Sommeridiot - Dr. Ludger Fischer - E-Book

Sommeridiot E-Book

Dr. Ludger Fischer

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Beschreibung

Idioten gibt es viele, auch in der Literatur: bei Dostojewski, bei Eckhard Henscheid, bei Tommy Jaud. Es gibt aber nur einen Sommeridioten. Beim ersten Sonnenstrahl im März zieht er seine kurze Hose an. »Du bist doch wohl kein Sommeridiot«, fürchtet seine Mutter. Er wächst in den Sechziger Jahren in Essen auf. Da durchleidet er seine Kindheit. Er findet sie viel zu katholisch. Irgendwann entwickelt er die bekloppte Idee, dass er bei seiner Geburt vertauscht worden sei. In Wirklichkeit sei er nämlich ein Spross der Krupp-Familie. Idiotisch! Sommeridiotisch!

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Vorwort von Gordon Kai Strahl, Redaktionsleiter der WERDENER NACHRICHTEN
So fing der ganze Ärger an
Das große Tohuwabohu
Meine Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft der Christen
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt
Möschensekt am Klemenspöttchen
Erstes Gebot. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir
Zweites Gebot. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen
Ich würde sicher kein Erlöser
Selbst gebastelte Geschenke
Drittes Gebot. Du sollst den Feiertag heiligen
Kommejon 1966
Was versteht ein Neunjähriger schon von Religion?
Das Sakrament der Firmung
Elftes Gebot. Du sollst nicht petzen
Weihrauch und weniger weihevoller Rauch
Todsünde Völlerei
Mein Schutzengel war eine faule Sau
Todsünde Zorn, Wut, Rachsucht
Ludger ist in Werden ein ganz normaler Name
Ludgeruslied aktualisiert
Der Priester war nie scharf
Bei mir kam keine rechte Begeisterung auf
Jesusmäßige Bedürfnislosigkeit
Katholisch sein ist besser, als Nazzi sein
Was ist eigentlich ein Sommeridiot?
Kontemplation
Gegen den Taumel der grauenhaften Diesseitigkeit
Herr, erbarme Dich!
»Nein, Ludger, mach das nicht!« Ein Gespräch mit dem Autor des Sommeridioten
Natürlich gibt es Engel!
Erlösung war nicht in Sicht – Lösungsmittel schon
Wir waren Kaschkes frisiert
Pfingsten
Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen
Der Saalbau Maas brennt!
Die Seilerei Strötgen brennt!
Ich wusste genau, wie es in der Hölle aussieht
Viertes Gebot. Du sollst Vater und Mutter ehren
Ich war fast so was, wie ein Märtyrer
Dieser Knabe tickt doch nicht ganz richtig. Das Interview mit der Heimatzeitung
Das Appeltatengitter im Beichtstuhl
Allerheiligen
Tischgebete für himmlische Speisen
Selig sind die Sanftwürzenden, denn sie werden das Erdreich besitzen
Neujahrsrituale
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich
Fünftes Gebot. Du sollst nicht töten
Sympathie für den Teufel?
Überdruss und siebtes Gebot. Du sollst nicht stehlen
Die Schiffschaukel des Grauens
Die richtige Kirmes
Tschingderassa! Marschmusik und Ehrengarde
Keine Belästigung durch Priester. Glück gehabt
Von wegen Hitzefrei
Karneval ist nicht lustig
Fasten ist scheiße!
Achtes Gebot. Du sollst nicht lügen
Missionszeitschrift austragen
Gnade! Das gibt Kloppe
Laaangweilig! Religiöse Bücher im Borromäusverein
Sechstes Gebot. Du sollst nicht ehebrechen
Alternativen zu Kirche
Froh zu sein be-, Froh zu sein be- . Der Kanon des Grauens
Eine sehr ruhmlose Schulzeit
Ich war ein Nestbeschmutzer. Ein Jugendblättchen der Kirche
Neuntes Gebot. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus
Wasser zu Wein? Für Jesus ein Klacks
Noch mehr Wunder. Für Jesus keine großen Nummern
Vergelt’s Gott – Die Zeche zahlt ein anderer
Zehntes Gebot. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat
Verfall, wohin man blickt. Sogar in mir drin
Todsünde Wollust. Ein Hexentanz der Genusssucht und der Triebe
Schwul sein ist nichts für katholische Jungs
Natürliche Todesursachen
Das Sterbesakrament
Das Wichtigste an einer Beerdigung ist der Beerdigungskaffee
Todsünde Geiz, Habgier
Mein vierzehnjähriges Unglaubensbekenntnis

Ludger Fischer

Sommeridiot

Eine viel zu katholische Kindheit im Ruhrgebiet

Ruhrkrimi-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Ludger Fischer

© 2021 Ruhrkrimi-Verlag, Mülheim/Ruhr

Druck: BoD, Norderstedt

Coverfoto: Gregor Fischer

ISBN 978-3-947848-68-3

Auch als eBook (ISBN 978-3-947848-69-0) erhältlich.

1. Auflage

Disclaimer:

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

https://ruhrkrimi.de

Vorwort von Gordon Kai Strahl, Redaktionsleiter der WERDENER NACHRICHTEN

»›Der Sommeridiot‹, was ist denn das für ein komischer Titel?« So reagierten Leserinnen und Leser der »Werdener Nachrichten« auf die ersten Teile der herrlichen Geschichten über eine Jugend im hochkatholischen Werden der 1960er Jahre. Doch bald wurde auch anfänglichen Skeptikern klar: In den neunmalklugen Rotzbengel mit seinen kurzen Hosen, die er auch im Winter trug, und in seine ganz eigene Sicht auf Traditionen, Werte und dem ganz Alltäglichen muss man sich einfach verlieben! Der Ruf, dem Bengel mal eins auf den Deckel geben zu wollen, am besten auf den Buchdeckel, wurden immer lauter – und nun endlich erhört: Mit den Lesern der »Werdener Nachrichten« freue ich mich sehr darüber, dass die absurden, komischen und von Ludger Fischer mit Brillanz niedergeschriebenen Episoden nun in einem Buch verewigt und damit vor dem Altpapier-Schicksal bewahrt worden sind. Juhuu!

Gordon K. Strahl, Redaktionsleiter »Werdener Nachrichten«

Foto: Theresa Büchner

Dr. Ludger Fischer, geboren 1957 in Essen, ist Politikwissenschaftler, Kunsthistoriker und Philosoph. Seit 2001 vertritt er mancherlei Interessen in der Europapolitik. Er promovierte über den Denkmalwert der Strafanstalt Werden und schrieb eine Habilitationsschrift über Burgenbau im 20. Jahrhundert. Er deckte zahlreiche traditionelle Küchenirrtümer auf, beschäftigte sich mit Rollenklischees bei der Essenszubereitung, informierte in seiner »Göttlichen Diät« über Theologisches aus der Speisekammer und in »We are anders« über die seltsamen Gepflogenheiten von Briten. Zuletzt richtete er den »Spot(t) auf Brüssel«. Kleinere Satiren veröffentlicht er in der Zeitschrift TITANIC. Fischer lebt in Brüssel.

So fing der ganze Ärger an

Krupp oder Fischer? Wer kann das schon mit Sicherheit sagen? Foto: Archiv LF

Als ich geboren wurde, wusste ich noch nichts von Gott und der Welt. Von Gott hatte mir noch niemand was erzählt und die Welt war erst mal sehr bedrohlich. Die ersten neun Monate meines Lebens verbrachte ich, wie jeder Mensch, in meiner Mutter. Nicht jeder Mensch verbrachte den Anfang seines Lebens in meiner Mutter. Jetzt seien Sie mal nicht so pingelig in sprachlogischen Dingen! Ich bin schließlich zu der Zeit, um die es hier geht, noch keinen Tag alt und kenne mich mit den Feinheiten der Rhetorik und der Grammatik noch nicht so aus. Noch nicht! Das sollte schnell anders werden. Ich meine natürlich, dass jeder sein Leben in seiner Mutter begonnen hat. An dieser Tatsache zweifele ich überhaupt nicht. Ich bin doch kein Idiot! Nicht mal ein Sommeridiot, wie meine Mutter befürchtet. Wer ich wirklich bin? Wer weiß es? Jeder Mensch war einmal in einer Frau drin. Man könnte das feiner ausdrücken, aber als Embryo und bis kurz vor der Geburt ist die Ausdrucksfähigkeit eines Menschen, wie gesagt, stark eingeschränkt. Haben Sie ja schon gemerkt. Mir ging das nicht anders. Es ist unzweifelhaft, dass ich geboren wurde. So! Mehr nicht. An die Umstände meiner Geburt kann ich mich noch genau erinnern. Das glaubt mir zwar keiner, aber es ist wahr. Ich flutschte also aus meiner Mutter raus und der Ärger fing an. Es war plötzlich eiskalt, grellhell und ich wurde, obwohl ich mir nichts zu Schulden hatte kommen lassen, geschlagen. Mein Gerechtigkeitsempfinden wurde von Anfang an auf eine harte Probe gestellt. Ich protestierte unmittelbar, was die um mich herumstehenden Leute aber alle nicht kapierten und als Zustimmung auslegten. Sie schienen sich sogar über mein Geplärre zu freuen. Ärzte, Hebammen, Krankenschwestern: Ein niederträchtiges Pack! Von der ersten Minute an wurde ich missverstanden. Dann fing das Verwechselspiel an. Es spielte sich alles exakt so ab, wie ich es hier schildere. Ich muss es ja wohl am besten wissen. Es ist ganz einfach: Ich bin nicht ich, sondern jemand anderes. Und dieser andere ist ich, allerdings, ohne dass dieser Andere es weiß oder ahnt. Ich dagegen hatte schon immer so eine Ahnung, ein ganz anderer zu sein, jedenfalls nicht der, auf dessen Namen ich getauft wurde. Psychologen kennen dieses Nicht-ich-Syndrom. Sie halten dafür viele unappetitliche Therapien bereit. Eine dieser Therapien baut auf der Wahnidee auf, Menschen mit einem Nicht-ich-Syndrom wollten sich nicht der Wirklichkeit stellen. Sie wollten flüchten und ausweichen. Dazu kann ich nur sagen: Lächerlich! Es geht mir gut und ich habe überhaupt keinen Anlass, mein ziemlich prima Leben durch eine Nicht-ich-Beklopptheit aufzumotzen. Meine Damen und Herren, darum geht es doch gar nicht! Angeblich werden Erinnerungen erst ab einem Alter von etwa vier Jahren gespeichert. Bei mir nicht. Mir steht alles noch ganz klar vor Augen. Meine Mutter war nach der Zwillingsgeburt zu erschöpft, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Später ist das nicht viel besser geworden. Sagen Sie nicht, das sei böse. Es ist so. Ach so, das hatte ich vergessen zu berichten: Ich habe einen Zwillingsbruder, Dieser Zwillingsbruder ist kein bisschen nicht-ich-bekloppt. Das finde ich sehr seltsam. Wieso ist er so sicher, dass er er selbst ist? Und die anderen Familienmitglieder? Mein Vater hatte unmittelbar nach unserer Geburt schwer an seinem Stolz zu tragen, nach einer Tochter zwei prächtige Knaben gezeugt zu haben. Na toll! Herzlichen Glückwunsch! Tolle Arbeit! Ich hatte gleich nach der Geburt das Gefühl, dass da was nicht stimmte. Ich war damals aber noch zu jung, um das Missverständnis aufzuklären. Ich schrie zwar wie am Spieß, wurde aber dahingehend missverstanden, dass ich Hunger oder mich vollgeschissen hätte. Differenziertere Äußerungen traute man mir damals nicht zu. Manche tun das bis heute nicht. »Ach, der.« Wegwerfende Handbewegung. »Der redet viel, aber meistens wirres Zeug, da brauchen Sie nicht drauf zu achten.« Dabei wollte ich bloß zur Kenntnis bringen: falsches Bett, falscher Mensch, falsche Familie. Ich fand es wichtig, darauf hinzuweisen. Als Frischgeborener war ich der Meinung, meine Mitmenschen mit dieser Aussage nicht zu überfordern. Ich täuschte mich. Wenn man einmal in einer Familie gelandet ist, das musste ich früh erfahren, gibt es keinen Ausweg. Kein Entrinnen. Man kommt aus der Nummer nicht mehr raus. Dabei wurde es mit jedem Jahr, das ich heranwuchs, klarer: Ich gehörte gar nicht in diese Familie. Außer mir erkannte das leider niemand. Die Möglichkeit, dass ich vertauscht worden war, also von Anfang an gar nicht ich war, wurde von meinen Eltern nicht annähernd in Erwägung gezogen. Sieht man sich solche Embryos etwa neun Monate nach der Befruchtung einmal genauer an, ist das auch kein Wunder: die Würmchen gleichen sich wie ein Baby dem anderen. Männer sehen das sehr wohl, halten aber tunlichst die Klappe. Frauen finden die rosaroten Klumpen durch hormonelles Doping ganzganz süß. Alle. Ich meine, alle Frauen finden alle Babies ganzganz süß. Und natürlich besonders die, die man ihnen als den eigenen Wurf auf den Bauch legt. »Ja, das sind sie jetzt, meine Zwillinge«, lallte eine Frau, die sich als meine Mutter ausgab. Und ich schrie »NEIN!« Das Missverständnis begann und nahm seinen Lauf.

Das große Tohuwabohu

Dass ich bei meiner Geburt im Krankenhaus vertauscht worden bin, ist nicht nur wahr, sondern auch einigermaßen wahrscheinlich. An das Tohuwabohu kurz nach meiner Geburt kann ich mich nämlich noch genau erinnern und auch daran, wie es in diesem Krankenhaus ein paar Jahre später zuging, als ich es etwa jährlich einmal aufsuchte: Rollerunfälle, Fahrradunfälle, Sportunfälle, Mandeloperation, solche Sachen. Ich wurde bei meiner Geburt allerdings nicht, wie Witzbolde vermuten, mit meinem Zwillingsbruder vertauscht, sondern mit jemandem aus einer ganz anderen Familie. »Ja, ja«, witzeln da schon wieder die erwähnten Bolde, »wahrscheinlich mit dem jüngsten Spross der Familie Krupp von Bohlen und Halbach.« Ich lasse das mal unkommentiert, weil ich mir die Möglichkeit, dass es tatsächlich so war, nicht verbauen möchte. Wer weiß denn schon, wer da an diesem denkwürdigen Tag in der überfüllten Säuglingsstation noch so alles abgelegt wurde? Die Krankenhausverwaltung weiß es jedenfalls nicht. Ich hab‹ extra nachgefragt. »Aus der Zeit«, hieß es da, »haben wir keine Unterlagen mehr.« Ein Saftladen! Und die Essener Stadtverwaltung will auch nicht rausrücken mit einer simplen Auskunft, wer an meinem Geburtstag sonst noch so geboren wurde. »Datenschutz«, heißt es da, »es sei denn, Sie hätten ein begründetes historisches Interesse oder wenn nach dem Tod des zuletzt verstorbenen Beteiligten dreißig Jahre vergangen sind.« Hallo Leute! Es geht um MICH! In der Essener Stadtverwaltung arbeiten, wie ich schon bei vielen Gelegenheiten feststellen musste, nicht die hellsten Köpfe. Ich kann das hier ganz ungeschützt behaupten. Fragen Sie da mal nach mir. Ich bin da ein rotes Tuch. Ach wissen Sie was: Fragen Sie besser nicht.

Wie es im Kreissaal und im Säuglingssaal des Krankenhauses zuging, weiß ich genau. Ich war ja dabei! Die frisch geborenen Würmchen wurden sofort von ihren Müttern getrennt, damit die mal durchschlafen konnten. Gelegenheit genug für dramatische Szenen wie die folgende zwischen Hebamme und Krankenschwester: »Halt mal den kleinen Zwilling hier!« – »Was? Das ist doch nicht der zweite Zwilling! Das ist der Krupp-Junge!« – »Komisch. Sieht genauso aus.« – »Ich hab´ Dir doch gesagt, Du sollst SOFORT einen Zettel ans Füßchen machen!« – »Hab´‹ ich doch, aber der ist abgegangen. Irgendwie.« – »Und bei dem?« – »Auch abgegangen.« Ich verfolgte dann noch den ersten philosophischen Dialog, den ich in meinem Leben hörte. Krankenschwester: »Ist doch egal. Mensch ist Mensch.« Hebamme: »Das glaubst Du! Es ist nämlich ganz und gar nicht egal, in welche Familie ein Mensch hineingeboren wird.« Krankenschwester: »Schon, aber wenn ein Mensch mit einem anderen Menschen verwechselt werden sollte – und ich sage ausdrücklich sollte – dann kommt hinten immer noch ein Mensch heraus, oder?« Dann hörte ich noch, wie die Hebamme wutschnaubend den Säuglingssaal verließ und meinem Flehen – ich schrie, wie am Spieß – keine Beachtung schenkte. Später erfuhr ich, dass ein gewisser Sigmund Freud geschrieben hatte »Der Säugling sondert noch nicht sein Ich von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen.« Ein schwerer Fehler der Psychoanalyse, den ich eher einem religionsartigen Glauben zuordnen würde. Hätte dieser Sigmund Freud mich als Säugling befragt, hätte ich ihm das Gegenteil berichten können: Es gab von Anfang an mein Ich und alles andere war etwas anderes. Das Andere, etwa die Mutterbrust, wurde mir auch nicht, wie er spekuliert, »zeitweise entzogen«, so dass ich sie »erst durch ein Hilfe heischendes Schreien herbeiholen« musste, sondern dauerhaft und systematisch. Ich war eben ein Flaschenkind. Also schrie ich nicht nach der Mutterbrust, sondern nach der Flasche. Eine Tatsache, die damals außer mir keiner verstehen konnte. Mein Vater war bei der Geburt selbstverständlich nicht anwesend und meine Mutter bekam nach der Zwillingsgeburt von all dem natürlich überhaupt nichts mit. Sie war völlig groggy. Sie bekam zwei eng gewickelte Kinder auf den noch schmerzenden Bauch gelegt und sagte: »Das sind sie jetzt, meine Zwillinge.« Hatte ich, glaube ich, schon gesagt. Von da an waren wir »die Zwillinge«, gefürchtet von Verwandtschaft und Lehrern. Für die Verwandtschaft waren wir zu wild, für die Lehrer zu doof. Das passte gut zusammen. Weniger passte mein Zwillingsbruder zu mir oder ich zu ihm. Er groß und stark. Ich eher nicht so. Er handwerklich begabt. Ich eher nicht so. Er ein Schwarm der Mädchen. Ich eher nicht so. Von Ernsthaftigkeit durchdrungen mein Bruder, ich eher am Quatschmachen interessiert. Von Ähnlichkeit sprach bei uns keiner mehr, sobald wir ein Jahr alt waren. Unsere Mutter bemühte sich deshalb, mit allen Mitteln den Anschein zu erwecken, dass wir Zwillinge wären. Wir wurden immer absolut gleich gekleidet. Dabei war es nötig, das gleiche Kleidungsstück jeweils in zwei verschiedenen Größen zu kaufen. Eines für mich, eines in einer Nummer größer für meinen Bruder. Später zwei Nummern größer. Das hätte in normalen Familien bedeutet, dass ich die Klamotten, aus denen mein Bruder rausgewachsen war, hätte auftragen müssen. Das ging aber nicht, weil wir ja dann nicht mehr gleich gekleidet gewesen wären und weil dann niemand überhaupt auf die Idee gekommen wäre, dass wir verwandt, geschweige denn Zwillinge wären. Unsere Mutter – sonst von Sparsamkeit getrieben – investierte also konsequent in die Gleichkleidungsstrategie und ließ die Sachen, aus denen mein Bruder und ich herausgewachsen waren, souverän im Müll verschwinden.

Meine Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft der Christen

Die ganze Familie war dabei. Außer meiner Mutter. Foto: Archiv LF

Ich muss noch mal auf den Anfang meines Lebens zurückkommen, auf die Woche nach meiner Geburt. Da wurde ich nämlich »in die Glaubensgemeinschaft der Christen« aufgenommen. So kompliziert das klingt, war es doch ganz einfach: Ich wurde getauft. Katholisch. Was sonst? Die Taufe ist ein Sakrament. Ein Sakrament ist »ein sichtbares Zeichen, das die unsichtbare Wirklichkeit Gottes vergegenwärtigt und an ihr teilhaben lässt.« Das steht so im Katechismus.Deshalb stimmt das. Teilhabe an einer unsichtbaren Wirklichkeit. Damit kannte ich mich aus. Das meiste, was ich mir so vorstellte, war unsichtbar. Ich hatte viel Phantasie. Katholisch war normal und wenn man in meiner Familie eins zu sein hatte, dann war das normal. Eine der Klagen meiner Mutter lautete: »Junge, das ist doch nicht normal!« Und dann der absolute Tiefschlag: »Warum bist Du nur so. Die anderen Jungs sind doch auch nicht so. Mach doch mal was Vernünftiges!« Ich wusste nicht, was ich noch Vernünftigeres machen sollte. Ich machte mir schließlich Gedanken über die Welt. Schon während der Taufe fragte ich mich: »Was soll das denn jetzt? Wieso taufen die mich jetzt und nicht später? Ich habe da doch wohl auch ein Wörtchen mitzureden!« Ich wollte die Vor- und die Nachteile gegeneinander abwägen, Alternativen kennen lernen. Ich hatte aber keine Chance. Es hieß: »So schnell wie möglich sollst Du getauft werden, damit Du in den Himmel kommst, falls Du früh sterben solltest.« Ich hatte nicht vor, früh zu sterben. Ich hatte überhaupt nicht vor, zu sterben. Die Seelen ungetauft gestorbener Kinder, erklärte man mir, kämen in eine Art Ersatzhölle, nicht so richtig schlimm, aber schlimm genug, dass man deren Seelen da lieber raushielte. Du lieber Himmel! Gerade geboren und schon dachten meine Eltern, ich könnte sterben. Dabei dachten sie nicht einmal falsch. Die Säuglingssterblichkeit war damals noch extrem hoch. Wenn ich gestorben wäre, ohne getauft zu sein, dann wäre ich genauso tot gewesen, wie ich es irgendwann später auch sein würde. Durch die Taufe hätte aber die Erbsünde ihre Macht über mich verloren. Dabei hatte ich noch gar keine Zeit zum Sündigen und ein Erbe von Sünden hätte ich glatt ausgeschlagen. Und auch der seltsame Knilch, der mich taufte, hatte wohl alles andere im Sinn, als ausgerechnet mein Seelenheil. Obwohl er einen Kittel anhatte, war er kein Arzt und keine Krankenschwester, und keine Hebamme. Das hatte ich gleich herausgefunden. Ich hatte, weil meine Rhetorik damals noch nicht richtig ausgeprägt war, keine Möglichkeit, ihn nach seiner wirklichen Funktion zu fragen. Im Gegenteil fragte er mich, man stelle sich das vor, MICH, nach meinem Glauben. Ich war froh, dass ich endlich mal gefragt wurde. Bevor ich antworten konnte, fielen mir aber meine Eltern und meine Taufpaten ins Wort und bekannten IHREN Glauben. Dann wieder der Knilch. Er fragte MICH, ob ich in die Gemeinschaft Jesu Christi aufgenommen werden wolle, und obwohl ich eindeutig, laut und deutlich NEIN sagte, geradezu schrie, legte er den Aussagen meiner Eltern und Paten mehr Wert bei, die unisono »Ja, ich will« murmelten. Dann kippte er mir Wasser über den Kopf, obwohl ich da gar nicht gewaschen werden musste. Und sonst auch nirgends. Ich war schon immer auf Sauberkeit bedacht. Bei diesem Wasserkippen behauptete er: »Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Und ich so: »Hä?« Sollte ich jetzt doch nicht Ludger heißen? Jetzt dann doch »des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes«? Wer sollte sich denn so was merken? Ich war doch kein Adeliger mit zwanzig Vornamen. Oder vielleicht doch? Meine Eltern schritten nicht ein und meine Taufpaten auch nicht. Das waren Oppa und Omma. Die standen da nur rum wie die Ölgötzen und hofften, dass die Zeremonie schnell vorbei wäre. Ich auch. Von da an hieß ich erst mal des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes Fischer. Sobald ich sprechen könnte, nahm ich mir vor, würde ich die Sache aufklären und meinen Namen ändern. Wahrscheinlich in des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes Krupp. Oder noch einfacher in Ludger Krupp. Hört sich doch gut an, oder? Die Taufkerze sollte das Licht des ewigen Lebens symbolisieren. Das fand ich übertrieben. Ich hatte zwar eine Ewigkeit nicht gelebt, sollte aber von jetzt an ewig leben. Solche Gedanken machte ich mir. Sie machten mich fertig. Später habe ich deshalb damit aufgehört. Kam ja doch nichts dabei rum. Jedenfalls war ich von da an katholisch.

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt

Von Reichtum konnte bei unserer Familie keine Rede sein. Das mit dem Reich Gottes war also so gut wie geritzt. Von Anfang an wurde aber alles immer schlimmer. Unsere bescheidene Kleinstfamilie, die bis dahin gerade einmal aus drei Personen bestanden hatte, platzte mit der Geburt der Zwillinge – meines Bruders und mir – aus allen Nähten. Sie verarmte völlig und war gezwungen, ein schmuckes Siedlungshäuschen zu bauen. Es waren widrige Umstände, denn unsere kleine Familie hatte nur ein einziges Haus, keinen Park, keine Ländereien, keine Bediensteten. Jeder hatte nur ein Bett und im Garten konnte man nur dann die Wäsche aufhängen, wenn die Sonne schien oder es zumindest nicht regnete. Im Keller war nicht einmal Parkett verlegt und die Wasserhähne waren nicht vergoldet. Reichtum sieht anders aus. Das Haus kostete trotzdem eine Stange Geld und das hatten meine Eltern nicht. Es reichte »hinten und vorne nicht«. Oft fragte ich mich, wo hinten und wo vorne wohl war. Mein Vater war sogar gezwungen, arbeiten zu gehen. Bis dahin war mein Vater als Beamter prima zurechtgekommen. Jetzt musste er während der Dienstzeit an seine Kollegen unnötige Versicherungen verkaufen, von denen er zu Recht behaupten konnte, er habe sie für seine Familie auch abgeschlossen. Wahrscheinlich wäre dieser Nebenjob überhaupt nicht nötig gewesen, wenn mein Vater nicht sich und uns und das Haus und später das Auto gegen alle möglichen und auch unmöglichen Risiken versichert hätte: Sturm, Feuer, Wind, Vulkanausbruch, Erdbeben, Meteoriteneinschlag, Glasbruch, Rohrbruch, Einbruch, Vandalismus, Haftpflicht, Krankheit, Reisen, Nichtreisen, Unfall, Armut, Leben, Tod. Wahrscheinlich hob sich die eine Hälfte der Versicherungen gegen die andere Hälfte auf oder war darin längst enthalten. Als mein Vater starb, erbte ich drei Sterbeversicherungen, die mir erst im Fall meines Todes genutzt hätten. Ich kündigte sie sofort, worauf mir die Vertreter jeweils erklärten, dass ich ja damit der wertvollen Prämie verlustig gehen würde. Ich ließ dann am Telefon immer eine kleine Pause entstehen, atmete tief, bis die Versicherungsheinis von selbst draufkamen, dass ich die Prämie ohnehin nicht erhalten würde, sondern meine Erben. An Wochenenden arbeitete mein Vater in einem Ausflugslokal hinter der Theke. Das Lokal hieß »Bauernstube« und wurde von seinem Bruder, unserem Onkel, betrieben. Es lag in idealer Spaziergangsentfernung vom Städtchen Werden. Unser Onkel verließ sich gerne auf die zuverlässige Art unseres Vaters. Er teilte ihn zum Thekendienst ein. An schönen Wochenenden gingen da schon mal einige Hundert Kännchen nach draußen. Um dem Geldmangel unserer Familie abzuhelfen, nahm sich unsere Mutter vor, Kleider zu nähen. Das hatte sie gelernt. Dafür hatte sie sogar Lehrgeld gezahlt. Um wieder mit dem Nähen anzufangen, waren vor allem zwei Abonnements notwendig: »Burda-Moden« und »Neue Mode«, jeweils in der Variante für »Vollschlanke«. Der Begriff kam mir irgendwie seltsam vor: Die Modelle und die für sie zu schneidernden Kleider waren nämlich alles andere als schlank. Genau wie meine Mutter und die Tanten, für die sie sich zu schneidern vorgenommen hatte, kein bisschen schlank waren. Das intensive Studium aller »Burda«- und »Neue Mode«-Hefte des letzten Halbjahrs war ganz wichtig. Dann der Materialkauf: Welcher Stoff? Wo zu kaufen? Erst mal ein Ausflug mit dem Bus in die »Einkaufsstadt Essen«. So steht’s noch immer am Hotel »Handelshof« gegenüber vom Hauptbahnhof. Nach dem vierten Stoffladen – unsere Mutter hatte sich noch immer nicht für einen der angebotenen sechstausend Stoffe entscheiden können – ging’s am Ende der Limbecker Straße in den Karstadt-Erfrischungsraum. Der lag im Keller des Jugendstil-Kaufhauses Karstadt, vormals Althoff und roch seltsam säuerlich. Der ganze Raum war dunkelblau gefliest und mit Neonröhren beleuchtet. In der Mitte standen hohe Stehtische. An so einen Stehtisch wurden wir mit Hockern herangeschoben und es wurde uns befohlen, uns bloß nicht zu bewegen, damit wir da nicht runterplumpsten. Das verstand sogar ich. Dann gab es für jeden von uns eine Knackwurst. Die Knackwurst im Karstadt-Erfrischungsraum war für uns der einzige Grund, weshalb wir die Einkaufstortur mitmachten. Später wurde der »Erfrischungsraum« aus dem Keller ins Dachgeschoss verlegt und roch da nicht mehr so säuerlich. Er hieß dann »Restaurant«, die Speisen wurden doppelt so teuer, aber die Knackwurst schmeckte nicht mehr so gut. Noch später wurde das ganze Haus gesprengt. Die Denkmalpflegerin meinte, dass das Haus nicht zu retten wäre und der Konzern, der da ein Giga-Einkaufszentrum hinsetzen wollte, meinte das auch. Irgendwo wurde dann tatsächlich auch ein Stoff gekauft. Mit dem Stoffkauf war es aber noch nicht getan. Zum Schneidern bedurfte es noch Garn beziehungsweise Nähseide im exakt richtigen Farbton und natürlich so wichtiger Kleinigkeiten, wie Knöpfen, Reißverschlüssen, Bändern. Alles im exakt richtigen Farbton. Der exakt richtige Farbton war meiner Mutter so wichtig wie der richtige Anschluss des Stoffmusters an den Ärmeln. Diese so genannten Kurzwaren kaufte sie im Spezial-Kurzwarengeschäft ihrer Schulfreundin Hedi. Hedi war wohl weniger eine Schulfreundin, als eine Frau, die damals mit meiner Mutter in dieselbe Klasse gegangen war. Sie war, wie soll ich es sagen, sehr, sehr langsam. Zusammen konnte sie mit meiner Mutter einige Viertelstunden über die exakt richtigen Farbtöne der notwendigen Kleinigkeiten diskutieren. Immer wieder gingen sie gemeinsam zur Eingangstür, weil kein Sonnenlicht in den Laden kam, und kontrollierten die Farbtöne, während ich selbstverständlich kein einziges der sehr attraktiven Schubfächer mit dem jeweils an der Vorderseite aufgenähten Knopf herausziehen durfte. Dabei hätte ich den beiden doch so gut helfen können! Dann die Ausrädelung durch den Schnittmusterbogen. Dann der Schnitt. »Nein! Wenn das jetzt falsch ist. Dann habe ich nachher alles verschnitten und nicht mehr genug Stoff. Sollen wir es nicht doch noch einmal überlegen?« Meine Omma, an die diese Frage gerichtet war, wurde zusehends ungeduldiger und sagte schließlich: »Schneid, sonst mach ich’s!« Das half meistens. Der Schnitt war immer perfekt und es hätte des Dramas gar nicht bedurft. Reich wurde unsere Familie durch das Schneidern unserer Mutter nicht, aber wahrscheinlich ist sie ins Reich Gottes gelangt.

Möschensekt am Klemenspöttchen

Beim Spazierengehen am Pastoratsberg erklärte mein Vater: »Das sind Krütschken-rühr-mich-nich-an.« Er zeigte auf ein paar hässliche Pflänzkes. »Und die darf man nicht anrühren?« »Darf man schon. Mach mal!« Ich berührte sie und die Samenkapsel sprang auf. Das war lustig. »Weil die Kapseln aufspringen, wenn man da drankommt, heißt das offiziell Springkraut.« »Ich finde Krütschken-rühr-mich-nich-an besser als Springkraut.« »Das gibt’s oft, dass der Plattdeutsche Ausdruck besser ist als der offizielle Name.« »Gibt’s so was oft?« »Andauernd. Ein Spatz ist im Plattdeutschen ein Lüning. Und im Waddischen ist der Lüning ein Mösch. Also heißt der von der Familie Lüning hergestellte Sprudel Möschensekt.« »Und das ist echter Sekt und ich darf den nicht trinken?« »Den darfst Du trinken. In Wirklichkeit ist das doch Sprudelwasser.« »Und den trinken die Waddischen und glauben, das ist Sekt?« »Nein, die wissen, dass das Wasser ist. Ist bloß so ein Witz.« »Und das Wasser«, wollte ich wissen, »wird am Lünink gemacht? In Fischlaken gibt es doch die Straße am Lünink.« »Nein! Hier, am Schlachthofsberg.« »Da steht aber Klemensborn, nicht Schlachthofsberg.« »Ja, früher war hier der Schlachthof. Deswegen sagt man noch immer Schlachthofsberg. Das ist wie mit dem Froschenteich, an dem wir vorbeigekommen sind.« »Da waren doch gar keine Frösche.« »Eben.« »Ach so! Und was ist ein Klemensborn?« »Das ist wegen dem Klemenspöttchen.« »Ein Pöttchen?« »Ein kleiner Topf. Weil da ein Quelltopf drin ist.« »Was quellt denn da?« »Da quillt eine Quelle.« »Können wir da mal hingehen?« »Ist gleich hier. Und wegen der Klemenskirche heißt der Berg jetzt Klemensborn.« »Warum heißt der Berg denn nicht Klemenspöttchenberg?« »Weil sich das nicht so gut anhört.« »Finde ich schon.« Ich sprang von einem Bein aufs andere: »Klemenspöttchen. Klemenspöttchen. Klemenspöttchen. Und den Schlachthof, hat man abgerissen und die Klemenskirche hat man dann da hingebaut?« »Nicht ganz. Der Schlachthof stand da unten, und die Klemenskirche hier oben. Das war aber viel früher.« »Hundert Jahre früher?« »Etwas früher.« »Tausend Jahre früher?« »Nicht ganz.« »Zehntausend Jahre früher?« »Du solltest Geschichtslehrer werden.« »Lieber nicht. Da muss man immer so Zahlen wissen.« »Und deswegen heißt die Straße jetzt Klemensborn.« »Warum denn nicht Klemensberg?« »Weil Born soviel heißt, wie Brunnen oder Quelle, und weil in der Kirche die Klemensquelle entspringt.« »IN der Kirche?« »Ja, also da drunter. Da ist jetzt so’n Gitter drüber. Und abergläubische Leute glauben, dass, wenn man da ein Zückerchen reinwirft, dass man dann ein Kind kriegt.« »Und das stimmt gar nicht?« »Meistens nicht.« »Wieso nur meistens nicht?« »Weil Eure Schwester, also, die hat, als die da ein Zückerchen reinwerfen sollte, da hat die glatt das ganze Päckchen reingeworfen und da waren zwei Zückerchen drin.« »Und deswegen hat das dann nicht geklappt mit dem Kinderkriegen bei der Mama?« »Das hat sogar ganz prima geklappt. Das kann man an Dir und Deinem Zwillingsbruder sehen.« »Ach so! Ein Zückerchen, ein Kind, zwei Zückerchen, zwei Kinder! Dann ist das ja gar kein Aberglaube, sondern einer, der wirklich funktioniert. Anders, als das in der Kirche.« »Das in der Kirche funktioniert auch, bloß anders. Das muss man glauben, WEIL man es nicht beweisen kann.« »Ich verstehe. Wie das mit dem Zückerchen und das mit dem Schlachthofsberg.« »Genau.« »Aber das mit dem Möschensekt kann man auch nicht beweisen.« »Kann man wohl!« Wir gingen hundert Meter weiter den Schlachthofsberg runter und mein Vater zeigte mir die Haustür von dem Haus, in dem die Familie Lüning wohnte. An der Klingel stand Lüning und im schmiedeeisernen Gitter war eindeutig ein Spatz zu erkennen, in Plattdeutsch ein Lüning, in Waddisch ein Mösch. Der Beweis war erbracht.

Erstes Gebot. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir