwunschene Kind
Severus Snape und der Stein der Weisen
Unter all den Charakteren, die in Harrys erstem Jahr wichtig sind, lernt er Snape zuletzt kennen. Er hat das fantastische Empfangsfest genossen, seinen Platz gefunden und ein Wunder nach dem anderen gesehen – bis zu diesem beunruhigenden Erlebnis:
Professor Quirrell mit seinem absurden Turban sprach mit einem Lehrer mit fettigen Haaren, Hakennase und bleicher Haut.
Es passierte urplötzlich. Der hakennasige Lehrer schaute an Quirrells Turban vorbei Harry direkt in die Augen – und ein scharfer, brennender Schmerz schoss durch Harrys Stirn. (HP/SdW/Kap. 7)
Harry hat so einen Schmerz noch nie gespürt und glaubt, der Blick dieses Lehrers habe ihn ausgelöst. Er erkundigt sich bei Percy, wer das sei.
»[…] das ist Professor Snape. Er lehrt Zaubertränke, aber jeder weiß, dass er es auf Quirrells Job abgesehen hat. Der weiß ’ne Menge über dunkle Künste, der Snape.« (HP/SdW/Kap. 7)
Harry und die Leser lernen in dieser beeindruckenden ersten Begegnung sechs Dinge: Snape ist so hässlich, dass er Kinder verängstigt. Er steht mit Harrys Kindheitstrauma in Verbindung. Er steht dem Bösen nahe. Er ist zutiefst unzufrieden. »Jeder weiß«, dass er den Posten als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste will. Und er mag Harry Potter nicht.
Snapes Abneigung gegen Harry
Die erste Unterrichtsstunde in Zaubertränke bestätigt Harrys Gefühl: »Snape mochte Harry nicht nur nicht – er hasste ihn« (HP/SdW/Kap. 8), unter all den Geheimnissen um Snape eine der wenigen Konstanten. Sieben Bücher lang wissen die Leser nie, warum Snape etwas tut, aber eines ist sicher: Er tut es nicht aus Liebe zu Harry. Er nimmt ihn auch direkt ins Visier: »Ah ja, Harry Potter, unsere neue – Berühmtheit.« (HP/SdW/Kap. 8) Als Hauslehrer von Slytherin scheint er schon gegenüber seinen Erstklässlern über Harry gespottet zu haben, die nun hämisch kichern. Wir wissen bereits, dass der Rest der Schule Slytherin hasst. Und Hagrid hat Harry sogar erzählt: »Alle Hexen und Zauberer, die böse wurden, waren in Slytherin.« (HP/SdW,Kap. 5) Diese Aussage soll fast drei Bücher lang unwidersprochen bleiben.
Unter Snapes Leitung hat Slytherin in den vergangenen sechs Jahren die Hausmeisterschaft gewonnen. Daraus kann man ablesen, dass er die Moral seiner Erstklässler, die von allen anderen als Schurken angesehen werden, mit aller Macht schützt. Er zerstört dieses Bild jedoch, indem er sich ein Kind herauspickt und seine Schüler dazu anhält, es zu verspotten. Eine weitere Konstante: Snape ist grundlos überzeugt davon, dass Harry seine Bekanntheit genießt. Nirgendwo in Band 1 erfahren wir, wie er auf diesen Gedanken gekommen ist.
Mit einer liebevollen Ode an die Magie zeigt er, was ihm wirklich heilig ist:
»Ihr seid hier, um die feine und präzise Wissenschaft der Zaubertrankbrauerei zu erlernen«, sagte er. Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber wie Professor McGonagall konnte Snape eine Klasse mühelos ruhig bekommen. »Wir fuchteln hier nur selten albern mit dem Zauberstab herum, deshalb werden viele von euch nicht glauben, dass das Zauberei ist. Ich erwarte gar nicht, dass ihr die Schönheit eines sanft köchelnden Kessels mit seinen schimmernden Dämpfen erkennt oder die feine Macht von Flüssigkeiten, die durch menschliche Adern kriechen und den Geist verzaubern und die Sinne gefangen nehmen. Ich kann euch zeigen, wie man Ruhm auf Flaschen zieht, Ansehen braut und sogar den Tod verkorkt – wenn ihr nur nicht so ein Haufen von Dummköpfen seid, wie ich sie normalerweise hier sitzen habe.« (HP/SdW/Kap. 8)
Er lässt die Kinder wissen, dass Einstellung und Disziplin in der Magie wichtig sind, und macht deutlich, dass seine Magie nicht von Zauberstäben und -sprüchen abhängt, sondern ausschließlich vom eigenen Verstand.
Sticheleien voller Gemeinheit und Verachtung sind ein fester Bestandteil seines Unterrichts. Er beleidigt Kinder, die nichts getan haben, und straft sie für die Unzulänglichkeiten anderer ab. Wir wissen noch nicht sicher, ob er Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste sein will, aber es scheint, als würde er nicht gerne Zaubertränke lehren. Es klingt, als wäre ihm das Thema zu schade für die meisten Schüler.
Doch selbst diese Spitzen demonstrieren eines von Rowlings versteckten Themen: die Einsamkeit der Begabten. »Albern herumfuchteln« klingt wie ein Kind, dessen Leidenschaften missachtet werden. »Ich erwarte gar nicht, dass ihr wirklich versteht« spricht für die Melancholie wiederholter Enttäuschung. »Dummköpfe« ist der Hilfeschrei eines Wunderkinds, dessen Geist anders funktioniert. Dennoch scheint er bei aller Wut die Hoffnung nicht aufzugeben, dass er diesen wenig versprechenden Anfängern das Wunder dieser Magie vermitteln kann. »Die Schönheit eines sanft köchelnden Kessels mit seinen schimmernden Dämpfen« – für uns Muggel ein magisches Bild einer in stiller Ektase ausgeübten kreativen Tätigkeit. Ein Zustand des Schwelgens im eigenen Können und eine selbstgenügsame Form des Glücklichseins. Bitterkeit, Einsamkeit und Feindseligkeit weichen zurück. Wenn wir später miterleben, wie Snape unaussprechlichen Druck aushält, können wir uns daran erinnern, wie er in diesem ersten Monolog sein Geheimnis teilte: Solange er ein sanftes Schimmern bewahren kann – sei es im Kessel oder in seinen Gedanken –, besitzt er eine unerschöpfliche Quelle der Freude.
»Die feine Macht von Flüssigkeiten, die durch menschliche Adern kriechen.« In diesem Satz liegt der gesamte gespenstische Witz seines Charakters verborgen. Er spricht über Blut. Ist er bösartig? Warum sagt er »kriechen« statt »fließen«? Ist Heimlichkeit für ihn Teil der Schönheit? Spricht er über das Gute oder über Gift? Genießt er es, Menschen zu verunsichern, oder ist er sich dessen gar nicht bewusst? Während sie uns mit seinem verstörenden Humor ablenkt, deutet Rowling in diesem Satz erstmals die große Botschaft der Buchreihe an: In den folgenden Bänden erfährt Harry, dass das Opfer seiner Mutter einen »uralten Blutzauber« heraufbeschworen hat, der Harry (und schließlich sogar Voldemort) gegen schwarze Magie schützt. Auch Snape soll noch mehr darüber lernen, wie dieser Zauber – die Liebe – wirkt, dieses magische Wort, mit dem wir Muggel auch Empathie, Trauer, Bindung oder Beschützerdrang meinen, die uns im Blut stecken, und er wird dieses Wissen nutzen, um »den Tod zu verkorken«. Doch Harry wie Snape sind noch Jahre davon entfernt, dies zu meistern.
Harry und Ron folgen Snapes Ansprache schweigend, aber Hermine spornen seine Worte an und begründen die seltsam angespannte Beziehung zwischen Snape und ihr, mit der sich ein weiteres Buch füllen ließe. Hermine platzt fast, so dringend möchte sie von dem Lehrer aufgerufen werden, und bei ihrem vierten Versuch hält es sie einfach nicht mehr auf dem Stuhl. Sie nimmt jede seiner Botschaften auf, und das wird sich auch nicht ändern. Und indem er sie wiederholt ignoriert, teilt er ihr mit: Dies gilt nicht ihr. Die Geschichte dreht sich nicht um sie.
»Potter!«, sagte Snape plötzlich. »Was bekäme ich, wenn ich geriebene Affodillwurzel in einen Wermutaufguss gäbe?«
Geriebene Wurzel von was in einen Aufguss wovon? Harry schaute kurz zu Ron, der genauso ratlos aussah wie er; Hermines Hand war in die Luft geschossen.
»Ich weiß nicht, Sir«, sagte Harry.
Snapes Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Grinsen.
»So, so – Ruhm ist eben doch nicht alles.« (HP/SdW/Kap. 8)
Ganz abgesehen davon, dass Ruhm für Harry tatsächlich nichts bedeutet: Was hat dann Bedeutung?
Er ignorierte Hermines Hand.
»Versuchen wir es noch einmal, Potter. Wo würdest du suchen, wenn du mir einen Bezoar holen solltest?«
Hermine streckte die Hand so hoch in die Luft, wie es möglich war, ohne dabei aufzustehen. (HP/SdW/Kap. 8)
Hat Snapes Frage eine tiefere Bedeutung?
»Du dachtest vermutlich, vorher mal in ein Buch schauen sei nicht nötig, wie, Potter?«
Harry zwang sich, weiter geradewegs in diese kalten Augen zu schauen. Er hatte bei den Dursleys sehr wohl in die Bücher geschaut, aber erwartete Snape etwa, dass er Tausend Zauberkräuter und -pilze bereits auswendig konnte? (HP/SdW/Kap. 8)
Sucht Snape nur nach einem Grund, ein Kind zu schikanieren? Oder führt er hier, wie Erwachsene es manchmal tun, eine alte Feindschaft fort, von der Harry und die Leser nichts wissen? Die einzige Schülerin, die das gesamte Buch auswendig kann, ist eine Muggelstämmige, die Hogwarts nicht für selbstverständlich hält und die begierig alles Magische aufsaugt, da die Zaubererausbidlung für sie ein Privileg und die Erfüllung ihrer Träume ist. Vielleicht erinnert sie Snape an sich selbst in ihrem Alter und er ist einfach nicht in der Stimmung für Erinnerungen oder Selbsterkenntnis. Vielleicht kann er seinen alten Groll gegen Schüler noch nicht ablegen, denen alles zufällt, weil sie meinen, dazuzugehören, ein Anrecht auf alles zu haben, und daher keine Wertschätzung zeigen zu müssen.
Snape rattert die Antworten herunter und der Zusammenstoß ist vorbei. Er hat der Klasse klargemacht, wer das Sagen hat, und Harry verliert einen Punkt für Gryffindor. Snape unterrichtet danach praktisch normal weiter, nicht unangenehmer als jeder andere armselige Lehrer.
Gerade forderte er alle anderen auf, sich anzusehen, wie perfekt Malfoy seine Wellhornschnecken geschmort hatte, als giftgrüne Rauchwolken und ein lautes Zischen den Kerker erfüllten. Neville hatte es irgendwie geschafft, Seamus’ Kessel zu einem verbogenen Klumpen zu schmelzen, und das Gebräu sickerte über den Steinboden und brannte den Schülern Löcher in die Schuhe.
»Du Idiot!«, zischte Snape und ließ den verschütteten Trank mit einem kurzen Wirbeln seines Zauberstabs verschwinden. (HP/SdW/Kap. 8)
An dieser Szene sind einige Dinge bemerkenswert, unter anderem ihr Ton. Snapes Lob für Malfoy ist erfrischend sachlich: Sachlichkeit ist offensichtlich eines der Dinge, die für ihn mehr zählen als Ruhm. Dass er hier die richtigen Prioritäten setzt, ist so überraschend wie erleichternd. Er scheint Malfoy zu mögen, nicht nur zu bevorzugen; vielleicht ist er also doch ein Mensch. Doch Nevilles Drangsalierung ist nur der Anfang einer langen Geschichte der Misshandlung. Viele Leser vermuten komplizierte Gründe für Snapes Abneigung gegen Neville, der statt Harry der Junge, der lebt, hätte sein können. Der Text bietet aber keine andere Erklärung als Snapes generelle Intoleranz gegenüber Fehlern an.
»Potter, warum hast du ihm nicht gesagt, er soll die Pastillen nicht reintun? Du dachtest wohl, du sähst besser aus, wenn er es vermasselt, wie? Das ist ein weiterer Punkt, den du für Gryffindor verlierst.« (HP/SdW/Kap. 8)
Mit dieser schrägen Vorstellung sichert Snape sich einen Platz in der Ruhmeshalle schlechter Lehrer. Indem er die Kinder dafür beschimpft, dass sie ad hoc erfundene Regeln nicht befolgen, ihnen absurde Motive unterstellt und ihnen durch eine willkürliche Strafe jeden Mut zum Widerspruch nimmt, verletzt Snape alle Regeln der Fairness.
Snape mag für den großen Plan unentbehrlich sein, aber so geht man nicht mit Kindern um. Doch so ist das Hogwarts, das Rowling erschaffen hat, und manchmal ist die reale Welt genauso. Manche Lehrer benehmen sich im Klassenzimmer wie kleine Despoten, Direktoren wissen nicht immer, was in den Klassen passiert, oder es ist ihnen egal, und viele Leser sind selbst in der Schule schikaniert worden.
Harry erzählte Hagrid von der Stunde bei Snape. Wie Ron meinte Hagrid, er solle sich keine Gedanken machen, Snape möge kaum einen der Schüler.
»Aber mich schien er richtig zu hassen.«
»Blödsinn!«, sagte Hagrid. »Warum sollte er?«
Aber irgendwie hatte Harry das Gefühl, dass Hagrid ihm nicht wirklich in die Augen sah, als er das sagte. (HP/SdW/Kap. 8)
Einige der Erwachsenen, auf die sich Harry am meisten verlässt, scheinen Snapes Tyrannei zu erkennen, tun aber nichts dagegen. Sie scheinen ihn sogar zu respektieren. Typisch Erwachsene, scheinen sie mehr über Snape zu wissen, als sie einem Kind sagen wollen, obwohl es Harry direkt betrifft. Um Snape zu verstehen, muss Harry lernen, das Erwachsensein zu verstehen. Nicht Reife, denn Snape verhält sich oftmals deutlich unreifer als einige seiner Schüler, aber vielleicht sehen Erwachsene etwas in Snapes Geschichte, das Kinder in ihren Augen nicht verstehen können.
Professor McGonagall scheint Snape nicht nur zu respektieren, sondern gerne mit ihm zusammenzuarbeiten, etwa als die beiden gemeinsam mit Quirrell den Troll in der Mädchentoilette aufspüren. Wortlos sind sie sich einig, dass Snape sich um den Troll kümmert und McGonagall um die Schüler. Snape sagt nichts, wirft Harry aber »einen kurzen durchdringenden Blick« zu – womöglich der erste ungenannte Einsatz von Legilimentik. (HP/SdW/Kap. 10)
Warum ist Snape mit McGonagall und Quirrell bei diesem Zwischenfall vor Ort? Nicht weil sie Hauslehrer sind, sonst wären Flitwick und Sprout auch dabei. McGonagall ist als stellvertretende Schulleiterin anwesend, Quirrell als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, ist aber unnütz. Dies ist eine der frühen Gelegenheiten, bei denen Snape die Pflichten des Verteidigungslehrers mit übernimmt. Und es ist ein Signal an die Leser: Snape ist immer da, wo etwas Entscheidendes passiert.
Zur nächsten Konfrontation kommt es einige Tage später, als ein seltsam hinkender Snape Harry unter Hinweis auf eine Regel, die er vermutlich gerade erfunden hat, ein Buch abnimmt. Harry macht sich kurz darauf verärgert auf den Weg zum Lehrerzimmer, um es von ihm zurückzufordern.
Er drückte die Tür ein wenig auf und spähte hinein – und eine scheußliche Szene spielte sich vor seinen Augen ab.
Snape und Filch waren alleine. Snape hatte seinen Umhang über die Knie hochgezogen. Eines seiner Beine war blutig und zerfleischt.
Filch reichte ihm Verbände an. (HP/SdW/Kap. 11)
Eine scheußliche Szene. Dieses Bild fängt perfekt das Unwohlsein ein, das Schüler haben, wenn sie zu viel über ihre Lehrer erfahren, ihnen zu nahe kommen. Snapes demütigender Zustand der Blöße. Da möchte man nicht genauer hinsehen. Harry wird zwar entdeckt, kommt aber gerade noch so davon und erzählt Ron und Hermine, dass er glaubt, Snape versuche zu stehlen, was der dreiköpfige Hund bewacht.
»Nein, das würde er nicht tun«, sagte [Hermine]. »Ich weiß, er ist nicht besonders nett, aber er würde nie etwas zu stehlen versuchen, was Dumbledore sicher verwahrt.« (HP/SdW/Kap. 11)
Mit zwei nennenswerten Ausnahmen bleibt dies Hermines Einschätzung von Snape: nicht nett, aber vertrauenswürdig. Wie Hagrid und McGonagall hält sie ihn grundsätzlich für gut und auf Dumbledores Seite. Die erste Ausnahme ist das Quidditch-Spiel, in dem Hermine glaubt, Snape versuche Harry umzubringen, indem er dessen Besen verzaubert. Sie versucht den Zauber zu brechen, indem sie Snapes Kleidung in Brand steckt.
Die Geschehnisse des Nachmittags hatten ihre Meinung über Snape offensichtlich geändert.
»Ich erkenne einen bösen Zauber, wenn ich ihn sehe, Hagrid, ich habe alles darüber gelesen! Du musst ständig Augenkontakt halten und Snape hat noch nicht einmal geblinzelt, ich habe ihn beobachtet!«
»Ich sag’ euch, ihr liegt falsch!«, sagte Hagrid hitzig. »Ich weiß nicht, warum Harrys Besen sich so benommen hat, aber Snape würde nie versuchen, einen Schüler umzubringen!« (HP/SdW/Kap. 11)
Hermine wird nie wieder ein so vorschnelles Urteil über Snape fällen.
Zur zweiten Ausnahme kommt es erst am Ende des sechsten Bands, und Snape tut alles in seiner Macht Stehende, um sie so weit zu bringen. Bei diesem ersten Vorfall stimmt sie zwar schließlich Hagrid zu, scheint aber kein schlechtes Gewissen zu haben, die Kleidung eines unschuldigen Lehrers in Brand gesetzt zu haben (auch wenn der sie behandelt, als sei sie Luft).
Beim nächsten Quidditch-Spiel erlebt das Gryffindor-Team eine böse Überraschung: Snape besteht darauf, Schiedsrichter zu sein, obwohl er das noch nie gemacht hat. Mangels gegenteiliger Beweise muss Harry zu der Schussfolgerung kommen, dass Snape ihn umbringen oder zumindest verhindern will, dass eine andere Mannschaft an Slytherin vorbeizieht. Auf jeden Fall taucht Snape unerfreulich häufig in seinem Leben auf.
Manchmal fragte er sich, ob Snape ihm folgte, um ihn irgendwo allein zu erwischen. Die Zaubertrank-Stunden wurden zu einer Art wöchentlicher Tortur, so abscheulich war Snape zu Harry. War es möglich, dass Snape wusste, das sie alles über den Stein der Weisen herausgefunden hatten? Harry konnte es sich nicht vorstellen – trotzdem hatte er manchmal das schreckliche Gefühl, Snape könne Gedanken lesen. (HP/SdW/Kap. 13)
Rowling streut in ihre Beschreibungen Snapes stets mehrdeutige Motive ein und ermöglicht widersprüchliche Auslegungen. Snape überwacht Harry deutlich stärker, aber warum? Aus eigenem Antrieb oder auf Befehl? Versucht er, Harry allein zu erwischen oder zu verhindern, dass andere es tun, oder beides? Steht er unter Stress und lässt das im Unterricht an Harry aus, oder würde er sich auch unter anderen Umständen so verhalten? Nutzt Snape, was wir später als Legilimentik kennenlernen, oder hat Harry nur ein schlechtes Gewissen?
Zu Harrys Erleichterung kommt Dumbledore auch zum Quidditch-Match. Dies ist das erste Mal, dass Harry verstohlene Gespräche und Spannungen zwischen dem Lehrer und dem Schulleiter auffallen.
Snapes Laune wird während des Spiels immer schlechter. George Weasley trifft ihn mit einem Klatscher. Dafür gibt Snape Hufflepuff einen Strafwurf und ein paar Minuten später einen zweiten, »diesmal ganz ohne Grund«. (HP/SdW/Kap. 13) Ist er parteiisch, gereizt oder ist es etwas ganz anderes? Harry verfehlt Snape »um Zentimeter«, als er dem Schnatz hinterherschießt, und Snape ist »bleich und schmallippig«. Harry fängt den Schnatz und alle landen unter Jubel. Na ja, fast alle; Snape spuckt »verbittert auf den Boden«. (HP/SdW/Kap. 13) Und das vor Dumbledore und den Schülern? Es tut zwar keinem weh, dass er ausspuckt, aber das Maß an Verbitterung ist schon erstaunlich.
Snapes Widerstand gegen den neuen Verteidigungslehrer
Harry hat kaum Zeit, sich über Snapes Verhalten Gedanken zu machen. Nur Minuten später beobachtet er, wie der Lehrer sich unter einem Kapuzenmantel verborgen zu einem geheimen Treffen mit Quirrell in den Verbotenen Wald schleicht. Harry belauscht, wie er droht: »Sie wollen mich nicht zum Feind, Quirrell.« (HP/SdW/Kap. 13) Dieser unergründliche Mann ist aus jedem Blickwinkel beeindruckend und ein furchterregender Gegner.
Überzeugt, dass Snape den Stein der Weisen stehlen will, beschließen Harry, Ron und Hermine, ihn zu stoppen. Dummerweise laufen sie dabei McGonagall in die Arme, die erschrocken einen Stapel Bücher fallen lässt, als Harry ihr von ihrem Verdacht erzählt.
»Ich weiß nicht, wie Sie vom Stein der Weisen erfahren haben, aber seien Sie versichert, niemand wird ihn stehlen, dafür ist er zu gut bewacht.«
»Aber Professor –«
»Potter, ich weiß, wovon ich spreche«, sagte sie schroff. Sie beugte sich herab und hob die Bücher wieder auf. »Ich schlage vor, Sie gehen alle wieder nach draußen und genießen die Sonne.« (HP/SdW/Kap. 16)
Die Kinder wollen dies gerade missachten, als Snape sie freundlich grüßt. Er enttäuscht einen nie.
»An einem Tag wie diesem sollten Sie nicht drinnen sein«, sagte er mit einem seltsam gezwungenen Lächeln.
»Wir waren –«, begann Harry ohne eine Ahnung, was er weiter sagen wollte.
»Ihr solltet lieber etwas vorsichtiger sein«, sagte Snape. »So wie ihr hier rumlungert, könnte man meinen, ihr heckt etwas aus. Und Gryffindor kann es sich wirklich nicht leisten, noch mehr Punkte zu verlieren, oder?« (HP/SdW/Kap. 16)
Snapes »seltsam gezwungenes Lächeln« verrät, dass auch er etwas vorhat. »Ihr solltet lieber etwas vorsichtiger sein« ist der typische Satz eines Lehrers, der seine Schüler durchschaut hat. Hier ist er zudem der echte Ratschlag eines erfahrenen Erwachsenen, der weiß, wogegen diese Kinder kämpfen. Rowling weist uns zart darauf hin, dass Snape mit McGonagall gesprochen hat und ihre Warnung mit seiner untermauern will. Mit seiner Stichelei über Gryffindors Punktekonto kann er nicht nur die Schüler ärgern, sondern erinnert McGonagall auch an ihre freundschaftliche Rivalität. (HP/SdW/Kap. 16) Als Snape gegangen ist, beauftragt Harry Hermine, Snape im Auge zu behalten, und nutzt so dessen Neigung, Hermine zu übersehen, geschickt aus. Dieses Mal aber funktioniert es nicht:
»Snape ist rausgekommen und hat mich gefragt, was ich dort mache, also habe ich gesagt, ich würde auf Flitwick warten. Snape ist ihn holen gegangen und ich bin grad erst losgekommen. Ich habe keine Ahnung, wo Snape hin ist.« (HP/SdW/Kap. 16)
Offenbar ist Snape durchaus in der Lage, Hermine zu sehen und sie auflaufen zu lassen, wenn es ihm in den Kram passt.
Als Harry und seine Freunde später mehrere Zauber durchbrechen, die den Stein der Weisen schützen, ist Snapes Schutzzauber der letzte, bevor Harry zum Spiegel Nerhegeb gelangt, in dem Dumbledore den Stein versteckt hat. Selbst junge Leser erkennen schnell, dass die Schutzzauber von Sprout, Flitwick, McGonagall, Quirrell und Snape darauf angelegt sind, dass Harry und seine Freunde sie lösen können. Nur Dumbledores Schutz, der Spiegel Nerhegeb, ist absolut diebstahlsicher, was erklärt, warum McGonagall sich so sicher ist. Ihr war bestimmt klar, dass ihr Schutzzauber und die ihrer Kollegen auf das Wissen einer Gruppe von Erstklässlern ausgelegt waren.
Es muss irgendwann nach Weihnachten gewesen sein, dass Dumbledore die Lehrer gebeten hat, als eine Art praktische Abschlussprüfung für Harry und seine Freunde Hindernisse aus Schutzzaubern zu errichten. Da hatte McGonagall bereits Gelegenheit, Rons Schachtalent zu beobachten, Flitwick Harrys Flugkünste kommentiert und Quirrell wusste, dass die drei Schüler einen Troll ausschalten konnten. Sprouts Schutz deutet, wie Clare Moseley anmerkt, darauf hin, dass die Lehrer bei ihrer Planung noch nicht sicher waren, welche der Freunde Harry begleiten würden (Clare Moseley 2015): Die Teufelsschlinge könnte für Neville gedacht sein, der gut in Kräuterkunde ist.
Wo Quirrells Schutz banal ist und Dumbledores von schlichter Schönheit, ist Snapes verzwickt angelegt und stellt jeden, der das Rätsel lösen will, auf verschiedene Weise auf die Probe, wobei ein Scheitern durchaus tödliche Konsequenzen haben kann – vielleicht Snapes persönlicher Touch. Er hat Zaubertränke und Gift gemischt. Es gibt sieben Flaschen, eine magische Zahl, die allegorisch darauf hinweist, dass der gehütete Schatz mit Träumen und Wahlmöglichkeiten zu tun hat. Doch die Flaschen müssen korrekt eingesetzt werden: Wird ein Trank falsch genutzt, gibt es keinen Ersatz. Indem er die Hinweise in Reime verpackt, verleiht er dem ganzen einen würdigen Rahmen. So sieht es also aus, wenn Snape Miss Granger endlich auf die Probe stellt. Es geht um Logik, die Sprache ihrer Macht.
Sie sind in Lebensgefahr, aber Hermine ist erleichtert, muss sogar lächeln. Sie ist das Kind, dass die Schönheit eines sanft köchelnden Kessels versteht und nichts außer dem benötigt, was sie im Kopf hat. Die Hinweise sind wie für sie gemacht. Snape hat vorhergesehen, dass sie hier sein würde, was beweist, dass er sie sehr wohl wahrgenommen hat.
»Großartig«, sagte Hermine. »Das ist keine Zauberei, das ist Logik, ein Rätsel. Viele der größten Zauberer haben keinen Funken Logik in sich, sie würden auf ewig hier feststecken.« […] »Alles, was wir brauchen, steht hier auf diesem Blatt Papier.« (HP/SdW/Kap. 16)
Hermine bekommt schnell heraus, welcher Trank für Harry gedacht ist. Er bringt ihn in die Kammer mit dem Spiegel Nerhegeb und es stellt sich heraus, dass es Quirrell war, der den Stein der Weisen stehlen wollte. Mit dieser überraschenden Wendung lernen die Leser, dass es in dieser erdachten Welt schwerere Verbrechen gibt als Schikane. Quirrell ist »der Mann mit den zwei Gesichtern« aus der Kapitelüberschrift, der seine bösen Pläne hinter der Fassade eines nervösen Lehrers versteckt.
»Severus?«, Quirrell lachte, und es war auch nicht sein übliches, schrill-zittriges Lachen, sondern kalt und beißend. »Ja, Severus scheint genau der Typ zu sein, nicht wahr? So praktisch, dass er umherflattert wie eine zu groß geratene Fledermaus. Wer würde neben ihm schon den a-a-armen, ststotternden P-Professor Quirrell verdächtigen?« (HP/SdW/Kap. 17)
Quirrell bestätigt, dass Snape Harry beschützt hat.
»Aber Snape hat versucht, mich umzubringen!«
»Nein, nein, nein. Ich habe versucht, Sie umzubringen. Ihre Freundin, Miss Granger, hat mich aus Versehen umgerempelt, als sie losrannte, um Snape beim Quidditch-Spiel in Brand zu stecken. Sie hat meinen Blickkontakt zu Ihnen durchbrochen. Ein paar Sekunden mehr und ich hätte Sie von diesem Besen geholt. Das wäre mir schon früher gelungen, hätte Snape nicht diesen Gegenzauber gemurmelt, um Sie zu retten.« (HP/SdW/Kap. 17)
Hagrid hatte also recht, nicht Hermine: Will man Snape verstehen, reicht es nicht, alles über Flüche gelesen zu haben und voreilige Schlüsse zu ziehen.
Quirrell ist nur der erste in einer Reihe von Lehrern für Verteidigung gegen die dunklen Künste, die als Gegenstück zu Snape dienen. Was für eine Art Mensch Snape ist, erfahren wir erst, als er stirbt. Indem er Lehrer gegenübergestellt bekommt, deren Stelle er angeblich begehrt, können wir oftmals erkennen, wie er eben nicht ist. Dass er ein unfairer und boshafter Lehrer ist, ist offensichtlich – dass er beschützt, nicht so sehr. Doch er wünscht Harry nicht den Tod und versteckt sich auch nicht wie Quirrell hinter einer harmlosen Fassade.
Rowling lässt die beiden Bedrohungen für Harry – Snape und Quirrell – in mehreren Szenen gemeinsam auftreten. Beim Bankett zu Beginn des Schuljahrs schmerzt Harrys Narbe durch die Nähe Voldemorts. Quirrell sitzt neben Snape, der Harry direkt in die Augen sieht. Snapes Feindseligkeit und sein stereotypes Schurkenaussehen verdecken die eigentliche Quelle der Bedrohung, genau wie später beim Quidditch-Spiel. Snape wirkt so teuflisch, während er Zauber auf Harry richtet, und ist bekannt dafür, ihn im Unterricht zu drangsalieren, dass Hermine den wahren Feind umrennt, ohne es zu bemerken. Als Harry die beiden Lehrer im Wald beobachtet, nimmt er an, dass Snape Quirrell drangsaliert, und fühlt sich diesem sofort verbunden: »Wann immer Harry Quirrell in diesen Tagen begegnete, schenkte er ihm ein aufmunterndes Lächeln, und Ron fing an, die anderen zu rügen, wenn sie über Quirrells Stottern lachten.« (HP/SdW/Kap. 14) Als er hört, wie jemand Quirrell droht, würde er »zwölf Steine der Weisen« (HP/SdW/Kap. 15) darauf wetten, dass es Snape ist, was seine Fassungslosigkeit erklärt, als er die Wahrheit erkennt.
»Snape hat versucht, mich zu retten?
»Natürlich«, sagte Quirrell kalt lächelnd. »Warum meinen Sie, dass er beim nächsten Spiel unbedingt Schiedsrichter sein wollte? Er wollte sichergehen, dass ich es nicht wieder versuche. Lustig, eigentlich … er hätte sich die Mühe sparen können. Da Dumbledore da war, konnte ich eh nichts tun. Alle anderen Lehrer glaubten, Snape wollte verhindern, dass Gryffindor gewinnt, da hat er sich richtig unbeliebt gemacht …« (HP/SdW/Kap. 17)
Snapes Ruf
Quirrells Aussage erlaubt es noch nicht, alle verwobenen Motive zu entwirren: Will Snape wirklich Schiedsrichter sein oder hat ihn jemand angewiesen, darauf zu bestehen? Will er Quirrell wirklich davon abhalten, Harry zu töten, oder muss er so tun, weil der Schulleiter anwesend ist? Denken alle anderen Lehrer wirklich, er wolle nur verhindern, dass Gryffindor gewinnt? Es ist zumindest die glaubhafteste aller Erklärungen bei einem Lehrer, der über sechs Jahre alles getan hat, um seine Schüler zum Sieg bei der Hausmeisterschaft zu führen. Zumindest einige, wenn nicht sogar alle anderen Lehrer mutmaßen, er wolle betrügen, denn es wäre Dumbledore unmöglich gewesen, alle bis auf Quirrell ins Vertrauen zu ziehen.
Egal ob freiwillig oder auf Anweisung, Snape liefert somit einen Vorwand, unter dem er das Missfallen seiner Kollegen bewusst auf sich ziehen kann. Er kann sich schließlich nicht verteidigen, indem er seine wahren Motive erklärt, die manchmal eben auch bedeuten, dass er einen Jungen schützt, den er nicht ausstehen kann. Für einen Mann, für den Verteidigung alles ist, muss es teils unerträglich sein, sich nicht verteidigen zu können und als der gesehen zu werden, der er ist.
Das Geheimnis um Snapes wahre Motive
Vor dem Spiel sieht Snape wütend aus und hinterher spuckt er auf den Boden. Er versucht gar nicht erst vor Dumbledore zu verbergen, dass er es gehasst hat. Das lässt erahnen, dass er nicht aktiv Harrys Tod herbeigewünscht hat und dies vor seinem Vorgesetzten verbergen wollte. Nach dem Spiel ist er bleich und schmallippig. Vielleicht wollte er nicht mitten im Spiel landen und ist wütend, weil Dumbledore dies von ihm verlangt hat. Vielleicht verabscheut er auch, wie unbeholfen dieser Vorwand zusammengeschustert ist. Wenn Snape sich früher nicht beim Quidditch eingemischt hat, warum sollte jemand glauben, dass er ausgerechnet jetzt unbedingt Schiedsrichter sein wollte, ganz ohne Hintergedanken? Den eigenen Ruf beständig weiter zu schädigen, macht niemandem Spaß. Es werden allmählich Leitmotive deutlich, die Snape begleiten.
»Aber Snape schien mich immer so sehr zu hassen.«
»Oh, das tut er auch«, sagte Quirrell beiläufig, »Himmel, ja. Er war mit Ihrem Vater gemeinsam in Hogwarts, wussten Sie das nicht? Sie verabscheuten einander. Aber er wollte Sie niemals tot sehen.« (HP/SdW/Kap. 17)
Wie konnten die Erwachsenen um Harry ihm diese Information vorenthalten? Das erinnert an eines der wenigen Details, die Harry über James erfährt: McGonagall sagt ihm, dass James, »selbst ein exzellenter Quidditch-Spieler«, stolz auf Harry wäre. (HP/SdW/Kap. 9)
Wir wissen noch nicht, dass James wie Harry für Gryffindor Quidditch gespielt hat. Wir können noch nicht erahnen, dass es für Snape ein Albtraum sein muss, dass ein Potter auf einem teuren Besen auf ihn zufliegt. Anscheinend wollte er gar nicht Schiedsrichter sein, erntet dafür auch keine Anerkennung, verärgert seine Kollegen, muss einem Klatscher ausweichen und darf seine Handlungen nicht rechtfertigen. Er kann nur Dampf ablassen, indem er grundlos einen Strafwurf gegen Hufflepuff verhängt und nach dem Spiel auf den Boden spuckt. Dank Harrys Talent ist es ein extrem kurzes Spiel, was Snape jedoch sicherlich nicht dankbar stimmt.
Hagrid hat recht: Snape wollte nie Harrys Tod. Hier können wir uns sogar auf Quirrells Worte verlassen. Mit Voldemort in seinem Kopf kann der Zauberer bestimmt Snapes Gefühle wahrnehmen und hat keinen Grund zu lügen, da Harry ja bald tot sein wird, wie er glaubt.
Hier nimmt ein weiteres Leitmotiv Gestalt an: die Unterscheidung zwischen Hass und der Überzeugung, dass jemand zu sterben verdient. Dumbledore sagt Harry, dass James Snape zwar nicht mochte, aber nie geglaubt habe, dass er den Tod verdient habe. Dumbledore vergleicht deren Verhältnis mit Harrys Feindschaft mit Draco und hilft ihm und den Lesern dadurch, es besser zu verstehen.
»Nun ja, sie haben sich gegenseitig ziemlich verachtet. Ähnlich wie du und Mr. Malfoy. Und dann hat dein Vater etwas getan, was Snape ihm nie verzeihen konnte.«
»Was?«
»Er hat ihm das Leben gerettet.« (HP/SdW/Kap. 17)
Diese überraschende Neuigkeit führt das Konzept des Unverzeihlichen und der Lebensschuld ein, das noch wichtig werden soll.
»Professor Snape konnte es nicht ertragen, in der Schuld deines Vaters zu stehen … Ich glaube, er hat sich dieses Jahr so sehr bemüht, dich zu schützen, weil er meinte, er wäre dann endlich mit deinem Vater quitt und könnte ihn dann getrost einfach wieder hassen …«
Harry versuchte, dies zu verstehen, aber es ließ seinen Kopf so heftig pochen, dass er es sein ließ. (HP/SdW/Kap. 17)
Man muss sich beim Lesen der gesamten Reihe immer vor Augen halten, dass Rowling bei Band 1 nicht wissen konnte, ob sie weitere Bände würde veröffentlichen können, ganz zu schweigen von einer siebenteiligen Reihe. Die Enthüllungen am Ende von Der Stein der Weisen sollten vermutlich ausreichen, um die Geschichte abzuschließen, aber genug Raum für Spekulationen lassen, damit die Leser mehr wollen.
Harry lernt, dass Snape jemand ist, der an seiner Vorstellung von Ehre festhält, auch wenn sie ihn dazu zwingt, Dinge zu tun, die er verachtet, um jemanden zu schützen, den er nicht mag. Dumbledore weiß dies über Snape und in Band 1 ist der Schulleiter allwissender und warmherziger beschrieben, als er es je wieder sein wird. Snapes Reaktion darauf, dass der Stein der Weisen so nahe ist, deutet an, dass er magische Schätze nicht besonders schätzt. Oberflächlich betrachtet ist sein Charakter äußerst unangenehm. Darunter mag er von dem Verlangen angetrieben sein, seine Schuld zurückzuzahlen, vielleicht auch von seiner Ehre oder seinem Beschützerdrang, aber nicht von Habgier.
Für das Rätsel, wie vertrauenswürdige Erwachsene trotz seiner Anstandslosigkeiten mit Snape zusammenarbeiten können, und für sein unberechenbares Verhalten erhalten wir nur bruchstückhafte Erklärungen. Das spiegelt auf einer anderen Ebene, wie sich ein Kind in einer Welt fühlt, in der schwer durchschaubare Erwachsene das Sagen haben. Warum tun Erwachsene, was sie tun? In Band 1 sehen wir Snape durch die Augen eines Kindes, das unter ihm leidet. Warum entscheiden sich missgünstige Menschen überhaupt dazu, Lehrer zu werden? Es muss mehr dahinterstecken – das innere Bedürfnis, Schüler zu fördern, scheint es nicht zu sein.
Nach dem Triumph der vier Erstklässler gegen Voldemort und Quirrell und durch ein wenig Gruppendruck gewinnt Gryffindor verdient den Hauspokal.
»Was heißt«, rief Dumbledore über den tosenden Applaus, denn selbst Ravenclaw und Hufflepuff feierten den Fall Slytherins, »wir müssen die Dekoration ein wenig ändern.«
Er klatschte in die Hände. Sofort wurden die grünen Girlanden scharlachrot und das Silber verwandelte sich in Gold. Die riesige Slytherin-Schlange verschwand und der gewaltige Gryffindor-Löwe nahm ihren Platz ein. (HP/SdW/Kap. 17)
Die Entscheidung Rowlings, erst Slytherin als Sieger zu präsentieren und ihnen dann in letzter Sekunde den Sieg vor den Augen ihrer Rivalen zu nehmen, die dies auch noch feiern, erscheint den Slytherin-Schülern gegenüber grausam und wird von vielen Lesern auch kontrovers diskutiert. Andererseits wurden die Leser Zeugen, wie die Slytherins sich im Wettbewerb offen unfairer Taktiken bedienten, Snape parteiisch Punkte verteilte und Draco sich bemühte, dass Harry und Ron nach der Sperrstunde erwischt wurden. Dumbledores Eingreifen ist somit eine überfällige Korrektur zugunsten der Fairness. Sie hätte aber auch ohne den dramatischen Effekt des Umdekorierens passieren können, was Anklänge institutionellen Spotts und Demütigung hat. Entsetzt und gelähmt wie nach einer »Ganzkörperklammer« (HP/SdW/Kap. 17) ist Draco Malfoy bestimmt nicht der Einzige, der sich betrogen fühlt, weil ausgerechnet der Schulleiter drei Viertel der Schüler im Jubel gegen die restlichen Schüler anführt.
Verstörend ist, dass die Autorin diese Szene ohne jegliche Sympathie für Slytherin präsentiert. Die Leser müssen sich entweder dem Jubel anschließen, was denjenigen, die in der Schule von Mitschülern wie Draco drangsaliert wurden, vermutlich nicht schwerfällt, oder sich von der Geschichte distanzieren und sich gegen die Autorin wenden, die diese Art der Feindseligkeit zwischen Gruppen nur deutlich verurteilt, wenn sie von Slytherin-Schülern ausgeht.
Von dieser Warte aus lässt sich Slytherins sechsjährige Siegessträhne beim Hauspokal als stolze Kampagne und Rebellion betrachten. Der Hauspokal hat für sie eine andere Bedeutung als für ihre Mitschüler. Snape ist nicht umsonst so besessen auf Punkte aus. Wir wissen noch nicht, dass er zu Beginn der Siegesreihe erst 24 Jahre alt war – für einen so jungen Lehrer ein beachtlicher Erfolg. Da alle gegen Slytherin sind, von den anderen Schülern bis zum Schulleiter, ist nachvollziehbar, dass seine Gehässigkeit und Schikanen ihm und seinen Schülern als geringfügige Vergeltung erscheinen, auch wenn Snapes Verhalten für einen Lehrer absolut beschämend bleibt.
Der Verlust des Hauspokals wäre für Slytherin auf jeden Fall ein harter Schlag, aber mit der emotionalen Wucht der Korrektur in letzter Sekunde und dem darauffolgenden Jubel hat Dumbledore gerade sichergestellt, dass Snape eine lange, wutschnaubende Gruppentherapiesitzung im Gemeinschaftsraum der Slytherins abhalten wird.
Harry mag seinen Erzfeind am Ende des ersten Jahrs besiegt haben, aber Snapes Feindseligkeit ist der bei Weitem größere Teil der Geschichte. Dumbledores Inszenierung der Verleihung des Hauspokals hat Snape darin nur bestätigt, was Harry direkt zu Anfang des zweiten Schuljahrs zu spüren bekommt.
Severus Snape und die Kammer des Schreckens
Der zweite Band beginnt damit, die Hauptfiguren und ihre wichtigsten Eigenschaften noch einmal vorzustellen. Wir werden daran erinnert, dass Snape, der »grausame, sarkastische und bei allen außer den Schülern seines Hauses unbeliebte« Lehrer ist. (HP/KdS/Kap. 5) Er hat seinen großen Auftritt hinter Harry und Ron, die gerade schlecht von ihm reden.
Diese Wiedereinführung zeigt Snape in seinem Element, mit seiner unangenehmen Erscheinung und seinem fast übernatürlichen Talent, Harry bei etwas zu erwischen.
Snapes Abneigung gegen Harry
Harry und Ron verstoßen bei ihrer Ankunft mit dem fliegenden Wagen gegen das Gebot der Geheimhaltung und die Vorschriften zur Zauberei Minderjähriger – schwere Vergehen. Snape ist »glücklicher denn je« (HP/KdS/Kap. 5), sie in Schwierigkeiten zu sehen, und zutiefst enttäuscht, dass sie nicht der Schule verwiesen werden. Doch schon bald erwartet ihn in Gestalt des neuesten Hogwarts-Lehrers ein noch größeres Ärgernis.
Snapes Widerstand gegen den neuen Verteidigungslehrer
Snape wurde die Stelle für Verteidigung gegen die dunklen Künste erneut verwehrt, diesmal zugunsten des inkompetenten und selbstverliebten Gilderoy Lockhart, der schon äußerlich das komplette Gegenteil von Snape ist – gut aussehend wie ein Filmstar, mit gewelltem blonden Haar und pastellfarbenem Umhang. Pure Fassade. Es kümmert ihn nicht, wenn seine Zauber vor aller Augen fehlschlagen. Er bekommt nichts hin, erntet aber die Anerkennung für die Arbeit anderer. Er scheint harmlos, erweist sich am Ende aber als böse und unbarmherzig.
In Band 1 blieb ungewiss, ab wann Dumbledore wusste, dass Voldemort von Quirrell Besitz ergriffen hatte. Das führt zu einigen erschreckenden Spekulationen. Wusste Dumbledore es die ganze Zeit und ließ zu, dass ein Massenmörder unterrichtete? Oder ahnte er nichts, bis ein Lehrer getötet wurde und ein Schüler fast ums Leben kam? In Band 2 liefert Rowling einige Beweise, dass der Schulleiter bewusst gefährliche Personen in die Schule lässt. Hagrid erklärt, Dumbledore habe keinen anderen Kandidaten für die Position in Erwägung gezogen. (HP/KdS/Kap. 7)
Albus Dumbledores Pläne aber hatten einen tieferen Sinn. Er kannte zufälligerweise zwei der Zauberer, für deren Lebenswerk Gilderoy Lockhart die Meriten einstrich, und war einer der wenigen, die zu wissen glaubten, was Lockhart vorhatte. Dumbledore war überzeugt, es reiche, Lockhart in eine alltägliche Schulumgebung zu versetzen, um ihn als Scharlatan und Betrüger zu entlarven. Professor McGonagall, die Lockhart nie hatte leiden können, fragte Dumbledore, was die Schüler seiner Meinung nach von einem so eitlen, ins Rampenlicht drängenden Mann lernen könnten. Dumbledore antwortete: »Es gibt auch von einem schlechten Lehrer reichlich zu lernen, etwa was man nicht tun und wie man nicht sein sollte.« (J. K. Rowling, 2013)
In Band 1 war es Snapes Aufgabe, Quirrell im Auge zu behalten, bis der Fluch, der auf der Stelle des Verteidigungslehrers lastete, half, die Schule von ihm zu befreien. Nun gestaltet sich die Situation etwas komplexer. Wieder nutzt Dumbledore den Fluch als Vorwand, dass die Zeit, die Lockhart die Schule heimsuchen wird, begrenzt ist. Doch Lockhart hat nicht vor, Harry zu töten, also muss Snape ihn nicht bewachen. Stattdessen dient Lockhart als Lückenbüßer. Solange dieser unqualifizierte Mann den Posten innehat, ist die Stelle im Grunde unbesetzt. So kann Snape verdeckt als wahrer Verteidigungslehrer fungieren. Rowling offenbart dies kurz, als Snape verhindern muss, dass Lockharts Unfähigkeit größeren Schaden anrichtet, nachdem mehrere Wesen versteinert wurden.
»Ich erledige das«, mischte Lockhart sich ein. »Ich habe das bestimmt schon hundertmal gemacht. Einen Alraune-Wiederbelebungstrank könnte ich im Schlaf zusammenmischen.«
»Verzeihung«, sagte Snape eisig, »aber ich glaube, ich bin an dieser Schule der Experte für Zaubertränke.«
Es folgte eine betretene Pause. (HP/KdS/Kap. 9)
Jemand oder etwas in Hogwarts hat die geheimnisvolle Kammer des Schreckens geöffnet und bedroht die Feinde des Erben – des Erben Slytherins, der Muggelstämmige aus Hogwarts ausschließen wollte. Als Filchs Katze Mrs. Norris versteinert wird, ruft Draco: »Feinde des Erben, hütet euch! Ihr seid als Nächstes dran, Schlammblüter!« (HP/KdS/Kap. 9) Dracos abfällige Drohung eröffnet eine Kampagne des Terrors und möglicher Hassverbrechen. Hermine will herausfinden, was Draco über die Angriffe weiß.
»Alles, was wir brauchen, wäre etwas Vielsaft-Trank.«
»Was ist das denn?«, fragten Ron und Harry gleichzeitig.
»Snape hat ihn vor ein paar Wochen im Unterricht erwähnt –«
»Meinst du, wir hätten während Zaubertränke nichts Besseres zu tun, als Snape zuzuhören?«, raunte Ron. (HP/KdS/Kap. 9)
Wie immer hat sich Hermine jedes Wort Snapes gemerkt. Vielleicht fällt es ihr leichter, da sie sicher sein kann, dass er sie niemals ansehen, ihr niemals Beachtung schenken wird, während die anderen Schüler Augenkontakt mit ihm lieber vermeiden. Hermine bringt Ron und Harry dazu, mit ihr den Zaubertrank zu brauen, allerdings fehlen ihnen ein paar Zutaten: Zweihorn-Horn und Baumschlangenhaut.
[…] Snapes Privatvorräte waren der einzige Ort, wo sie sie finden konnten. Insgeheim dachte Harry, er würde sich lieber Slytherins legendärem Monster stellen, als sich von Snape beim Klauen in seinem Büro erwischen zu lassen. (HP/KdS/Kap. 11)
Erneut spielt Rowling darauf an, dass ein großes, aber weit entferntes Übel einem geschmähten Kind weniger Angst macht als die alltägliche Schikane. Hermine schlägt vor, die Jungen sollen in der Zaubertränke-Stunde für Ablenkung sorgen, sodass sie die nötigen Dinge stehlen kann. Also wirft Harry einen Kracher in Goyles Kessel. Wie zu erwarten, gelingt es Hermine, Snape direkt unter seiner Nase zu beklauen, da dieser viel zu sehr mit dem Tumult beschäftigt ist.
»Wenn ich je rauskriege, wer den Kracher geworfen hat«, flüsterte Snape, »sorge ich dafür, dass er von der Schule fliegt!«
Harry bemühte sich, einen möglichst ratlosen Blick aufzusetzen. Snape sah direkt zu ihm herüber und das Klingeln zum Stundenende zehn Minuten später war selten so willkommen. (HP/KdS/Kap. 11)
Nun folgt eine der geschicktesten und scharfsinnigsten Passagen Rowlings. An zwei Stellen in Die Kammer des Schreckens lässt sie durch Auslassungen Hinweise fallen, was Snape tatsächlich denkt.
»Snape kann nicht beweisen, dass du es warst«, sagte Ron beruhigend. »Was kann er schon tun?«
»Wie ich Snape kenne, etwas Übles«, sagte Harry, während sein Zaubertrank schäumte und blubberte.
Als Harry, Ron und Hermine eine Woche später durch die Eingangshalle liefen, sahen sie eine Schülergruppe, die sich am schwarzen Brett um ein neu aufgehängtes Pergament versammelt hatte. Seamus Finnigan und Dean Thomas winkten sie aufgeregt heran.
»Sie eröffnen einen Duellierclub!«, sagte Seamus. »Das erste Treffen ist heute Abend! Ich hätte nichts gegen Duellier-Stunden. Heutzutage könnten die ganz nützlich sein.« (HP/KdS/Kap. 11)
Der Duellierclub ist die Antwort auf Rons rhetorische Frage. Die Lage zwischen den Schülergruppen ist scheinbar so angespannt, dass jemand im Unterricht für eine Explosion gesorgt hat und Schüler verletzt wurden. Snape kann nicht wissen, dass dies nur ein Ablenkungsmanöver war. Würde ein Lehrer schlussfolgern, dass Harry Goyle verletzen wollte, wäre das nicht ganz ungerechtfertigt. Auch Dumbledore ist dem Übeltäter keinen Schritt näher, also muss Snape den Kindern beibringen, dass man sich in einer beängstigenden Lage nicht Verdächtigungen und Feindseligkeiten hingibt. Oder ihnen zumindest Strategien an die Hand geben, wie sie sich verteidigen können, bevor ein Kampf eskaliert.
Was könnte also jemand tun, der Deeskalation unterrichten möchte, ohne seine persönliche Abneigung gegen bestimmte gewalttätige Tendenzen zu offenbaren? Er könnte gegenüber Gilderoy Lockhart die Idee zu einem Workshop fallen lassen, auf persönliche Erfahrung hinweisen und sich dann zurücklehnen und abwarten, dass Lockhart sich darauf stürzt.
»Nun, Professor Dumbledore hat mir die Erlaubnis erteilt, diesen kleinen Duellierclub zu eröffnen, um Sie alle für den Fall zu trainieren, dass Sie sich verteidigen müssen, wie ich es in zahllosen Gelegenheiten musste. Die Details finden Sie in meinen Büchern.«
»Lassen Sie mich Ihnen meinen Assistenten Professor Snape vorstellen«, sagte Lockhart mit breitem Lächeln. »Er hat mir erzählt, dass er sich ein wenig mit Duellen auskennt, und sich freundlicherweise bereit erklärt, mir bei einer kleinen Demonstration zu helfen, bevor wir beginnen.« (HP/KdS/Kap. 11)
Vor allem sehr junge Leser, die es gewohnt sind, Erwachsenen zu glauben, sind manchmal unsicher, wer den Duellierclub vorgeschlagen hat. Lockhart präsentiert ihn als seine Idee und niemand widerspricht. Könnte er dieses eine Mal die Wahrheit sagen?
Selbst die duldsamsten Kollegen können ihre Verärgerung über Lockhart nicht verbergen. Er bringt Professor Sprout aus der Fassung:
»Ich habe Professor Sprout gerade erklärt, wie sie die Peitschende Weide behandeln muss! Aber ich möchte natürlich nicht, dass ihr glaubt, ich sei besser in Kräuterkunde als sie. Ich bin nur zufällig auf meinen Reisen einigen dieser exotischen Pflanzen begegnet …«
»Heute Gewächshaus drei, Kinder!«, sagte Professor Sprout deutlich verstimmt und so gar nicht ihr fröhliches Selbst. (HP/KdS/Kap. 6)
Er ekelt Hagrid an:
»Will mir erklären, wie ich Wassergeister aus einer Quelle rausbekomme«, knurrte Hagrid und räumte einen halb gerupften Hahn vom Tisch, um Platz für die Teekanne zu machen. »Als ob ich das nicht wüsste. Und rühmt sich, eine Todesfee verbannt zu haben. Wenn auch nur ein Wort davon stimmt, fress’ ich meinen Wasserkessel.« (HP/KdS/Kap. 7)
Er scheint völlig ungerührt, dass er keine Ahnung von Heilzaubern hat:
»Er weiß nicht, wovon er redet«, sagte Lockhart laut zu den sich ängstlich um sie drängenden Gryffindors. »Keine Sorge, Harry. Ich werde Ihren Arm schon richten.«
»Nein!«, sagte Harry. »Ich behalte ihn lieber so, danke …« (HP/KdS/Kap. 10)
Er hält sich für einen Weltklasse-Athleten:
»Morgen ist das erste Quidditch-Spiel der Saison, oder? Gryffindor gegen Slytherin, nicht wahr? Ich höre, Sie sind ein brauchbarer Spieler. Ich war selbst auch Sucher. Ich sollte in die Auswahl für die Nationalmannschaft, aber ich habe es vorgezogen, mich der Auslöschung der dunklen Künste zu widmen. Aber wenn Sie ein wenig Einzeltraining benötigen, zögern Sie nicht zu fragen. Ich gebe meine Erfahrung immer gerne an weniger begabte Spieler weiter …« (HP/KdS/Kap. 10)
An diesen und vielen anderen Beispielen zeigt sich, dass Rowling Lockhart als Charakter angelegt hat, der zwanghaft und völlig ungeniert die Ideen und Fähigkeiten anderer als seine eigenen ausgibt. Er wird sich also todsicher jede gute Idee zu eigen machen und unbewusst für Ablenkung sorgen, während andere heimlich eigene Pläne verfolgen.
Lockhart und sein vermeintlich weniger begabter Assistent nehmen ihre Duellpositionen ein. Ron flüstert Harry zu: »Wäre es nicht toll, wenn sie sich gegenseitig erledigen würden?« (HP/KdS/Kap. 11) In diesem Moment ist Snape für sie ebenso wertlos wie Lockhart.
Beide erhoben die Zauberstäbe und richteten sie aufeinander. Snape rief: »Expelliarmus!« Mit einem grellen scharlachroten Blitz wurde Lockhart von den Füßen gerissen. Er flog rückwärts von der Bühne, krachte gegen die Wand und glitt zu Boden, wo er ausgestreckt liegen blieb. (HP/KdS/Kap. 10)
Snapes Verteidigungszauber ist stark genug, seinen Gegner von den Füßen zu holen: Entwaffnung kann mächtiger sein als Angriff und weitere Eskalation vermeiden. Verunsichert lässt Lockhart die Schüler für die nächste Übung Paare bilden.
Harry wandte sich automatisch Hermine zu.
»Nicht so voreilig«, sagte Snape kalt lächelnd. »Mr. Malfoy, kommen Sie her. Zeigen Sie mir, wie Sie mit dem berühmten Potter klarkommen. Und Sie, Miss Granger, gehen zu Miss Bulstrode.« (HP/KdS/Kap. 10)
Warum stellt Snape hier Schüler zusammen, die sich nur allzu gern gegenseitig verletzen möchten? Will er, dass seine Slytherins den Gryffindors eine Lehre erteilen?
»Zauberstäbe bereit!«, rief Lockhart. »Ich zähle bis drei, dann entwaffnet ihr mit eurem Zauberspruch den Gegner. Nur entwaffnen, dass das klar ist, wir wollen ja keinen Unfall! Eins, zwei, drei –«
Harry riss seinen Zauberstab hoch, aber Malfoy hatte schon bei ›zwei‹ angefangen: Sein Zauber traf ihn so hart, dass er sich fühlte, als habe ihm jemand eins mit einer Pfanne übergezogen. (HP/KdS/Kap. 10)
Hasserfüllt missachten Harry und Draco die Anweisung und gehen aufeinander los.
»Halt! Halt!«, schrie Lockhart, doch Snape übernahm.
»Finite Incantatem!«, rief er.
Harrys Beine hörten auf zu tanzen, Malfoy hörte auf zu lachen und beide konnte den Blick wieder heben.
Ein Dunst aus grünlichem Nebel hing über der Szene. Neville und Justin lagen beide keuchend am Boden. Ron half einem aschfahlen Seamus auf die Beine und entschuldigte sich für was auch immer sein kaputter Zauberstab angerichtet hatte. Nur Hermine und Millicent Bulstrode kämpften noch. (HP/KdS/Kap. 10)
Lockhart und Snape unterrichten hier ganz verschiedene Dinge. Die freundlichen Paarungen machen erste Erfahrungen mit der Unterstützung ihres Gegenübers. Völlig anders ergeht es den von Snape zusammengestellten verfeindeten Paarungen. Voller Hass vergessen sie, dass sie im Unterricht sind und Anweisungen befolgen sollen. Wahrscheinlich hat Hermine Millicent wie angewiesen entwaffnet, doch nach Millicents Angriff auch jede Beherrschung verloren.
Im Kampfrausch setzt jede Vernunft aus und andere Reflexe übernehmen. Lockhart unterrichtet eine vornehme Sportart, ein Gesellschaftsspiel. Snape stellt die lebensbedrohliche Spannung nach, die die Schule ergriffen hat, und richtet seinen Unterricht darauf aus. Im Sport wird nach den Regeln des Anstands gezaubert, im wahren Gefecht ist das hinderlich. In lockerer Umgebung Gelerntes lässt sich in Gefahrensituationen nicht immer abrufen, gut geschulte Reflexe und der Drill einer Kampfausbildung sind dann eher nützlich. Untrainierte Kämpfer wissen nicht, wie sie unter Druck reagieren, sie können in Panik verfallen, auf ungeeignete Techniken zurückgreifen, überreagieren oder erstarren.
Snape bringt den Schülern Standards für wahre Kampfsituationen bei: Expelliarmus, um den Gegner zu entwaffnen, und Finite Incantatem, um Zauber zu brechen. Es geht ihm ausschließlich um Deeskalation. Selbst Lockhart scheint dies zu begreifen.
»Ich glaube, ich sollte euch lieber zeigen, wie man feindselige Zauber abblocken kann«, sagte Lockhart, der verwirrt mitten in der Halle stand. Er warf Snape einen Blick zu und sah schnell wieder weg. »Ich brauche zwei Freiwillige – Longbottom und Finch-Fletchley, wie wäre es mit Ihnen?«
»Keine gute Idee, Professor Lockhart«, sagte Snape und glitt wie eine große, arglistige Fledermaus herüber. »Longbottom richtet mit einfachsten Zaubersprüchen Verwüstungen an. Was von Finch-Fletchley übrig bleibt, können wir dann in einer Streichholzschachtel auf die Krankenstation schicken.« Nevilles rundes Gesicht lief noch roter an. »Wie wäre es mit Malfoy und Potter?«, fragte Snape mit einem verschlagenen Lächeln. (HP/KdS/Kap. 10)
Snape hat eigene Ziele, die er nicht offenbart. Er und die Autorin lenken uns mit kleinen Gemeinheiten davon ab, dass seine Ziele auch gut sein könnten. Seine abschätzige Bemerkung über Neville verführt uns jedoch, hinter der Verpaarung von Draco und Harry ein ähnlich gehässiges Motiv zu vermuten.
Snape flüstert Draco etwas zu und beide Slytherins grinsen. Vielleicht hofft Snape, dass ein Slytherin einen Gryffindor dumm dastehen lässt. Er wirkt, als habe er alles unter Kontrolle.
Malfoy hob flugs den Zauberstab und brüllte: »Serpensortia!« Die Spitze seines Zauberstabs explodierte. Entsetzt sah Harry, wie eine lange schwarze Schlange herausschoss, schwer zu Boden fiel und sich aufrichtete, bereit zuzubeißen. Die Menge schrie auf und drängte sich an den Rand des Raums.
»Nicht bewegen, Potter«, sagte Snape beiläufig und genoss sichtlich den Anblick des erstarrten Harry, Auge in Auge mit einer verärgerten Schlange. »Ich entsorge das Biest …« (HP/KdS/Kap. 10)
Snape lässt die Schlange verschwinden – jedoch erst nachdem Harry sich zum Schrecken aller als Parselmund offenbart hat.
Auch Snape sah Harry mit einem unerwarteten Blick an: Er war durchtrieben und kalkulierend und gefiel Harry gar nicht. (HP/KdS/Kap. 10)
Offenbar kann Snape mit dieser Erkenntnis etwas anfangen, sie ist für ihn nicht beunruhigend, aber heikel und neu – und übersteigt Lockharts Verstand bei Weitem. Was Snape denkt, erfahren wir nicht genauer, aber er hat offensichtlich nicht damit gerechnet, dass Harry gewandter mit einer Schlange umgeht als einer seiner eigenen Schüler.
Die Slytherins haben auch den schmählichen Verlust des Hauspokals im Vorjahr nicht vergessen. Von Lucius Malfoys Rüge bei Borgin und Burkes (HP/KdS/Kap. 4) wissen wir, dass Draco den ganzen Sommer darüber gebrütet hat. Wie das Quidditch-Team Gryffindors herausfindet, hat Lucius seinem Sohn zugehört und Snape deswegen kontaktiert: Die Gryffindors wollen gerade trainieren, als die Slytherin-Mannschaft sie vom Platz schmeißt. Sie sind mit einer Mitteilung Snapes, einem neuen Sucher und dank seinem Vater sieben brandneuen Nimbus Zweitausendeins ausgestattet. (HP/KdS/Kap. 7)
Dieser Aufwand mag für ein Geplänkel zwischen Schülern unverhältnismäßig erscheinen, doch vor dem Hintergrund des Pokalverlusts im Vorjahr ist es verständlich, dass die Slytherins das anders sehen.
Es kann sich aus Slytherin-Sicht durchaus so anfühlen, dass sie auf einer Schule und bei einem Schulleiter, die so parteiisch sind, niemals fair gewinnen können und dass sie dem etwas entgegensetzen müssen. Wenn die Schule Dumbledores Lieblingsschüler einen Besen finanziert, kann ein privater Spender das auch für die Slytherin-Mannschaft tun, egal ob fair oder nicht.
Draco weiß, dass sein Vater sich dabei deutlich mehr in Kosten gestürzt hat, als von Eltern zu erwarten ist. Er weiß aber nicht, dass sein Vater bei Borgin und Burkes nicht mit ihm ungeduldig war, weil er sich über die Bevorzugung beschwert hat, sondern weil sein Vater es kaum erwarten konnte, seinen Rachefeldzug zur Absetzung Dumbledores zu starten, indem er Slytherins Monster auf Muggelstämmige loslässt. Wie Harry und Ron in Gestalt Crabbes und Goyles erfahren, hat Draco keine Ahnung, wer das Monster freigelassen hat. Lucius hat seinen Sohn nicht eingeweiht, sodass dieser alles glaubhaft abstreiten kann: »Mein Vater sagt, ich soll mich raushalten und den Erben von Slytherin machen lassen. Er sagt, die Schule muss von all diesem Schlammblut-Schmutz befreit werden, ich soll mich aber nicht einmischen.« (HP/KdS/Kap. 12)
Es entsteht eine Atmosphäre des Misstrauens, wodurch die anderen Schüler die Slytherins noch weiter ausgrenzen.
»Das macht zwei Gryffindors außer Gefecht, wenn man unseren Gryffindor-Geist nicht mitzählt, einen Ravenclaw und einen Hufflepuff«, sagte Lee Jordan, der Freund der Weasley-Zwillinge, an seinen Fingern abzählend. »Fällt denn keinem der Lehrer auf, dass kein Slytherin dabei ist? Ist es nicht offensichtlich, dass das von Slytherin ausgeht? Der Erbe von Slytherin, das Monster von Slytherin. Warum werfen wir nicht einfach alle Slytherins raus?«, brüllte er unter Nicken und vereinzeltem Applaus. (HP/KdS/Kap. 14)
Lee Jordans Angst ist dieselbe, die ursprünglich zum Bruch zwischen Slytherin und den anderen Schulgründern geführt hat. Laut Professor Binns dachte Salazar Slytherin, Hogwarts werde sicherer, wenn man die Schule nur von allen Muggelstämmigen säubern könne. (HP/KdS/Kap. 9)
Der gesamte Band dreht sich um die Gefahr, dass unterdrückter Hass in einer Atmosphäre des Misstrauens jederzeit aufbrechen kann. Indem Dumbledore Slytherin in Band 1 beim Abschlussfest öffentlich demütigt, gibt er möglicherweise ungewollt Lucius Malfoy einen Anstoß für seine Vergeltungsangriffe auf Muggelstämmige.
Snapes Ruf
Was denkt Snape über all das? Vielleicht gaukelt er Abscheu über die Angriffe vor, um Dumbledore und seine Kollegen in die Irre zu führen. Vielleicht täuscht er die heimliche Befürwortung der Angriffe vor, um sich vor Voldemorts Anhängern nicht verdächtig zu machen. Noch wissen wir nichts über Snapes Familienverhältnisse und wie er zu Reinblütern und Muggelstämmigen steht. Stachelt er Dracos hämische Drohungen an? Hegt er Sympathien für Lucius’ angestrebten Völkermord an Muggelstämmigen? Freut es ihn, dass Lucius den Schulbeirat dazu bringt, Dumbledore zu suspendieren?
Durch einen winzig kleinen Bruch in ihrer Erzählung ermöglicht Rowling uns durch ein beredtes Schweigen, Snapes Gefühle zu den Angriffen auf Muggelstämmige zu erahnen. Es ist leicht zu überlesen und zu früh in der Geschichte, als dass es mehr als einen flüchtigen Blick auf Snapes wahres Ich preisgeben würde. Hermine fehlt in Zaubertränke, weil sie versteinert im Krankenhausflügel liegt.
»Ich bin echt überrascht, dass die Schlammblüter noch nicht alle ihre Koffer gepackt haben«, fuhr Malfoy fort. »Ich wette fünf Galleonen, dass der Nächste stirbt. Wie schade, dass es nicht Granger war –«
In der Sekunde läutete glücklicherweise die Glocke, denn Ron war bei Malfoys letzten Worten aufgesprungen, konnte ihn aber nicht mehr erreichen, da gerade alle ihre Taschen und Bücher zusammenpackten.
»Lasst mich durch«, knurrte Ron, während Harry und Dean ihn am Arm festhielten. »Ist mir egal, ich brauche keinen Zauberstab, ich bringe ihn einfach mit bloßen Händen um –«
»Jetzt aber Beeilung, ich muss euch zu Kräuterkunde bringen«, bellte Snape über die Köpfe der Schüler hinweg. Sie marschierten los und Harry, Dean und Ron, der sich immer noch loszureißen versuchte, bildeten die Schlusslichter. (HP/KdS/Kap. 15)
Der überaus wachsame Snape hat ein Talent zu erkennen, wenn Gryffindor-Schüler sich gegen Slytherins wenden, vor allem gegen Draco, und einzugreifen. Doch hier kann Ron eine Todesdrohung ausstoßen und mehrere Minuten lang versuchen, sich auf Draco zu stürzen. Kleinigkeiten mögen Snape entgehen, aber kein Wutausbruch, der sich bis zum Schlossportal fortsetzt. Rowling deutet geschickt an, dass Snape Rons Wut bemerkt, sie aber unkommentiert lässt. Wir wissen noch nicht, dass Snape schlechte Erfahrungen mit Slytherin-Jungen hat, die muggelstämmigen Mädchen den Tod wünschen. Wir wissen nur, dass etwas an Dracos Bemerkung ihn veranlasst, Draco das einzige Mal in der gesamten Reihe nicht gegen Gryffindor zu verteidigen.
Das Geheimnis um Snapes wahre Motive
Snapes Beschützerdrang, wie der der anderen guten Lehrer, gilt in lebensbedrohlichen Situationen auch den Schülern, die er nicht mag. Als Snape im Lehrerzimmer Lockharts durchaus genüssliche Bloßstellung in Gang setzt, präsentiert Rowling ihn erstmals unmissverständlich in positivem Licht, als Quell der Schadenfreude, die alle Charaktere und Leser gegen Lockhart eint. Er mag ein Miesling sein, aber er ist unser Miesling, und so genießen wir, wie er Lockhart endlich so behandelt, wie dieser es verdient.
»Da ist er ja«, sagte [Snape]. »Genau der Richtige. Ein Mädchen wurde vom Monster entführt, Lockhart, und in die Kammer des Schreckens verschleppt. Endlich ist Ihre Stunde gekommen.«
Lockhart wurde bleich …
»Ich erinnere mich genau, dass Sie sagten, es sei schade, dass Sie es dem Monster nicht zeigen konnten, bevor Hagrid verhaftet wurde«, sagte Snape. »Haben Sie nicht gesagt, das Ganze sei verpfuscht worden und man hätte Ihnen von Anfang an freie Hand lassen sollen?« (HP/KdS/Kap. 16)
McGonagall bringt zu Ende, was Snape begonnen hat, und beweist erneut, wie reibungslos sie zusammenarbeiten.
»Wir überlassen dann alles Ihnen, Gilderoy«, sagte Professor McGonagall. »Heute Nacht ist die perfekte Zeit. Wir sorgen dafür, dass niemand Sie stört. Sie können das Monster ganz alleine stellen. Endlich haben Sie freie Bahn.«
Lockhart blickte verzweifelt um sich, doch niemand kam ihm zu Hilfe. Von seinem guten Aussehen war nun nichts mehr übrig. Seine Lippen zitterten und ohne sein übliches zahnreiches Grinsen wirkte er schwach und unfähig.
»A–also gut«, sagte er. »I–ich bin dann in meinem Büro und be–bereite mich vor.« (HP/KdS/Kap. 16)
Dieser Mann, der das komplette Gegenteil von Snape ist, sieht hier plötzlich überhaupt nicht mehr gut aus und zeigt sein wahres Gesicht. Rowling bringt ihren unerfahrenen jungen Lesern hier bei, dass auch üble Charaktere, selbst die hakennasigen mit fettigen Haaren, durch neue Informationen in einem neuen Licht erscheinen können.
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