Sonja "negativ - dekadent" - Silke Kettelhake - E-Book

Sonja "negativ - dekadent" E-Book

Silke Kettelhake

4,9

Beschreibung

Eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Abhängigkeiten und Macht, vom Schrei nach Freiheit - mundtot gemacht im Zusammenschluss von Staat und Familie. Rostock, Mai 1968: Wir saßen hier fest. We're not going to San Francisco, some flowers in our hair. Während in Paris, Berlin, Warschau die Straßen brannten, waren wir als Gammler verschrien und im Visier von Volkspolizei und MfS´. Parka, Jeans, lange Haare und den Beat aus dem Kofferradio dabei, die 16-jährige Sonja und ihre Freunde halten in den Händen ein Transparent, nicht mehr als ein Stück Pappe: `Russen raus aus der CSSR!´ Sie lachen. Sind lebensdurstig und leichtgläubig. Überschätzen sich, unterschätzen die Staatsmacht. Sonja wird verhaftet. Ihre Strafe: Jugendwerkhof Torgau, geschlossene Abteilung. 1989: Das Ende der DDR. Freiheit! Mit den Jahren holt die Vergangenheit Sonja immer wieder ein, die Bespitzelungen, Denunziationen, Demütigungen. Wer sind die Täter? Sonja fasst einen Entschluss: Die Ereignisse von damals müssen ans Licht. Sie beginnt zu erzählen.

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Silke Kettelhake

 

Sonja: „negativ-dekadent“

I can’t get no: Sonja wollte sich nicht zufriedengeben. Rote Fahnen? Rote Lippen! Hilflos und doch voller Wut gegen die bestehenden Verhältnisse ankämpfend, gefangen in alltäglicher Repression, allein im Niemandsland der Auflagen und Verbote: Die Umerziehung zur sozialistischen Persönlichkeit im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, stets im Kollektiv und im Laufschritt, bedeutete nichts anderes als die Auslöschung des Ichs. Sonjas Kampf ums Überleben gipfelte in der Revolution von 1989.

Silke Kettelhake

Sonja: „negativ-dekadent“

Eine rebellische Jugend in der DDR

Biografie

Osburg Verlag

Erste Auflage 2014© Osburg Verlag Hamburg 2014www.osburg-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, ­Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Clemens Brunn, Hirschberg Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg Satz und E-Book: G&U Language & Publishing Services GmbH, Flensburg Druck und Bindung: freiburger graphische betriebe GmbH, Freiburg

Printed in Germany

ISBN-Buch: 978-3-95510-042-1ISBN-E-Book: 978-3-95510-049-0

Für Antje und Stefan

 

 

Herzlichen Dank an

Dr. Christian Halbrock, BStU,

Martin Klähn,

Axel Peters,

Thomas Steinbacher

und Bernd-Dieter Westphal

Inhalt

Kein Entkommen

Im Laufrad

Meine liebste Olga

Warten

Stillschweigen

Seelenmesse

Wir sind keine Kinder mehr

Lange Straße

VP in der Flipsi-Bar

Aktion „Treue“

Halt mich fest

Narbengesicht

D-Heim Stralau

Zurück

Ostseewochenfieber

Panzerketten

Alles vor aller Augen

Mädchenstation Bernecker

Der Torgauer Dreier

Die Kommission

Aktion Genesung

Die Schleuse

Crimmitschau

Entleerte Jahre

Recht auf Arbeit

Zelle 23, Roter Ochse

PM 12

Unter Strom

Rumor

Lauffeuer

Die Freiheit führt das Volk

Guten Tag, ich würde gern eine Demo anmelden

Reißwölfe und Flammenopfer

Schlusswort

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Die Autorin

„Die Schlagstöcke werden nur während des Dienstes getragen und sind anschließend wieder abzugeben. Bei Anwendung eines Schlagstockes ist dieser nur aus dem Handgelenk zu schlagen und nicht mit gestrecktem Arm. Dabei ist der Schlag nur in die Weichteile des Gegners zu schlagen. Alle anderen Stellen des Körpers sind zu vermeiden, da sonst größere körperliche Schäden entstehen können. Eine Belehrung in diesem Sinne ist monatlich zu wiederholen und aktenkundig zu machen.“

 

Von 1964 bis 1989 wurden dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau vom Ministerium für Volksbildung pro Jahr 25 neue Schlagstöcke und zwei neue Führungsketten bewilligt.

Kein Entkommen

Unvermittelt schiebt sich die Erinnerung vor. Ein Geruch, ein Lachen, ein Blick. Das Jetzt, die Kinder, meine Freunde, nichts zählt mehr. Ich bin wieder da. Die Zeit steht still. 21. Mai 1968. Die Wände kippen. Alle Geräusche schwinden, bis auf mein Keuchen. Einschluss. Die Tür kracht ins Schloss, der eiserne Riegel schiebt sich ruckend durch in meinen Kopf.

Niemand hatte mit mir gesprochen. Die Luft wurde zäher, zähflüssig wie eine wabernde Masse, je schneller ich atmete, nach Luft lechzend in dieser schmalen Zelle. Ein Geruch nach Chlor und Kacke. Meine Kehle schrie nach Luft. An der Wand hing hochgeklappt eine Holzpritsche. Vor der Tür, in deren Mitte eingelassen ein Sichtfenster aus starkem Glas für die Erzieher, stand ein dreibeiniger Schemel. Ein hohes Fenster, vergittert, es ließ kaum das schwindende Abendlicht herein. Draußen bellten die Hunde. Bald umschloss mich mit ihren schwarzen Händen die Dunkelheit im Würgegriff.

Um Luft ringend krümmte ich mich wie nach einem Marathonlauf. Ich werde ersticken. Ganz einfach und mies in dieser Zelle ersticken und verrecken. Geschlossener Jugendwerkhof, Fischerdörfchen 15, Torgau, als wenn hier wie in einem bunten Heimatfilm die Fischer ihre Netze aufhängen und flicken würden. Ruhig atmen, ruhig, ruhig, ich sprach zu mir wie zu einem durchgehenden Pferd, das jeden Moment flankenzitternd und schweißgebadet in die Flucht ins Nirgendwo galoppiert. Die wollen, dass du durchdrehst. Die wollen, dass du gleich am ersten Tag durchdrehst. Die Freude werde ich ihnen nicht machen. Ich zitterte am ganzen Körper, mein Herz schlug immer schneller, heftiger, lauter. Gleich würde alles nicht mehr zu ertragen sein. Gleich explodiert mein Herz mit einem dicken Wumms und dieser Spuk hier hat ein Ende. Alles nur geträumt.

Auf dem Rand des Kübels wuchsen weiße Pilze. Niemals würde ich mich darauf setzen. Niemals würden sie meinen Willen brechen. Niemals. Niemals werde ich klein beigeben. Draußen flötete eine Amsel ihr Lied. Der Sommer begann.

Ich weinte blind im Dunkeln. Das Schluchzen schüttelte mich, es überkam mich wie ein Sturm, in dem es keinen Schutz, keinen Unterstand gab. Wie eine Marionette, deren Fäden nur noch lose hängend die Figur nicht mehr zusammenhalten können, es schlagen meine Arme um mich im Veitstanz der Verrückten. Der Kopf knallt gegen die Wand, wieder und wieder. Blut wie warmes Wasser. Die Wand war harter, rissiger Beton, mit Lackfarbe überstrichen. Ich tastete, noch blind vor Tränen, über die Einkerbungen. Wie viele Finger sich wohl schon hier ihren Weg gebohrt hatten, als läge dahinter die Freiheit? Hört mich denn keiner? Mit beiden Fäusten hämmerte ich gegen die Tür. Es musste mich doch jemand hören. Es musste doch jemand kommen. „Ich werd dir helfen! So eine Schweinerei hier zu veranstalten!“ Grelles Neonlicht blendete mich nach der Dunkelheit. „Da! Hast ’n Grund zu heulen!“ Wie ein Kind, das seine Puppe wütend fortschleudert, so flog ich gegen die Pritsche. „Jugendliche Plog! Haltung annehmen!“ Hand an die Naht der blauen, steifen Hose, geradeaus blicken. Das Blut auf der Wange trocknete und zog die Haut zusammen. Die Pritsche heruntergeklappt. Betten bauen! Missbilligend ein letzter Blick, bevor die Frau die Zellentür schloss. Hast du auch Kinder? Ich bin noch ein Kind, 1,53 Meter, 46 Kilo, seit zwei Monaten 16 Jahre alt, zerbrechlich wie dünnes Glas. Schlägst du deine Kinder? Mutter ist immer die Hand ausgerutscht. Wenn sie dich nicht mehr schlägt, schlägt dich das Leben. Wer nicht hören kann, muss fühlen. Meine Brust und mein Rücken schmerzten, als hätte jemand versucht, einen Pfahl durch mich zu treiben. Ich würde lernen, das Schweigen zu ertragen. Ich würde nicht untergehen. Mein Wille lebt. Denk nicht an die Zeit, die vergeht, hör auf zu denken. Hör nicht auf zu atmen. Atme weiter. Ruhig und regelmäßig. Es wollte mir nicht gelingen. Das Schwarz der Ohnmacht war mir eine Gnade. Ich hoffte darauf. Vor dem Schmerz im Schwarz zu versinken.

Im Laufrad

Mit der Präzision eines Uhrwerks verschloss Mutter die Wohnungstür. Einmal, zweimal knarzte der Schlüssel, mit einem leichten Klirren zog sie ihn ab. Das war getan. Alles lag abgeschlossen. Die Speisekammer, ihr Schlafzimmer mit dem dreifach verspiegelten Frisiertischchen, der Bücherschrank im Wohnzimmer. Das Bad war ihre letzte Station, bevor sie ging. Konturenkontrolle, Lidstrich, Lippenstift, passend, perfekt. Ich war fünf Jahre alt. Manchmal tätschelte sie mir beiläufig, als hätte sie mich ganz vergessen und erinnere sich nun wieder an meine Existenz, über den Kopf. Oder legte mir die Hand auf die Wange, um zu sehen, ob sie passt. Ob die Ohrfeige auf die Wange passt. In Gedanken nannte ich sie immer Mutter, denn eine Koseform wie Mami oder Mutti wäre ihr nicht gerecht geworden. Um die peinliche Anrede drückte ich mich. Hart war sie in ihren Ansprüchen, hart gegen sich selbst. Und hart gegen mich. Eine Perfektionistin mit kampflustig ausgerupften Augenbrauen, die sie viel zu hoch, kurz vor dem Haaransatz, zurück auf die Stirn malte. Allmorgendlich torpedierte sie sich mit dem Klappern der Brennschere in den vergangenen Chic der vierziger Jahre. Mitte der Fünfziger trug sie ihr Haar immer noch im Stil von Zarah Leander.

Das Ritsch-Ratsch des Reißverschlusses ihrer Handtasche blieb mir als ihr durch die Stille tönender Startschuss haften. Ich lauschte dem sich entfernenden Stakkato ihrer Schritte im Treppenhaus, sah ihren weit schwingenden Rock mit den gelben Monden auf dem Schwarz sie wie eine aufblühende Blume umfangen, sah, wie sie auf die Sekunde genau in den noch wartenden Bus sprang, der sie verschluckte und von mir wegtrug. Häuserdächer und Lindenbäume, unbunt, farblos, lichtleer in der Erinnerung. Der Stoff für ihre Kleider kam aus dem Westen. Ihre Schwester ging. Ihr Mann ging. Seine Brüder, seine Eltern gingen. Jedes Jahr zu meinem Geburtstag am 4. März fing Lore die Westpakete meines Vaters ab und sandte sie zurück. Ich bekam seine Geschenke nie zu Gesicht. Nur ihre Eltern blieben hier. Hatten doch alles verloren im Krieg, das Haus mit dem Personal, die Offiziersstellung, alles war hin. Den Alten fehlte die Kraft, die Kraft zum neuen Leben.

Mutter war fort. Und ich, ihr verhasster, magerer Kobold mit den großen, braunen Augen, die sie täglich an meinen Vater erinnerten, wusch ihre Strümpfe. Tagtäglich hatte sie das Bild der Schande vor Augen. Die Erinnerung an den Mann, der sie hat sitzen lassen. Sein Lachen, sein Rufen, sein Eigenwillen, alles in mir. Wir hatten diese schicke Wohnung mit Balkon im vierten Stock, und es wurde gemunkelt, Protektion von ganz oben. Woanders saßen sie im Winter alle zusammen in der Küche, um Koks zu sparen. Flüchtlinge, alles verloren, die zitternden Hände an den Schläfen, gebeugt auf Leiterwagen, und die Tiefflieger kamen. Man hockte zusammen und teilte. Gas gab es immer nur wenige Stunden, kaum war Druck – und die Suppe wurde wieder nicht fertig. Das war bei uns anders. Eine junge Frau, alleinstehend, in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Gasheizung, das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Kohlenschleppen war bei uns passé. Arbeit hatte sie ja, Chemikerin an der Universität Rostock, „Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit.“1 Gelernt hatte Leonore Katerina Thümmel, alleinerziehend, Jahrgang 1926 und eigentlich ist sie eine „von“, an der Deutschen Versuchsanstalt und Fachschule für Lederindustrie in Freiberg, mit dem Abschluss Chemotechnikerin. Sofort fand sie Anstellung im Metallhütteninstitut der Bergakademie Freiberg, wurde vom Arbeitsdienst freigestellt, kriegswichtiger Forschungsauftrag. Die Bergwerksakademie war einbezogen in die Planungen etwa des Reichsluftfahrtministeriums.2 Radium und Uran galten plötzlich als die kostbarsten Güter der Welt. Geforscht wurde für das alles verzehrende, mäandernde Monstrum des Krieges. Als eine der wenigen weiblichen Studenten fuhr Leonore ein in die „Reiche Zeche“ und in die „Alte Elisabeth“. Das Leben unter Tage ohne Licht, nur mit den Geräuschen, die im Bauch des Berges geboren wurden, gehörte zu ihr wie der Glaube an den Endsieg. Sie wusste, dass der Endsieg eine Lüge war, doch für Lore gab diese Lüge einen Sinn.

Ihre Eltern besaßen Geld. Geld, das es ihnen erlaubte, in einem doppelstöckigen Haus in Leipzig-Leutzsch zu residieren. Es ging ihnen gut, so, wie es ihnen zustand. Das Auto und der Chauffeur waren eine Selbstverständlichkeit. Ausgebombt waren die anderen. Sechs Jahre lang kam der Vater auf Heimaturlaub, sonst gehörte er dem Krieg. Mutter und ihre Schwester Ursel erhielten Klavier- und Geigenunterricht und ihr Hausmädchen sprach ein wenig Französisch, weil es einmal in Berlin gearbeitet hatte. Für einen Schauspieler. Das waren die Geschichten, ungeheuer elegant, noblesse oblige, lächelte Oma. Die Erinnerung wie ein Vorhang aus einer anderen Welt. Wir saßen in ihrem hell tapezierten Salon mit den Regalen voller Glastiere, in deren filigranen Beinchen sich das Licht brach, da waren die auf Glanz polierten Blätter der Gummibäume, das Chinesenporzellan und der rahmenverbrämte Spiegel. Hier hatten Mutter und ihre Schwester in die blaue Stunde eines jeden frühen Abends hinein musiziert, und Oma erzählte von den Ausritten und den Sonntagsausfahrten durch die sanft hügelige Landschaft. Von Rinderbrust mit Meerrettichsoße, schweigend vorgelegt. Bei Tisch nur ein leises Klingen des täglich polierten Silberbestecks am Meißner Porzellan. Die Kinder durften nicht sprechen und vom Teller wurde aufgegessen, egal was es gab.

Auch wenn Mutter und ich nur zu zweit waren, immer aßen wir mit Silberbesteck und Damasttischdecke. Den Kopf hatte ich über den Teller gesenkt, um Mutters missbilligendem Blick nicht zu begegnen. Halte! Dich! Gerade! Bei Tisch klemmte mir Mutter den Stiel des Schrubbers hinter den Rücken, damit ich endlich aufrecht saß. Die Arme eng an den Körper geklemmt, starrte ich für volle drei Tage auf die mit Hackfleisch gefüllten Paprikaschoten, die ich partout nicht mochte. Gegen den Hunger trank ich literweise Wasser aus dem Hahn, bis sich mein Bauch wölbte wie der einer Hochschwangeren. Die Paprika, deren oberer Rand sich rötlich-braun wellte, die starb und trocknete wie ein totes Organ, rührte ich nicht an. Keinen Bissen würde ich hinunterbringen. Nimm die Gabel in die Hand. Die Gabel. Mit der flachen Hand schlug Mutter auf den Tisch. Die Teller bebten. Du isst. Jetzt. Ich beugte den Kopf, weil mein böses Lächeln kam. Es kitzelte die Mundwinkel, kitzelte, bis sie sich nach oben zogen, obwohl ich mir fest auf die eingesaugten Wangen biss. Lachen stieg in mir auf, unaufhaltsam, es hielt mich fest im Griff und schüttelte mich. Atemnot, unterdrücktes Prusten ließ mich rot anlaufen. Du lachst noch. Warte nur, dir wird das Lachen schon vergehen. Sollst sehen, was Hunger ist. Dir geht es doch viel zu gut. Ich in deinem Alter, das hätte ich mir mal erlauben sollen. Du weißt doch gar nicht, wie gut du es hast. Respekt fehlt dir. Frolleinchen, dir werd ich helfen. Wer geht denn hier Tag für Tag arbeiten? Wer? Sie wollte keine Antworten. Morgens bekam ich kein Brettchen, wie das, auf dem sich Mutter ihre zwei Brotscheiben mit Butter bestrich, sie mit Marmelade versüßte und viertelte, morgens bekam ich Paprika, mittags den weißen Goldrandteller mit der Paprika, abends. Bis Mutter nach drei Tagen klein beigab. Dieses eine Mal. Das Sprechen bei Tisch war mir strengstens verboten, ganz wie in den alten Romanen.

Seit ich vier Jahre alt war, hängte Mutter mir ein Pappschild um den Hals mit meinem Namen, mit ihrer Adresse und der ihrer Eltern, dann ging sie in kurzen, eiligen Schritten mit mir zum Bahnhof, gab dem Bahnpersonal ihre Weisungen – Mutter war schlecht im Bitten – und der Interzonenzug brachte mich von Rostock nach Leipzig. In diesem deutsch-deutschen Reisezug, Rostock–München über Leipzigs Sackgassenbahnhof, fuhren viele aus dem Westen und nur manche mit einer Ausreisegenehmigung aus dem Osten. Kontrolliert wurden Reisende und Gepäck von den Genossen der Transportpolizei, unterstellt dem Ministerium für Staatssicherheit. Immer rutschten ihnen die Gewehre vom Rücken, wenn sie sich bücken mussten, und in der Steifheit ihrer Uniformen bewegten sie sich einförmig wie mein Aufziehaffe mit der Trommel, der immer nur eine Bewegung kannte. Für mich gab es geschälte Apfelsinen und Eckchen Schokolade und Buntstifte und Plastikautos und manchmal ein kleines quadratisches Buch. Das hieß Pixi-Buch und es ging darin um Petzi, Pelle, Pingo, Seebär, Schildkröte und Papagei. Petzi war der Anführer mit den guten Ideen, die anderen die Gefolgsleute, die willfährig jeden Blödsinn mitmachten.

Leonore Siberg mit ihrer Tochter Sonja

Manchmal hüpfte ich Schdobblhobbser, hallwe Borrdzschon, an der Hand meiner Thümmel-Oma durch die Straßen Leipzigs – ich höre noch ihr silbernes Armband mit den Maiglöckchen klingen, ein Freundschaftsarmband, das sie immer noch mit ihrer besten Kinderfreundin teilte – und wir wurden von ihrem ehemaligen Personal gegrüßt, das mittlerweile ganz anderen Herren gehorchen musste. Meine Großeltern wollten ihren Besitz, ihr Haus nicht verlassen. Also saßen sie und wir im Osten fest. Doch das große Haus mit dem weitläufigen Garten, die dazugehörenden Ställe, alles gehörte nun dem Staat. Den Großeltern blieben nur wenige Zimmer, darunter der Salon mit dem Erkerchen und der Kissenbank. Alles drum herum verfiel, niemand fühlte sich zuständig. Schon ließ sich ablesen, woran die DDR krankte, und das machte meine Oma ganz kümmerlich. Die dort nun sonst in ihrem Haus Einquartierten waren Flüchtlinge, offiziell Umsiedler. Glück nur, dass Opa nicht ins Gefängnis oder ins Lager gesteckt wurde. Oder nach Sibirien musste. Aus Frankreich hatte er während des Krieges Seide, Unterwäsche und Parfüm, alles, was die Französinnen so reizvoll machte, an Oma nach Hause geschickt, als wäre er in einem großen Warenhaus einkaufen gewesen. Ah und Oh machten Lore und ihre jüngere Schwester Ursel, wenn wieder Pakete von der Front ankamen. Oma schwärmte und ihre Sätze flogen auf wie bunte Schmetterlinge, die im Wind vergehen. Mutter sprach ihr abschätzig eine Dienstbotenseele zu. Meine Großeltern waren mir die liebsten Leutchen, und wenn ich zurückkehrte nach Rostock, durchzog mich ihr sächselnder Singsang im Sprechen und im Denken, auf und ab modulierend wie eine zwitschernde Amsel. Mutter kämpfte selbst mit ihrem Dialekt und hasste es, wenn ich ä Schälchn heeßn Gagau wollte. Nur um sie zu ärgern, sagte ich, Räschnwermerkrieschn, nü, so, ich frier sö änne Füße. Wie heißt das? Ich friere an den Füßen. Regen werden wir kriegen. Du weißt es doch. Also. Tag und Nacht gab sie mir das Gefühl, dass ich nicht dazugehöre, dass ich nicht zu ihr gehöre. Von klein auf allein, habe ich immer das Ohr an die Tür gelegt. Wollte wissen, was die ­Erwachsenen reden. Aber was mit Mutter war, habe ich nie erfahren.

Sie, in ihrer schönsten, ihrer flirrenden Mädchenblüte, wie gelang ihr der Weg 1945 zu den Eltern, von Freiberg nach Leipzig? Warum war Ursel fort in den Westen, Ursel, die Kleine, die jeden Abend im Halbschlaf das Horst-Wessel-Lied summte, warum blieb Lore allein in Freiberg zurück? Was hielt Mutter denn ab von der Flucht in den Westen? Da waren das Weiß ihrer mit Spitze umrandeten Kniestrümpfe und die hochgebundenen Zöpfe, die sie immer noch trug aus der Klein­mädchenzeit, da waren die Augen, blank, die alles sahen. Das letzte Aufgebot, die Jungs, die angesichts des Kriegsendes Fahnen­flucht begangen hatten und deren Leichen nun von der Freiberger Altväterbrücke im Winde baumelten. Ein Frauentorso, der die Spuren einer Vergewaltigung trug, an den Blutgerinnseln mästeten sich die Fliegen und die Ameisen. Der sich Stückchen um Stückchen vorwärtsschleppende Todesmarsch der etwa tausend Jüdinnen vom Außenlager des KZs Flossenbürg. Was hatte Lore erlebt auf ihrem Weg von Freiberg nach Leipzig, was hat sie so hart werden lassen, fragte ich mich immer, welche Bilder hatten sich ihr eingebrannt, als sie durch den aufblühenden Frühling die über hundert Kilometer bis Leipzig zurücklegte? Fort, nur fort aus diesem Albdruck der zerstörten Dörfer, durch ganze Felder von zerschossenen Lastwagen und Geschützen, vergessene Friedhöfe aus Stahl. Oder sie saß im DKW, das wenige Gepäck auf der Rückbank, rauchte Zigaretten, schloss die Augen und schob ihre Hand tief und warm in den Schoß des Fahrers.

In Leipzig, in den Jahren nach dem Krieg, neben Kaderbildung und Bezirksdelegiertenkonferenz der SED, lernte Lore meinen Vater kennen. Heinz Siberg, drei Jahre jünger. Aus Heinz machte sie Harry und er ließ es sich gefallen. Zur See war er gefahren auf der Gorch Fock, die nun Towarischtsch hieß, in schöner Offiziersuniform, bis in die Wolkenkratzer, die allerhöchsten Masten, konnte er klettern und es machte ihm nichts aus. In ihrer Anwerbephase für das MfS, für das Ministerium für Staatssicherheit, verfasste Lore am 12. März 1956 ihren Lebenslauf: „1936 wurde ich Mitglied des BDM, dem ich begeistert angehörte.“3 Vom „Bund Deutscher Mädel“ führte ihr Weg sie weiter zur „Freien Deutschen Jugend“: Vier Jahre nach Kriegsende reifte sie zum aktiven FDJ-Mitglied, hatte bald 250 Lehrlinge unter sich und leitete die Betriebsgruppe der FDJ des VEB Galvanotechnik Leipzig an. „Trotzdem mir zu Hause große Schwierigkeiten wegen meiner politischen Arbeit gemacht wurden, bat ich um Aufnahme in die Partei und wurde am 13. 9. 1949 als Kandidat aufgenommen.“ Weiter berichtet Lore in ihrem Lebenslauf: „Auf Grund meiner Erziehung von zu Hause, wollte ich auch nach 1945 nichts mehr mit ‚Politik‘ zu tun haben. Erst durch einige Betriebsjugendversammlungen 1949 wurde ich an politische Probleme herangeführt.“ Nach ihrem Eintritt in die FDJ sind ihr die Zonensternfahrt nach Berlin und die Landessternfahrt nach Meißen große, prägende Erlebnisse. Nach Besuch der Kreisparteischule bekommt sie den „Parteiauftrag in der Leipziger Baumwollspinnerei (Schwerpunktbetrieb mit 1200 Jugendlichen) als FDJ-Sekretär zu arbeiten. Diese Funktion übte ich bis zur Geburt meiner Tochter Sonja am 4. 3. 1952 aus. Dann hörte ich vorübergehend auf zu arbeiten.“ Eine gemeinsame Wohnung hatten die Eltern von Sonja in Leipzig nicht. Und dann kam dieses 4. Parlament der FDJ, die Delegiertenversammlung 1952 in Leipzig, mit Volkstänzen, den Paaren, die umeinander wirbelten, die Mädchen in schwingenden Röcken. Aufmärsche von schönen, aufrechten jungen Männern und Frauen in Turnertracht. Es lag ein Flair in der Luft, das an das Adrenalin, das Mitmachenwollen im Hier und Jetzt, aber eben auch an das von vor zehn Jahren erinnerte.

Aus Leipzig gingen Harry und Lore fort, an die Ostsee: „Während des 4. Parlaments der FDJ in Leipzig lernte ich den Genossen XX4 (VP-See) kennen und dieser fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, zur VP zu gehen.“ Zur Volkspolizei. Wiederaufrüstung, Nachrichtendienste, Funkverkehr, die Marine steckt noch in den Kinderschuhen. In der Offiziersschule in Kühlungsborn wird Lore Kabinettsleiterin, „Gehilfe für Jugendfragen, jedoch nur als Zivilangestellte“, zudem unterrichtet sie Chemie und Mathematik. Das Ehepaar lebte sich auseinander. Harry, mein Vater, hatte Kernmacher gelernt für die Autoproduktion. Sein Vater arbeitete als Paketpostschaffner auf dem Leipziger Bahnhof, seine Mutter war Postangestellte in der Paketkontrolle, auch seine Schwester war bei der Post. Das waren kleine Leute, in Mutters ­Augen. Nun war Harry Siberg SED-Leitungsmitglied, war in der FDJ, im ­Freien Deutschen Gewerkschaftsbund FDGB sowie in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. 1952 konnte er an der neu gegründeten Deutschen Hochschule für Justiz in Potsdam-Babelsberg das lang erträumte Studium der Rechtswissenschaften beginnen. Dann ging er nach drüben.

1955. Drei Jahre war ich, Sonja, alt, als Harry Ehe Ehe sein ließ, er verließ Mutter und mich und wurde in Frankfurt am Main ein gefragter Wirtschaftsanwalt, der der wasserstoffblonden Rosemarie Nitribitt, jener Frankfurter Hure, die durch ihre spektakuläre Ermordung bald Berühmtheit erlangen sollte, eine Wohnung verschaffen konnte. Auch Mutter hatte Protektion: „Durch die Vermittlung des Gen. XX (2. Vorsitzender des FDGB im Bezirk Rostock) kam ich zur Gewerkschaft Wissenschaft und wurde am 15. 8. 1955 als Instrukteur der BGL [Betriebsgewerkschaftsleitung] an der Universität eingestellt. Zunächst war ich verantwortlich für die kulturelle Massenarbeit. Später wurde mir die Funktion als Sekretärin des Sekretariats des Komitees für Gesamtdeutsche Arbeit und die Leitung des Kulturensembles übertragen.“5

Mutter bekam die Wohnung in der Hans-Sachs-Allee 28 zugewiesen. Eine ganze Wohnung mit drei Zimmern, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Esszimmer, ein Badezimmer mit Wanne und Dusche, für eine alleinstehende Frau mit nur einem Kind. An der Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock war sie nun für die bunten Abende mit Propaganda zuständig. Ab und zu hat sie mich mitgenommen. Einmal durfte ich mit der Tanzgruppe im Zug mit den Studentinnen und Studenten nach Westdeutschland fahren, nach Delmenhorst. Alle sangen und waren vergnügt. Mutter wusste, dass die Studentinnen mich niedlich fanden: große Augen, magerer Körper, gewitzter Geist. Damals glaubte man noch an die Wiedervereinigung. Auf beiden Seiten. Und Mutter bespitzelte im Uniapparat auf Weisung des Ministeriums für Staatssicherheit gezielt die ihr zugewiesenen Personen unter dem volltönenden Decknamen „Carmen“. In der „Einschätzung des GI ‚Carmen‘ vom 12. August 1957“ hieß es über diesen „Geheimen Informator“: „Der GI ist maximal ausgenutzt. Er berichtet über die Math.-Nat.-Fak., gesamtdeutsche Arbeit, Kulturensemble, und über die Wi.-Wi.-Fak. […] Um den GI weiter fachlich zu qualifizieren, ist er im IV. Quartal in eine noch zu werbende KW einzuführen. Da der GI in manchen Fragen zu subjektiv ist und sich manchmal von humanen Erwägungen leiten lässt, ist der GI politisch zu festigen, damit er härter und objektiv wird. Dies ist besonders notwendig für die Arbeit an Personen wie Dr. XX und XX, an denen der GI konkret arbeitet. Weiterhin ist dies erforderlich, da der GI eine schwache Seite für das männliche Geschlecht hat.“6 Carmen kam mit allen Fakultäten in Kontakt, sie nutzte Vertrauen und Freundschaft, um ihrem Führungsoffizier Grebe Informationen über Professoren, Assistenten, Aspiranten und Studenten zu liefern. Über alles, was ihr klassenfeindlich, opportunistisch, konterrevolutionär erschien. Da eine KW, eine konspirative Wohnung, in der man sich hätte treffen können, fehlte, zahlte ihr der Führungsoffizier für Zigaretten, Kaffee, Torte, Frühstück in den HO-Gaststätten sechs bis acht Mark pro Treff. Manchmal waren es auch glatte 20 Mark, die für Carmen quittiert wurden.

Am 17. Februar 1957 unterschrieb Mutter eine Schweigeverpflichtung, der noch viele weitere folgen sollten: „Ich, Leonore Siberg, geb. 25. 5. 1926, wohnhaft in Rostock, Hans-Sachs-Allee 28, verpflichte mich, über alle Gespräche, die ich mit einem Mitarbeiter des MfS führe, gegenüber jeder 2. Person strengstes Stillschweigen zu wahren. Mir ist bekannt, dass ich bei Bruch dieser Verpflichtung nach dem Paragr. 353 c des StGB zur Verantwortung gezogen und bestraft werde.“7

Der damalige Abwehr- und Spionagechef, Staatssekretär für Staatssicherheit, Minister Ernst Wollweber, bezeichnete die Angeworbenen als überlebenswichtig für den Fortbestand der SED-Herrschaft: „Ohne diese Atmungsorgane können wir nicht leben und nicht arbeiten.“8

Es war also alles geregelt. Nur dieses Kind kam ihr dazwischen, das sie für eine Fotoaufnahme hoch auf der Mauer ihres Balkons zurechtsetzte. Eine kleine Bewegung, und das Anderthalbjährige, ich konnte noch nicht richtig sitzen, hätte die Balance verloren. Womit in diesem Alter immer zu rechnen ist. Mutter aber hatte ihre Aufnahme im Kasten. Nur eine kleine Bewegung, und ich wäre in diesen Abgrund des Neuanfangs gefallen. Hier in unserem Viertel, in das die Rufe und Pfiffe der Fans des Rostocker Fußballclubs SC Empor aus dem nahe gelegenen Ostseestadion drangen, waren die nationalsozialistischen Häuserzeilen nahe der großen Kaserne mit Hubschrauberlandeplatz und den mittäglichen Warnsirenenstößen zur sozialistischen Wirklichkeit geworden. Früher hieß unsere Hans-Sachs-Allee Hermann-Göring-Allee. Die Häuser standen in langen Reihen gestaffelt, feldgrau wie die Wehrmachtssoldaten. Die Straßen im Hansaviertel bildeten gerade Raster, mit Gehweg und Rinnstein, während wenige Hundert Meter weiter in Richtung Altstadt und Hafen die Trümmer und die Krater lagen, schwarz gähnend wie offene Gräber. Die Männer blieben im Krieg oder kamen spät zurück. Zum Straßenbild gehörten die Versehrten, auf Krücken, in Rollstühlen, die eher Särgen glichen, und wir bezahlten mit Lebensmittelkarten, bei Verlust kein Ersatz, lose Abschnitte ungültig, nicht übertragbar. Der Krieg steckte allen noch in den Knochen, ob sie es wahrhaben wollten oder nicht. Rostock war eines der wichtigsten Rüstungszentren des Reiches gewesen: die Werften, die Flugzeugwerke, die Heinkel- und die Aradowerke. Die Stadt brannte aus in den Aprilnächten 1942 unter den Bomben der Royal Air Force.

Auf dem Balkon in der Hans-Sachs-Allee

Aus meinem Kinderfotoalbum hatte Mutter die Bilder, auf denen mein Vater zu sehen gewesen sein muss, ohne große Vorsicht herausgerissen. Ich fuhr mit den Fingern über die trockenen, weißen Spuren des Klebers auf dem schwarzen Karton. Fragen stellen durfte ich nicht. Ihr nicht.

Drinnen knarrten die Dielen unter meinen leisen Schritten, die Wände wurden weiter, Mutter war fort. Die Wohnung hoch im vierten Stock wurde zum festen Bestandteil meiner Kinderwelt. War Mutter unterwegs, und sie war viel unterwegs, weil sie viel nachzuholen hatte, schloss sie mich ein. Wir lebten in einem Vorzeigeviertel, doch ich war kein Vorzeigekind. Für alle da draußen blieb ich unsichtbar und ich selbst wurde mir ein Schemen, der die Wände rückwärts hochgehen konnte, ein Gespenst, das auf dem Tisch tanzte, im Gasofen zündelte, die Badewanne volllaufen ließ, um Ertrinken zu spielen. Unter Wasser herrschte Frieden, nur ganz selten gab mein Körper einen Laut oder er ließ die Haut an der Wannenwand reiben. Ich schwebte und alles lag ruhig. Manchmal wollte ich die Einsamkeit nur so aus mir herausschreien. In meinem Mund aber formte sich kein einziger Ton. Nur ein rasselndes Keuchen. Ich war fünf, als ich anfing mich zu erinnern. Dass die Liebe gefehlt hat.

Die „Gesamtdeutsche Arbeit“ an der Universität nahm Mutter in Anspruch. Ihre mündlichen Berichte und akribischen handschriftlichen Abschriften gingen an das MfS und an das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, Berlin 017.

 

Die Genossin Siberg wurde am 17. 2. 1956 als KP [Kontaktperson] verpflichtet. Während dieser Zeit wurden ständig Treffs mit ihr durchgeführt. Alle ihr übertragenen Arbeiten erledigte sie termin­gemäß und erschien pünktlich zu den festgelegten Treffs. Abgerissene Verbindungen stellte sie sofort wieder her. Sie berichtete laufend Dinge über die gesamtdeutsche Arbeit der Universität unaufgefordert. Fast jeglicher Briefverkehr betreffs der Gesamtdeutschen Arbeit von und nach Westdeutschland wurde uns durch sie abschriftlich übermittelt. Durch ihre Tätigkeit können wir uns einen guten Überblick über die Tätigkeit des gesamtdeutschen Komitees der Univ. Rostock teilweise auch Greifswald verschaffen. Durch sie wurden wir ständig über den Verkehr von Delegationen von und nach Westdeutschland informiert. Wir erreichten, dass mit ihrer Hilfe unsere GI mit in die Delegationen, die nach Westdeutschland fuhren, eingeschleust werden konnten. […] Aufgrund der Tatsache, dass sie ledig ist und nach einem Ernährer sucht, hat sie teilweise einen großen Bekanntenkreis von männl. Personen. Über alle Verhältnisse mit männlichen Personen informiert sie mich und löst diese Verhältnisse auf Wunsch meinerseits. Macht sie neue Männerbekanntschaften, so fragt sie jeder Zeit nach Rat und möchte hören, ob diese Verhältnisse für sie von Nutzen sind und nicht ihre Arbeit wie auch unsere schädigen.9

 

Der Reisedrang der Studenten in die „NATO-Atombombenrepublik“ blieb auch nach der Niederschlagung der Aufstände Anfang November 1956 in Ungarn ungebremst. So reisten beispielsweise einige Dozenten und Studenten der niederdeutschen Sprache 1957 zum Besuch der Hansischen Hochschulgilde der Universität Hamburg nach Schloss Grabau bei Bad Oldesloe und machten einen Abstecher nach Lüneburg. An das Staatssekretariat in Berlin wurde ein Jahr später aus der Universität berichtet: „Gegenwärtig gibt es unter dem Lehrkörper an der Universität Rostock zahlreiche Diskussionen über die hohe Zahl von republikflüchtigen Wissenschaftlern. Aus dem Urlaub zurückgekehrt, haben die Wissenschaftler zunächst einmal festgestellt, wer fehlt, d. h. wer ist nicht in die DDR zurückgekehrt? In der Tat haben seit Beginn des Jahres 1958 bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt insgesamt ca. 45 Wissenschaftler und Ärzte der Universität Rostock illegal die DDR verlassen.“10 Hinsichtlich Dr. Johannes Nichtweiß, Historisches Institut für mittlere und neuere Geschichte und für historische Hilfswissenschaften, stellte die SED-Leitung der Universität eine „innere Zerrissenheit“ fest. „Aus dieser Lage heraus leitete der Genosse Nichtweiß unmarxistische Schlussfolgerungen ab, indem er Selbstmord beging und sich damit vor allem dem täglichen familiären Druck der Unerträglichkeit entzog.“11 1958 hatte er an der Humboldt-Universität in Berlin über „Die preußisch-deutsche Politik gegenüber den ausländischen Wanderarbeitern in der Landwirtschaft“ habilitiert. Das Jahr seiner Habilitation wurde zu seinem Sterbejahr. Johannes Nichtweiß sprang vom Dach der Universität in den Tod. Während der Pfingsttagung der Hansischen Hochschulgilde hätten imperialistische Kräfte auf ihn gewirkt; Teilnehmer aus der Bundesrepublik hätten bei ihm gewohnt und es sei bis in die Nacht diskutiert worden.

Jeden Montag brachte mich Mutter in den Universitätskindergarten, ebenerdig im Hof des Klosters zum Heiligen Kreuz. Als ich noch kleiner war, hatte sie mich in die Wochenkrippe gegeben, dann brachte sie mich Montag früh und holte mich am Freitagabend wieder ab. Oftmals nahm sie auch die Samstagsbetreuung in Anspruch. Viele der Mütter sorgten allein für ihre Kinder.

Angeblich befand sich ein Stückchen des Kreuzes Jesu im Altar des Klosters, und ein Schweißtuch, von dem Jesus ernst blickte, gab es auch. Auf dem Weg zum Unikindergarten zerrte Leonore ihr Kind durch die Wallanlagen, an die sich uralte kleine Gassen mit niedrig geduckten Häuschen anschlossen, Wohnhöhlen, in denen einst Armut und Laster zu Hause gewesen waren. Als ich größer wurde, graute mir vor diesen Labyrinthen, die in nie endende Irrwege zu führen schienen, in denen Lärmen und Schelten und der schwarze Pesthauch nachhallten. Links und rechts des Klostergangs standen steinerne Figuren, die drohten, ihre Hände gegen mich auszustrecken, mich festzuhalten. Im Traum begegneten sie mir wieder, der leidende, blutende Jesus mit dem Dornenkranz, die Erlösten, die aus dem zähnebleckenden Maul eines Monsters krochen, immer wieder ging ich allein hinein in den schwarzen Tunnel des Klostergangs, doch dann konnte ich fliegen. Ich breitete die Arme aus, der Wind zerrte an meinen Haaren und alles unten wurde unendlich klein. Ich flog und flog und kam nie an. Aus allem fortfliegen zu können, diesen Traum rettete ich hinüber in die Wirklichkeit.

Morgens dann fassten sich alle Kinder im Singkreis an den Händen: „Mein großer Bruder Rüdiger, der geht zur Volksarmee. Er schützt den Kindergarten, in den ich morgens geh. Noch ist die Mütze mir zu groß, die Jacke viel zu schwer. Bin ich erst groß, dann werde ich Soldat wie er!“

Meine liebste Olga

ich schätze ihre tätigkeit als durchaus nicht harmlos ein. wer so schnell den aufstieg in die „oberen“ kreise machte, der war auf gar keinen fall harmlos. ihre position in der propaganda war sogar eine höchst wichtige, denn sie u. die parteileitung entschieden, wie die studenten zu sein haben u. wer studieren durfte u. wer nicht. sie hat alle ihre chefs bespitzelt u. ­alles abgeschrieben, was es gab, sie war ein spitzel aus vollem herzen, weil sie vermutlich dachte, so wird sie am schnellsten nach oben kommen. bemüht habe ich mich, aber es war nie genug. ich hab ja nicht von anfang an rebelliert.

 

Mutter liebte den Flirt. Groß, schlank, brünett gefärbt – sie trug nun die Haare kurz, was ihre Weiblichkeit noch unterstrich –, konnte sie keine Gelegenheit auslassen, und wie jedes Jahr ging sie zum Faschingsball der Universität. Eine Kollegin aus der „Gesamtdeutschen Arbeit“ an der Universität charakterisierte Mutter so: „S. hat ein sehr großes Geltungsbedürfnis, das sie sich auf viele Arten zu verschaffen versucht. Sie möchte immer gern von einer Reihe junger Männer umgeben sein und sich von allen Seiten verwöhnen lassen. Dieses Bedürfnis kommt nicht zuletzt auch in ihrer Kleidung bzw. Aufmachung zum Ausdruck. Ich kenne ihre näheren Verhältnisse nicht weiter, weiß aber, dass sie eine Zeit lang sehr oft mit der ‚Seepolizei‘ zusammen war, dass sich die Seepolizei dann in Mitglieder der Handballmannschaft verwandelte. Vor allem lässt sie sich gern ausführen. Die Sorgen um ihr Kind sind meines Erachtens nicht die größten.“12

An solchen Tagen, in solchen Nächten, wenn Mutter ausging oder sich ausführen ließ, kam ich auf der Couch bei einem ältlichen Ehepaar im Hinterhaus, Parterre, zur Ruhe. Es war schon ein Unterschied, ob einer Parterre und Hinterhaus oder, wie wir, vorn, vier Treppen hoch, wohnte. Die alte Frau barg mich in ihren Armen, wenn ich nachts aufwachte, und sie stopfte mir die Decke rund um den mageren Körper, damit auch in keine Ritze eine Hexe gierig ihre krummen Finger stecken konnte. Die beiden Alten hatten einen leichten Schlaf und fuhren hoch, sobald sie mich hörten. Seit 1933 hatten sie Haft, Verfolgung, Hunger, Kälte, Folter, auch in Konzentrationslagern, überleben müssen. Opfer des Faschismus waren die beiden, so hieß das. Getrennt voneinander hatten sie Auschwitz überlebt. Schräg außen auf dem linken Unterarm hatten der Mann und die Frau ihre Häftlingsnummer eintätowiert, die konnten sie niemals mehr abwaschen. Ich las ihnen ihre Zahlen vor, weil ich so stolz war, dass ich schon die Zahlen konnte, und lesen konnte ich auch schon und sie lachten mir zu, ach damals, das ist vorbei. Vorbei ist vorbei und kehrt nicht wieder. Für mich waren sie Helden.

Die beiden waren sich selbst genug. Jede Jahreszeit mit ihren Stimmungen, Lüften, Geräuschen war wie neu für sie, alles erlebten sie mit Staunen wie nach einer langen Krankheit. Sie waren ein wenig wie Kinder, denen die anderen Erwachsenen das Anderssein zustanden. Immer wieder konnten sie meinem bunten Kreisel zuschauen, wie er, erst bloß noch Farbwischer, langsamer werdend in der spitzen Figur einer hochbusigen Tänzerin endete. Unter dem Sofa bei ihnen stand eine Kiste mit uraltem Blechspielzeug für das Kind, das sie nie hatten, und eine Eisenbahn näherte sich in voller Fahrt, wenn wir uns mit dem Kopf schräg auf die Dielen legten. Sie hatten eine Puppenfamilie, die Körper aus weichem Stoff, alles Mädchen mit goldenen Zöpfen, die mit mir einschliefen, die ich anzog und mit Mehlbrei fütterte, als wären sie echt, und in der Zeit des magischen Denkens waren sie es. In diesen Nächten und Tagen dort im Hinterhaus lebten wir wie außer­halb der Zeit.

Die Kapelle auf der Bühne gab ihr Bestes, ihr Letztes, sie feierte den Tiger Rag, den Swing, und die sonst so konservativen, klassisch ausgebildeten Musikstudenten des Universitätsorchesters gaben sich alle Mühe zu klingen wie die großen schwarzen Vorbilder aus der amerikanischen Besatzungszone. „Oh, when the Saints!“ Keiner verstand, was er da mitbrüllte, aber dass darauf folgen musste: „Go marching in!“, das wussten alle. Der Dirigent mit dem hüpfenden Taktstock hatte den richtigen Hüftschwung, mit dem er zwischen seinen Musikern und dem Publikum pendelte. Mutter verliebte sich.

Der entschlossene Wille, sich zu amüsieren, einte alle, auch Mutter. Die Spannung im Saal näherte sich dem Siedepunkt, als der Schlagzeuger das große orgiastische letzte Stürmen mit seinem fulminanten Solo herauszögerte wie im Zirkus, kurz vor dem Absprung der Artisten ohne Netz und doppelten Boden. Noch einmal prallten die Körper ineinander im Fantasie-Boogie-Woogie. Schweißüberströmt und dankbar sanken alle wieder auf ihre Plätze, die Hand zitternd vor Anstrengung das Schnapsglas umfangend, ex und hopp.

Hans-Jürgen Plog hieß der Dirigent mitten im größten Remmidemmi; bei Kriegsende war er gerade 17 Jahre alt und wartete darauf, Abitur machen zu dürfen. Als Laie führte er die Chöre seiner Heimatstadt Wismar. Seine Eltern und seine beiden Brüder gingen noch vor Kriegsende in den Westen, nach Hamburg. Zu Hause bei ihm hatten sie Plattdütsch gesprochen und er wuchs auf mit dem tiefen, beruhigenden Tuten der Schiffe, die aus dem Seehafen Wismar in die Ferne zogen. 1952 ging er nach Leipzig, um Musik zu studieren.

Lore, Leonore, hatte endlich wieder einen Mann zu Hause, und als ich nach den Sommerferien 1961 aus Leipzig von den Großeltern nach Hause kam, hieß ich nicht mehr Sonja Siberg, sondern Plog. Jetzt konnte mir keiner mehr dumm kommen und fragen, wo ist denn dein Vater. Ich hatte jetzt auch einen Papa. Pa-pa – die beiden Silben zerplatzten wie schillernde Seifenblasen. Ausgerechnet meine Mutter musste heiraten, diese streitsüchtige, aber brillante Frau, hart gegenüber allen Schwächen, immer bestrebt, ihre Karriere voranzutreiben, um nicht im gepolsterten Mief der Ehe zu versinken. Dass es für sie die zweite Hochzeit war, dieses offene Geheimnis nahm sie mit in ihr Grab. Darüber konnte sie ein Leben lang nicht sprechen.

Hans-Jürgen Plog war auf dem Weg zum Universitätsmusikdirektor und diesen Titel ließ Mutter sich auf der Zunge zergehen, diesem einen Mann mit Titel öffnete sie ihre Türen und ihre Nachthemden, die über die Jahre hinweg in erster Linie praktisch zu sein hatten. Alles langjährige Sehnen floss plötzlich in ihrem der Liebe und Zärtlichkeit entwöhnten Körper zusammen.

Im September 1958 war Hans-Jürgen am Rostocker Institut für Musikwissenschaft als Lektor angestellt und hatte die künstlerische Leitung des Chores übernommen. Jetzt würden wir also wie eine richtige Familie am Abendbrottisch sitzen, Pfefferminztee trinken und bestrichene Brote mit Messer und Gabel auf dem Brettchen zurecht­rücken. Ich schrieb Hans-Jürgen einen Brief, ob ich ihn Papa oder Papi oder Vati oder Vater nennen dürfe. Mutter lachte mich aus, was fiele mir ein, einen Brief zu schreiben.

Im Frühjahr 1958 hatte Lore mich zum Arzt geschickt und ich kehrte mit der Diagnose „Hochbegabt“ heim, also ab in die Schule. Ich sollte ja was werden. „Juchei, ich bin ein Schulkind!“, sangen die Älteren zur Einschulung am ersten September; mir war nicht nach Juchei. Strammstehen, Fahnenappell, Augen links, Augen rechts, Disziplin, vorwärts zum Sozialismus. Wir saßen auf langen Schulbänken und sollten die Hände auf dem Rücken halten. Jeden Morgen standen wir auf, „Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!“, leierte die Lehrerin vorne. Der Gruß kam von uns Kindern zurück: „Immer bereit!“ Freundschaft. Setzen. Der Sozialismus muss siegen, für eine bessere Zukunft. Der Imperialismus und damit der Kapitalismus sind historisch überlebt. Unsere Neulehrer in der Unterstufe waren zumeist ergebene Parteiideologen, die, ausgerüstet mit einem achtwöchigen Crashkurs, täglich unsere sozialistische Persönlichkeit zu formen hatten. Aber es gab auch unter ihnen ein paar Nette, die alles nicht so streng zu nehmen schienen. Manche waren plötzlich einfach weg. Was mit ihnen passiert war, wusste keiner von uns, weil darüber auch die Eltern nicht sprachen. Schule war Schule. Peng. Da durfte sich keiner einmischen. In den Heimatkundestunden der ersten Klasse hieß es: „Welche Farben hat die Fahne unserer Republik?“, und: „Zeichne die Arbeiterfahne!“ Schwarz, Rot, Gold. Eine rote Flagge. Volle Punktzahl erreicht. In der ersten Klasse gab es nur die Noten 1 und 2. Alles, was darunter lag, war schlecht. Schlecht wie ein fauliger Apfel, der aussortiert gehört. Damit hätte ich nicht nach Hause kommen dürfen.

Mutter war Parteimitglied der SED, wenn sie ausging, trug sie das Parteiabzeichen am Revers. Hans-Jürgen weigerte sich einzutreten. Die Politik käme nicht ohne Musik aus, die Musik aber sehr wohl ohne Politik. Fehlte ihm der richtige Klassenstandpunkt? Parteiarbeit füllte Mutters Wochenenden aus. Für die Studierenden der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Rostock organisierte sie bunte Abende. Die Universität dem Volk. Glaubte sie wirklich voller Inbrunst und Ausschließlichkeit an den unaufhalt­samen Sieg des Kommunismus? Die Gläubigen der Partei hatten sie die unausweichlich sich einstellenden Stationen des Geschichtsverlaufs gelehrt. Mutter war Teil des Systems, oder hoffte sie doch auf andere Götter? Als Vorstand der Wohngruppe 9 im DFD, dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands, musste sie oftmals zwischenzeitlich kurz fort, allein ging sie, und vom Balkon aus sah ich ihr nach, wie sie zielgerichtet aus meinem Blickfeld verschwand und nach kurzer Zeit, nach wenigen Minuten nur, wieder erschien. Mutter war nicht nur Mitglied in der FDJ, sondern auch in der DSF, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, sowie in der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik, hier stieg sie auf zur stellvertretenden Leiterin der Gruppe hauptamtlicher Funktionäre.13 Der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, ausgezeichnet mit dem „Vaterländischen Verdienstorden in Silber“, war bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gewesen und hatte die Moskauer Parteischule durchlaufen. Mutter sprach mit Ehrfurcht von Karl Mewis. Bald hatte sie ein eigenes Büro als Gesangs- und Tanzensembleleiterin der Hochschulgruppe der FDJ im Universitätsgebäude, Stalinplatz 1, zusammen mit Dipl.-Ing. oec. Henning Schleiff, nun als Nachfolger von Oswald Kleinpeter, ihrem Anwerber vom MfS, Erster Sekretär der Hochschulgruppe der FDJ. Schleiff legte eine steile Karriere innerhalb der Partei hin und sollte als langjähriger Rostocker Oberbürgermeister erst 1990 nach heftigen Bürgerprotesten das Amt niederlegen. Die Jahre vor dem Mauerbau, mit der Flucht der zweieinhalb Millionen in den Westen, brachten enorme Aufstiegschancen mit sich. Mutter liebte es, sich mit Honoratioren zu umgeben.

Wir lebten in einem geschlossenen System, in dem alles Leben und jede Erinnerung kontrolliert wurde und erstarrte. 1960 reiste das Chorensemble unter Hans-Jürgen Plog nach Westdeutschland, Mutter trug täglich, auch abends und am Wochenende, ihren Bonbon, das Parteiabzeichen, und begleitete ihn zu den Auftritten in Hamburg, Bremen, Walsrode. Im Gegenzug besuchten die Westdeutschen Rostock. Hans-Jürgen hatte eine Idealvorstellung vom Chorgesang: „Ich möchte gerade Stimmen ohne Härte hören, so dass der Chor trotz größerer Besetzung wie ein Kammerchor klingt. Jede Stimme sollte dabei ihre Möglichkeiten kennen, vom Dirigenten darf nichts forciert werden, aber jede Stimmgruppe sollte so weit wie möglich entwickelt werden. Insgesamt sollen die Stimmen schlank geführt werden.“ Der Mann meiner Mutter hatte seinen eigenen Geschmack und er widmete sich der zeitgenössischen Chormusik. Es waren Uraufführungen, die er wagte, von seinem Leipziger Lehrer Wilhelm Weismann, oder die angejazzten Chorsätze des jungen Gunther Erdmann, die eher nach Frank Sinatra, Swing, Showtreppe und Glitzergirls als nach „Wir schützen den Weltfrieden!“ klangen. Hans-Jürgen reiste durch die Welt der Musik, in den Tagen vor einem großen Konzert musste ich mucksmäuschenstill sein. Alles Fremde lockte ihn und er entdeckte den Liederzyklus Dunavölgyi koszorù, den Donautalkranz von Ferenc Farkas, für die deutsche Chormusik. Plattdütsch sprachen sie bei ihm zu Hause, Plattdütsch dachte und träumte er, Mutter konnte es nicht verstehen und regte sich auf, das Plattdütsch empfand sie als Ausgrenzung. Dat hebben ji juch jo man fein utsunnen. Dat du min Leevsten büst, dat du woll weeßt. Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht, segg wo du heeßt, kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht, segg wo du heeßt. Und Vater meint und Mutter meint, der Wind, der rausche. Dat deit de Wind. Das Kuscheln, das Rascheln, das Stöhnen, das, was ich nachts von denen hörte, die jetzt meine Eltern waren. Ich dachte an das Lied und an den Wind.

Die täglichen Lügen gehörten zu meinem Kinderalltag. Wie eine Doppelagentin wechselte ich die Sprachen, zwischen dem Pflichtwortmüll aus der Schule und den Gesprächen zwischen meinen Eltern. Es war die Zeit des Kalten Krieges und unsere Lehrer fragten uns, was seht ihr für eine Uhr im Fernsehen, hat die Punkte oder Striche anstelle von Zahlen. Wir sahen Westfernsehen mit der Tagesschauuhr zu Hause, und wenn ich bei den Großeltern in Leipzig war, durfte ich, anstelle von Aktueller Kamera und den Vorzeigerollenspielen der Märchenlandbewohner Schnatterinchen und Bummibär beim Sandmännchen, richtig viel vom Westen in Schwarz-Weiß konsumieren, mit Edgar-Wallace-Streifen und allem Drum und Dran. Westfernsehen schauen und Westradio hören wurde in den Fünfzigern und Sechzigern vom Staat verfolgt. Schlimm war es, wenn die Nachbarn oder der Schornsteinfeger eine fürs Westfernsehen ausgerichtete Antenne entdeckten. Die Junge Welt, das Organ der FDJ, schrieb am 7. September 1961:

Mit vielen Ideen sind die FDJler überall dabei, die „Aktion Blitz kontra NATO-Sender“ zu einem neuen kräftigen Schlag gegen die kalten Krieger zu machen. In zahlreichen Diskussionen in Städten und Dörfern schufen unsere Freunde Klarheit darüber, dass in keinem Haus NATO-Sender gehört oder gesehen werden. So sind in der Grenzgemeinde Harkensee, Kreis Grevesmühlen, schon seit einigen Tagen sämtliche Fernsehantennen in Richtung Frieden eingestellt. Eine besonders originelle Idee hatten die Freunde der FDJ-Organisation der Mathias-Thesen-Werft in Wismar. Sie schufen die Figur „Tele-Conny“, die all jenen an die Haustür geheftet bzw. am Arbeitsplatz angebracht wird, die noch immer die Fernsehsendungen des Westens empfangen. Sobald die Antennen aber in Richtung Sozialismus zeigen, wird die „Tele-Conny“ wieder abgeholt.

 

Vor der Volkswahl am 17. September 1961 forderte Politbüromitglied Albert Norden die Beseitigung aller auf Westempfang eingerichteten Fernsehantennen, nach dem Standort des entsprechenden bayrischen Zonengrenzsenders Ochsenkopf kurz „Ochsenköpfe“ genannt. Alle Elektromonteure sollten sich verpflichten, künftig keine Westantennen, keine „Feindfahnen“ und „Opiumsäulen“, mehr zu installieren. Auch die Schornsteinfeger hatten Anweisung zu kontrollieren, ob die Fernsehantennen auf Westempfang standen. Verlangt wurde von allen Hausgemeinschaften, freiwillig auf den Empfang westdeutscher oder Westberliner Fernsehsendungen generell zu verzichten. Das halbe Volk sieht West, hört West, und die Partei will sagen, dass sich die sozialistische Menschengemeinschaft weiter gefestigt hat auf dem Weg hin zum entwickelten gesellschaftlichen System in der glücklichen Diktatur des Proletariats. Unsere Rostocker Ostsee-Zeitung fragte unter der Überschrift „Antennen in Richtung Frieden“: „Ist es nicht an der Zeit zu verlangen, dass sich alle Bürger der DDR ihre geistige Nahrung von dem Staat holen, in dem sie leben?“

Die SED übertrug die Aktion Ochsenkopf der FDJ. Bei Blauhemden an der Tür öffneten wir erst gar nicht und saßen still in der Wohnung, bis das Fußgetrappel im Treppenhaus verhallte. Wir hatten uns ohne lange Wartezeit und Ansparen einen Apparat anschaffen können, auch darauf war Mutter stolz. Aus einer alten, von innen verstärkten Tabaksdose bastelte Hans-Jürgen einen Konverter, der neben dem Fernseher stand. Wir hatten ein relativ rauscharmes Bild. Uns passierte nichts. Mutter hatte ihre Wahrheit, Hans-Jürgen seine. Aber eine gute Stellung hatten beide. Und schimpften beide aufs System. Von mir wurde erwartet, dass ich gut in der Schule bin und niemanden störe. War der Fernseher aus, herrschte meist Schweigen. Vielleicht redeten spät die Erwachsenen, leise und wie nur für sich. In die Partei einzutreten kam für Hans-Jürgen immer noch nicht in Frage, Mutter war ja.

Juri Gagarin flog ins All und am 6. August umrundete der sowjetische Kosmonaut German Titow die Erde. Konnte der Griff nach den Sternen ablenken vom realsozialistischen Alltag?

1961, es war Herbstanfang, kurz nach dem Mauerbau, mussten alle Mütter und Väter beim Elternabend in der Schule unterschreiben, dass sie keine Westsender sehen oder hören. Denn am Tag X würde uns der Westen zum Aufstand aufrufen. Wer sich weigerte zu unterschreiben, hatte den falschen Klassenstandpunkt. Die meisten Eltern unterschrieben, weil sie wollten, dass ihre Kinder weiterkommen. Unterschreiben und auf der Schule bleiben. Ohne Jugendweihe keine Chance, auf die EOS, die erweiterte Oberschule, zu wechseln. Ich sollte doch das Abitur haben, ich sollte doch studieren, Ärztin werden, einen Kollegen heiraten. Du musst dich damit abfinden, wir leben nun mal hier, hieß es. Diese Schicksalsergebenheit, dieses Sicharrangieren im Klein-Klein brachte mich in Rage. Viele Eltern rieten ihrem Kind in bester Absicht, alles mitzumachen. Ich war kein Bonzenkind, ich war kein Arbeiterkind, ich war kein Bauernkind, ich war ein Intelligenzlerkind. Mutter klagte, Kind, ach frag doch nicht so viel. Ich träumte von der großen weiten Welt, wenn die Chorproben wieder endlos ausfielen, und wanderte ehrfürchtig von der Aula durch die Abteilung Altertumswissenschaften der Universität. Ausgräberin wollte ich werden, im Dreck wühlen, den Palast der Königin von Saba entdecken. Ägypten, Äthiopien, Jemen. Dazu musste ich erst einmal die Grenzen des Landes verlassen.

An der Uni sorgte Anfang der Sechziger Henning Schleiff als Erster Sekretär der FDJ dafür, dass möglichst alle Studenten aller Fachrichtungen einen Brief an Walter Ulbricht unterzeichneten:

 

Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Staatsrates! Lieber Walter Ulbricht!