Solito - Javier Zamora - E-Book

Solito E-Book

Javier Zamora

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Beschreibung

 »Eine herzzerreißende Geschichte eines neunjährigen Kindes, das in Südamerika aufbricht, um zu seinen schon geflüchteten Eltern in Kalifornien zu kommen. Ich habe geweint, vor Mitleid und vor Wut.« Lea Ypi Javier Zamora wächst in einer kleinen Stadt in El Salvador bei seinen Großeltern auf. Seine Eltern sind vor Jahren vor dem Bürgerkrieg geflohen und leben in den USA, er kann sich kaum an sie erinnern. Eines Tages beauftragen sie einen Schlepper damit, ihren Sohn zu ihnen zu bringen, quer durch Mittelamerika. Als Javier abgeholt wird, rechnet er damit, dass die Reise zwei Wochen dauert. Er freut sich darauf, seine Eltern wiederzusehen – und kann sich nicht vorstellen, was auf ihn zukommt. Er reist allein, inmitten einer kleinen Gruppe fremder Erwachsener, die für ihn auf dem monate-langen Trip zu einer Art Familie wird. Er erlebt lebensgefährliche Fahrten mit Booten, wandert in erbarmungsloser Hitze durch lebensfeindliche Wüsten, lernt, sich als ein anderer auszugeben, wird festgenommen und eingesperrt, steht vor schussbereiten Gewehren, erlebt Einsamkeit, Täuschungen, Gefahren – und, immer wieder, an unerwarteten Stellen auch Freundlichkeit, Hilfe, Liebe. Javier Zamora hat nach seiner Ankunft in den USA kaum je über seine Erlebnisse gesprochen. Bei der Veröffentlichung wurde das Buch von der Kritik gefeiert – und sofort zum Bestseller. 

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Seitenzahl: 697

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Javier Zamora

Solito

Eine wahre Geschichte

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Javier Zamora

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Javier Zamora

Javier Zamora wurde 1990 in El Salvador geboren und wuchs bei seinen Großeltern auf. Seine Eltern flohen vor den Todesschwadronen des salvadorianischen Bürgerkriegs in die Vereinigten Staaten. Im Alter von neun Jahren lief er quer durch Guatemala und Mexiko in die USA. Heute lebt er als Lyriker in Arizona. Für seine Gedichte wurde er vielfach ausgezeichnet. Dieses Buch ist sein erstes Prosawerk.

Die Übersetzer

Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzen seit vielen Jahren angloamerikanische Literatur von Autorinnen und Autoren wie Zadie Smith, Tana French, Delia Owens, Bonnie Garmus, Dave Eggers und Benjamin Myers. Sie leben und arbeiten in Düsseldorf.

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Über dieses Buch

Javier Zamora wächst in einer kleinen Stadt in El Salvador bei seinen Großeltern auf. Seine Eltern sind vor Jahren vor dem Bürgerkrieg geflohen und leben in den USA, er kann sich kaum an sie erinnern.

Eines Tages beauftragen sie einen Schlepper damit, ihren Sohn zu ihnen zu bringen, quer durch Mittelamerika. Als Javier abgeholt wird, rechnet er damit, dass die Reise zwei Wochen dauert. Er freut sich darauf, seine Eltern wiederzusehen - und kann sich nicht vorstellen, was auf ihn zukommt. Er reist allein, inmitten einer kleinen Gruppe fremder Erwachsener, die für ihn auf dem monatelangen Trip zu einer Art Familie wird. Er erlebt lebensgefährliche Fahrten mit Booten, wandert in erbarmungsloser Hitze durch lebensfeindliche Wüsten, lernt, sich als ein anderer auszugeben, wird festgenommen und eingesperrt, steht vor schussbereiten Gewehren, erlebt Einsamkeit, Täuschungen, Gefahren - und, immer wieder, an unerwarteten Stellen auch Freundlichkeit, Hilfe, Liebe.

Javier Zamora hat nach seiner Ankunft in den USA kaum je über seine Erlebnisse gesprochen. Bei der Veröffentlichung wurde das Buch von der Kritik gefeiert - und sofort zum Bestseller. Es ist Javiers Geschichte - und sie ist zugleich die Geschichte Millionen anderer, die keine andere Wahl haben, als ihr Zuhause zu verlassen.

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Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

Titel der Originalausgabe: Solito

SOLITO © Javier Zamora, 2022, First published by Hogarth Books

All rights reserved

Translation rights arranged by The Clegg Agency, Inc., USA.

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Miriam Bloching, nach dem Originalumschlag von Anna Kochman für Penguin Random House

Covermotiv: © Daniel Liévano

 

ISBN978-3-462-30441-1

 

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum Buch

Widmung

Motti

1 La Herradura, El Salvador

16. März 1999

17. März 1999

20. März 1999

23. März 1999

31. März 1999

1. April 1999

4. April 1999

5. April 1999

6. April 1999

2 Tecún Umán, Guatemala

6. April 1999

12. April 1999

19. April 1999

20. April 1999

3 Ocós, Guatemala

27. April 1999

28. April 1999

29. April 1999

4 Oaxaca, México

29. April 1999

5 Warten

29. April 1999

30. April 1999

1. Mai 1999

?. Mai 1999

?. Mai 1999

?. Mai 1999

?. Mai 1999

?. Mai 1999

?. Mai 1999

21. Mai 1999

6 Von Guadalajara nach Sonora

22. Mai 1999

23. Mai 1999

24. Mai 1999

25. Mai 1999

7 La USA

29. Mai 1999

30. Mai 1999

31. Mai 1999

1. Juni 1999

2. Juni 1999

8 Zweiter Versuch

2. Juni 1999

3. Juni 1999

4. Juni 1999

9 Todo va’ estar bien

7. Juni 1999

8. Juni 1999

9. Juni 1999

10. Juni 1999

11. Juni 1999

5. April 2021

Dank

Glossar

Javier Zamora

Die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse und Personen sind real. Zum Schutz der Identität habe ich einige Namen geändert oder Spitznamen verwendet.

Für Patricia, Carla, Chino & alle Immigranten, die ich auf dem Weg in die USA kennenlernte und nie wiedersah. Ohne euch wäre ich nicht hier.

Unsere Körper sind die Texte, die Erinnerungen transportieren, somit ist Erinnern nicht weniger als Reinkarnation.

– KATIE CANNON(zitiert in The Body Keeps the Score)

Jungen wie Mädchen sprachen zum Beispiel von der verlorenen Zeit und vor allem davon, wie einzigartig die Liebe einer Mutter ist. Nicht wenige erzählten auch, sie hätten das Gefühl, ein Loch im Herzen zu haben, weil sie ihre Mutter vermissten. Entsprechend waren sie stets von Sehnsucht erfüllt.

– LEISY J. ABREGOSacrificing Families

1La Herradura, El Salvador

16. März 1999

Reise. Vor rund einem Jahr fingen meine Eltern an, dieses Wort zu benutzen – »eines Tages wirst du eine Reise machen, um bei uns zu sein. Das wird ein Abenteuer. Wie die Reise, auf die Simba geht, bevor er nach Hause zurückkehrt.« Etwa um dieselbe Zeit schickten sie mir zu meinem achten Geburtstag Aladdin, Jurassic Park und Der König der Löwen zusammen mit einem Panasonic-Videorekorder.

»Reise«, sagen sie jetzt, als ich beim Bäcker mit ihnen spreche. Abuelita Neli, Großvater und ich rufen sie immer vom Bäcker aus an – wir haben zu Hause kein Telefon, aber wir haben einen Farbfernseher, einen nagelneuen Kühlschrank und ein Aquarium.

»Javiercito!« Abuelita Neli winkt mir. Sie hat mich schon immer so genannt. Ich glaube, mein Kosename, Chepito, erinnert sie zu sehr daran, wie Großvater von allen im Ort genannt wird. Don Chepe.

»Deine Eltern sagen, du wirst bald bei ihnen sein«, sagt Abuelita und lächelt so, dass ich ihre beiden oberen Schneidezähne sehen kann, die mit Gold überzogen sind. Ihre Grübchen graben sich tiefer in ihr rundes Gesicht. Tía Mali, die auch ein rundes Gesicht hat, ist nicht bei uns, weil sie in der Klinik arbeitet. Sie und Abuelita benutzen das Wort in letzter Zeit immer öfter. Reise hier, Reise da. Reise Reise Reise. Ich kann die Reise in meinen Fußsohlen spüren. Ich sehe sie in meinen Träumen.

In manchen Träumen bin ich Superman, oder ich bin Goku und fliege über Felder, Flüsse, über El Salvador, über die vielen Länder, Menschen, Städte, bis nach Kalifornien, zu meinen Eltern. Ich klingele. Sie öffnen ihre schwere Tür, groß und breit, aus dem braunsten Holz gezimmert, und ich laufe zu ihnen. Sie zeigen mir ihr Wohnzimmer. Ihren riesigen Fernseher. Ihren Garten mit einem Swimmingpool, einem Rasen, Obstbäumen, einem Minifußballplatz, einem weißen Zaun. Ich klettere auf ihre marañón-Bäume, esse ihre Mangos, spiele in ihrem Garten …

Jeden Abend, zwischen Beten und Einschlafen, liege ich im Bett und denke an sie. In was für einem Bett schlafen sie? Ist es groß? Ist es ein Wasserbett wie in den Filmen? Sind die Laken weich? Ich stelle mir vor, wie ich mich zwischen sie kuschele. Die gemütlichsten weißen Laken. Mama links von mir, Papa rechts von mir, ein Moskitonetz wie eine schützende Krone über uns.

Jedes Mal, wenn ein Teller zerbricht, wenn ich eine Wimper finde, wenn ich eine Sternschnuppe sehe, wünsche ich mir, mit ihnen zusammen in dem Bett in La USA zu sein, Orangeneis zu essen. Ich erzähle das keinem – wenn ich irgendwem von meinem Wunsch erzähle, geht er nicht in Erfüllung.

Ich habe schlechte Träume también. Schlechte Träume, in denen mir schon ein Bart wächst und meine Eltern noch immer nicht hier sind. Schlechte Träume, in denen ich nicht da oben bei ihnen bin – und dreißig Jahre alt werde! Schlechte Träume, in denen mich Piraten jagen oder ich vor einer Schlammlawine weglaufen muss.

»Die schlechten Träume musst du morgens als Erstes erzählen, damit sie nicht in deinem Kopf bleiben. Aber niemals in der Küche, sonst liegen sie dir im Magen. Dann kriegst du Durchfall«, hat Mama mal zu mir gesagt, und ich habe es nie vergessen.

Reise. Ich habe angefangen, das Wort in der Schule zu benutzen. Zuerst habe ich meinen besten Freunden gesagt: »Fijáte vos, eines Tages mache ich eine Reise. Wie ein richtiges Versteckspiel.«

In der ersten Klasse war ich der Einzige, der nicht beide Eltern bei sich hatte. Mali sagt, sie sind weggegangen, weil vor meiner Geburt Krieg war und es dann keine Arbeit gab. Jetzt haben auch die meisten meiner Freunde ihren Papa oder ihre Mama nicht mehr hier. Ein paar Glückspilze konnten zu ihren Eltern in La USA. Die meisten sind in riesigen Flugzeugen hingeflogen.

In der Pause stellen meine Freunde und ich uns vor, dass wir unsere erste Peperonipizza wie die Ninja Turtles essen, unsere erste Lasagne wie Garfield, dass wir zu McDonald’s gehen, den neuen Star Wars in einem Kino mit Klimaanlage gucken, Popcorn mit Butter essen. Ich habe noch nie irgendwas davon probiert außer Pizza von Pizza Hut, und das war letztes Jahr Weihnachten.

»Aber wirst du mich vermissen? Ja oder nein?«, fragen meine Freunde.

»Puesí«, sage ich, aber eigentlich weiß ich es nicht.

Ich frage sie, ob sie mich vermissen werden. »Ja klar«, sagen sie, weil niemand, der nach La USA gegangen ist, je auch nur mal zu Besuch zurückgekommen ist. Manchmal, wenn wir die Großmutter oder den Großvater von einem, der weggegangen ist, auf der Straße treffen, fragen wir sie, wie es Soundso geht, und sie antworten: »Soundso lässt schön grüßen« – zu mehr reicht die Erinnerung an uns nicht. »Oh, gracias, doña, gracias, don. Sagen Sie, wir grüßen zurück.« Aber wir hören nie wieder was von ihnen.

Der Bäcker ist noch hier. Seine Frau und alle seine sechs Kinder también. Sie sehen glücklich aus. Ich will das Gleiche, was die Bäcker-Familie hat: alle im selben Zimmer. Alle meine Freunde und ich wollen bei unseren Eltern sein, wo alles neu und frisch ist, wo der Müll von Lastwagen abgeholt wird, wo das Wasser aus silbernen Hähnen kommt, wo es den weißesten Schnee schneit, wo Leute Schneeballschlachten machen und zu Weihnachten echte Tannenbäume fällen – und nicht Baumwollzweige mit weißer Farbe besprühen, wie wir das hier tun.

Weil unsere Eltern nicht hier sind und wir nicht dort, sind der Mai und der Juni immer traurig. Bei den meisten von uns sind es die Großeltern, die in die Schule kommen, um Muttertag und Vatertag zu feiern. Es ist ja nicht so, dass wir sie nicht lieben. Das tun wir. Ich habe Abuelita sehr, sehr lieb. Ich liebe alles, was sie kocht. Die Art, wie mein Gesicht in ihrem lockigen, krausen Haar stecken bleibt, das sie schwarz färbt, ihr kurzes Haar, mit dem sie aussieht wie ein Mikrofon, ihr Haar, das nach Pupusas riecht, wenn sie mich umarmt. Ich liebe ihre beiden Grübchen, wenn sie lächelt. Ihre breite, flache Nase mit dem dunkelbraunen Muttermal in der Mitte, das sie jedes Jahr im Krankenhaus untersuchen lassen muss, um aufzupassen, dass es nicht zu groß wird. Und ich liebe ihre falschen Augenbrauen, die sie sich jeden Morgen als Erstes dünn mit einem Bleistift anmalt.

Ich liebe meine Mama también. Meinen Papa hab ich nie kennengelernt – doch, schon, aber ich kann mich nicht an ihn erinnern. Ich war noch keine zwei, als er wegging. Am Telefon klingt er nett. Seine Stimme ist tief und kratzig, aber sie ist trotzdem weich, wie ein flacher Stein, der übers Wasser hüpft. Ich spreche immer als Zweites mit ihm, nachdem ich mit Mama gesprochen habe. Ich erinnere mich an alles von ihr. Ihre raue Stimme wie eine Welle, die sich überschlägt, wenn sie wütend auf mich war. Ihr Atem wie frisch aufgeschnittene Gurken.

Jetzt spreche ich als Erstes mit ihr, und dann gibt sie den Hörer an Papa weiter. Manchmal bin ich bei Papa so schüchtern, dass Mama mit am Telefon sein muss. Und manchmal flüstert mir Tía Mali zu, was ich in der Woche gemacht habe und ihm erzählen soll.

Alle paar Monate schicken sie Fotos, und auf den Fotos sieht Papa freundlich und stark aus. Ich mag seinen dicken Schnurrbart. Sein dichtes schwarzes Haar. Seine großen Zähne. Die goldene Kette, die er über dem Hemd trägt, seine Muskeln, die sich abzeichnen. Jeder im Ort erzählt mir Geschichten über ihn, aber ich habe ihn nie wirklich was gefragt, weil ich so schüchtern werde, wenn ich seine Stimme höre.

Jetzt spricht Großvater mit ihnen, flüstert ganz leise ins Telefon, damit ich es nicht höre. Aber ich höre es trotzdem. Ich habe gelauscht. Ich habe gute Ohren. Richtig gute. Ich höre ihn flüstern: »Don Dago«, dann irgendwas anderes, das ich nicht verstehen kann, und dann platzt er heraus: »Bis zum Muttertag.«

Don Dago ist der Kojote, der Mama vor vier Jahren nach La USA gebracht hat. Er kommt in letzter Zeit häufiger zu uns nach Hause. Ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Ich bin der Klassenbeste. Ich kriege jedes Jahr eine Urkunde, weil ich der beste Schüler bin.

Muttertag. Seit dem Kindergarten lassen die Nonnen uns mit rotem oder blauem Faden Feliz Día de la Madre oder Feliz Día del Padre auf Taschentücher sticken. Jedes. Jahr. Wieder. Wenigstens ist das P einfacher als das M. In der zweiten Klasse haben meine Freunde und ich angefangen, stattdessen die Namen unserer Großeltern zu schreiben. Das ist einfacher.

Aber dieser Muttertag wird anders sein. Dieses Jahr werde ich endlich meine Eltern sehen! Dieses Jahr werde ich Mamas Namen auf ein Taschentuch sticken und es ihr überreichen – persönlich.

»Vor dem Sommer ist er da. Er wird nicht so frieren wie du in den Bergen«, versucht Großvater zu flüstern, als wüsste ich nicht, dass sie über mich reden. Ich verberge mein Glücksgefühl, mein Lächeln, aber es ist schwer, im Wohnzimmer des Bäckers nicht herumzurennen. Schwer, nicht die Tische umzuwerfen. Schwer, nicht die vier Blocks nach Hause zu rennen. Schwer, nicht in die Klinik zu rennen, wo Tía Mali arbeitet. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, mir nichts anmerken zu lassen, wenn sie um sechs von der Arbeit kommt. Aber ich schaffe es, ich lasse mir nichts anmerken, ich gehe im selben Tempo wie Abuelita nach Hause, halte ihre Hand. Umklammere sie. Drücke sie, bis unsere beiden Hände schwitzen und der Schweiß sagt: Es ist so weit. Endlich ist es so weit.

 

Tía Mali kommt in unser Zimmer gefegt, durch das Bettlaken, das an einem Draht hängt und uns als Tür dient, und schreit: »Chepito! Chepito! Ich hab grad mit ihnen gesprochen!« Sie wirft die schwarze Handtasche, die Mama ihr vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschickt hat, auf das Holzschränkchen neben ihrem Bett.

»Mit wem?«

»Deinen Eltern, tontito.« Ich mag es, wenn sie mich so nennt. Das Wort klingt wie Regen, der durch die Löcher in unserem Dach tropft und in Blecheimer fällt, die wir auf dem Boden verteilen, damit das Zimmer nicht überschwemmt wird.

»Sie haben das Datum festgelegt. Den Monat –«

Sie weiß nicht, dass ich Großvater belauscht habe.

»Freu dich! Willst du wissen, wonach sie es festgelegt haben?«

Ich lächele, weil ich es wissen will, aber auch, weil sie es geschafft hat, einen ihrer schwarzen Flamencoschuhe aufzubinden, und sich jetzt mit dem anderen abmüht.

»Eine Kollegin von deiner Mama bei Toys “R” Us hat gemeint, du solltest vor August kommen, damit du Englisch lernen kannst, ehe die Schule anfängt.« Mali setzt sich auf ihr Bett und greift nach der Zitronenhälfte in einer kleinen Plastikschale auf ihrem Schränkchen – die Hälfte, die sie heute Morgen nicht benutzt hat und auf der jetzt Fruchtfliegen hocken. Sie quetscht sich den Saft auf die Füße, trocknet sie dann mit einem Handtuch ab.

»Ist doch komisch, dass die Schule bei den Gringos so spät anfängt, nicht, Chepito?«

Ich schaue hoch zu unserem Dach, blicke dann aus dem Fenster neben meinem Bett. »Wieso fängt die Schule bei denen nicht im Januar an, wie bei uns?«

»Jaber«, sagt sie achselzuckend, schlüpft in ihre sauberen Plastiksandalen und geht dann in die Küche, um die ausgequetschte Zitronenhälfte in den Garten zu werfen. Die Bettlakentür flattert hinter ihr, als sie zurück ins Zimmer gelaufen kommt und auf ihr Bett springt.

»Ich schätze, so bist du sechs Monate schlauer als die gringuitos.« Sie hängt ito an alles dran. »Und am ersten Schultag ist jeder neu.« Sie klopft mit der rechten Hand auf ihre Matratze, das Zeichen für mich, über den kalten Fliesenboden zu ihr zu kommen. Der Geruch von pata chuca ist größtenteils verflogen; die Zitrone hat besser geholfen als alles andere, was sie bisher probiert hat. Das Talkumpuder hat nichts gebracht, und das seltsame Gebräu aus Essig, Honig und Eigelb war ein Reinfall und ließ ihre Füße noch mehr stinken.

Dann machen wir unser Ritual, wie jeden Abend, wenn sie von der Arbeit kommt. Ich lege mich neben sie, während sie anfängt, mir chambre aus der Klinik erzählt: was für Krankheiten die Patienten haben, ihre Untersuchungsergebnisse, die neuen Dramen zwischen den Ärzten, und wenn es ruhig war, wie sehr sie sich gelangweilt hat.

Wir drücken die Füße an die Wand, die Köpfe fast über der Bettkante. Wir blicken hoch zu den Glasziegeln zwischen den Terrakottaziegeln, mit denen das Dach gedeckt ist. Wir schauen durch das Glas und entdecken die ersten Sterne des Abends, was bedeutet, dass bald Essenszeit ist.

Mali ist erst dreiundzwanzig, aber sie hat gehört, dass es gut gegen »Zel-lu-li-tis« ist, die Füße hoch gegen die Wand zu stemmen. Ich mag das Wort, Zel-lu-li-tis. Jede Frau am Pupusa-Stand von Abuelita scheint Angst davor zu haben, als wäre es die Pest. Abuelita hat schon Pupusas vor der Klinik verkauft, als Mama noch ein Kind war. Mama half ihr, Pupusas zu verkaufen. Mali hat das auch getan, bis sie zur Schule ging und später als Sekretärin in der Klinik anfing. Jetzt hilft ihr Tía Lupe – die jüngste der drei Schwestern –, die Pupusas zu machen und zu verkaufen.

Wenn Tía Mali mit dem chambre durch ist, beginnt sie, die Füße immer noch über uns an der Wand, von ihren Verehrern zu erzählen. »Fijáte que, heute hat mich der Zahnarzt besucht …«

Ich bin mit den Gedanken woanders und erinnere mich, dass sie heute Morgen wieder mal zu spät gekommen ist. Obwohl es von unserer Haustür nur ein paar Meter bis zur Klinik sind! Meistens vergisst sie den Lippenstift, und ich muss sie dran erinnern. Dann schaut sie auf ihre goldene Casio-Uhr mit dem dünnen schwarzen Armband und kreischt: »Puya!«, was bedeutet, dass sie spät dran ist. Sie fegt nach draußen, reißt dabei das Bettlaken fast von dem Draht, an dem es hängt, und weg ist sie, klackert über die Straße, fummelt an ihren Schlüsseln herum, rennt an den Leuten vorbei, die schon Schlange stehen, um die allerersten Patienten des Tages zu sein. Aber nie vergisst sie, mir einen Kuss auf die Stirn zu malen – den ich ein paar Minuten drauflasse, bevor ich ihn abwische.

Wenn Mali das Frühstück vergisst, schickt Abuelita ihr eine in Folie eingepackte Pupusa oder pan dulce in einer Papiertüte, und ich muss über die Schotterstraße rüber zu Tía Malis Schreibtisch direkt neben der Eingangstür der Klinik. Wenn ich keine Schule habe, verkaufe ich horchata, ensalada, marañón und chan. Ich bin ein guter Verkäufer. Das habe ich gelernt, als ich auf Mamas Schoß saß, während sie den Kunden eine Plastiktüte mit dem bestellten Getränk reichte.

Hin und wieder sagt einer, der am anderen Ende des Ortes beim Pier wohnt, wo auch mein Papa her ist, ich soll »Javierón schön grüßen«. Papa hat verschiedene Spitznamen, und ich weiß nicht genau, was sie bedeuten. Lelota ist besonders knifflig, weil das kein richtiges Wort ist. Dann gibt es so offensichtliche wie Alacrán, aber ich weiß trotzdem nicht, wie er den bekommen hat, und natürlich habe ich nie gefragt.

»Soundso lässt schön grüßen«, sage ich zu Papa am Telefon.

»Grüß schön zurück«, sagt er und fragt, wie viele Zweien oder Einsen ich in der Schule habe und in welchen Fächern. Wenn wir mit der Schule durch sind, geht’s um meine Gesundheit, und dann reden wir endlich darüber, was sie letztes Mal geschickt haben, und besprechen, was für neues Spielzeug oder welche Anziehsachen ich mir wünsche, wenn sie das nächste Mal ein Paket schicken.

Ganz am Ende unseres Gesprächs, erst dann, wenn wir uns verabschieden, frage ich Papa, wann ich endlich zu ihm kann. Das Gleiche frage ich Mama. Andere Kinder sind längst oben bei ihren Eltern oder stehen kurz vor der Abreise. Mir scheint, dass jeden Monat wieder eins verschwindet.

Eben haben wir noch in der großen Pause Fußball oder Fangen gespielt, und dann, wusch, sind sie einfach weg. Die meisten reisen mit dem Flugzeug ab. Wie? Keine Ahnung. Andere verschwinden in einem Auto, das sie abholt. Sie fahren mit einem Verwandten oder dem Elternteil, der noch hier war. In der Schule erfahren wir es erst hinterher. Sie sind hier und dann nicht mehr. Keiner verrät, dass er geht.

»Bald«, sagen meine Eltern. Immer heißt es »bald«. Aber bald kommt nicht, und ich bin noch immer hier und verkaufe Pupusas an dieselben Leute, denen Mama Pupusas verkauft hat.

»Hab Geduld, Chepito«, sagt Tía Mali jeden zweiten Abend zu mir, wenn ich jammere. Aber diesmal, heute, ist es anders. Nachdem sie mir wieder mal von irgendeinem ihrer Verehrer erzählt hat, dreht sie sich zu mir um, schaut mir in die Augen und sagt: »Du wirst ganz bald da oben sein, tontito, ich freu mich so für dich.« Ich glaube ihr.

Wir starren an die Decke. Vielleicht merkt Tía Mali, dass ich aufgeregt bin, denn sie beginnt, mir von Mamas Reise nach Kalifornien zu erzählen. Das ist die einzige Reise in den Norden, die Mali genauer beschrieben wurde. Keiner weiß, wie Papa dorthin gekommen ist. Anscheinend hat Mama es in zwei Wochen geschafft. »Schnell. Sehr schnell«, sagt Mali und durchschneidet die Luft beim Reden mit der Handkante, erhebt ihre normalerweise leise Stimme, um zu betonen, wie schnell.

»Sie hat San Ysidro durchquert, ist über ein murito gesprungen und einen Hügel-ita hochgelaufen. Dann ist sie in einen Wagen-ito gestiegen und über eine ganz lange Straße gefahren, die größte Straße, die sie je gesehen hat, vorbei an Los Ángeles, vorbei an San Francisco, nach San Rafael, wo dein Vater auf sie gewartet hat.« Während Mali erzählt, stellt sie die Verben mit den Händen dar. Zwei nach unten gerichtete Finger, die sich vorwärts- und rückwärtsbewegen, bedeuten, Mama rennt. Eine Welle bedeutet, dass Mama springt. Ein Luftlenkrad bedeutet, dass Mama in einem »Wagen-ito« fährt.

Ich habe die Geschichte schon tausendmal gehört, aber nie die Einzelheiten. Ich kenne das große Ganze: Sie fuhr los und war nach zwei Wochen da. Sie ist gerannt, sie ist gesprungen, sie hat sich versteckt, sie ist in einem Auto gefahren. »Wer hat sie gefahren? Ich will die Berge sehen, die sie runtergerannt ist, die Bäume, die da wachsen. Den Zaun. Ist er gemauert? Aus Stacheldraht? Ist er hoch? Die Straßen, sind sie aus Schotter oder Asphalt? Breit oder schmal? Ich will Einzelheiten, aber ich glaube nicht, dass Mali mehr weiß, als sie mir erzählt hat, und während sie redet, bin ich still. Das ist etwas, das ich an mir selbst nicht mag. Ich bin zu schüchtern. In der Schule machen sich die frechen Kinder über mich lustig, und ich sage nichts. Ich verstecke mich.

Ich weiß, meine Eltern wollten, dass ich warte, bis ich älter bin. Ich hoffe, sie denken nicht noch immer, dass ich zu klein bin. Das bin ich nicht. Ich bin neun Jahre alt, überwinde aber schon ziemlich schnell den Zaun zwischen unserem Haus und dem der Nachbarn. Und der ist aus Stacheldraht. Wenn La Bonita, unser Hund, einen der Leguane, die in unserem Avocadobaum leben, rüber auf Niña Yitas Grundstück jagt, robbe ich unter dem Zaun durch wie sie, oder ich klettere auf einen der Pfähle, um die der Stacheldraht gewickelt ist, und springe auf der anderen Seite runter. Ich habe mich nie verletzt. Nicht den kleinsten Kratzer abbekommen.

»Aber es wird kalt da«, sagt Mali. »Deine Mama sagt, sie ist in den Hügel-itas krank geworden und war danach noch ein paar Tage krank.«

»Aber jetzt geht’s ihr gut«, sage ich. Mali spielt mit ihrem welligen Haar und blickt rauf zum Oberlicht. Sie zieht ihre schwarzen, raupenartigen Augenbrauen hoch, wie sie das immer macht, wenn sie nachdenkt. Sie schweigt eine Weile, also frage ich: »Willst du die neuen Fotos sehen, die Mama geschickt hat?«

»Ja«, sagt sie leise und greift nach dem Album, das schon auf dem Bett liegt, unter ihrem verschwitzten Bein. Ihre Haut klebt an dem grünen Plastikumschlag, der einen Abdruck auf ihrem Oberschenkel hinterlassen hat. Ich werde nicht wütend, es haben ja nicht ihre Stinkefüße draufgelegen.

Mama hat das Album zu meinem neunten Geburtstag im Februar geschickt. Mein Lieblingsfoto ist das, auf dem sie als eins der Toys-“R”-Us-Maskottchen verkleidet ist. Nicht die große Giraffe, Geoffrey – das Kostüm ist zu groß für Mama. Sie ist klein, ein bisschen größer als Abuelita, aber kleiner als Mali, die einen Meter sechzig groß ist.

Auf dem Foto steckt Mama in einer kleineren Giraffe, mit einem Lätzchen, auf dem Baby Gee steht, und hinter einem durchsichtigen schwarzen Netz ist ihr Gesicht zu erkennen. Ich muss jedes Mal lachen, wenn ich es mir anschaue. Es ist süß: Mama als kleine Baby-Giraffe.

Auf meinem zweitliebsten Foto guckt Mama in einem viel zu großen blauen Polohemd (vielleicht Papas) in die Kamera, und im Hintergrund ist die Golden Gate Bridge. Das ist eine riesige Brücke, die größte Brücke, die je gebaut wurde, hat Mama hinten auf das Foto geschrieben. Das erzähle ich meinen Freunden in der Schule.

Ich liebe Mamas schwarzes, glattes Haar. Den Pony, den sie früher vor dem Spiegel hier mit Haarspray in Form gesprüht hat, und das macht sie da oben immer noch. Ich liebe es, wenn ihr Haar im Wind flattert, wie auf dem Foto, und der Pony wie festgefroren ist. Sie lächelt. Mama lächelt nie so, dass man ihre Zähne sieht, sondern sie neigt ihr herzförmiges Gesicht immer ein wenig nach rechts, wie um gleich ein Geheimnis zu erfahren.

»Siehst du, da oben ist es toll«, sage ich zu Mali und zeige auf die Berge hinter der Golden Gate Bridge. Ihr rundes Gesicht widerspricht mir nicht.

»Bald werde ich über diese Brücke gehen«, sage ich lauter, als hätte ich gerade ein Tor geschossen. Ich zeige auf die dicken roten Pfeiler der Brücke. »Ich schick dir ein Foto von da, so eins wie das hier.«

»Ja, bitte, Chepito, vergiss mich nicht, versprochen?«

Das könnte ich nie.

17. März 1999

Mama und Papa haben beschlossen, Don Dago zu nehmen, der unseren Fischerort zwei- bis dreimal im Jahr besucht. Unser Ort ist nicht San Salvador oder auch nur Zacatecoluca. Es führt ein Weg hinein und einer hinaus: eine mit Schlaglöchern übersäte Asphaltstraße, die am Pier endet, wo die Fischer Stunden vor Sonnenaufgang rausfahren und gegen Mittag zurückkommen, um den Tagesfang zu versteigern. Im Winter, wenn es unentwegt regnet, sind die Asphaltstraße wie auch die einzige andere Straße im Ort (die kleinere Schotterstraße, an der wir wohnen) überschwemmt. Im ganzen Ort steht das Wasser ein paar Zentimeter hoch, und Mali und ich gehen bis zur Straße, wo wir von Abuelitas überflutetem Pupusa-Stand aus Papierboote fahren lassen. Wir basteln sie aus alten Schulheften oder alten Zeitungen, und ich schreibe mit schwarzem Filzstift das Datum drauf. Manchmal gebe ich ihnen komische Namen wie Mumra oder Bulma. Oder ich gebe ihnen die Vornamen meiner Eltern.

Niemand weiß, wann Don Dago das nächste Mal kommt, aber wenn er auftaucht, was er verlässlich tut, spricht sich das schnell herum, und jeder weiß, wo er zu finden ist: in Doña Argentinas cantina. Dort trinkt er ein eiskaltes Suprema und raucht Marlboros, einen gläsernen Aschenbecher neben sich. Die Leute stehen Schlange, um zu fragen, ob und zu welchem Preis er nach Wa-ching-tón liefert, nach Jius-tón, nach San Francisco. Ob er Kinder liefert, ob er Frauen oder Männer liefert, die älter sind als er, ob er das Leben von uns allen verändern kann. Don Dago hat das Leben von Mama verändert. Mali sagt, sie ist weggegangen, weil es keine Arbeit gab. Papa ist wegen »der Politik« weggegangen. »La USA ist sicherer, reicher, und es gibt da so viele Jobs«, haben Mali und Abuelita mir erzählt.

Don Dago sitzt auf einem weißen Plastikstuhl neben dem weißen Plastiktisch vor der cantina. Dieselbe cantina, zu der ich gerannt bin, wenn Großvater was zu Hause trinken wollte. Ich kaufte immer das Übliche, eine Flasche El Muñeco, dann lief ich die fünf Blocks zurück nach Hause und brachte sie ihm. Wenn er die erste Flasche leer hatte, lief ich wieder zur cantina und holte ihm noch eine. So ging das weiter, bis Großvater in der Hängematte wegdöste. Das Wechselgeld durfte ich behalten und steckte es in meine Super-Mario-Spardose, die ich erst knackte, als meine Eltern letztes Jahr sagten, sie hätten nicht genug Geld, um mich zu sich zu holen. Abuelita weinte, als ich ihr erzählte, warum ich die Spardose aufgebrochen hatte. Ich weinte, weil sie weinte und weil sie mir erzählte, mein Erspartes würde nicht reichen.

Großvater hörte mit dem Trinken auf, als Mama wegging, und Don Dago hat schon Leute aus unserem Ort weggebracht, bevor er Mama wegbrachte, aber als ich jetzt an Don Dago auf seinem weißen Plastikstuhl vorbeigehe, zieht er an seiner Zigarette und winkt mir zu. Neben ihm steht immer ein kleiner weißer Ventilator, den Doña Argentina an seinen Tisch bringt. Ein leuchtend oranges Verlängerungskabel schlängelt sich bis zur nächsten Steckdose in der cantina. Der Ventilator ist wie ein gehorsamer Hund, darauf dressiert, den Schweiß abzulecken, der durch Don Dagos ordentlich gebügeltes Polohemd dringt, das aufgeknöpft ist, um ein wenig von seiner grauen Brustbehaarung zu zeigen. Ich will auch mal so Haare auf der Brust haben: fast lockig, fast weiß wie Salz, wie der Bart von Santa Claus in der Coca-Cola-Werbung.

An seiner linken Hand: eine goldene Uhr. Auf der Brust: drei goldene Ketten, eine ganz dünn, die beiden anderen jeweils etwas dicker. Schwarze Lederschuhe passend zu seinem schwarzen Ledergürtel. Seine Kleidung macht deutlich, dass er nicht aus La Herradura ist, nicht mal aus El Salvador. Er sieht eher aus wie die rancheros in mexikanischen Serien, nur dass er keinen Sombrero trägt; eine Baseballkappe bedeckt seine kahle Stelle, und schwarz gefärbtes Haar steht an den Seiten ab.

Der überraschendste Teil seines Outfits, der Teil, der nicht zu dem ranchero passt, ist Don Dagos kleine schwarze Bauchtasche aus Leder. Darin hat er seine Marlboros, Bic-Feuerzeug, Bic-Kugelschreiber, Sonnenbrille, Chiclets-Kaugummis – alles bis auf den kleinen braunen Notizblock, der immer in seiner Gesäßtasche steckt. Sein Notizblock ist das Hilfsmittel, das er einsetzt, um die Spannung zu erhöhen, wenn die Leute ihm Fragen stellen wie »Don Dago, disculpe, wie viel nach Kalifornien?«.

»Welche Stadt? Die Tarife sind unterschiedlich«, antwortet er und nimmt einen Schluck von seinem Suprema.

»Los Ángeles«, habe ich sie sagen hören, als hätten sie Angst vor ihm.

»Geschlecht? Alter der Person?«

Diese paar Informationen reichen Don Dago. Dann rutscht er auf seinem Stuhl ein Stückchen nach vorn, hebt die linke Pobacke an und greift nach dem Notizblock. Er klappt ihn auf wie ein Springmesser, und innen auf dem Deckel stehen Zahlen, die nur er versteht. Manche sind durchgestrichen. Und seine einzige Regel, die jeder im Ort kennt, lautet: keine Verhandlungen.

»Nicht mein Tarif. Ich kann ihn nicht ändern«, sagt er und zeigt den Kunden seine zum Himmel geöffneten Handflächen, nachdem er auf die Zahlen gewiesen hat, Zigarette in der Hand.

»Ich kann ihn nicht ändern«, wiederholt er, wenn sie ihm all die Gründe nennen, warum ihr Kind, ihr Bruder, sie selbst das Land verlassen müssen. Großvater sagt, es sind überwiegend arme Leute, oft noch ärmere als wir, die Don Dago brauchen, ihn sich aber nicht leisten können. Ich habe zufällig mitbekommen, wie Abuelita gesagt hat, dass die Gewalt jetzt zunimmt, also brauchen immer mehr Menschen Kojoten. Erst letzten Oktober wurde Papel-con-Caca im Morgengrauen vor unserem Haus erschossen. »Weil er Tätowierungen hatte«, sagte Großvater. Er war einer von den »Bösen«, ein »marero«, sagen die Leute jetzt, aber er hat mich auf seinem Fahrrad mitgenommen, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte. Dann wurde Pedro im November auf dem Markt erschossen. Und letztes Jahr an Weihnachten erschoss Don Guayo jemanden vor seiner Apotheke, floh dann nach La USA. Don Dago interessiert sich nicht für die Gründe. Er wiederholt bloß, dass er den Preis nicht ändern kann, jedes Mal mit einem Lächeln, sodass die Kunden seine vollkommen geraden Zähne sehen, groß und ein bisschen gelb verfärbt.

Don Dago hat wahrscheinlich nicht gelogen, als er Großvater erklärte: »Ich bin bloß eine Perle in einer langen Perlenkette, Don Chepe.« Wir waren zu Hause, als er das zweite Mal vorbeikam. Großvater und Don Dago saßen auf Plastikstühlen unter den Mangobäumen im Garten. »Wir alle müssen essen«, fuhr er fort. Ich spielte zwischen den marañón-Bäumen neben den Mangos. Seit meinem achten Geburtstag besuchte Don Dago uns jedes Mal, wenn er herkam. Davor war er nur ein einziges Mal bei uns gewesen.

Ich erinnere mich noch an das erste Mal. Das war kurz nach meinem siebten Geburtstag, nachdem ich zweimal in der US-Botschaft gewesen war, um ein Visum zu beantragen, und klar wurde, dass eine Ausreise mit dem Flugzeug nicht möglich wäre. Don Dago sah mich an und verkündete: »Er ist zu jung.« Er war so groß. Größer als Großvater, und beide hatten sie ihre Polohemden in ihre Bluejeans gesteckt. Kaum war Don Dago gegangen, sagte Großvater: »Anscheinend hat der coyote de mierda eine ›Keiner unter zehn‹-Regel.« Großvater war stinksauer. Sein Gesicht läuft rosa an und die Adern in seinen Schläfen treten hervor, wenn er sauer ist. Ich war traurig. Ich musste wieder mal warten.

»Aber ese cerote wird ihn trotzdem mitnehmen, wenn die Zeit reif ist«, sagte Großvater.

Niemand ist gegenüber Großvater respektlos. Die Leute haben Angst vor ihm. Mali sagt, das liegt daran, dass Großvater beim Militär war und immer noch eine Pistole besitzt. Ich glaube, es liegt daran, dass er richtig gut mit seiner Machete umgehen kann, und wenn einer versucht, unsere Bananen, Mangos oder Orangen zu stehlen, verjagt Großvater die Diebe und schießt mit einer Schleuder auf sie. Ob Kinder oder Erwachsene, spielt keine Rolle. Die älteren Brüder meiner Freunde haben Angst, meine Freunde haben Angst, sogar die Hunde gehen Großvater aus dem Weg. Ich habe ein bisschen Angst vor ihm también.

Ich hoffe, Don Dago hat seine Regel geändert. Dass ich noch neun bin, wird mich nicht davon abhalten, diesen Mai meine Eltern zu sehen. Don Dago ist »der beste Kojote an der mittleren Küste von El Salvador«, habe ich Leute am Pupusa-Stand sagen hören, und das bedeutet, dass er teuer ist.

Mali sagt, er habe meinen Großeltern versprochen, dass Mama auf Straßen fährt, Busse nimmt, sich vielleicht in einem Kofferraum versteckt, sich vielleicht in einem Anhänger versteckt, dann einen Hügel hochläuft, in ein Auto steigt und es so zu Papa schafft. Und Don Dago hat Wort gehalten. Er hat Mama den ganzen Weg begleitet. »Er ist ein guter Kojote«, sagen alle. Zwei Wochen hat es gedauert. Sehr schnell. Sehr sicher.

Die Erwachsenen erzählen mir nicht viel. Tía Mali ist die Einzige, aus der ich irgendwelche Informationen herauskriege, aber manchmal weiß selbst sie nicht, was vor sich geht.

»Wir sparen, wir haben es fast geschafft, du wirst bald bei uns sein«, haben mir meine Eltern immer wieder am Telefon oder in Briefen versichert. Ich weiß, dass meine Eltern sparen, aber ich kenne die genaue Zahl nicht. Ich denke mir eine aus und schreibe sie oben auf jede Seite meiner Hausaufgaben. Ich klappe meinen Notizblock genauso auf, wie Don Dago es macht, wie ein Springmesser, und schreibe die ausgedachte Zahl direkt unter das Datum ganz oben links auf der Seite.

20. März 1999

Ich liege in Malis Bett, während sie darauf wartet, dass ihre Freundin sie zum Tanz am Pier abholt. Es ist der vorletzte Samstag vor der Semana Santa, und in der Stadt wird bereits gefeiert. Mali ist in ihrem Ausgehkleid: schwarz mit glänzenden Perlen am Saum und einem Halsausschnitt, bei dem der obere Teil ihres Rückens zu sehen ist. Ihre schwarzen Stöckelschuhe stehen neben dem Bett, ihre Beine stecken in schwarzen Leggings. Die Zitrone wurde bereits aufgetragen und mit einem Handtuch abgewischt, die Fersen mit Parfüm besprüht.

Ich mag es, wenn sie ihr dichtes schwarzes Haar noch extra kräuselt. Es ist schon kraus, aber wenn sie ein bisschen Schaumfestiger und Haarspray benutzt, ist es richtig kraus. Den Mund hat sie sich mit ihrem Lieblingslippenstift geschminkt – nicht mit dem pfirsich- oder hellrosafarbenen, den sie bei der Arbeit trägt. Der hier ist rot, aber nicht zu rot. Sie will auf gar keinen Fall wie eine bruja aussehen, deshalb mustert sie sich jedes Mal im Spiegel, bevor sie das Haus zur Arbeit oder zu einer Party verlässt, und fragt mich: »Seh ich aus wie eine brujita?«

Diesmal sieht sie nicht so aus. Ich mag dieses Rot, rot wie das Rot, das ich durch meine Handfläche sehe, wenn ich sie auf eine brennende Taschenlampe drücke. Das mache ich oft auf dem Weg zu unserem Außenklo, wenn ich nachts pinkeln muss. Ich sehe gern das Blut, das durch mich hindurchfließt, dadrin gefangen ist.

»Der Zahnarzt ist zudringlich. Er trinkt. Ich will ihm nicht in die Arme laufen«, sagt Mali gerade genervt, die Raupenaugenbrauen zusammengezogen, was ihre Stirnfalten zum Vorschein bringt.

Ich halte durch das Oberlicht nach Sternen Ausschau und bekomme nur halb mit, was Mali sagt.

»Deine Mama hat ihre Reise schnell hinter sich gebracht. Zügig. Es war ein mojado-Express erster Klasse«, sagt sie lachend. Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. »Dir wird nichts passieren. Da mach ich mir keine Sorgen, Chepito.«

Mali redet weiter, sagt, Mama habe gleich angerufen, nachdem sie die Grenze überquert hatte. Ich mag das Wort: cruzó. Ich kann ein Kruzifix sehen. Vielleicht besteht der Zaun aus lauter kleinen Kreuzen.

»Deine Mama hat Wasser aus Viehtränken getrunken, aber es ging ihr gut«, sagt sie. Sie trägt jetzt Mascara auf und biegt sich die Wimpern. Wenn Mali Viehtränken sagt, stelle ich mir Mama als Kuh vor, dann als Pferd, dann in ihrem Giraffenkostüm, wie sie sich hinkniet und dreckiges Wasser trinkt.

»Ich bin bald wieder da, mijo, ich komme wieder, versprochen«, sagte Mama vor vier Jahren in genau diesem Zimmer. Das Zimmer war hellblau, die Wände dunkel, die Sonne ging gerade auf, Licht fiel auf die Wipfel der weiß-rosa Myrtenbäume vor dem Fenster neben dem Bett, das ich mit ihr teilte.

Ich hatte die Augen halb geschlossen, aber ich weiß noch, dass Mama mir einen Kuss oben auf den Kopf gab, dann auf beide Wangen. Sie malte mir mit einem Finger ein Kreuz auf die Stirn und flüsterte etwas vor sich hin. Dann kniete sie sich neben das Bett, schaute mir direkt in die Augen und sagte: »Te quiero mucho.«

Ich bereue, dass ich nicht für Mama aufgewacht bin. Ich schaute ihr gerne dabei zu, wie sie sich zurechtmachte, wenn sie ausging. Deshalb sehe ich Mali gerne dabei zu, wie sie Make-up aufträgt, sich die Augenbrauen nachzieht, die Lippen schminkt, die mit Mascara getuschten Wimpern biegt. Schon Wochen vor ihrer Abreise sagte Mama, dass sie für eine Weile fortgehen würde, aber sie sagte mir nicht, wann und für wie lange. Ich war gerade fünf geworden. Als sie ein paar Sekunden lang in der Tür stehen blieb, schloss ich die Augen und schlief wieder ein.

»Erinnerst du dich an Roberto?«, fragt Mali.

Zunächst war nicht geplant, dass ich mit Don Dago fortgehe. Vor zwei Jahren versuchten meine Eltern, mich mit dem Flugzeug zu sich kommen zu lassen. Es gibt einen anderen Kojoten, der befördert keine Menschen, sondern Briefe, Videos und Lebensmittel von hier nach La USA. Er heißt Don Leo, und er bringt auch Sachen hierher: die ein oder zwei Kartons pro Jahr mit Legos, Klamotten, Videorekordern, Toastern und so weiter. Das mit dem Flugzeug war Don Leos Idee. Großmutter sprach ihn darauf an, nachdem Jeffrey – mein älterer Freund und Nachbar – auf die Art nach La USA abgereist war. Offenbar hatte Jeffreys Familie rumerzählt, er habe ein Visum bekommen, aber Mali meint, in Wahrheit habe er das von jemand anderem benutzt.

Don Leo kannte wen, der einen Sohn ungefähr in meinem Alter hatte. Ich prägte mir Geburtstag, Geburtsort, Nachnamen und so weiter von dem Jungen ein und bekam sogar einen Haarschnitt, damit ich so aussah wie er – Roberto. Ich sehe nicht aus wie Roberto, ich bin dunkler, deshalb schlug Roberto senior vor, dass ich wochenlang nicht draußen spielen sollte. Ich ging nicht mal zur Schule ohne Regenschirm.

»Roberto hat achthundert Dollar-itos bekommen, um die Kosten zu decken«, verrät Mali, während sie sich das Gesicht pudert. »Dann waren noch mal fünfzehnhundert vorgesehen, falls du den Pass bekommen hättest, und noch mal fünfzehnhundert, wenn du bei deiner Mutter angekommen wärst«, fährt sie in demselben sanften Ton fort, als hätte sie mir das schon einmal erzählt, aber das hat sie nie.

Ich weiß noch, wie ich alle Einzelheiten meines neuen Lebens als Roberto junior auswendig lernte. Meine Eltern kannten viele Kinder, die auf diese Weise nach La USA gelangt waren. Ich, der falsche Roberto junior, würde ein Flugzeug nehmen, in La USA aussteigen und den Pass mit der Post zurück an Don Leo schicken, der jemanden am Flughafen kennt, der ihn für den echten Roberto junior abstempeln würde. Wie ein Geist, der das Flugzeug zurück nach Hause nimmt.

»Ich hab dir beim Üben geholfen, weißt du noch?«, sagt Mali und dreht sich zu mir um, fertig geschminkt. »Wie seh ich aus?« Wenn sie unsicher ist, wird ihre Stimme leiser. So ist das auch jeden Morgen, wenn sie mir die Frage stellt.

»Bonita«, sage ich. Das ist unser Standardwitz, weil mein Hund so heißt, aber sie weiß, dass ich finde, sie sieht schön aus.

Meine Antworten für die Befragung übten wir hier auf diesem Bett. Als die Gringa hinter der Panzerglasscheibe in der Botschaft mir die vielen Fragen stellte, geriet ich nicht ins Stocken. Ich war stolz darauf, die Lady zu täuschen. Ich fühlte mich wie James Bond oder La Usurpadora. Aber dann wandte sich die Gringa an Roberto senior und fragte: »Sir, ist das Ihr Sohn?«

Sie fragte das ganz sanft, kein bisschen bedrohlich, mit einem schönen Akzent, so wie die Gringos in mexikanischen Filmen spanisch sprechen. Meinem Scheinvater brach der Schweiß auf der Stirn und unter den Armen aus; vorn auf seinem Hemd bildete sich ein großer dunkler Fleck.

»Ist das Ihr Sohn?«, wiederholte die Gringa eindringlicher und beugte sich näher an die Scheibe.

Roberto senior sah mich an, seine hellbraunen Augen schielten beinahe. Sein Gesicht war zur Seite geneigt, als würde er sich bereits entschuldigen. Ich schaute auf die Flagge von La USA hinter dem hellbraunen Haar der Gringa. Ich zählte die Sterne. Die Hand von Roberto senior zog mich von der Panzerglasscheibe weg, über die Linoleumfliesen, durch die Glastür, vorbei an den Wachleuten, durch das Drehkreuz, auf die Straße.

Ich war traurig, aber ich weinte nicht. Das tat ich erst, als ich nach Hause kam und Abuelita umarmte. Dann Mali. Sie umarmten mich gleichzeitig. »Keine Sorge, alles wird gut, bald bist du bei ihnen«, sagten sie und hoben mich hoch, sodass meine Beine herabbaumelten.

»La Migra – du weißt schon, die bösen gringuitos – hat deine Mama nicht geschnappt«, sagt Mali, die jetzt neben mir liegt, die Arme um mich, ihr steifes Haar an meinem Gesicht. Sie hat mit dem Haarspray übertrieben.

»Deine Mama sagt, sie weiß nicht, wie sie sich in der Nacht so gut verbergen konnte.« Ich stelle mir vor, wie Mama ganz in Schwarz gekleidet zu einem Baum läuft, dann zu einem Busch, sich jeder Form anpasst. »Oh, und sie hat zum ersten Mal Schnee gesehen, als sie über die Grenze ist. Schnee!« Ihr ganzes Gesicht wird runder, wenn sie lächelt, ihre großen Augen noch größer. »Ich will auch Schnee sehen, wie du, oder?«

»Ja klar«, sage ich. Ich will einen Schneeball machen wie in den Filmen. Mama hat das 1995 gemacht, als ich fünf war. Meine Befragung in der US-Botschaft war 1997. Und davor, 1996, haben Mali und ich versucht, ein Visum zu bekommen – ein richtiges Visum, aber die US-Botschaft hat Nein gesagt, wie sie schon bei Mama Nein gesagt hatte. Eine viel gemeinere Gringa sagte: »Keiner von euch bekommt ein Visum. Der Nächste!«

Jetzt haben wir 1999. Ich bin neun, und ich möchte mit Mama kuscheln. Ich bin traurig, wenn ich an Roberto denke. Mali sieht traurig aus, weil niemand kommt, um mit ihr tanzen zu gehen.

»Jetzt hab ich mir ganz umsonst die Haare gemacht«, sagt Mali.

»Mach dir nichts draus.« Ich schnappe mir das übergroße knallorange T-Shirt, das sie zum Schlafen anzieht. Mama hat es ihr mit Don Leo aus Kalifornien geschickt. In dem Shirt sieht Mali wie eine Möhre aus. Es steht irgendwas auf Englisch drauf, das wir nicht verstehen, bloß das Wort love kennen wir.

Mali gibt die Hoffnung auf und zieht das Shirt an. Wir stemmen die Beine gegen die unebene Wand. Wir zählen die Sterne durch das Oberlicht, das Großvater in der Mitte der Zimmerdecke eingebaut hat, und denken uns zu jedem Stern eine Geschichte aus. Ich taufe immer zuerst einen nach Mama: Patricia.

23. März 1999

Mama vertraut Don Dago. Papa vertraut ihm. Großvater. Abuelita.

»Dieser viejo ist ein rabo verde, ein verdammter pícaro, aber weißt du was, er hat nie was Schlimmes gemacht, außer mal einen Hintern zu betatschen«, sagt La Chele Gloria – die Obstverkäuferin auf der anderen Straßenseite, bei der ich herumlungere, wenn Abuelita an ihrem Stand Feierabend macht – mit ihrer lauten Megafonstimme, während ihre Hände ständig in Bewegung sind: Obst schneiden, in die Schürze tauchen, um Wechselgeld herauszugeben.

»Liefert die Frauen immer sicher ab«, fährt sie fort. »Mirá, ich sehe, ich höre alles, bicho.« Sie fährt mit der Hand durch die Luft, um Fliegen davon abzuhalten, sich auf ihrem Korb mit Ananas-, Wassermelonen-, Gurken-, Mango- und Orangenscheiben niederzulassen. »Ich weiß, dass du sicher da ankommen wirst.«

»Wo?«, frage ich, obwohl ich weiß, was sie mit »da« meint.

»Da drüben, cerotito, mit den Brücken, Pizzas, Swimmingpools – bild dir bloß nicht ein, du wärst ein Gringo.« Sie grinst und zeigt alle ihre schiefen Zähne. Ihre Falten weiten sich, wenn sie grinst. »Vergiss mich bloß nicht, cerotito.« Bei jedem anderen, der mich so nennt, würde ich wütend werden, aber wenn La Chele Gloria das macht, bedeutet das, dass sie dich mag.

Abuelita kann La Chele Glorias große Klappe nicht leiden und ermahnt mich, nicht zu viel über Mama und Papa zu reden, darüber, dass ich weggehe. »Wenn du ihr A erzählst, ist es morgen J, am nächsten Tag P, und irgendwann kommt es als Z zu dir zurück«, warnt sie Mali, Lupe und mich jedes Mal, wenn wir mit den Obsttüten von La Chele Gloria zurückkommen. Aber ich liebe ihre Geschichten. Die sind laut, voller Lachen, und jedes zweite Wort ist ein schlimmes Wort.

»Vos, bicho, du wirst noch genug schlimme Wörter hören, hijueputa«, sagt La Chele Gloria. Mir gefällt, dass sie den ersten Teil des Wortes schnell ausspricht und die ersten beiden Silben zu einer einzigen vernuschelt. Hijue wird zu jue. Dann betont sie das pu mit einem ploppenden Geräusch, landet auf dem ta und zieht das ahhhh in die Länge: jue-pú-tahhhh.

Das sagt sie jetzt zu mir, als ich eine Tüte Gurkenscheiben mit Alguashte, Salz und Limette kaufe. »Sonst noch was, juepúta?«

Ich schüttele den Kopf.

»He. Vos. Cerote. Schschttt.« Sie versucht, einen anderen Kunden auf sich aufmerksam zu machen, der den Kopf schüttelt, weil La Chele Gloria in meinem Beisein flucht. Sie erzeugt das Geräusch, indem sie den Kiefer anspannt, sich auf die Zähne beißt, dann etwas Spucke sammelt und die Zunge an die Zähne schiebt, einen Kussmund macht. Während sie das sagt, nickt sie. Alle machen das so, aber bei ihr ist es übertrieben, als würde sie bei einer Talentshow auftreten.

»Vos. Schschttt. No te hagás el maje, cerote«, sagt sie zu dem Typen, einem Stammkunden, und alle lachen. Sie hat ein donnerndes Lachen, das die Luft erfüllt, den Boden erschüttert, mir den Bauch kitzelt, und deshalb kaufe ich jeden Tag bei La Chele Gloria Obst. Nicht weil sie das beste Obst hat, sondern weil ihre Freude ansteckend ist. Außerdem weiß sie wirklich alles. Sie war es, die mir als Erste die Geschichte von dem Tag erzählte, an dem Papa nach La USA ging.

»Bicho, cerote, mirá, du warst klein, so klein.« Sie hält die flache Hand waagerecht über den Boden, wie man das bei Tieren macht.

»Bei Menschen geht das anders«, korrigiere ich sie und führe ihr vor, wie man die Größe eines Menschen richtig anzeigt, halte die Hand aufrecht, die Finger zum Himmel gerichtet.

»Mirá este hijo de gran puuuta«, sagt sie und sieht den Fremden an. »Glaubst du etwa, du bist was Besseres als ich, cerotito? Hab Respekt vor den Älteren! Diese verdammten Nonnen bringen euch einen Scheiß bei!« Sie sagt das so laut, dass alle vor der Klinik zu ihr hinschauen, bevor sie ein Lachen ausstößt, das kilometerweit zu hören ist. Ihr Lachen erfasst den ganzen Block, überzieht ihn mit ihrem dicken, feuchten, schiefen Lächeln.

»Du warst so verdammt klein«, erzählt sie weiter, »dein Papa wollte nicht weg, aber, du weißt ja, der Krieg. Gefährlich. Wir dachten, er geht nie zu Ende. Und die mierda hat ja auch nicht aufgehört«, sagt sie und zeigt mit ihrem Messer auf die Ananas, der sie gerade die Augen ausschneidet. »Es war im Morgengrauen, und deine Mutter muss geschlafen haben. Vielleicht hat sie nicht gewusst, dass er geht, so ein Arschloch ist er nämlich, er wollte kein großes Tamtam.«

Sie schneidet die Ananas in Scheiben, gelber Saft benetzt ihre Hände.

»Er hat keinem was gesagt. Aber er hat sich von deinem Großvater verabschiedet. Dann ist er los, da lang, nur mit seinem Rucksack.« La Chele Gloria deutet mit gespitzten Lippen, nickt in die Richtung meines Zuhauses.

Nachdem ich die Geschichte das erste Mal gehört hatte, fragte ich Mama. Sie bestätigte, dass Papa durch unser Maisfeld gegangen ist, zur Asphaltstraße, zur Bushaltestelle unter dem größten Kapokbaum im Ort.

»Dann bist du hinter ihm her. Kein Mensch hat dich gesehen«, sagt La Chele Gloria, die jetzt die Ananasscheiben in Stücke schneidet, damit sie in eine Plastiktüte passen. »Ich weiß noch, dass deine Mama aufgewacht ist, als die Sonne gerade über den Vulkanen aufging. Ich war dabei, meinen Stand aufzumachen. Sie hat geschrien. Vielleicht hat sie gedacht, dein Papa hätte dich mitgenommen. Dann hat deine Abuelita geschrien. Deine Tanten haben geschrien. Dein Großvater. Sie haben geschrien: ›El niño, el niño, er ist verschwunden, Hilfe, Hilfe!‹ Alle sind komplett durchgedreht. Ich hab gedacht, dein Vater hat dich wirklich mitgenommen. Aber dann ist mir klar geworden, dass ese pendejo das nicht machen würde. Du hattest gerade erst laufen gelernt. Ich hab alles stehen und liegen lassen und hab geholfen, dich zu suchen, cerote.

Ein paar von uns haben auf eurem Grundstück gesucht, andere sind diese Scheißschotterstraße rauf und runter. Wir haben in der Klinik gesucht. Dann, endlich, hat Memo der Mechaniker gerufen, dass er dich auf der anderen Straße gefunden hat, also sind wir alle über das Feld gerannt.« La Chele Gloria, die jetzt ihre zweite Ananas klein schneidet, hält mit dem Messer in der Luft inne. Zeigt damit auf mich. »Du hast auf den Wurzeln von dem Kapokbaum gesessen, mit verschränkten Armen, und hast drauf gewartet, dass der Bus zurückkommt. Du musst eine Stunde gewartet haben. Ich seh immer noch den kahlen Baum vor mir, voll mit den wolligen Schoten. Viele schon aufgeplatzt. Das weiße Zeug überall in der Luft. Und ufff, deine Mama. Ach, deine kleine Mama, ich erinnere mich an ihr Gesicht, ganz schrumpelig wie eine Pflaume.« La Chele Gloria zeigt mit dem Messer auf ihr kurzes, lockiges dunkelblondes Haar, um zu signalisieren, dass sie ein tadelloses Gedächtnis hat. »Deine Mama konnte nicht anders, sie hat dir ordentlich den Hintern versohlt. Aber erst nachdem sie dich umarmt hatte. Ich hätte dir auch den Hintern versohlt. Bicho requetependejo, cerotón. Deine arme Mama, wir mussten sie davon abhalten, dich noch mehr zu schlagen.«

Bis auf den letzten Teil höre ich die Geschichte immer wieder gern. Eine Version davon ist mir von so vielen Leuten erzählt worden, aber La Chele Gloria erzählt sie am besten. Die Krankenschwestern, die Ärzte, die tamalera, La Belleza (meine Lieblingssäuferin, die nach dem Mittagessen bei uns vorbeikommt, um sich Wasser geben zu lassen), fast alle Händler auf dem Markt. Sogar der Priester hat die Geschichte gehört. Das gefällt mir, es ist, als wäre ich berühmt.

»Du wolltest immer bei ihnen sein«, fährt La Chele Gloria fort, während sie Stücke der zweiten Ananas in Plastikbeutel stopft. »Irgendwann kommst du dahin, bicho pasmado. Aber reiß dich verdammt noch mal zusammen und werd erwachsen, bevor du gehst, ponete las pilas. Avivá! Buzo! Trucha!«

Ich bin nicht so dumm oder klein, wie sie glaubt. Aber ich habe meine Lektion gelernt. Ich korrigiere sie nicht. Stattdessen nicke ich und nehme mein Obst und gehe rüber zu Abuelitas Stand. Don Dago hat versprochen, dass meine Reise sicherer wird als die von Mama. Ich bin fast zehn. Fast in der fünften Klasse. Es ist Mitte März, und bald ist Muttertag. Die Frage ist nicht, ob Don Dago mich mitnimmt, sondern wann.

31. März 1999

Ich gehe seit der Vorschule auf die Escuela ParroquialFray Cosme Spessotto. Früher hat Mama mich zu Fuß oder auf ihrem Fahrrad hingebracht. Jetzt bringen Abuelita oder Großvater mich hin. Meistens Großvater. Wir reden nicht viel, während wir nebeneinander hergehen. Wenn wir am schwarzen Eisentor der Schule ankommen, zeigt Großvater auf meine Schuhe und holt sein Taschentuch hervor, damit ich den Staub abputze. Manchmal steckt er mir das Hemd in die Hose oder, wenn es nichts zu beanstanden gibt, wischt er mir über die Schultern.

»Du musst immer wie geleckt aussehen«, sagt er jedes Mal zum Abschied. Er mag diesen Ausdruck »wie geleckt«. Er lächelt und schaut mir nach, wie ich durchs Schultor gehe. Jedes Mal, wenn er aus irgendeinem Grund das Haus verlassen muss, wienert Großvater seine Stiefel, bügelt Hose und Hemd, rasiert sich, kämmt sein Haar mit Öl und badet förmlich in Rasierwasser. Jede Bügelfalte ist da, wo sie sein soll. Er krönt den Look mit seinem sauberen Taschentuch, das er ebenfalls bügelt und in eine seiner Gesäßtaschen steckt. In die andere kommt sein schwarzer Plastikkamm.

Aber zu Hause trägt er immer dieselbe Jeans, keinen Gürtel, alte Sandalen, und falls er überhaupt ein T-Shirt trägt, dann ein altes weißes in XL mit dem Aufdruck Sherwin-Williams. Die bekommt er im Baumarkt, wenn er Farbe kauft.

»Alter Fettsack«, sagt Abuelita oder, mein Lieblingsausdruck: »alter Stinker«, wenn er im Garten Laub harkt, alte Blätter aus den Bananenpflanzen schneidet.

Großvater sammelt diese T-Shirts, so wie er die kostenlosen Kalender von den Geschäften sammelt, in denen er seine Dezember-Einkäufe erledigt. Er stapelt die Kalender in seinem Zimmer neben dem Stapel gefalteter T-Shirts, und ab Mai fängt er an, sie als Brennmaterial für seine Nachmittagsfeuer zu verwenden, wenn er Laub oder den tagsüber angefallenen Müll verbrennt.

Ich gehe zu ihm nach draußen, wenn er Sachen verbrennt. Ich beobachte gern, wie verschiedene Materialien Feuer fangen. Am besten finde ich Plastik, aber den Geruch kann ich nicht ausstehen. Es brennt langsam, wird zuerst schwarz, schmilzt dann ein bisschen. Manchmal werden die Flammen mattgrün oder leuchtend blau. Ich mag das. Aber wenn Großvater sieht, dass ich zugucke, gibt er mir irgendeine Aufgabe: Ich sammele die trockenen Außenschalen von Kokosnüssen. Wenn die Kokosnüsse reif sind, fällt der Teil von ihnen ab. Sie fühlen sich ganz ledrig an. Ich sammele sie unter den Palmen ein, zum Anzünden der Müllhaufen. Ich mag das Geräusch, wenn sie Feuer fangen, wie eine Zündschnur, die sich zum Pulver frisst.

Großvater ist jetzt da draußen und verbrennt Müll, aber ich schaukele gern mit Mali in der Hängematte. Zur Schule gehen, zur Kirche gehen, zum Friseur gehen und Müll verbrennen: Das ist die einzige Zeit, die ich mit Großvater verbringe. Er ist schweigsam. In seiner Nähe bin ich schüchtern. Obwohl er nicht mehr trinkt, seit Mama fort ist, habe ich Angst, dass er wieder so wird wie früher und Abuelita anschreit, Mali schlägt, mit seiner Pistole in die Luft schießt. Aber zu mir ist er immer nett gewesen. Wenn er mich zur Schule bringt, gibt er mir Geld, einen Colón oder auch mal zwei, damit ich mir was kaufen kann. »Nur, falls du es brauchst«, sagt er und grinst.

Er lässt mich an meiner katholischen Schule voller Nonnen zurück. Die meisten sind aus Spanien, aber einige auch aus Costa Rica und Nicaragua. Alle haben helle Haut, und sie lächeln nie. Sie schlagen die meisten Kinder mit den geknoteten weißen Stricken, die sie um ihren Habit gebunden haben, oder mit Meterstäben aus Holz. In der ersten Klasse wäre ich auch einmal fast geschlagen worden, weil ich zu viele Telenovelas geguckt hatte und Margarita fragte, ob sie meine Freundin werden will.

»Wie geht’s Margarita? Ist sie schon deine noviecita?«, fragt Mali, während sie mir mit einem abgeschnittenen Stück Aloe über die Haut reibt, die sich schlimm pellt, seit wir gestern am Strand waren. Dann bringt sie die Hängematte ins Schwingen, damit die klebrige Flüssigkeit schön kühlt.

»Sie redet noch immer nicht mit mir«, antworte ich kurz und knapp. Ich mag es nicht, wenn Mali nach Margarita fragt, deshalb frage ich sie auch möglichst nicht nach ihren Verehrern. Die Nonnen haben meine Großeltern und Margaritas Mama angerufen, um ihnen zu sagen, dass ich »zu jung für Freundinnen« sei. Ich bin zu jung für die Liebe, schrieb ich nach dem Unterricht hundertmal an die Tafel, das erste und einzige Mal, dass ich nachsitzen musste.

»Wie geht es ihr?«, fragt Mali wieder. »Du wirst rot«, neckt sie.

»Weißt du noch, als ich gut in Grammatik war?«, wechsele ich das Thema.

»Du bist immer noch gut in Grammatik, Chepito«, sagt sie und stößt sich mit ihren viel längeren Beinen vom Boden ab, damit wir höher schwingen. »Das Grammatikass.« Mein Spitzname in der Schule. »Du hast dem Präsidenten die Hand geschüttelt, tontito!«, sagt sie begeistert und stolz.

Das war in der zweiten Klasse, beim Grammatikwettbewerb, der alle zwei Jahre stattfindet. Sämtliche Schulen in El Salvador nehmen daran teil. Zuerst wird ein regionaler Wettbewerb abgehalten, dann einer in den Departamentos, bei dem die Sieger aus allen Municipios von unserem Departamento La Paz um einen Platz auf nationaler Ebene kämpfen. El Salvador hat vierzehn Departamentos, also schaffen es vierzehn Zweitklässler ins Finale. Ich war der Zweitklässler, der für La Paz antrat. Ich! Ich bekam eine Medaille, und meine Eltern haben gebeten, dass ich sie ihnen mit Don Leo zuschicke. Ich war der Erste in der Geschichte meiner Schule, der es so weit gebracht hat.

»Du warst im Fernsehen! Weißt du noch? Wir haben auf allen Sendern geguckt, und da warst du«, sagt Mali aufgeregt, das runde Gesicht verschwitzt, lächelnd.

Es gab keinen Bericht über mich speziell, bloß eine kurze Reportage über den Wettbewerb und eine Aufnahme von allen, die teilgenommen hatten, so schnell, dass ich mich in der Menge gar nicht entdecken konnte. Mein einziger Beweis, dass ich da war, ist ein Foto, das Mutter Oberin von mir machte, als ich unserem Präsidenten Armando Calderón Sol die Hand schüttelte.

An den Wochenenden davor ging ich zur Schule, um täglich sechs Stunden lang Grammatik zu üben. Wir hatten einen Monat Zeit, um uns auf den Landeswettbewerb vorzubereiten, der in dem schicksten Hotel stattfand, das ich je gesehen habe: El Hotel Inter-Continental.