Sonnenkind und Schattenkrieger - Bodo Staudacher - E-Book
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Sonnenkind und Schattenkrieger E-Book

Bodo Staudacher

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Beschreibung

Frühjahr 2020. Ziemlich zeitgleich mit der Corona-Pandemie bekommt der Autor mit Mitte 30 eine Krebsdiagnose. Auf einmal scheint nichts mehr, wie es davor war. Erst drei Jahre zuvor hat er geheiratet und eine Tochter bekommen. So beginnt er, intensiv über sein eigentlich noch junges Leben nachzudenken, weil er anfangs nicht weiß, wie das mit der Krankheit ausgehen wird. Dabei blickt er zurück auf zahlreiche kleine Abenteuer an verschiedenen Orten dieser Welt, die in krassem Kontrast zu der bedrückenden Zeit der Chemotherapie und der Corona-Einschränkungen stehen. In dieser denkwürdigen, aber auch einmaligen Zeit, geprägt von Ungewissheit und Isolation, aber auch Ruhe und Entschleunigung, stellt er sich zum ersten Mal die Frage, was eigentlich wirklich wichtig ist, und kommt zur Erkenntnis, dass es sich lohnt, auch in der schlimmsten Situation den Kopf oben zu behalten und das Leben zu umarmen. Ein packendes Buch über ein spannendes Schicksal.

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Sonnenkind

und

Schattenkrieger

Bodo Staudacher

Kleine Abenteuer

Krebs, Corona und Kway Teow

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Sämtliche Namen aller erwähnten Personen wurden redaktionell geändert, die Geschichte aber ist wahr.

Für Amelie

It just ain’t living

And I just hope you know

That if you say

Good-bye today

I’d ask you to be true

’Cause the hardest part of this

Is leaving you

My Chemical Romance – Cancer

Embrace the noise let it rip through your brain

A legion of snakes that are shedding their skin

A new aggression is starting to breed

There’s no holding back

Are you ready to bleed

Scream out, eyes wide

A venomous mainline infects you inside

So feel the sound as it pounds in your chest

Eardrums exploding, bodies possessed

Bullet For My Valentine – Army of Noise

Greif’ nach den Sternen und ich schwebe

Als ob heute nichts unmöglich wäre

Ich schaue in ungeahnte Ferne

In meinem Kopf (nur die Musik)

Jeder Ton erfüllt die Leere

Und wird es kalt bleibt sie die Wärme

’Ne Symphonie gegen die Schwere

So traumhaft schön voll Fantasie

Und ich spür’ Endorphin

Alles leicht wie noch nie

Und die Stimme in meinem Ohr sagt

Don’t give a fxxx

Joris – Nur die Musik

Vorwort

Mehrmals habe ich mir die Frage gestellt, ob ich das alles überhaupt machen soll. Ich war kurz davor, alles Geschriebene wieder wegzupacken, für mich zu behalten und schnell wieder im normalen Alltag weiterzumachen. Ein Mann redet nicht über Gedanken und Gefühle. Oder sogar Krankheit. Warum das Innerste nach außen kehren? Das hab ich eigentlich nie gemacht und darin war ich immer besonders schlecht.

Doch da gibt es eine Kleinigkeit, die ich unbedingt loswerden muss.

Das geht raus an alle, die es »erwischt« hat. Ob jung oder alt. Kopf hoch. Seid mutig. Traut Euch was zu. Versucht, nicht so viel Angst zu haben. Denkt vielleicht gar nicht so viel nach. Sowas gehört zum Leben halt auch dazu. Passiert. Und es muss gar nicht schlimm sein. Es kann ganz gut laufen und möglicherweise kommt Ihr gut durch. Habt Vertrauen. Lasst Euch nicht von diesen Horrorstorys einschüchtern. Ich hab mir tausende davon angehört und dann lief es anders. Bleibt positiv, cool und lustig. Nehmt alles, was Euch wichtig ist, mit auf diesen unbekannten Weg. Alles ist erlaubt. Und es ist nicht so, dass hier etwas enden muss. Überhaupt nicht. Lasst Euch nicht unterkriegen und bleibt einfach wer Ihr seid.

Manchmal geht es gut aus, manchmal nicht. Ich weiß. Das liegt nicht in unserer Macht. Aber man ist nie allein. Und es lohnt sich auf jeden Fall, sich nicht hängen zu lassen und zu fighten.

Dabei wünsche ich Euch alles erdenklich Gute!

Prolog

29. März 2020

Ich bin 35 Jahre alt, stets gut gelaunt, glücklich verheiratet und habe eine kleine Tochter. Das Leben hat mich bisher reich beschenkt. Ich bin ein ganz normaler junger Mann, der das Leben mit all seinen Facetten genießt und liebt. Ich durfte die Welt großzügig bereisen und habe unglaublich viele Ecken gesehen und viele nette Menschen getroffen.

Von Beruf bin ich Ingenieur und meine Arbeit hat mir immer viel Spaß gemacht. Ich habe unzählige Leidenschaften und Hobbys, denen ich nachgehe. Meine Frau sagt, ich habe zu viele Hobbys. Sie hat Recht. Keinem davon kann ich die nötige Zeit widmen.

Ich habe eine Familie, die mich liebt und sich kümmert und viele, viele gute Freunde und Bekanntschaften. Früher als Kids haben wir so ziemlich alles gemacht, worauf wir so Bock hatten. Es war eine unbeschwerte Zeit. Wir haben viel gefeiert und eigentlich nichts ausgelassen. Wir waren nachts im Freibad baden. Wir haben uns großzügig vom guten Leben eingeschenkt und immer alles gleich auf Ex runtergestürzt. Ich hatte das Glück, als Gitarrist viele Jahre in einer verdammt guten Rockband spielen zu dürfen. Auch konnte ich mal bei einer Oper mitspielen. Ich bin mal aus einem Flugzeug gesprungen und tauchte mit Haien. Da ich viel gereist bin und zweimal auch für längere Zeit als junger Praktikant im Ausland sein durfte, habe ich Bekannte aus verschiedenen Ländern der Welt: England, Italien, Südafrika, Brasilien, China, Malaysia, Australien oder Singapur. Es ist großartig. Wir dürfen wählen gehen, müssen nicht so sehr auf das Geld schauen und leben in einer freien Welt. Eigentlich kann uns gar nichts Schlimmes passieren. Uns geht es einfach nur gut.

Ich denke, ich habe in meinem Leben immer sehr viel Glück gehabt. Eigentlich bin ich ein Glückspilz. So empfinde ich das zumindest. Oft, wenn ich joggen gehe, um das große Karussell des Daseins einmal kurz anzuhalten und den Kopf dabei richtig durchzulüften, ziehe ich Bilanz und denke über das Leben nach. Immer kam ich bisher zum Beschluss, dass ich stets viel Glück im Leben hatte. Man hat mir viel geschenkt.

Vor ein paar Wochen haben sie mir mitgeteilt, dass ich Krebs im fortgeschrittenen Stadium habe. Mir. Einem jungen Mann Mitte 30, der fest im Leben steht und noch so viel vorhat. Und das auch noch kurz nach dem großen Ausbruch der Corona-Pandemie. Krebs und Corona. Und das alles gleichzeitig. Rückblickend vermag ich gar nicht mehr zu sagen was in mir vorging als der Arzt mir die Diagnose verkündete. Ich habe eine Art Filmriss. Da fehlt irgendwie was. Was ich aber noch gut weiß von diesem Moment ist, dass auf einmal alles grau und still und langsam wurde. Ich weiß gerade nicht, was alles noch auf mich zukommen und wie das alles ausgehen wird.

Mit so Sachen wie Krebs hatte ich mich bisher nie beschäftigt. Man hat schon öfter von Fällen in der Familie oder im Kreis der Bekannten gehört, aber das ist bisher immer irgendwie nur den anderen passiert, meistens älteren Menschen. So eine Diagnose haut einem heftig die Bremse rein und reißt einem den Boden unter den Füßen weg. Und nun hat es mich auch erwischt. So früh schon …

Ich beginne circa eine Woche vor Beginn der Chemotherapie an diesem Buch zu schreiben. Ich habe keine Angst davor. Naja, ein bisschen Bammel vielleicht schon. Und ich muss sagen, dass das Wort »Chemo« allein beim Aussprechen einen ganz schrecklichen Klang mit sich bringt, so in etwa in der gleichen Liga wie »Terroranschlag« oder »Naturkatastrophe«. Ich habe keine Angst, aber irgendwas Anderes geht sicherlich in mir vor. Was mir auch ein eigenartiges Gefühl gibt ist, dass alle Freunde nun auf einmal Sachen zu mir sagen wie »Du musst jetzt stark und positiv sein« oder »Wir denken an dich und schicken dir viel Kraft und positive Energie rüber!« So was haben sie sonst eigentlich nie zu mir gesagt. Nicht in dieser Form, so ausdrücklich und mit dieser ernsten Art der Anteilnahme. Egal was kommt, ich nehme es einfach an, denn ich habe ja gar keine Wahl. Ich bin positiv und zuversichtlich. Wie immer. Jedoch weiß niemand, was so alles auf mich zukommen und wie die ganze Geschichte ausgehen wird. Ich weiß einfach nicht, ob und wie ich diese neue, unbekannte Welt, die ich betreten werde – die »Matrix« – wieder verlassen werde.

»Life is a Rollercoaster.« So viel ist allgemein bekannt. Up and Down. Hoch und runter. Das weiß doch jeder. Es gibt genug schlechte Plastik-Pop-Songs, die diese einfache Wahrheit verkünden. Bisher fuhr ich in der Achterbahn eigentlich immer ziemlich weit oben. Herunterschauend. Bis auf ein paar kleinere Senken. Aber generell immer ziemlich weit oben. Scheinbar bin ich nun auch an den anderen, etwas tiefer gelegenen Stellen der galaktischen Achterbahn angekommen. Es geht hoch und runter. Man könnte sich jetzt die Frage stellen, wo man ganz am Schluss stehenbleibt und wer dann noch alles mit im Wagon sitzt. Vielleicht bleibt die Achterbahn aber auch gar nicht stehen und es geht für immer einfach weiter. Vielleicht an einem anderen Ort oder einem ganz anderen Sonnensystem. Aber gut erst mal. Das ist jetzt langsam etwas »too much«. Diese Frage können andere, schlauere Leute beantworten.

Heute Morgen bin ich vor sechs Uhr aufgewacht. Meine Mädels schlafen noch. Ich habe tausend Gedanken verschiedenster Art in meinem Kopf herumschwirren und beginne, diese einfach mal niederzuschreiben. Der Tag hat gerade erst begonnen. Es ist Frühling. Keine Wolke am Himmel. Ich kann vom Fenster aus die Stadt und auch den Wald sehen. Am Horizont geht das Morgenrot über der schwarzen Kontur des Waldes über sämtliche weitere Farbpaletten in ein leichtes Hellblau über. Wunderschön. Etwas später wird es ein kräftiges, gesundes Blau sein. Ein herrlicher Tag. Doch auch heute wird man fast keine Menschenseele auf der Straße sehen. Es ist gespenstisch still. Unheimlich. Es passiert nicht viel. Es ist unglaublich, aber wahr. Eine komische Stimmung.

Der Grund hierfür: Ein Virus, der sich von China ausgehend mittlerweile auf der ganzen Welt ausbreitet, für mächtig Unsicherheit sorgt und jedes andere noch so ernste Thema locker in den Schatten stellt. Es zwingt uns zuhause zu bleiben und keinen Kontakt mit unseren geliebten Mitmenschen zu haben. Das Virus hat den gleichen Namen wie ein gar nicht so gutes mexikanischen Light-Bier. Es isoliert uns alle. Auch tötet es Menschen. Es scheint, als wäre alles andere unwichtig im Moment. Ein bisschen wie in einem dieser Hollywood-Blockbuster. Nur wir sind alle mittendrin und spielen mit. Das Virus wird uns noch schwer beschäftigen.

Es ist schon cool, ein Buch zu schreiben. Eigentlich wollte ich das schon immer mal machen. Mir haben bisher lediglich ein starkes Thema und die Zeit gefehlt. Ich habe mal von Theorien gehört, die besagen, dass Leiden kreativ macht. Vielleicht trifft das ja gerade zu. Oder man hat halt wirklich guten Inhalt zum Schreiben und einfach eine richtig krasse Story zu erzählen. Oder einfach nur viel Fantasie und Talent. Und viel Zeit und Muße. Von all dem genannten habe ich eigentlich nur Zeit.

In den letzten Jahren habe ich in den oberen Sphären des »Big Rollercoasters« so viel erlebt und glaube, dass ich die Geschehnisse der letzten Jahre nie richtig verarbeitet habe. Vielleicht ist das heutzutage auch gar nicht mehr richtig möglich, alle Sachen im Leben zu ordnen. Bei dem rasenden und ich denke zunehmendem Tempo, mit dem sich die Welt dreht. Jetzt im Moment befinde ich mich in der großen Achterbahn ziemlich weit unten.

Im Endeffekt möchte ich eigentlich nur für mich selbst ein bisschen dokumentieren, was so alles in den letzten Jahren geschah. Das kann ich gerade eigentlich nur machen, weil die Erde momentan stillsteht. Ich meine, es war extrem viel. Gutes und Schlechtes. So viel, dass ich es irgendwie ordnen und verarbeiten muss. Dank Corona habe ich nun auch die Zeit dafür. Wenn ich dann im Jahr 2070 ein alter Mann bin, werde ich mir das Buch aus der hintersten Ecke meines Regals ziehen und alles noch mal in aller Ruhe durchlesen. Das wird großartig. Da freu ich mich jetzt schon drauf. Ob sich irgendjemand anders auch für diese kleinen Geschichten interessiert, weiß ich nicht. Das ist auch nicht so wichtig. Ich habe gerade viel Zeit und schreibe einfach mal alles auf. Mal schauen, was mir noch so einfällt.

Ich widme das alles meinen geliebten Mädels, Amelie und Molly. Sie schlafen immer noch. Wenn sie wüssten, dass ich gerade über sie schreibe …

Sie sind das Beste, was ich habe.

Sonne und Schatten

06. Mai 2020

Ein großer alter Mann aus Asien mit langem Bart sagte mal vor langer Zeit: »Wer ständig glücklich sein will, muss sich oft verändern.«

Ich fand immer, dass da was dran ist. Für mich persönlich stimmte das auch meistens. Eine Veränderung muss ja nicht immer was Gravierendes oder was Großes sein, sondern kann ja auch in kleinen und trotzdem magischen Dimensionen stattfinden. Ich glaube, ich habe in meinem Leben immer öfter mal irgendwas Kleines verändert und vor allem Neues gemacht. Jedem Anfang liegt tatsächlich ein Zauber inne. Das wusste schon der gute Hermann Hesse. Im Großen wie auch im Kleinen. Der Drang nach neuen Projekten war bei mir immer schon da. Ohne rastlos oder unzufrieden zu sein habe ich mich immer für neue kleine Sachen interessiert und sie angegriffen. Das hat mich wohl immer irgendwie glücklich und zufrieden gemacht und mir Schwung und gute Impulse fürs Leben gegeben.

Der Move von der schwäbischen Heimat in den Fernen Osten mit Anfang 30 war das beste Beispiel hierfür. Komplett ohne irgendeinen Zwang oder irgendeine Not fand das von mir aus statt. Zum Beispiel mit dem Zwang, einmal ein paar professionelle Jahre aus Karrieregründen in Asien zu verbringen um später besser an Managerpositionen zu kommen, hatte das überhaupt nichts zu tun. Ich hätte auch zuhause bleiben können wie die große Mehrheit der Anderen, also meiner Freunde. Ich hatte mich aber entschieden – ich muss sagen wir, meine Frau und ich – auf eine Reise zu gehen und nach etwas Abenteuer und neuem Glück in einer fernen Welt zu suchen. So zogen wir los und fanden beides auch zu Genüge.

Ich denke, ich hatte bisher im Leben immer sehr viel Glück. So hatte ich eine behütete Kindheit. Ich wuchs auf in einer schönen Kleinstadt-Umgebung, in der junge Menschen toll gedeihen können, eingebettet in Natur, und trotzdem sicherlich alle Chancen der Selbstverwirklichung haben. Meine Jugend war eigentlich ausschließlich unbeschwert und ereignisreich. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar dafür. Gesegnet mit guten Freunden, die es auch heute noch sind. Es ist uns trotz der ein oder anderen leichtsinnigen Pubertäts-Aktion nie etwas passiert.

Habe mich beruflich wohl für das Richtige entschieden und die große Liebe gefunden. Oh, das klingt jetzt kitschig … Und eine kleine wundervolle Tochter, die mich Tag für Tag zum Staunen und vor allem zum Lachen bringt. Meine Frau nannte mich auch schon immer ein »Sonnenkind«. Ich denke, das sollte immer heißen: »Mach dir mal keine Sorgen, bei dir läuft doch immer alles.« Als ich zum Beispiel 2011 ein Praktikum in Brasilien über eine Förderorganisation quasi so nebenbei ohne großen Bewerbungsaufwand ergattert hatte, hatte sie mich ein »Sonnenkind« genannt. Läuft.

Doch, das stimmt. Ich hatte immer Glück, war immer ein Sonnenkind. Vielleicht bis zu dem Moment der Krebsdiagnose mit Mitte 30. Hier kann man wohl nicht mehr so sehr von Glück sprechen. Jährlich erkranken nur circa 2600 Menschen in Deutschland am Hodgkin-Lymphom. Es ist eine eher seltene Krankheit. Man müsste hier also von ausgesprochenem Unglück und Pech reden. Es hat mich nun erwischt und der Krebs ist nun auch schon fortgeschritten.

Und dann passiert das Ganze auch noch zu Hochzeiten der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020. Social Distancing, das Vermeiden von körperlicher Nähe, ist zum obersten Gebot für alle Menschen geworden. Überall auf der Welt. So konnte ich in der vielleicht schwersten Zeit meines Lebens nicht einmal meine Familie und Freunde einladen, besuchen oder generell bei mir haben. Wie kann das sein, dass diese zwei krassen Ereignisse sich in meinem Jahr der Ratte überlagern und mich so extrem knechten und isolieren? Wie viel Pech kann man denn eigentlich haben?

Glück und Unglück. Glück und Pech. Was ist das überhaupt? Sehr relative Begriffe. Geht’s mir eigentlich gut oder hat es mich schon böse erwischt? Eher Glückspilz oder Unglücksrabe? Hat der liebe Gott es mit mir immer gut gemeint? Oder hat er mich nun für immer verlassen?

Später werden mir Ärzte sagen, dass ich mit meiner Diagnose noch relativ viel Glück hatte. Eine eher »gute« Diagnose. Das dem Morbus Hodgkin verwandte Non-Hodgkin-Lymphom, das auch weitaus häufiger auftritt, ist in den meisten Fällen nicht mehr so gut behandelbar und kann oft nicht ganz geheilt, sondern nur langsam aufgehalten werden. Habe ich also tatsächlich wieder Glück in meiner Situation?

Geht es uns denn nicht eigentlich per se gut, wenn wir als Mensch in Deutschland auf die Welt kommen? Wie können wir uns mit den weitaus härteren Schicksalen von Kindern vergleichen, die in Krisengebieten wie Syrien, dem Sudan oder dem Jemen auf die Welt kommen und eigentlich nie eine richtige Chance auf ein »normales« Leben haben? Es gibt Minderheiten auf dieser Welt, die politisch systematisch verfolgt und weggesäubert werden, wie zum Beispiel die Rohingya in Myanmar. Können wir Menschen in Deutschland uns überhaupt zumuten zu behaupten, uns könnte es in irgendeiner Art schlecht gehen? Bin mir da nicht ganz sicher.

Und können wir unser Glück, unser Schicksal überhaupt beeinflussen? Wir sind sprichwörtlich ja alle unseres eigenen Glückes Schmied. Kann das sein? Es sieht mir nicht so aus, als hätten alle Menschen von Anfang an alle Möglichkeiten zur Wahl des richtigen Lebensweges.

So oft wir es auch versuchen, diese Frage ist eigentlich fast nicht zu beantworten. Auch wenn wir ständig darüber nachdenken. Wie können wir denn sagen, dass es uns gut geht, wenn es uns nie wirklich schlecht ging? Wie können wir uns im Lichte des Daseins loben, wenn wir gar nicht wissen, was die Dunkelheit ist? Beides gibt es zuhauf in dieser wunderschönen und zugleich grausamen Welt.

Wahrscheinlich ist es doch gar nicht so wichtig. Was zählt ist, immer das Beste draus zu machen. Egal was kommt. Alles andere, alles »Höhere« passiert einfach so und wir müssen damit umgehen.

Als ich später zum dritten Zyklus der Chemotherapie stationär im Krankenhaus untergebracht war, teilte ich mein Zimmer mit einem sehr netten 67-jährigen Mann. Zwei Jahre nach Eintritt in den Ruhestand hatte man ihm eine Diagnose einer unheilbaren Blutkrankheit, ähnlich der Leukämie, gegeben. Die Ärzte hatten ihm gesagt, er lebe wohl noch ein paar Jahre. Es war beeindruckend, wie er mir alles erzählte und wie gefasst und in sich ruhend er damit umging. Seine Diagnose war meines Erachtens nach weitaus schlimmer als meine, dennoch nahm er sie an und war irgendwie positiv. Ich unterhielt mich viel mit ihm. Seine Einstellung, mit seiner Krankheit umzugehen, hatte mich schwer beeindruckt. Zu dieser Zeit hatte ich tatsächlich das Gefühl, mit meiner Hodgkin-Diagnose noch Glück gehabt zu haben.

Glück und Unglück. Sonne und Schatten. Beides ist da. Immer da.

Eine Reise beginnt – Teil 1

23. September 2014

Ich bin 29 Jahre alt. Das ist die Zeit, in der selbst die chilligsten Langzeitstudenten (ich zähle mich nicht wirklich dazu, brauchte nur zwei Semester länger als der Durchschnitt) mal so langsam in einem routinierten Arbeitsleben angekommen sind. Alles ist weitaus geregelter als noch mit 25. Da schien die Zukunft noch ungewiss und wild und das wirkliche Erwachsensein noch fern. Da war alles noch möglich und unverbindlich. Mit 29 ist der Student aber endlich fertig und geht seinem ersten Job nach. Endlich mal eigenes Geld verdienen. Es setzt sich Einiges und es wird ruhiger. Schließlich hat der wirkliche Ernst des Lebens (mittlerweile schon zum vierten Mal) begonnen.

Manche haben die Liebe des Lebens mittlerweile gefunden und auch keine Lust mehr auf verzweifelte Partnersuche in der Disco oder der Bar oder auf Dating-Plattformen und diesen ganzen Quatsch. Man verlobt sich. Man heiratet. Kinder werden langsam ein Thema. Die einen fangen an und alle anderen denken »wow«. Etwas später folgen weitere und Lawinen brechen los. Und langsam schauen sich die Freunde nach Immobilien um und bauen sogar ein Häusle auf dem Land, wo es günstiger ist als in der Schwabenmetropole Stuttgart. Gerade im Schwabenland ist das eigene Häusle doch ein höchst erstrebenswertes prominentes Lebensziel.

So um die 30. Sehr gutes Alter. Es ist eine Zeit, in der man schon noch jung ist und immer noch viel passiert, aber es wird einfach geregelter und ruhiger. Den dreißigsten Geburtstag wird man dann als vielleicht letzte wirklich wilde Party feiern. Alle späteren runden Geburtstage werden dann definitiv immer langweiliger. Die Kinder müssen ja schlafen und Feiern hat man bis dahin sowieso langsam verlernt. Und den Kater am nächsten Tag steckt man dann nicht mehr so easy weg wie noch mit 25. Irgendwann kann man einfach nichts mehr am Glas.

Ich werde auch bald 30. Und es wird auf jeden Fall eine gute Party geben. Dafür werde ich sorgen. Alle Freunde noch mal zusammentrommeln und crazy abfeiern. Geburtstag und Abschied zugleich. Abschied für ein paar Jahre. Wie viele Jahre es sein werden und ob alles überhaupt klappt, weiß man jetzt noch gar nicht.

Kinder kommen dann schon etwas später. Nicht jetzt. Und alles andere auch.

Ich will eigentlich noch gar nicht ruhiger werden und ich will noch ein paar große Abenteuer erleben (ich rede nicht vom Häuslebauen). Ich bin noch jung und hungrig. Ich will noch mal richtig raus hier. Weit raus. Ganz weit weg. Welche Abenteuer kann denn ein junger Mensch heute noch erleben ohne jetzt irgendwelchen gefährlichen Quatsch zu machen? Mit dem Segelboot über den Atlantik? Ein Jahr im Dschungel überleben? Hm … so was jetzt nicht. Mein Leben ist mir ja schon recht lieb. Der gute Odysseus hat früher noch richtige krasse Abenteuer erlebt. Ich habe als kleiner Stöpsel all seine Geschichten gelesen. Oder was Frodo so alles gemacht hat. Wahnsinn. Aber was kann denn heute noch abenteuerlich sein für einen jungen Menschen?

Da ich das Reisen immer sehr liebte, möchte ich einfach auf eine große Reise gehen. Eine Reise, auf die ich als alter Mann dann mal zurückschaue und Tränen in den Augen habe, wenn ich die alten Bilder von damals sehe. Das ist der Plan. Die meisten anderen meiner Freunde schlagen nun Wurzeln. Ich nicht. Ich hau ab. Wir hauen ab. Zusammen. Und wir kommen als andere Menschen wieder zurück.

Deswegen habe ich einfach mal einen Job im weit entfernten Singapur angenommen. Unbefristet. Hab kein Rückflug gebucht. Es ist einfach so passiert und ging unglaublich schnell. Das Jobangebot las sich einfach top. Am Ende hat es einfach gut gepasst. Die Chemie mit dem zukünftigen Chef hat einfach so gut gepasst während der Telefonate. Es ist ein guter Job bei einer richtig guten deutschen Firma. Das Thema passt mir auch sehr gut. Forschung ist sowieso cool.

Wieso habe ich mich in Singapur beworben? Ehrlich gesagt war es einfach nur purer Zufall. Schicksal. Fügung. Whatever. Es ist einfach so passiert. Ich gestehe, dass es gar nicht Teil meines großen Masterplans ist, genau dort hinzugehen. Manche Menschen behaupten ja immer, sie haben stets den großen Megaplan im Kopf. Ich habe das nicht, sage ich ganz ehrlich. Es passiert einfach so. Und meinen bisherigen Job habe ich sehr gern gemacht und er war echt gut. Trotzdem ist es für mich an der Zeit, weiter zu reisen und die vertraute Heimat einfach mal hinter mir zu lassen. Diesbezüglich habe ich einfach Hummeln im Hintern. Und meine Freundin Molly wollte so was wie ins Ausland gehen eigentlich auch immer noch mal machen, bevor Kinder und Häusle und so dann irgendwann kommen.

Ich habe das Aufbrechen in andere Erdteile schon mal als Student mit 25 und 26 gemacht. Ein halbes Jahr Praktikum in Südafrika und drei Monate Praktikum in Brasilien. Es war die beste Zeit!

Das nächste Projekt Südostasien wird allerdings noch mal was ganz anderes werden. Viel größer. Spektakulärer. Länger. Das ist klar.

So weit so gut. Kleines Problemchen ist, dass ich zwar einen Job dort habe, aber nicht meine Liebste. Ich hatte mich davor für die Stelle als Forschungsingenieur in Singapur einfach mal beworben, ohne meiner Freundin Bescheid zu geben. Das musste ich ihr erst mal bei einem ruhigen Waldspaziergang beibringen. Anfangs war sie sauer mit mir. Zurecht. Später werden wir aber dann hoffentlich sagen, dass es das beste war, dass ich sie einfach so spontan Richtung Fernost mitgezogen hatte. No risk, no fun. Gerade wenn man jung ist. Allein hätte sie das nie gemacht. Es wäre sonst nie passiert und ein ewiger Traum geblieben, á la »Mensch, das hätte man einfach noch machen sollen.« Da habe ich kein Bock drauf. Ich will es einfach machen. Alles zu 100 Prozent sicher durchzuplanen ohne Risiko geht mit zwei Personen gleichzeitig sowieso fast nicht.

Meiner Mutter zu erklären, wieso ich einen sicheren und guten Job in einem etablierten Anlagenbauunternehmen im Stuttgarter Speckgürtel auf einmal aufgebe und irgendwas weit in Fernost anfange, ist schwer. Und dass ich die Freundin mitnehme. Meine Mutter hatte schon Rotz und Wasser geheult, als ich mit 25 für sechs Monate nach Kapstadt für ein Praktikum loszog. Vielleicht auch verständlich. Es ist schwer für sie, das zu verstehen. Und sie ist halt die Mama. Die Zeiten haben sich geändert. Junge Leute machen heutzutage nun andere Sachen, wenn sie noch jung sind. Die Welt ist kleiner geworden.

So stelle ich mich also langsam auf die große Reise ein. Je mehr ich von dem exotischen und mir bisher fast unbekannten Singapur lese und je mehr ich erfahre, desto weniger kann ich es abwarten loszuziehen. Eigentlich wusste ich zuvor lediglich, dass das ein kleiner Tigerstaat irgendwo in Asien ist und dass Kaugummi verboten ist. Ich sprach mit Leuten, die dachten, dass das eine Stadt in China ist. Von den meisten Freunden und Bekannten, die schon dort waren, höre ich eigentlich nur Tolles und Spannendes von diesem Ort. Ich verschlinge einen Reiseführer nach dem anderen und lese Expat-Bücher.

Natürlich beschäftigten wir uns damit, wie meine Liebste, eine verbeamtete Lehrerin, auch einen sicheren Job dort bekommen könnte. Das ist schon schwer. Und sie hat doch auch so riesige Lust auf dieses Abenteuer. Noch hat sie nichts und in ihrem Beruf kann man nicht einfach so kündigen und was Anderes anfangen. Sie hat die Reise einfach noch nicht gebucht, so wie ich. Natürlich ist das auch belastend für uns. Ich kann mich schon auf die neue Welt vorbereiten. Meine Freundin nicht.

Mal schauen, was da noch alles kommen wird und ob wir mit allem Glück haben werden. Das ist schon ein krasser Schritt alles. Mal schauen, ob wir belohnt werden. Das soll unser großes Abenteuer werden.

Eine Reise beginnt – Teil 2

04. März 2020

Es ist der 4. März 2020. Wir sind eigentlich schon auf dem Weg von meinen Eltern zurück nach Stuttgart und wir fahren gerade schon auf die Bundesstraße. Dann erhalte ich einen Anruf vom Krankenhaus, in dem ich während der Faschingsferien eine Woche stationär wegen meiner Lungengeschichte aufgenommen war. Mensch, war das ein Scheiß. Wollten eine Woche Urlaub zuhause machen und ich lande im Krankenhaus. Naja …

Man bittet mich, um 16 Uhr unbedingt in die Sprechstunde des Oberarztes zu kommen. Es klingt irgendwie wichtig. Also drehen wir noch mal um und fahren zurück zu meinen Eltern, sodass ich diesen Termin später wahrnehmen kann. Ich denke, sie werden mir halt noch abschließend alles zu meiner Lungenentzündung erklären. Mehr sollte jetzt ja wohl nicht kommen. Nichts Wildes …

Die freundliche Assistentin des Chefarztes für Innere Medizin empfängt mich dann um 16 Uhr mit einem freundlichen Lächeln und öffnet die Tür zum Büro des Chefs. Ja, die Frau war ja wirklich ganz nett. Ich trete ein und der Arzt fragt mich zur Begrüßung: »Wie geht es Ihnen denn?« Mit meiner typischen gelassen Art erwidere ich: »Eigentlich geht es mir soweit gut. Fühle mich okay.« Ich lächele. Wenn man so was sagt, dann ist ja meistens auch alles okay. Also alles gut soweit. Wir setzen uns an den Tisch mitten im Arztzimmer.

»Leider haben wir bei den Untersuchungen etwas Unerwartetes gefunden. Es ist Morbus Hodgkin. Eine Art des Lymphdrüsenkrebses.« So etwas Ähnliches sagt er dann. Ohne große Einführung oder sonstiges. Gleich zur Sache. Bäm. Voll in die Fresse. Medizinisch. Nüchtern. Exakt. Das sind die Worte. Eine hohe Form der Grausamkeit. Zutiefst grausam. Unwirklich. Albtraumhaft. Ein verbaler Dolchstoß.

An Genaueres kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich meine, er erwähnt auch gleich die Therapien zur Behandlung des Krebses. Von was redet er denn, wenn er von Therapien spricht? Das klingt irgendwie nach Chemo oder so was. Ich glaube, der Arzt empfindet es als etwas unangenehm, mich dabei anzuschauen. Verständlich. Wer verkündet denn schon gerne jungen Menschen eine Krebsdiagnose? Komische Situation.

Es wird grau und still. Und immer langsamer. Und für kurze Zeit bewegt sich gar nichts.Vielleicht warte ich darauf. Aber ich wache nicht auf. Nein, es passiert nicht.

Eigentlich müsste ich ja allen dankbar sein. Nach dieser kleinen Odyssee auf der Suche nach dem, was nicht stimmt bei mir, hat man nun wohl das Übel gefunden. Sie haben jetzt meine Krankheit entdeckt. So einfach war das ja gar nicht. Zuerst dachte man, ich hätte hochansteckende offene Tuberkulose, und ich wurde für vier Tage komplett in einem Zimmer isoliert. Dann, als der Test negativ ausfiel, fiel der Verdacht auf Sarkoidose. Im Endeffekt aber »nur« eine atypische Lungenentzündung. Ich hatte sie fast gar nicht bemerkt. Hatte vor kurzem noch Fußball gespielt und war joggen. Aber um die Krankheit zu finden musste man mit einer Art Schlauchsonde über meinen Rachen einen Stich durch die Speiseröhre in den auffällig großen Lymphknoten machen um Zellgewebe zu extrahieren. Danke, dass ihr das gefunden habt. Ich weiß, es ist euer Job. Trotzdem danke.

Krass. Ich habe Krebs.

Die Worte des Arztes sind extrem grausam und eine seltsame Art von Slow-Motion stellt sich in meinem Kopf ein. Versteckte Kamera? Wahrscheinlich nicht. Über so was macht man keine Scherze.

Innerhalb von Sekunden klappen sich in meinem Kopf neue Welten auf. Es entfalten sich neue Horizonte, neue Dimensionen. Leider keine so Guten. Eine dieser Dimensionen ist charakterisiert durch eine Skala, dessen Einheit ich nicht kenne. Jedoch ist mir klar, dass am Ende der Skala der Tod steht. Nichts anderes als der Tod. Wie übel. Wir reden hier von Krebs und nicht von einem Schnupfen. Diese neue Welt vergleiche ich mit den Parallelwelten aus den Filmen »Matrix« oder »Inception«. Nicht jeder Mensch hat Zugang, nur die »Auserwählten«, die Besonderen. Ja genau, ich nenne sie von nun an die Matrix.

In den nächsten Wochen und Monaten werde ich noch erfahren, dass die Matrix andere Gesetze kennt als die normale Welt. Auch werde ich erfahren, dass ich trotz der Corona-Krise im normalen Leben immer noch Menschen um mich haben werde. Meine Frau. Meine Tochter. Meine Eltern. Krankenschwestern und Ärzte. Andere Patienten. In die Matrix kann mich jedoch niemand begleiten. Hier werde ich allein sein.

Die meisten Menschen haben Glück und machen diese Erfahrung, in solch eine düstere Welt geschickt zu werden, in ihrem Leben gar nicht. Ihnen bleibt diese alternative dunkle Welt, diese bösen Dimensionen, diese unheimliche Matrix, für immer verborgen. Mir aber nicht. Ich spüre sie schon. Ich sehe neue Sachen. Ich habe neue Gedanken im Kopf. Ich bin auf einmal ein anderer Mensch. Von einer Sekunde auf die andere. Ich bin nun mitten drin.

Die haben mir gerade gesagt, dass ich Krebs habe. Wie krass. Gerade war doch noch alles in Ordnung.

Ein bisschen wie »Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein ...« Eine neue Reise. Nur irgendwie anders. Und nicht ganz so lustig.

Ich liebe Reisen. Ich möchte jede Ecke dieses herrlichen Planeten sehen. Menschen. Gesichter. Farben. Landschaften. Essen. Düfte. Alles will ich noch erleben. Die kommende Reise hatte ich jedoch nie geplant. Vor allem nicht jetzt. Mitten im Leben. In der besten Zeit. Doch nicht jetzt. Und könnte es vielleicht auch meine letzte Reise sein?

Nun aber geht es schon los. Ohne Vorwarnung. Der Zug fährt los. Bitte einsteigen.

Die Assistentin lächelt mich zur Verabschiedung an und sagt: »Alles Gute für Sie!« Was sie wohl denkt? Ziemlich geknickt verlasse ich das Arztzimmer und laufe einsam den sterilen und kargen Korridor entlang.

»Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein ...«

Ein Abend in Joo Chiat

14. April 2015

Es ist ein ganz normaler Arbeitstag für mich. Ein ganz normaler Dienstag. Nach der Arbeit steige ich wie immer in Bishan inmitten der Insel in die MRT. Das ist so was wie die U-Bahn. Sie befindet sich nur ein paar Fußminuten vom Hauptgebäude entfernt. Die Fahrt nach Dakota dauert circa 20 Minuten. Auf der Fahrt lese ich meistens News auf dem Handy. Manchmal beobachte ich einfach die anderen Leute. Fahrten in der MRT sind immer interessant. Die Gesichter. Die Menschen. Chinesen, Inder, Malaien, sicherlich auch mal Afrikaner und natürlich viele Europäer oder Aussies. Und natürlich viele weitere Nationalitäten. Ein sehr bunter Haufen ist das meistens.

Obwohl in der MRT der Löwenstadt eine hochdisziplinierte, eher zurückhaltende Stimmung herrscht, ist es oft sehr interessant für mich. Ich kann mich gut an den Moment erinnern, als ich mit meinem Vater, der mich einmal besuchte, das erste Mal mit der MRT fuhr. Irgendwie kam er aus dem Betrachten dieser vielen verschiedenen Menschen und dem Studieren ihrer exotisch-fremden Gesichtszüge gar nicht mehr heraus. Er war noch nie in Asien gewesen und staunte nicht schlecht.

Bemerkenswert: In Singapur wird man im Gegensatz zu so ziemlich jedem anderen Land in Südostasien nie angeglotzt oder aufgrund seines Aussehens begutachtet. Viel zu multi-kulti ist es hier. Sehr angenehm. Nicht mal kleine indische Jungs oder Mädels oder kleine Chinesen schauen einen staunend an. Sie kennen unsere Gesichter schon. Hier fällt niemand aufgrund seines Aussehens, seiner Hautfarbe oder seiner Kleidung auf. Es ist ein wahrer Melting-Pot der Kulturen. Ich dachte mir immer, wenn die Marsmenschen doch mal zu uns rüber (oder runter) kämen und in Singapur angelangten, würde sie niemand bemerken.

Nachdem ich in Dakota ankomme, schlendere ich rüber zur Bushaltestelle. Wie jeden Tag. Der Himmel färbt sich schon leicht rosa. Es kündigt sich hier schon eine tolle Abendstimmung an. Nach fünf Minuten warten steige ich in den 16er-Bus Richtung Joo Chiat. Er ist recht voll, sodass für mich und für viele andere nur ein Stehplatz an der Stange übrigbleibt. Selbst nach erst vier Monaten in der neuen Welt kenne ich schon ein paar Gesichter im Bus Richtung zuhause. Manche sehe ich fast jeden Tag. Zur fast gleichen Zeit. Oft stelle ich mir vor, was die wohl arbeiten und wie die wohl leben ...

Beim Einbiegen in die Joo Chiat Road stellen sich bei mir dann immer heimische Gefühle ein. Das ist mein Viertel, meine Hood, mein Kampong, wie man hier sagt. Hier komm ich her, das habe ich mir so ausgewählt. Diese Ecke Singapurs ist bei vielen eher unbekannt. Eher wenige Touristen schaffen es auf ihren Sightseeing-Touren hierher. Obwohl es eigentlich gar nicht so weit vom Stadtzentrum entfernt ist. Trotzdem kommen wenig Touris hierher. Zum Glück. Bevor man hierherkäme, müsste man erst mal die Marina Bay, das MBS, Gardens by the Bay, Chinatown, Little India, Kampong Glam und den Zoo und Pulau Ubin und vieles mehr besuchen. Locals, mit denen ich über meine neue Hood rede, kennen Joo Chiat schon. Es ist ihnen wohl angenehm bekannt.

Für viele steht Joo Chiat für die wunderschönen, liebevoll gestalteten, bunten Peranakan-Häuschen. Für andere ist es bekannt für die zahlreichen guten und authentischen Food Courts und Restaurants. Ein anderer Local meint, dass oben in der Joo Chiat Road ja immer so viele »Vietnamese Girls« abends stehen. Tatsächlich verwandelt sich der obere Teil der Straße Richtung Geylang jede Nacht in einen Mini-Rotlichtbezirk mit hübschen, leicht bekleideten Viet-Girls und vielen Bars und Bier und Whisky und so … Auch die Nähe zum East Coast Park Richtung Süden, also Richtung Meer, ist vielen bekannt. Trotzdem wählen meine Kollegen und eigentlich alle, die ich in Singapur kennenlerne, andere Gegenden zum Wohnen aus. Ich nicht. Ich entschied mich für die beste Ecke. Meine Hood. Mein Joo Chiat.

Unzählige kleine Restaurants, Läden aller Art, Food Courts. Aber auch Künstlergeschäfte. Bunte Peranakan-Häuser. Knallbunte Häuser. Immer tropisch geschmackvoll dekoriert mit prallen, immergrünen Pflanzen. Die Straßen nie überfüllt. Eigentlich ziemlich entspannt hier. Richtung Süden, also Richtung Meer, kommt sogar ein bisschen Beach-Stimmung auf. Hinter jeder Ecke kann irgendwas für einen Europäer Abgefahrenes oder Lustiges lauern. Und oft passiert das auch. Coole Gegend.

An meiner Zielhaltestelle angekommen steige ich aus dem Bus und erreiche nach circa 15 Metern »Ali«. Ali ist für mich die Kurzform für dieses Muslim Food Restaurant, das ich oft zum Abendessen besuche, bevor ich dann nach Hause gehe. Hier koche ich nicht und mache mir selten zuhause was zu essen. Das Essen auf der Straße in den zahlreichen Restaurants ist zu gut und zu günstig. Auch heute mache ich das. Natürlich geschieht alles draußen. Es ist wie immer warm. Man könnte sagen schwül. Direkt neben der Straße sind die zahlreichen gelben Plastiktische und Plastikstühle aufgebaut. Auch hier ist es nie ganz voll. Es ist immer ein Platz für mich da. Das Knallgelb der Tische hätte sich bei genauem Hinschauen mit den eleganten Pastellfarben der Peranakan-Häuser beißen müssen. Fiel mir aber nie auf. Es ist selbstverständlich, dass man draußen sitzt. Es ist immer warm. Auch abends und nachts.

Es gibt tolle, einfache Sachen hier zu essen. Muslim Indian Food. Indisch aus dem muslimischen Norden Indiens. Etwas anders als das »klassische« indische Essen. Aber auch typische einfache Malai-Gerichte. Roti Prata oder Chicken Briyani. Aber auch Mee Goreng. Ich setze mich an einen freien Plastiktisch. Zunächst bestelle ich bei dem freundlichen jungen Mann, der an meinen Platz kommt, einen Sugar Cane Juice. Zuckerrübensaft. Frisch gepresst aus Zuckerrübenstangen. Oft kann man dabei zuschauen, wie die Zuckerrübenstangen einfach durch eine Presse gegeben werden und unten ganz einfach der süße Saft raustropft. Selbst das Zugucken hierbei macht Spaß und vermittelt ein Gefühl von Urlaub. Ein Traum. Neben Apple Sour Plum, also Apfelsaft vom grünen Apfel mit Sauerpflaumenstückchen, ist der Sugar Cane Juice mein Favorit. Jeden Tag.

Zum Essen bestelle ich Banana Prata. Roti Prata ist typisch für die malaiische Küche. Jetzt mal stümperhaft ausgedrückt, eine Art deftiger Pfannkuchen mit roter Currysoße. Klingt nicht so besonders. Ist es aber. Und tausendmal besser als ein normaler Pfannkuchen. Meine Version ist mit Bananenstückchen. Zusammen mit der scharfen Soße eine gewagte Kombination, könnte man denken. So einfach und doch so gut. Ich brauche gerade kein Kaviar oder ein Wagyu-Steak und Champagner sowieso nicht. Banana Prata – wohlgemerkt für sehr wenig Geld – ist meine Wahl für den perfekten Abend wie heute. Schmeckt himmlisch. Serviert wird auf einem grünen Plastikteller. Nur das Besteck scheint aus Metall zu sein. Das Essen ist so einfach und doch so unbeschreiblich lecker.

Läden wie diesen hier gibt es zig in der Straße. Hunderte im Viertel. Tausende in Singapur wahrscheinlich. Millionen in Asien möglicherweise. Nichts Besonderes. That’s Asia.

Es wird bald dunkel. Hier bedeutet das allerdings nicht, dass es abkühlt. Ich genieße in aller Ruhe mein einfaches, aber doch so feines Essen und meinen Drink. Das Getränk eiskalt mit Eiswürfeln, um höchste Erfrischung zu garantieren. Die farbenfrohen Häuser der Straße um uns herum verblassen langsam, ohne ihre schlichte Eleganz einzubüßen. Allein die Form verrät selbst im Dunkeln, dass alles bunt ist. Langsam wird die Straße etwas quirliger und Lichter gehen an. Mehr Menschen, die essen gehen.

Ich sitze hier allein am Tisch. Allein bei »Ali« bin ich aber nicht. Habe noch mein Arbeitsdress an. Also eine Jeans mit Hemd und nicht ganz unschicken Schuhen. Ich passe hier in Alis Laden eigentlich gar nicht rein. Ich bin der einzige Ang Mo. Ein Ang Mo, das ist hier die Bezeichnung für einen Weißen. Übersetzt bedeutet das so was wie »Rotes Haar«. Sonst nur Malays, Inder und andere Locals. Wenn sie mich nicht an meiner großen Nase als Europäer erkennen würden, dann an meinen natürlich fast schon comedy-mäßigen, ungewollten Schweißflecken am Hemd. Zum Beispiel unter den Armen. Die Locals schwitzen irgendwie nicht so sehr wie ich.

Meistens haben die Männer in ihrer Freizeit auch eher Muscle-Shirts, kurze Hosen und Flip-Flops an. Die Frauen in diesem muslimischen Restaurant hier tragen Kopftuch. Bunte lebensfrohe Kopftücher, nicht schwarz. Bei vielen sieht das toll aus. Vor allem natürlich bei den hübschen jungen Damen. Die jüngeren muslimischen Mädels tragen auch Kopftuch. Sie beschäftigen sich mit ihren Handys genauso wie unsere kleinen Mädels in Stuttgart. Kein Unterschied. Eigentlich sind sie unseren Mädels doch sehr ähnlich. Die anderen Gäste hier beten alle einen anderen Gott an als ich, soviel ist sicher. Allah oder Shiva. Natürlich könnte bei den Locals auch ein Christ dabei sein. Aber who cares eigentlich?

Ich bin anders. Aber ich falle nicht auf. Niemand schaut mich an. Ich bin einer von denen hier. Als hätten sie mich als Mitbürger von Joo Chiat offiziell anerkannt. Ich bin ein Teil von diesem Ort. Zumindest jetzt. Ein Original. Ich lebe jetzt auch hier. So weit weg vom Schwabenländle und von meinem Elternhaus.

Auch dieser kleine Essenstempel ist für mich ein unscheinbares kleines Fleckchen Paradies. Auf jeden Fall in diesem Moment. An diesem perfekten Sommerabend. Ich sage Sommerabend, weil in Singapur jeder einzelne Abend im Jahr ein Sommerabend ist. Und ich darf dabei sein. Als Original. Ich bin auch ein Local jetzt, obwohl ich offensichtlich anders aussehe und kein Asiate bin. Ich sitze hier etwas länger als sonst. Ich genieße einfach alles, was passiert. Beobachte, was in der Straße passiert. Besser als jedes Game oder jeder Kinofilm.

Ich gehöre jetzt auch hier hin. Und ihr habt mich akzeptiert. Danke.

So. Ich erwache wieder aus meinem kleinen Rausch der Glückseligkeit und stehe auf und gehe zur Kasse. Überall hängen Früchte. Und auch Gewürze. Die meisten kenne ich nicht. Und Bilder von indischen Göttern. Der mit dem Elefantenkopf ist Ganesha. Alles ist irgendwie chaotisch und doch so liebenswert. Ich glaube, ich habe nie ganz verstanden, wer von den vier oder fünf Kellnern eigentlich was macht. Scheint jedes Mal anders zu sein. Ich bezahle oft für das gleiche Essen geringfügig unterschiedliche Summen. Ich rege mich aber nicht darüber auf und finde es eher amüsant. Der Mann an der Kasse kann vielleicht einfach nicht so gut rechnen. Oder er will mich halt abzocken. Ich nehme es ihm nicht übel. Er lächelt ja dabei. Ich zurück.

Nun mache ich mich auf den Heimweg zu meiner kleinen Wohnung in der Tembeling Road. Ich passiere, wie jeden Morgen auf dem Hinweg zur Arbeit, diesen Vorgarten der Nachbarn mit den betörend duftenden Blumen. Auch jetzt benebelt mich dieser liebliche tropische Duft im Vorbeilaufen mit seiner unwiderstehlichen tropischen Umarmung. Es ist herrlich ruhig hier, nur wenige Schritte von der belebten und bunten Joo Chiat Road. Man sieht den Mond.

Obwohl ich recht langsam gehe und wieder mal genieße, bin ich schon nach knapp drei Minuten zuhause angelangt.

Ich liebe die nächtliche Tropenwärme auf der Haut und den Geruch von was auch immer. Die schönen kleinen Häuschen hier im Viertel. Die Ruhe. Irgendwie liebe ich gerade alles hier. Auch wenn ich es immer wieder versuche, kann ich nicht beschreiben, warum ich mich hier so wohlfühle. Das ist mein Viertel. Mein Kampong.

Nur ein kleiner Augenblick

März 2020

Es ist tatsächlich nur ein kleiner Moment und alles wird anders. Von einer Sekunde auf die andere ändern sich die Geschicke. Die Welt ordnet sich neu. Offensichtlich kann es dann, wenn es sein muss, sehr schnell gehen.

Auch bei mir war es von gefühlt kerngesund bis krebskrank nur ein kleiner, zarter Augenblick. Der Flügelschlag des Schmetterlings. Zwar sendete der Körper Zeichen der Erkrankung schon zuvor, aber das wollte man ja nicht so wahrnehmen. Von einer Sekunde auf die andere ändert sich das Leben.

Es ist tatsächlich dieser prominente kleine Moment, in dem sich alles ändert. Wie genau und mit welchen Konsequenzen weiß man nicht, aber es ist klar, dass sich schlagartig alles in galaktischer Dimension verschoben hat und man auf einmal alles neu ordnen muss.

Der Moment der Diagnose ist sicherlich das Schwerste gewesen. Weil man sich nicht darauf vorbereiten kann und nie im Leben mit so etwas rechnet. Und weil man nicht genau weiß, was kommen wird. Weil auf einmal diese komische neue, dunkle Dimension dazukommt. Und weil man sich instinktiv irgendwie heftig dagegen wehrt.

Es ist, als würde der große Master da oben einen riesigen Schalter umlegen. Von »Alles gut« auf »Nicht mehr so gut«. Von »Glück« auf »Unglück« eben. Von »Gute Zeiten« auf »Schlechte Zeiten«. Und es gibt keinen Reset-Button.

Ja, der Moment der Diagnose war einfach nur brutal. Es war für mich das einzige Mal in meinem Leben, wo ich wirklich das Gefühl hatte, dass die Erde aufgehört hatte, sich zu drehen und alles wirklich still stand. Und überhaupt nichts anderes mehr zählte.