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»ICH BIN EINE LÜGNERIN.
ICH BIN EINE DIEBIN.
ICH BIN HOCHGRADIG MANIPULATIV.«
Schon als kleines Kind weiß Patric Gagne, dass sie anders ist. Sie liebt ihre Familie, empfindet Glück und Wut, doch Emotionen wie Reue, Scham oder Mitgefühl sind ihr fremd. Als Heranwachsende beginnt sie zu stehlen, beobachtet fremde Menschen durch Küchenfenster, verletzt eine Mitschülerin – und fühlt nichts dabei.
In diesem bewegenden Memoir entfaltet sich die Geschichte einer Frau, die mit dem Stigma ihrer Diagnose ringt und gleichzeitig versucht, Beziehungen aufzubauen. Als sie ihre Jugendliebe wiedertrifft, öffnet sich eine Tür zu einer Welt, in der Hoffnung und Liebe möglich sind. Kann Patric die Ketten ihrer Vergangenheit sprengen und das Monster in ihrem Inneren zähmen?
»Sie ist fesselnd, wie eine Filmfigur – eine Soziopathin, die schön, warmherzig und witzig, wortgewandt und charmant ist« THE GUARDIAN
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Seitenzahl: 606
Veröffentlichungsjahr: 2025
Gefühle wie Angst, Schuld und Empathie sind Patric fremd. Sie tut ihr Bestes, um so zu tun, als wäre sie wie alle anderen, aber der ständige Druck, sich anzupassen, ist unerträglich. Also stiehlt sie. Sie lügt. Sie ist gelegentlich gewalttätig. Sie wird eine Expertin für Einbrüche und Stalking.
Im College bestätigt sich schließlich, was sie schon lange vermutet hat: Patric ist eine Soziopathin. Eine Diagnose, für die es keine Behandlung gibt, keine Hoffnung auf ein normales Leben. Kann es für sie dennoch einen Weg geben, ein erfülltes Leben zu führen und sich in die Gesellschaft zu integrieren? Und vor allem: Kann sie ihn finden, bevor ihr eigenes Verhalten einen Schritt zu weit ging?
Das fesselnde Memoir einer Frau über ihr Leben am Rande des Gesetzes, eine wunderbare Liebesgeschichte und ein bewegender Bericht über den Kampf um ein tieferes Verständnis für Menschen, die wie sie Soziopath*innen sind.
Meine Geschichte
Aus dem amerikanischen Englisch
von Britta Fietzke
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Sociopath« bei Simon & Schuster, New York.
Alle Ratschläge in diesem Buch wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.
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Deutsche Erstausgabe April 2025
Copyright © 2024 der Originalausgabe: Patric Gagne
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Petra Hoffmann
Umschlag: Uno Werbeagentur, München nach einem Entwurf von Rodrigo Corral/Pan Macmillan
Umschlagmotiv: privat
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
IJ ∙ CF
ISBN 978-3-641-32960-0V001
www.goldmann-verlag.de
Für David
Inhalt
Einleitung
Erster Teil
Ehrliches Mädchen
Schichten
Florida
Alarmiert
Mrs. Rabbit
Pläne
Zweiter Teil
Farbflecken
Kleine Erdbeben
Rezept vom Arzt
Geständnis
Borderline
Falschiopath
Zu Hause
Freiheit
Punk’d
Abgrund
Orion
Dritter Teil
Rebel Tell
Anonym
Schall und Rauch
Exposition
Gesellschaft
Transparenz
Killer Queen
Rorschach
Epilog: Moderne Liebe
Danksagung
Jeder Heilige hat eine Vergangenheit
und jeder Sünder eine Zukunft.
Oscar Wilde
Die Geschichte auf den folgenden Seiten ist wahr. Auch wenn ich mein Bestes gegeben habe, sie möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben, wurden doch einige Zeitstränge verdichtet, manche Dialoge rekonstruiert und ein paar Personen zu einem Buchcharakter zusammengefasst. Bestimmte Namen, Daten und Details habe ich abgeändert, um die Unschuldigen (und die nicht ganz so Unschuldigen) dahinter zu schützen.
Einleitung
Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub. Ich schmeiße zu jedwedem Anlass eine Party. Ich lebe in einem schönen Haus. Ich bin Schriftstellerin. Ich koche gern. Ich gehe wählen. Ich bringe Menschen zum Lachen. Ich habe einen Hund und eine Katze, und ich stehe wartend neben anderen Frauen mit Hunden und Katzen in der Schlange für die Schulfahrgemeinschaften unserer Kinder.
Von außen betrachtet gleiche ich fast jeder anderen durchschnittlichen Amerikanerin. Meine Posts in den sozialen Medien bestätigen mein Dasein als glückliche Mutter und liebenswürdige Partnerin, sie grenzen an Narzissmus. Deine Freunde würden mich wohl als nett bezeichnen. Aber weißt du was?
Ich ertrage deine Freunde nicht.
Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Diebin. Ich bin emotional oberflächlich. Ich bin fast unempfänglich für Reue und Schuldgefühle. Ich bin hochgradig manipulativ. Ich interessiere mich nicht dafür, was andere von mir denken. Ich interessiere mich nicht für Moral. Ich interessiere mich einfach nicht. Punkt. Regeln beeinflussen meine Entscheidungen nicht. Ich bin zu fast allem fähig.
Kommt dir das bekannt vor?
Da du dieses Buch in die Hand genommen hast, gehe ich stark davon aus. Auch du könntest dann ein Soziopath beziehungsweise eine Soziopathin sein. Oder du kennst eventuell einen Menschen, dessen Persönlichkeit sich auf dem soziopathischen Spektrum befinden könnte. Und da reden wir nicht mal von tatsächlich Kriminellen. Ärzte, Anwältinnen, Lehrer, Postbotinnen … Soziopathen verstecken sich überall, und das vor aller Augen. Du musst nur nach ihnen Ausschau halten.
Ich habe schon früh Ausschau gehalten. Als Kind, als die anderen in meiner Nachbarschaft ihre Fahrräder fuhren und sich mit weiteren Kindern zum Spielen trafen, las ich Krimis. Vor allem True Crime. Mich faszinieren die menschlichen Abgründe. Was bringt Menschen dazu, böse zu sein? Was befähigt sie dazu? Ich wollte das wissen.
Als ich also über das Wort »Soziopath« stolperte, dachte ich, ich hätte meine Antwort gefunden. Ich hatte davon schon mal gehört. Was aber bedeutete es? Was ist denn ein Soziopath? Ich ging davon aus, dass mir das Wörterbuch dies erklären würde. Allerdings fand ich das Wort nicht in meiner abgenutzten, vergilbten Ausgabe, die 1980 bei Funk & Wagnalls erschienen war.
Davon ausgehend, dass es ein Fehler sein musste, betrat ich das Arbeitszimmer meiner Mutter und warf einen Blick in ein anderes Wörterbuch. Ihre Ausgabe war neuer. »Soziopath« musste da doch sicherlich drinstehen. Tat es aber nicht. Ich sah die Stelle, an der ich es hätte finden sollen – genau zwischen »Soziologie« und »Sozius« –, aber das Wort fehlte. Als würde es nicht existieren. Doch ich wusste es besser.
Ich hatte es schon in Büchern gelesen. Ich hatte es in den Nachrichten aufgeschnappt. Ich hatte es in der Schule gehört. Ich hatte es in meinem Tagebuch notiert. Ich wusste, dass es da draußen irgendwo eine Definition für das Wort »Soziopath« geben musste, ich musste sie nur finden.
Im Nachhinein ergibt das alles Sinn. Ich bin eine promovierte Psychologin, ich kann also nicht anders, als über die durchtriebene Genialität des Unterbewusstseins zu staunen, das uns zu bestimmten Themen hintreibt oder dafür sorgt, dass uns andere wiederum egal sind. Laut Freud gibt es keine Zufälle. Allerdings muss man keine Doktorarbeit geschrieben haben, um zu wissen, warum ich dieses Feld für mich gewählt habe. Man muss Freud nicht verstehen, um die Verbindung zu sehen. Man muss nicht an das Schicksal glauben, um verstehen zu können, dass mich mein Weg niemals hätte woanders hinführen können.
Die Warnzeichen waren von Anfang an da. Ich wusste bereits im Alter von sieben Jahren, dass etwas anders war. Ich kümmerte mich nicht um das, was andere Kinder interessant fanden. Manche Gefühle – wie Freude und Wut – kamen ganz natürlich auf, wenn auch eher sporadisch. Die sozialen Gefühle – wie Schuld, Empathie, Reue oder sogar Liebe – jedoch nicht. Die meiste Zeit fühlte ich nichts. Also machte ich »schlechte« Sachen, um das Nichts zu vertreiben. Ich stand wie unter Zwang.
Wenn du mich damals gefragt hättest, hätte ich diesen Zwang wie einen Druck beschrieben, eine Art Spannung, die sich in meinem Kopf aufbaut. Er ist vergleichbar mit dem langsam hochsteigenden Quecksilber in alten Thermometern: erst fast unmerklich, wie ein kleines Echozeichen auf meinem sonst friedlichen geistigen Radar. Mit der Zeit wurde er jedoch immer stärker. Und am schnellsten milderte ich den Druck ab, indem ich etwas unbestreitbar Falsches tat, etwas, das mit Sicherheit bei den anderen eine der Emotionen auslöste, die ich nicht fühlen konnte. Also machte ich das.
Als Kind wusste ich nicht, dass es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Ich wusste nichts über Emotionen oder Psychologie. Wusste nicht, dass das menschliche Gehirn evolutionsbedingt auf Empathie ausgelegt ist oder dass der Stress, den ein Leben ohne natürlichen Zugriff auf die eigenen Gefühle mit sich bringt, vermutlich eine der Ursachen für zwanghafte Gewalttaten und destruktives Verhalten ist. Ich wusste nur, dass ich gern etwas tat, das mich etwas, irgendetwas fühlen ließ. Denn das war schließlich besser als nichts.
Als Erwachsene kann ich inzwischen erklären, warum ich mich so verhalten habe. Ich kann auf die Forschung verweisen, die die Beziehung zwischen Angst und Apathie untersucht hat und wie der mit inneren Konflikten verbundene Stress Soziopathinnen und Soziopathen anscheinend unterbewusst zu destruktiven Handlungen verleitet. Ich kann davon ausgehen, dass mein Druck höchstwahrscheinlich eine negative Reaktion auf meinen Mangel an Gefühlen war, dass mein Zwang, Grenzen zu überschreiten, wohl die Strategie meines Gehirns war, zu versuchen, so etwas wie »Normalität« herzustellen. Keine dieser Informationen waren aber leicht zu finden, sie mussten regelrecht gejagt werden.
Ich jage noch immer.
»Soziopath« ist ein mysteriöses Wort, dessen Ursprung in jahrhundertealter Wissenschaft liegt, seither aber für alle möglichen Sünden zweckentfremdet wird. Es gibt nicht die eine Definition, zumindest nicht mehr. Das Wort – ähnlich wie die Menschen, die es bezeichnen soll – hat sich zu einer Art Paradox entwickelt. Das Wort »Soziopath« ist ein sich wandelndes Bestimmungswort, dessen Bedeutung oft durch Schmähungen und Groll zugewiesen wird, das aber auch weit mehr Emotionales als Rationales hervorruft. Woran liegt das?
Warum bringt das Wort »Soziopath« die Menschen eher dazu, etwas zu fühlen als darüber nachzudenken? Ironischerweise wollte ich das schon lange vor meiner Diagnose wissen. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Antwort.
In diesem Buch geht es um diese Mission, um eine Mission, über die ich schreiben musste, weil die gelebte Erfahrung mit der Soziopathie es verdient hat, dargestellt zu werden. Um eins jedoch auch vorweg klarzustellen: Ich möchte den Ernst dieser Störung keinesfalls kleinreden. Ebenso wenig möchte ich sie romantisieren. Die Soziopathie ist ein bedrohlicher Geisteszustand, dessen Symptome, Ursachen und Behandlungen der Forschung und der klinischen Aufmerksamkeit bedürfen. Das ist aber auch genau der Grund, weshalb ich meine Geschichte mit der Welt teilen wollte: damit die Menschen, die von Soziopathie betroffen sind, die Hilfe bekommen, die sie schon viel zu lange benötigen. Und – als möglicherweise wichtigster Faktor – damit andere Soziopathen und Soziopathinnen sich vielleicht selbst in einer Person wiedererkennen, die mehr zu bieten hat als nur Finsternis.
Natürlich werden sich nicht alle in meinen Erfahrungen wiederfinden. Schließlich verdanke ich es reinem Glück, dass ich meine Geschichte erzählen kann. Ich verdanke es dem Glück, in eine Welt hineingeboren worden zu sein, in der ich jegliches Privileg genießen kann. Ich bin mir der Tatsache überaus bewusst, dass mein Leben wohl gänzlich anders verlaufen wäre, wenn meine Hautfarbe, mein gesellschaftlicher Status oder mein Geschlecht anders gewesen wären. Es war teilweise pures Glück, das mich auf den Weg brachte, die Rätsel meines Leidens zu erforschen und mir ein Leben aufzubauen, in dem ich erfreulicherweise anderen helfen kann. In der Tat verdanke ich es einfach Glück, dass dieses Buch existiert. Und es ist Glück, dass ich nun den Wert der Identifikationsmöglichkeit und Repräsentanz nachempfinden kann.
Die meisten Soziopathen sind nicht wie die Figuren in Filmen. Sie ähneln nicht den Serienmördern in Killing Eve oder Dexter oder den eindimensionalen Antagonisten in vielen Kriminalromanen. Sie sind komplexer als die fiktionalen Beispiele aus Der Soziopath von nebenan. Für ihre Diagnose bedarf es mehr als die zwanzig Fragen in »Sind Sie ein Soziopath?«-Tests in Hochglanzmagazinen, genauso wie YouTube-Tutorials über Soziopathen nicht ausreichen, um sie zu verstehen.
Du denkst, du kennst einen Soziopathen oder eine Soziopathin? Ich wette, damit hast du recht. Ich wette aber auch, dass es definitiv nicht die Person ist, von der du es denkst. Entgegen der landläufigen Meinung sind Soziopathen mehr, als ihre reinen Persönlichkeitsmerkmale vermuten lassen. Sie sind Kinder, die Verständnis brauchen. Sie sind Patienten und Patientinnen, die sich eine Bestätigung erhoffen. Sie sind Eltern, die nach Antworten suchen. Sie sind menschliche Wesen, die Mitgefühl brauchen. Allerdings lässt sie das System im Stich: Schulen erkennen sie nicht, Experten behandeln sie nicht. Sie haben wortwörtlich keinen Ort, an den sie sich Hilfe suchend wenden können.
Repräsentanz ist wichtig. Ich biete hier meine Geschichte an, weil sie die Wahrheit aufzeigt, die sich niemand eingestehen möchte: dass die Finsternis dort ist, wo man sie am wenigsten vermutet. Ich bin eine Kriminelle ohne Vorstrafen. Ich bin eine Meisterin des Verstellens. Ich wurde noch nie erwischt. Ich habe selten bereut. Ich bin freundlich. Ich bin verantwortungsbewusst. Ich bin unsichtbar. Ich passe mich wunderbar an. Ich bin eine Soziopathin des 21. Jahrhunderts. Und ich habe dieses Buch in dem Wissen geschrieben, dass ich nicht allein bin.
Erster Teil
Ehrliches Mädchen
Jedes Mal, wenn ich meine Mutter frage, ob sie sich noch daran erinnern kann, wie ich mal in der zweiten Klasse einem Kind einen Bleistift in den Kopf gerammt habe, bekomme ich dieselbe Antwort: »Dunkel.«
Und das glaube ich ihr auch. Denn so viel aus meiner frühen Kindheit liegt im Dunkeln. An manches kann ich mich noch mit absoluter Klarheit erinnern, an den Geruch der Bäume im Redwood-Nationalpark und an unser Haus auf dem Hügel in der Nähe des Stadtzentrums von San Francisco. Oh Mann, wie habe ich dieses Haus geliebt! Ich kann mich noch an die dreiundvierzig Stufen erinnern, die aus dem Erdgeschoss in mein Zimmer im fünften Stock führten, und an die Stühle im Esszimmer, auf die ich immer kletterte, um die Steine aus dem Kristallleuchter zu klauen. Anderes wiederum ist weniger klar. Wie der Tag, als ich mich das erste Mal ins Haus unserer Nachbarn stahl, als sie nicht da waren. Oder woher ich das Medaillon mit dem gravierten »L« habe.
In dem Medaillon befinden sich zwei Schwarz-Weiß-Fotos, bei denen ich mir nie die Mühe gemacht habe, sie zu entfernen, und manchmal kann ich nicht umhin, sie anzustarren. Wer waren diese Leute? Wo kamen sie her? Ich wünschte, ich wüsste es. Es ist gut möglich, dass ich das Medaillon auf der Straße gefunden habe, es ist aber wahrscheinlicher, dass ich es geklaut habe.
Ich fing mit dem Klauen noch vor dem Sprechen an. Oder glaube das zumindest. Ich kann mich nicht an das erste Mal erinnern, nur daran, dass ich im Alter von sechs oder sieben Jahren bereits eine ganze Kiste voller geklauter Gegenstände in meinem Schrank hatte.
Irgendwo in den Archiven des People-Magazins gibt es ein Foto von Ringo Starr und mir als Knirps auf seinen Armen. Wir stehen in seinem Garten – nicht allzu weit von meinem Geburtsort in Los Angeles entfernt, wo wiederum mein Vater als Manager in der Musikbranche arbeitete – und ich stehle Ringo wortwörtlich die Brille von der Nase. Klar, ich war sicherlich nicht das erste Kind, das mit der Brille eines Erwachsenen spielen wollte, aber wenn ich so auf die Brille dort in meinem Bücherregal hinüberschaue, bin ich mir doch ziemlich sicher, dass ich das einzige Kind war, das einem Beatle eine Brille stibitzt hat.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich war keine Kleptomanin. Kleptomanen sind Menschen mit einem anhaltenden und unwiderstehlichen Drang, Gegenstände an sich zu nehmen, die ihnen nicht gehören. Ich litt unter einer anderen Art Druck, einem Zwang, geboren aus dem Unbehagen der Apathie, der fast unbeschreiblichen Abwesenheit der üblichen sozialen Emotionen wie Scham und Empathie. Natürlich verstand ich damals nichts von alledem. Ich wusste nur, dass ich nicht so wie andere Kinder fühlte. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, wenn ich log. Ich hatte kein Mitgefühl, wenn sich meine Klassenkameraden auf dem Spielplatz wehtaten. Ich fühlte die meiste Zeit einfach gar nichts. Und ich mochte dieses Gefühl des »Nichts« nicht. Also machte ich Sachen, die dieses Nichts durch ein … Etwas ersetzten.
Als Erstes überkam mich eine Anwandlung, dieses Nichts zu beenden, ein unerbittlicher Druck, der sich so sehr ausweitete, dass er mich vollständig erfüllte. Je länger ich ihn ignorierte, desto schlimmer wurde er. Meine Muskeln spannten sich an, mein Magen verkrampfte sich. Immer stärker. Und stärker. Es war beengend, als wäre ich in meinem Gehirn eingesperrt. In einer Leere eingesperrt.
Meine bewussten Reaktionen auf die Apathie fingen banal an. Jemanden zu beklauen, war nicht etwas, was ich tun wollte, es war nur der einfachste Weg, um den Druck zu lösen. Diese Verbindung stellte ich das erste Mal in der ersten Klasse fest, wo ich hinter einem Mädchen namens Clancy saß.
Der Druck hatte sich tagelang aufgebaut. Ohne zu wissen, warum, wurde ich von Frustration überwältigt und hatte das Bedürfnis, etwas Brutales zu tun. Ich wollte aufstehen und meinen Tisch umschmeißen. Ich stellte mir vor, ich würde zu der schweren Stahltür laufen, die uns vom Spielplatz trennte, und meine Finger darin einquetschen. Kurz dachte ich, ich würde es wirklich tun. Dann aber sah ich Clancys Haarspange.
Sie hatte zwei davon im Haar, rechts und links je eine pinke Schleife. Letztere war nach unten gerutscht. Nimm sie, befahlen mir meine Gedanken plötzlich. Dann geht es dir besser.
Die Idee kam mir seltsam vor. Clancy war meine Mitschülerin. Ich mochte sie und wollte sie ganz sicher nicht bestehlen. Allerdings wollte ich auch das Pulsieren in meinem Kopf unterbrechen und ein Teil von mir wusste, dass es helfen würde. Also streckte ich vorsichtig meine Hand nach der Spange aus und klipste sie auf.
Die pinke Schleife hatte fast keinen Halt und sie wäre auch ohne meine Hilfe wahrscheinlich demnächst runtergefallen. Tat sie aber nun mal nicht. Ich fühlte mich mit der Schleife in der Hand besser, als hätte man etwas Luft aus einem übermäßig aufgeblasenen Ballon gelassen. Der Druck hatte sich verflüchtigt. Ich wusste nicht, warum, aber es war mir auch egal. Ich hatte eine Lösung gefunden – was für eine Erleichterung!
Diese frühen Akte der Verhaltensstörung haben sich wie GPS-Koordinaten in mein Bewusstsein gegraben. Selbst heute noch kann ich mich genau daran erinnern, wo ich die meisten Gegenstände aus meiner Kindheit herhabe, die mir nicht gehörten. Nur das Medaillon mit dem eingravierten »L« kann ich nicht erklären. Es will mir ums Verrecken nicht einfallen, woher ich es habe. Ich erinnere mich jedoch noch genau an den Tag, als meine Mutter es in meinem Zimmer fand und wissen wollte, warum ich es hatte.
»Patric, du musst mir unbedingt sagen, wo du das herhast«, verlangte sie von mir. Wir standen neben meinem Bett. Eins meiner Dekokissen lehnte schief gegen das Kopfende und ich konnte an nichts anderes denken, als daran, es geradezurücken. Aber meine Mutter ließ nicht locker.
»Sieh mich an«, verlangte sie von mir und umfasste meine Schultern. »Da draußen läuft irgendwo jemand herum und vermisst dieses Medaillon. Er vermisst es jetzt gerade und ist traurig, dass es verschwunden ist. Stell dir doch mal vor, wie traurig diese Person jetzt sein muss.«
Ich schloss die Augen und versuchte, mir auszumalen, wie sich diese das Medaillon vermissende Person fühlen musste. Aber ich schaffte es nicht. Ich fühlte nichts. Als ich die Augen wieder öffnete und Blickkontakt mit meiner Mutter aufnahm, wusste ich, dass sie es wusste.
»Süße, hör mir zu«, sagte sie und kniete sich vor mich. »Wenn du dir etwas nimmst, das dir nicht gehört, dann ist das Diebstahl. Und stehlen ist sehr, sehr schlimm.«
Und wieder, nichts.
Mom hielt inne, unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. Sie atmete tief durch und fragte: »Hast du so was schon mal gemacht?«
Ich nickte, deutete auf meinen Wandschrank. Ich zeigte ihr mein Versteck voller verbotener Ware und wir gingen zusammen den Inhalt der Kiste durch. Ich erklärte alle Teile und wo sie hergekommen waren. Als die Kiste leer war, stand sie auf und sagte, wir würden jedes einzelne Teil wieder zu seinem rechtmäßigen Besitzer bringen. Das war mir recht. Ich hatte keine Angst vor Konsequenzen und spürte auch keine Reue – zwei Punkte, bei denen ich bereits begriffen hatte, dass sie nicht »normal« waren. Wenn wir die Teile wieder zurückbrachten, war das sogar gut für mich, denn die Kiste war voll. Wenn wir sie jetzt also wieder leerten, würde ich wieder Raum für Teile haben, die ich noch nicht gestohlen hatte.
Nachdem wir uns alles angeschaut hatten, fragte mich Mom: »Warum hast du das alles geklaut?«
Ich musste an den Druck in meinem Kopf denken und an dieses Gefühl, das mich manchmal dazu verleitete, schlechte Sachen zu machen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. Das stimmte. Ich hatte keine Ahnung, was diese Empfindung in mir auslöste.
»Na gut … Tut es dir leid?«, fragte sie dann.
»Ja«, antwortete ich. Was auch wieder stimmte. Es tat mir leid, aber eher, weil ich stehlen musste, um die Gewaltfantasien zu beenden, und nicht, weil ich jemanden verletzt hatte.
Mom schien mit der Sache abzuschließen. »Ich liebe dich sehr, Süße«, sagte sie zu mir. »Ich weiß nicht, warum du all diese Sachen geklaut hast, aber versprich mir, dass du es mir sagst, wenn du es wieder tun möchtest.«
Ich nickte. Meine Mom war die Beste. Ich liebte sie so sehr, dass mir dieses Versprechen leichtfiel. Zumindest am Anfang. Wir haben die Besitzerin des Medaillons nie gefunden, aber ich wurde mit der Zeit immer besser darin, mir vorzustellen, wie sich die Person gefühlt haben musste, als sie den Verlust bemerkt hatte. Das dürfte dem recht nahekommen, wie ich mich fühlen würde, wenn es jetzt mir jemand wegnähme. So ganz sicher kann ich mir jedoch nicht sein.
Empathie – wie auch Reue – liegt mir nicht. Ich bin baptistisch aufgewachsen, ich wusste also, dass ich mich schlecht fühlen sollte, wenn ich sündigte. Meine Lehrer sprachen über die »Systeme der Schuld« und etwas namens »Scham«, ich verstand jedoch nie, warum all das wichtig sein sollten. Auf intellektueller Ebene verstand ich es, aber ich fühlte es nie.
Es dürfte nicht schwer vorzustellen sein, dass mein Unvermögen, die wichtigsten emotionalen Fähigkeiten zu beherrschen, es mir erschwerte, Freunde zu finden und auch zu behalten. Das soll nicht heißen, dass ich gemein war oder so. Ich war einfach nur anders. Und die anderen wussten meine einzigartigen Eigenschaften nicht immer zu schätzen.
Es war Frühherbst und ich war gerade sieben Jahre alt geworden. Ich war – wie alle anderen Mädchen in meiner Klasse – zu einer Pyjamaparty einer Freundin namens Collette eingeladen worden. Sie wohnte ein paar Häuser weiter. Ich trug meinen pink-gelben Lieblingsrock, als ich bei ihr ankam. Es war ihr Geburtstag, und ich wollte ihr Geschenk unbedingt selbst zur Tür tragen: ein Barbie-Cabrio, eingepackt in bunt schillerndem Papier.
Mom gab mir eine feste Umarmung, bevor ich aus dem Auto stieg. Es machte sie nervös, dass ich meine erste Nacht allein woanders verbringen würde. »Ach, hab keine Angst«, sagte sie zu mir, während sie mir meinen Rucksack und meinen Holly-Hobbie-Schlafsack reichte. »Du kannst jederzeit nach Hause kommen.«
Ich hatte aber gar keine Angst, sondern war freudig erregt. Eine ganze Nacht in einem anderen Haus! Ich konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging.
Die Party machte Spaß. Wir schlugen uns den Bauch mit Pizza, Kuchen und Eis voll, bevor wir uns umzogen. Wir tanzten im Wohnzimmer und spielten im Garten. Um die Schlafenszeit herum verkündete Collettes Mutter dann die »Ruhezeit«. Sie machte einen Film im Wohnzimmer an und wir legten uns im Kreis in unseren Schlafsäcken auf den Boden. Dann schliefen die Mädchen nacheinander ein.
Nach dem Film war ich als Einzige noch wach. Dort, im Dunkeln, war ich mir erneut akut meiner fehlenden Gefühle bewusst. Ich betrachtete meine bewegungslosen Freundinnen. Es hatte etwas Verstörendes, wie sie da mit geschlossenen Augen lagen. Ich nahm meine steigende Anspannung als Reaktion auf meine Leere wahr und verspürte das Bedürfnis, das Mädchen neben mir so hart wie möglich zu schlagen.
Das ist schräg, dachte ich. Ich wollte ihr nicht wehtun, gleichzeitig wusste ich aber, dass es mich entspannen würde. Ich schüttelte den Kopf, um die Versuchung loszuwerden, und wand mich aus meinem Schlafsack, um von ihr wegzukommen. Dann stand ich auf und stromerte durchs Haus.
Collette hatte einen kleinen Bruder, ein Baby namens Jacob. Sein Kinderzimmer befand sich im zweiten Stock und hatte einen Balkon mit Blick auf die Straße. Ich stieg leise die Stufen hinauf und öffnete die Tür. Er schlief, und ich starrte ihn an. Er sah so winzig aus in seinem Gitterbett, viel kleiner als meine kleine Schwester. Eine Decke lag zusammengeknüllt in einer Ecke. Ich hob sie hoch und legte sie ihm über seinen kleinen Körper. Dann wandte ich mich den Balkontüren zu.
Der Riegel klickte leise, als ich die Türen öffnete, und ich trat in die Dunkelheit hinaus. Von dort konnte ich einen Großteil der Stadt sehen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und lehnte mich nach vorn, um die Straße entlangschauen zu können, bis zur Kreuzung einen Block weiter. Ich erkannte den Namen der Straße und wusste, sie lag eine neben meiner. Es dürften nur ein paar Minuten Fußweg nach Hause sein.
Auf einmal wusste ich, dass ich nicht mehr hier sein wollte. Ich mochte es nicht, als Einzige wach zu sein, und ich mochte es wirklich nicht, so ungehindert unterwegs zu sein. Zu Hause hatte ich wenigstens noch Mom, die dafür sorgte, dass ich mich benahm. Aber hier? Wer würde mich abhalten? Und von was? Ich fühlte mich unbehaglich.
Es war dunkel, als ich das Haus verließ, und ich liebte es. Ich fühlte mich unsichtbar und der Druck, den ich bis eben noch gespürt hatte, löste sich in Luft auf. Ich begab mich auf den Bürgersteig, lief nach Hause und betrachtete die Nachbarhäuser auf dem Weg. Wie waren wohl die Menschen, die darin wohnten? Was machten sie? Ich wünschte, ich könnte es herausfinden. Ich wünschte, ich wäre unsichtbar und könnte sie den ganzen Tag beobachten.
Es war kühl und Nebel waberte durch die Straßen, während ich nach Hause lief. »Geisterwetter« nannte Mom das gern. An der Kreuzung zog ich meinen Schlafsack aus meinem Rucksack und wickelte ihn mir wie einen riesigen Schal um. Der Weg zog sich mehr, als ich gedacht hatte, aber es störte mich nicht. Ich warf einen Blick über die Straße und entdeckte ein Haus mit einem offenen Garagentor. Was ist da wohl drin?, fragte ich mich. Bis mir auffiel: Ich kann es herausfinden.
Ich staunte über die Veränderung der Atmosphäre, sobald ich den Bürgersteig verlassen hatte. Die Regeln, so wirkte es zumindest, waren, zusammen mit dem Tageslicht, verschwunden. Es gab in der Dunkelheit, während alle anderen schliefen, keine Einschränkungen. Ich könnte alles tun. Ich könnte überall hingehen. Bei Collette zu Hause hatte sich dieser Gedanke komisch angefühlt, aber hier rief diese Welt der Möglichkeiten den gegenteiligen Effekt in mir hervor. Ich fühlte mich mächtig, als hätte ich alles in der Hand. Ich fragte mich, woher dieser Unterschied kam.
Das Mondlicht leuchtete mir den Weg zu der offenen Garage. Drinnen schaute ich mich in Ruhe um. Ein beiger Kombi war auf der einen Seite darin geparkt, was noch genügend Raum für eine große Auswahl an Spielzeug und anderen Kram ließ. Im Haus müssen Kinder leben, dachte ich. Ich stieß mit meinem Knöchel gegen ein Skateboard, es fühlte sich an wie Sandpapier.
Ich widerstand dem Bedürfnis, es an mich zu nehmen, und lief stattdessen in Richtung Auto, wo ich die hintere Seitentür öffnete. Die sanfte Innenbeleuchtung erhellte die Garage, also sprang ich hinein und zog die Tür hinter mir zu. Ich hielt inne und wartete darauf, dass etwas passieren würde.
Die Stille im Auto war ohrenbetäubend, aber ich mochte sie. Ich musste an den Film Superman denken, in dem Christopher Reeve die Festung der Einsamkeit besucht. »Das hier ist wie meine eigene Kammer«, flüsterte ich. Ich stellte mir vor, wie ich mit jeder weiteren Sekunde stärker werden würde.
Draußen zog eine Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich und ich sah ein Auto vorbeifahren. Es war eine dunkle Familienkutsche und ich kniff beim Hinschauen die Augen zusammen. »Was machst du denn hier?« Ich legte für mich fest, dass das Auto nun mein Feind sein würde.
Schnell öffnete ich die Tür und schlich mich nach draußen, gerade rechtzeitig, um das Auto um die Ecke fahren zu sehen. General Zod, dachte ich herausfordernd. Dann rannte ich wieder über die Straße, dorthin, wo ich meine Sachen gelassen hatte. Als ich mich bückte, um sie einzusammeln, stieg mir der bekannte Geruch unseres Waschmittels in die Nase, und ich entschied, dass es an der Zeit war, nach Hause zu gehen. Ich lief den Bürgersteig möglichst nah an den Bäumen entlang. Ich lief immer schneller, hopste beseelt von einem Schatten zum anderen. Wie können Menschen nur Angst vor der Nacht haben?, rätselte ich glücklich beim Laufen vor mich hin. Das ist der beste Teil des Tages.
Am Fuß des Hügels, auf dem unser Haus stand, war ich hundemüde. Ich machte mich an den steilen Anstieg, meinen Rucksack wie einen Schlitten hinter mir herziehend. Die Seitentür war offen, sodass ich das Haus betreten konnte, ohne anklopfen zu müssen. Ich lief leise die Stufen zu meinem Zimmer nach oben, um möglichst meine Eltern nicht zu wecken. Doch nur wenige Augenblicke, nachdem ich in mein Bett gekrochen war, platzte meine Mutter ins Zimmer.
»PATRIC!«, schrie sie, während sie auf den Lichtschalter schlug. »WASMACHSTDUHIER?!« Ihre Reaktion erschreckte mich, und ich fing an zu weinen. Ich hoffte, sie würde mich verstehen, wenn ich ihr alles erklärte, aber das schien es nur noch schlimmer zu machen. Sie weinte nun auch, mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, aus denen die Tränen über ihre Wangen liefen.
»Süße«, sagte sie irgendwann und zog mich fest an sich. »Du darfst so etwas nie, nie wieder tun. Was wäre gewesen, wenn dir etwas passiert wäre? Was, wenn du nicht nach Hause gekommen wärst?« Ich nickte zustimmend mit dem Kopf, auch wenn mich keine dieser Sorgen wirklich beunruhigten. Im Gegenteil, ich war eher verwirrt. Mom hatte doch gesagt, dass ich jederzeit nach Hause kommen könnte. Warum war sie jetzt so aufgebracht deswegen?
»Weil ich damit gemeint hatte, ich würde dich jederzeit holen kommen«, erklärte sie mir. »Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst.«
Ich versprach es ihr, würde es aber jahrelang nicht beweisen können. Eltern, wie ich schnell feststellen musste, sahen es nicht gern, wenn die Spielkameradinnen, die zu einer Pyjamaparty eingeladen sind, nachts unruhig werden und sich dazu entschließen, allein nach Hause zu laufen. Collettes Mom war nicht gerade erfreut über das, was ich gemacht hatte, und versteckte ihre Missbilligung kein bisschen. Nachdem sie den anderen Eltern davon erzählte hatte, dass ich mich heimlich vom Acker gemacht hatte, wurde ich nirgends mehr eingeladen. Jedoch waren nicht nur die Eltern mir gegenüber misstrauisch geworden, auch die Kinder hatten das Gefühl, dass ich anders war als sie.
»Du bist schräg«, sagte Ava.
Das ist eine meiner wenigen Erinnerungen an die erste Klasse. Ein kindergroßes Puppenhaus stand in der einen Ecke des Raumes und ein paar von uns spielten »Vater-Mutter-Kind«. Ava war eine meiner Klassenkameradinnen. Sie war freundlich und schön, alle mochten sie. Das war einer der vielen Gründe, weshalb sie immer ganz selbstverständlich die Mutter war, wenn wir Vater-Mutter-Kind spielten. Ich zog jedoch eine andere Rolle vor.
»Ich will der Butler sein«, verkündete ich. Ava schaute mich verwirrt an.
Butler, das hatte ich zumindest durchs Fernsehen mitbekommen, hatten den besten Job der Welt. Sie konnten ohne Erklärung für längere Zeit von der Bildfläche verschwinden. Sie hatten einen uneingeschränkten Zugang zu den Jacken und Taschen anderer. Niemand hinterfragte je ihre Handlungen. Sie konnten jedes Zimmer betreten, ohne mit jemandem sprechen zu müssen. Sie konnten andere belauschen. Das war der perfekte Beruf – zumindest für mich. Meine Erklärung fand aber nicht bei allen Anklang.
»Warum bist du so schräg?«, fragte Ava.
Sie wollte damit keineswegs gemein sein. Es war vielmehr eine faktische Aussage, eine Frage, bei der ich wusste, dass ich sie nicht wirklich beantworten musste. Als ich ihr jedoch in die Augen sah, fiel mir bei ihr ein Gesichtsausdruck auf, der mir neu war. Ein ganz besonderer Ausdruck – aus gleichen Teilen Verwirrung, Gewissheit und Angst. Damit war sie nicht allein. Die anderen Kinder starrten mich mit dem gleichen Ausdruck im Gesicht an. Es machte mich argwöhnisch. Als könnten sie etwas von mir sehen, das ich wiederum nicht sehen konnte.
Begierig, das Thema zu wechseln, lächelte ich und verbeugte mich. »Verzeihung, gnädige Frau«, sagte ich in einer möglichst butlerähnlichen Stimme. »Wenn ich Ihnen schräg erscheine, so mag das nur daran liegen, dass jemand den Koch ermordet hat!«
Das war eine Ablenkungstaktik, die ich bereits perfektioniert hatte: Schock mit einer Prise Humor. Alle mussten lachen und schrien auf, als das Spiel nun eine aufregende – wenn auch schaurige – Stimmung annahm, und meine »Schrägheit« war für den Moment vergessen. Ich wusste aber, dass dies nur eine Zeit lang als Lösung funktionieren würde.
Abgesehen von meinem Faible für Diebstahl und Unsichtbarkeit gab es noch etwas an mir, was anderen Kindern unangenehm war. Ich wusste das. Sie wussten das. Und auch wenn wir friedlich als Klassenkameraden koexistieren konnten, so wurde ich doch selten in die Aktivitäten nach der Schule eingebunden. Was mich nicht störte – ich war äußerst gern allein. Jedoch machte sich meine Mutter nach einer Weile Sorgen um mich.
»Ich mag es nicht, dass du so viel allein bist«, sagte sie zu mir. Es war ein Samstagnachmittag und sie war nach oben gekommen, um mal nach mir zu schauen, weil ich mein Zimmer seit mehreren Stunden nicht mehr verlassen hatte.
»Das ist schon in Ordnung, Mom«, erwiderte ich. »Ich mag das.«
Mom runzelte die Stirn, setzte sich auf mein Bett und zog dabei gedankenverloren einen Plüschwaschbären zu sich auf den Schoß. »Ich glaube einfach, dass es dir guttäte, mal Freundinnen zu Besuch zu haben.« Sie hielt inne. »Möchtest du jemanden aus der Schule einladen? Wie wäre es mit Ava?«
Schulterzuckend schaute ich aus dem Fenster. Ich hatte gerade versucht, zu ermitteln, wie viele Bettlaken es bräuchte, um von meinem Zimmer im obersten Stockwerk bis zum Boden draußen zu gelangen. Ich hatte ein paar Tage zuvor eine sogenannte »Notleiter« im Sears-Katalog gesehen und hatte mich auf die Idee versteift, mir so etwas zu bauen. Ich wusste zwar nicht genau, was ich damit anstellen wollen würde, aber ich wusste einfach, dass ich eine bräuchte. Allerdings lenkte mich Mom jetzt von meinem Vorhaben ab.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Klar, Ava ist nett. Vielleicht können wir sie nächsten Monat mal einladen?«
Mom warf den Waschbären zur Seite und stand auf. »Na gut, aber wir haben die Goodmans heute zum Abendessen zu Besuch«, verkündete sie gut gelaunt. »Also spielst du nachher wohl eh einfach mit deren Mädchen.«
Die Goodmans lebten um die Ecke und waren lose Freunde meiner Eltern. Ihre zwei Töchter verbreiteten Angst und Schrecken in der Nachbarschaft, und ich hasste sie. Sydney war eine Mobberin und Tina eine Idiotin. Sie handelten sich andauernd Ärger ein, meist weil Syd ihn herausgefordert hatte. Mich machte ihr Verhalten wütend. Zugegeben, ich war nicht in der Position, sie dafür zu verurteilen, aber damals rechtfertigte ich meine ihnen gegenüber empfundene Ablehnung damit, dass es, so meine Meinung, immer auf die Absicht ankam. Auch wenn meine Handlungen ebenfalls manchmal fragwürdig waren, so brach ich doch keine Regeln, weil ich das toll fand, sondern benahm mich schlecht, weil ich keine andere Wahl hatte. Es war ein Mittel zum Selbstschutz, um mich, und auch andere, vor noch Schlimmerem zu bewahren. Die Goodman-Mädchen wiederum wollten Aufmerksamkeit erregen, waren rücksichtslos und gemein. Die schlechten Dinge, die sie gern machten, dienten keinem besonderen Ziel außer reiner Grausamkeit.
Meine Schwester Harlowe war vier Jahre jünger als ich und immer noch ein Knirps. Wir teilten uns das oberste Stockwerk mit unserer Nanny, einer wunderbaren Salvadorianerin namens Lee. Nanny Lee wohnte im Zimmer neben meinem. Während der Besuche der Goodmans war sie meist damit beschäftigt, Harlowe ins Bett zu bringen, und es verging kaum einer dieser Besuche, ohne dass Syd nicht versuchte, den beiden etwas Abscheuliches anzutun.
»Komm, wir schleichen uns in Lees Zimmer und schütten Wasser über ihr Bett!«, zischte mir Syd im Laufe des Abends in meinem Zimmer zu.
Ich war genervt. »Das ist eine dumme Idee«, erwiderte ich. »Sie wird wissen, dass wir das waren, und was dann? Was hast du davon? Sie wird es unseren Eltern erzählen, und dann wirst du nach Hause gehen müssen.«
Die Haarspange, die ich Clancy geklaut hatte, hielt einen meiner Zöpfe zusammen. Ich spielte an ihr herum, während mir dämmerte: Vielleicht ist das mit dem Wasser doch gar keine so schlechte Idee.
Syd hatte die Tür einen Spalt weit geöffnet und spähte hinaus. »Na ja, es ist eh zu spät dafür, sie ist bereits in ihrem Zimmer. Sie muss Harlowe bereits zum Einschlafen gebracht haben.« Sie wirbelte zu mir herum. »Lass sie uns aufwecken!« Tina schaute von ihrem Magazin hoch und schnaubte voller Zustimmung. Ich war perplex.
»Warum?«
»Weil Lee sie dann wieder ins Bett bringen muss! Und immer, wenn sie das geschafft hat, wecken wir Harlowe wieder auf. Immer und immer wieder! Das wird so ein Spaß!«
Ich fand nicht, dass es nach wahnsinnig viel Spaß klang. Vor allem weil niemand meiner Schwester blöd kommen durfte. Ich wusste zwar nicht mit Sicherheit, wie weit es vom fünften in den vierten Stock war, aber ich war bereit, Syd und ihre Schwester notfalls »aus Versehen« die Treppe runterzuschubsen, um meine Schwester vor ihnen zu schützen. Und ich wollte auch nicht, dass Nanny Lee wieder aus ihrem Zimmer rauskommen musste. Ich wusste, dass sie, sobald meine Schwester schlief, immer stundenlang mit ihrer Familie telefonierte. Was wiederum hieß, dass ich ungestört stundenlang Blondie hören konnte.
Zu dieser Zeit war ich ein wenig fixiert auf Debbie Harry. Ich war fasziniert von allem, was mit Blondie zu tun hatte, vor allem Parallel Lines. Debbie Harry ist auf dem Cover in einem weißen Kleid abgebildet, mit einem ungestümen Gesichtsausdruck hat sie die Hände in die Hüften gestemmt. Ich liebte dieses Bild und wollte genau wie sie aussehen. Und zwar so sehr, dass man in den Fotoalben meiner Mutter aus ungefähr einem Jahr Fotos von mir finden kann, auf denen ich versuche, diese ikonische Haltung nachzustellen.
Debbie Harry lächelte nicht auf ihrem Albumcover, also entschied ich, es auch nicht mehr zu tun – für nichts und niemanden. Leider entschied wiederum meine Mutter nach einem desaströsen Tag mit dem Schulfotografen, im Laufe dessen ich sein Stativ weggetreten hatte, dass Debbie Harry ein »schlechter Einfluss« für mich war und entsorgte alle meine Blondie-Alben. Dass ich sie wieder aus der Tonne herausgeklaubt hatte, um sie mir nachts anzuhören, war Nanny Lee noch nicht aufgefallen.
Ich entschied mich für einen Taktikwechsel und schlug vor: »Wie wär’s, wollen wir uns in den Garten schleichen und unsere Eltern durch die Fenster ausspionieren?«
Ich sah Syd an, dass sie das irritierte. Mein Plan beinhaltete keinerlei Folter einer Person und war daher im Vergleich zu ihrem eintönig. Dennoch war der Gedanke, bei unseren Eltern zu lauschen, dann doch auch für sie zu interessant, um es nicht zu tun. Tina wirkte auch recht angetan.
Nach einigen Verhandlungen stimmte Syd zu. Wir öffneten leise die Zimmertür und schlichen uns nacheinander an Nanny Lees Zimmer vorbei. Irgendwann hatten wir es bis ganz nach unten zum Waschraum geschafft, wo ich die Tür nach draußen öffnete. Die kalifornische Luft fühlte sich kühl an und roch süßlich.
»Okay«, sagte ich zu ihnen. »Ihr geht da lang und ich komme auf der anderen Seite ums Haus und wir treffen uns hinten auf der Terrasse.« Sie wirkten nervös. Der Garten war nicht nur in tiefe Dunkelheit getaucht, sondern letztlich auch nicht existent, da der Großteil des Hauses dreißig Meter hoch auf Holzstelzen den steilen Hügel entlang gebaut war. Nur ein falscher Schritt und man fiel den gesamten Weg nach unten hinab. »Ihr habt doch nicht etwa Angst?« Ich setzte meinen betroffendsten Gesichtsausdruck auf.
Tina reagiert zuerst. »Besorg mir ’ne Cola«, sagte sie zu mir und verschwand entlang der Hauswand in die Nacht, mit einer widerwilligen Syd im Schlepptau.
Sobald sie nicht mehr zu sehen waren, ging ich zurück ins Haus und schloss die Tür hinter mir ab. Dann schlich ich mich nach oben in mein Zimmer, schaltete das Licht aus, ging ins Bett und machte meinen Plattenspieler an. Ich war entspannt und ziemlich zufrieden mit mir selbst. Ich wusste, ich sollte mich jetzt schlecht fühlen, tat es aber nicht. Schließlich konnte ich nun ungestört Blondie zuhören.
Fast eine Stunde später sah ich Moms Schatten auf der Wand entlang der Treppe im Flur. Ich warf meine Kopfhörer auf den Boden und schaffte es gerade noch, die Musik auszumachen, bevor sie mein Zimmer betrat. »Patric«, fragte sie mich, »hast du Syd und Tina ausgesperrt?«
»Ja«, antwortete ich ehrlich. Ich sah Mom an, dass sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte.
»Na ja, die Goodmans sind jetzt ziemlich bestürzt«, sagte sie schließlich, als sie sich zu mir aufs Bett setzte. »Die zwei haben sich im Dunkeln verlaufen und wussten nicht, wie sie wieder reinkommen könnten. Sie hätten sich wehtun können, Liebes.« Sie hielt inne und fügte dann hinzu: »Ich glaube sogar, dass sie nicht noch mal zu Besuch kommen wollen.«
»Großartig!«, erwiderte ich begeistert. »Tina geht immer in meiner Wanne baden, macht dabei aber das Licht aus, was verrückt ist, und Syd schmuggelt immer Essen nach oben und kleckert dann alles voll. Die sind beide einfach super nervig!« Meine Mutter schüttelte den Kopf und stieß einen Seufzer aus.
»Danke, Süße, dass du mir die Wahrheit gesagt hast.« Sie gab mir einen Kuss auf den Kopf. »Aber du hast dennoch jetzt Hausarrest. Du darfst eine Woche lang weder nach draußen noch fernsehen.« Ich nickte und akzeptierte still meine Strafe. Das war ein niedriger Preis für meine Ruhe.
Mom war wieder aufgestanden und zur Treppe gelaufen, als ich sie noch einmal zurückrief: »Mom?«
Sie drehte sich um und kam ins Zimmer zurück.
Ich atmete tief durch. »Ich habe mir die Blondie-Platten wieder aus dem Mülleimer gefischt, nachdem du sie weggeschmissen hattest, und höre sie mir jeden Abend an, obwohl ich es eigentlich nicht darf.« Mom stand still, ihre zauberhafte Silhouette wurde von hinten vom Flurlicht beleuchtet.
»Du hast sie … hier? In deinem Zimmer?«
Ich nickte. Mom lief zu meinem Plattenspieler rüber, auf dem immer noch lautlos Parallel Lines lief. Sie schaute mich an und schüttelte den Kopf. Dann nahm sie sich eine Platte nach der anderen, steckte sie sich unter den Arm und gab mir einen weiteren Kuss. Sie schob mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und von der Stirn.
»Danke, dass du so ehrlich warst, mein liebes Mädchen«, sagte sie zu mir. »Und jetzt gute Nacht.«
Mom verließ mein Zimmer und ging wieder die Treppe hinunter, während ich mich in meinem Bett umdrehte und in meinen Kissen vergrub. Ich rieb meine Füße wie eine Grille unter der Bettdecke aneinander. Ich fühlte mich sicher und zufrieden. Mein Plattenspieler lief auch ohne Platte weiter und das sich wiederholende Geräusch hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich beobachtete den leeren Plattenteller bei seinen kontinuierlichen Drehungen, und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob es wirklich so klug gewesen war, mein Geheimnis preis- und somit meine Platten aufzugeben. Dennoch schlief ich mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Schichten
Es gibt wenig im Leben, das mein Vater mehr liebt als ein Stück Schokosahnetorte. In seiner Kindheit in Mississippi buk die Haushälterin seiner Großeltern, Lela Mae, ihm jede Woche eine. Wenn wir sie um Weihnachten rum besuchten, war ich immer wie hypnotisiert vom Geruch dieser Torten – und von Lela Mae in ihrer weißen Dienstkleidung und Schürze, wie sie hoch aufragend im Kücheneingang stand und den Zugang zu ihrem eigenen Reich bewachte.
Meine Mutter kam auch aus den Südstaaten. Sie war in Virginia geboren und aufgewachsen, verstand also die Signifikanz von Ritualen und legte einen unheimlichen Wert auf die südstaatliche Art der Haushaltsführung. Sobald sie von den Torten erfahren hatte, machte sie sich die Tradition zu eigen.
Ich habe früher an unserem Esstisch in San Francisco oft beobachtet, wie sie die Schichten in zwei identische Hälften zerschnitt, indem sie einen Faden um sie band und die Enden zu einem Knoten in der Mitte zusammenzog. »Auf diese Art ist es absolut gleichmäßig«, erklärte sie mir immer.
Ich liebte es, mit ihr diese Zeit zu verbringen. Ich lag unter dem Tisch und las Bücher, während sie die Lagen schnitt und die Torten bestrich. Mit der Zeit wurde das zu einer Art Beichtstuhl für mich, denn ich erzählte ihr von allem, was in der Schule passiert war, und gestand ihr die Facetten meines Verhaltens, die mir eventuell fragwürdig vorkamen. Sie ließ mich dann wissen, ob meine Aktionen (oder Reaktionen) überzogen gewesen waren, und erklärte mir, wie ich es besser machen könnte. Da mein Urteilsvermögen alles andere als verlässlich war, fanden Mom und ich es am besten, wenn ich alles mit ihr besprach.
»Hast du dich bei den Patels für den Zucker bedankt?«, fragte sie mich. Mom hatte mich am Morgen mit einem Messbecher zu unseren Nachbarn geschickt.
»Nein, sie waren nicht zu Hause«, erwiderte ich.
Mom unterbrach ihr Schneiden, und schaute mich an. »Wie bist du dann an den Zucker gekommen?«, hakte sie nach.
»Es war ja welcher in der Zuckerdose.«
Ich hatte beim Betreten der Auffahrt der Patels gewusst, dass sie nicht zu Hause waren. Aus irgendeinem Grund weigerten sie sich, die Garage zu benutzen, also stand ihr erbsengrüner Kombi immer vor dem Tor, wenn sie da waren. An diesem Tag aber stand er dort nicht.
Ich war mir sicher, dass die Glasschiebetür nicht abgeschlossen sein würde, ging um das Haus herum und zog an der Tür. Sie glitt auf – wie ich es vorhergesehen hatte. Ich betrat das Haus und bediente mich an der Zuckerdose auf der Anrichte, nachdem ich auf dem Weg kurz mit ihrem Hund Moses gespielt hatte.
»Ich weiß ja, dass du Nein gesagt hast, aber können wir uns bitte auch einen Hund holen?«, fuhr ich fort. »Der könnte mit Moses spielen, wenn ihm langweilig wäre.« Mom starrte mich entsetzt an.
Sie hakte langsam nach: »Wenn die Patels doch nicht zu Hause waren, als du rübergegangen bist, wie bist du dann reingekommen?« Ich erzählte Mom von meiner Expedition. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Nein, Süße«, sagte sie schließlich und schaute mich an. »Nein, du kannst nicht einfach so das Haus anderer Menschen betreten, wenn sie nicht da sind.«
Ich war verwirrt. »Aber warum denn nicht? Es ist ihnen doch egal. Wir sind andauernd dort. Es ist doch in Ordnung, solange man nichts mitnimmt.«
»Aber du hast etwas mitgenommen«, erwiderte sie, eindeutig bestürzt. »Du hast dir Zucker genommen.«
Jetzt war ich wirklich verwirrt. »Aber du hast mir gesagt, ich solle Zucker holen.«
Mom atmete laut aus. »Ich habe dir gesagt, dass du sie um etwas Zucker bitten sollst. Nicht einfach rübergehen und dich bedienen, ganz ohne ihre Erlaubnis. Du darfst so etwas nie wieder tun. Es ist sehr, sehr falsch, so ein Verhalten. Verstehst du das?«
»Ja«, log ich sie an, denn ich verstand gar nichts. Ich war davon ausgegangen, dass die Bitte um Zucker bei den Patels nur eine Formalität war. Es interessierte sie nicht. Immerhin hatte ich ihnen den Aufwand erspart, an die Tür zu kommen und Small Talk mit mir betreiben zu müssen. Wer wollte das schon? Ich jedenfalls nicht. Ich wusste aber, dass ich Mom all das nicht erklären konnte. Ihr war Ehrlichkeit sehr wichtig. Sie sagte immer gern: »Im Zweifelsfall die Wahrheit sagen, denn die Wahrheit hilft den Menschen, etwas zu verstehen.« Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich dem zustimmte.
Als Kind lebte ich in kontinuierlichen Zweifeln. Ich zweifelte an der Art, wie ich fühlen sollte und wie ich es nicht tat. Zweifelte an meinen Handlungen. An meinen Handlungen, die ich gern täte. Es klang reintheoretisch gut, die Wahrheit über diese Unklarheiten zu sagen, aber aus praktischer Sicht hatte es sich immer eher als Verschlimmerung der Situation herausgestellt. Ich wusste nie, welche Informationen zu einer negativen Reaktion führen würden. Es fühlte sich so an, als würde ich immer zwischen den Polen der Wahrheit und der Unwahrheit hin- und herpendeln, ohne je zu wissen, wo ich letztlich landen würde. Das war vor allem bei Mom der Fall. Ich wollte sie nie wütend machen, denn sie war mein emotionaler Kompass, und ich vertraute ihrer Weisung. Wenn ich Mom bei mir hatte, musste ich mir keine Sorgen über vorhandene oder fehlende Gefühle machen, musste nicht zwischen Richtig und Falsch entscheiden. War sie aber wütend, dann hatte ich das Gefühl, allein zu sein. Und damals war das Alleinsein kein sicherer Ort für mich.
Mom seufzte erneut und band einen neuen Faden um eine weitere Tortenschicht. »Entscheidend ist, dass wir das Haus der Patels nur betreten können, wenn sie da sind. Und nein, es ist auch dann nicht in Ordnung, wenn wir nichts mitnehmen.«
Ich nickte und entschied, dass ich ihr nicht von all meinen Ausflügen in das Haus beichten würde, die ich unternommen hatte, wenn Mom meine Schwester und mich mit Nanny Lee allein gelassen hatte. Da es so gesehen eine neue Regel war, sah ich keinen Grund, diese auch rückwirkend anzuwenden.
Mom schaute mich an, als würde sie noch etwas hinzufügen wollen, wurde aber von den stampfenden Schritten meines Vaters auf der Treppe unterbrochen. Wir hörten ihn in der Küche rumoren und etwas suchen, bevor er abrupt die Tür zum Esszimmer öffnete und reingestürzt kam.
»Hat eine von euch meine Aktentasche gesehen?« Er lief an uns vorbei und durchsuchte nun das Wohnzimmer. Ich hörte, wie er ein Schniefen unterdrückte, und fragte mich, ob er sich wohl erkältet hatte. Ich hoffte nicht, denn wir wollten am Abend eigentlich zusammen eislaufen gehen.
Seit der Blondie-Beschlagnahmung war ich besessen von Eisfieber, einem Film über eine blinde Eisläuferin. Ich freute mich darauf, einige der Moves auf dem Eis auszuprobieren, nachdem ich sie mit verbundenen Augen auf Socken auf dem Parkettboden geübt hatte. Wenn Dad sich aber jetzt erkältet hätte, würde das dem Plan einen deutlichen Dämpfer verpassen.
»Die ist oben in deinem Büro«, verriet Mom ihm. »Wofür brauchst du die denn jetzt? Das Abendessen ist fast fertig, und außerdem ist Samstag. Wir wollten doch mit den Mädchen eislaufen gehen.« Ihre Stimme hatte eine gewisse Schärfe. Dad schaute auf und schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Oh, Schatz, ich hab’s vergessen!«, sagte er und ging zu ihr. »Bruce hat angerufen, ich muss ins Studio.«
Mein Dad war ein aufsteigender Stern im Musikgeschäft, eine Branche, die oft lange und unkonventionelle Arbeitszeiten bedeutete.
Dad schaute mich an. »Süße, es tut mir leid.« Dann fragte er Mom: »Können wir das wann anders machen?«
Sie schaute aus dem Fenster und schwieg. Auf mich wirkte das wie eine eigenartige Reaktion, aber Dad schien das nicht aufzufallen. Stattdessen lief er zur Tür und rief über die Schulter: »Ich mach das nächste Woche wieder gut bei euch!«
Mom saß einen Augenblick lang still da, stand dann auf und ging in die Küche, die halbfertige Torte hinter sich auf dem Tisch lassend. Ich folgte ihr, wusste nicht, was ich machen sollte. In der Küche stand sie an der Spüle und starrte ins Nichts. Das frühe Abendlicht fiel durch die Glasschiebetüren. Jahre später würde Mom mir verraten, dass sie diese Tageszeit hasste und dass dieser Hass während unserer Zeit in San Francisco begonnen hatte. Ich konnte das jedoch nie nachvollziehen, denn für mich hatte die eintretende Dämmerung immer etwas Magisches, wie das Vorspiel der Dunkelheit. Vor allem an diesem Tag blieb mir in Erinnerung, wie schön meine Mutter aussah, mit dem Licht, das sich auf der Anrichte spiegelte und ihr aufs Gesicht schien. Ich lief von hinten auf sie zu und umarmte sie. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Alles ging auf diese Art seinen Lauf. Dad war fast nie vor Mitternacht zu Hause, und mein Kontakt zu ihm beschränkte sich auf schnelle Küsschen im Auto vor der Schule oder auf gelegentliche Ausflüge am Wochenende. Nicht, dass mich das wirklich gestört hätte. Im Gegenteil, es war fast schön; ich liebte es, meine Mom und meine Schwester ganz für mich zu haben.
Ich liebte es, eine Schwester zu haben. Punkt. Ich weiß, dass manche Eltern Angst vor Eifersüchteleien und Rivalitäten zwischen Geschwistern haben, das war allerdings nie ein Problem bei uns zu Hause. Ich mochte es eh nicht, wenn ich im Mittelpunkt stand. Und sobald meine Schwester auf der Welt war, hatte ich jemanden, mit dem ich das Rampenlicht teilen konnte. Ich mochte es, sie an meiner Seite zu wissen, die sie doch mein Faible für Unfug zu würdigen wusste. Einseitige Regelverletzungen standen meist an der Spitze unserer Interaktionen – das hat sich nicht geändert. Harlowe reichte mir die Tasse, ich würde sie die Treppe hinunterfallen lassen. Harlowe ging in die Badewanne und deutete auf den Badeschaum, ich würde die ganze Flasche in die Wanne leeren und die Massagedüsen anmachen. Jede Aktion meinerseits sorgte für hysterisches Lachen ihrerseits. Mom liebte das. Harlowes wildes Gelächter passte jedoch Dad nicht immer.
»Was macht ihr beiden gerade?«, fragte er eines Tages, während er unerwartet mein Zimmer betrat. Er spielte eigentlich gern mit uns, aber es wirkte in letzter Zeit eher so, als würde er nur noch schlafen wollen, wenn er mal zu Hause war, was auch nicht oft der Fall war.
Dad verbrachte immer mehr Zeit bei der Arbeit, und irgendwann wurde Mom depressiv. An manchen Tagen brach sie aufgrund völliger Nichtigkeiten in Tränen aus, an anderen wurde sie wütend und schnauzte uns aus Gründen, die ich nicht verstand, an. Ich war angespannt und verwirrt und konnte mich zum ersten Mal nicht mehr auf meine Mutter als Kompass verlassen. Die letzte Torte war Wochen her, und es schien keine gute Zeit zu geben, um mit ihr über meinen Alltag und meine Handlungen zu reden. Wie zum Beispiel das Stehlen.
Ich hatte in letzter Zeit Rucksäcke in der Schule geklaut. Ich wollte sie nicht mal haben und gab sie fast immer wieder zurück. Es war mehr wie eine Art Zwang, eine Handlung gegen den Druck. Sobald ich einen unbeaufsichtigten Rucksack sah, nahm ich ihn mir. Es war mir egal, wo das war oder wem er gehörte, mir ging es nur ums Nehmen. Wenn ich etwas tat, bei dem ich wusste, dass es nicht »richtig« war, konnte ich den Druck etwas lösen, konnte mir selbst einen Ruck gegen die Apathie verpassen. Allerdings funktionierte das irgendwann nicht mehr. Es war egal, wie viele Taschen ich klaute, sie rüttelten mich nicht mehr auf. Ich fühlte gar nichts. Und dieses Nichts, so war mir aufgefallen, wollte, dass ich immer extremere, schlimmere Dinge tat.
Es war ein wenig wie beim letzten Treffen mit Syd. Während wir auf dem Bürgersteig darauf gewartet hatten, zur Schule gefahren zu werden, war sie mir auf die Nerven gegangen. Sie hatte wieder bei uns übernachten wollen, aber nicht gedurft.
»Das ist alles deine Schuld«, hatte sie gejammert. »Wenn du uns nicht diesen doofen Streich gespielt hättest, könnten wir immer noch zu Besuch kommen, und ich könnte mit deinem Spielzeug spielen. Immer versaust du alles.«
»Tut mir leid«, hatte ich erwidert, auch wenn ich es nicht ehrlich gemeint hatte. Ich war froh, dass sie nicht mehr zum Spielen vorbeikommen durfte. Mir hatte der Kopf wehgetan. Der Druck hatte sich kontinuierlich weiter aufgebaut, aber nichts, was ich tat, half dagegen. Ich war emotional von allem abgekoppelt, aber dennoch gestresst und irgendwie orientierungslos. Es hatte sich angefühlt, als würde ich den Verstand verlieren, und ich wollte einfach nur allein sein.
Auf einmal hatte Syd gegen meinen Rucksack auf dem Boden getreten, sodass alles hinausrutschte: »Weißt du was? Es ist mir egal. Euer Haus ist eh scheiße, so wie du auch.«
Der Ausraster war bedeutungslos, etwas, was sie schon unzählige Male gemacht hatte, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie hatte sich jedoch den falschen Tag für einen Streit ausgesucht. Während ich Syd anschaute, wurde mir klar, dass ich sie nie wiedersehen wollte. Ich hatte gedacht, dass das schon nach meiner Aussperraktion klar gewesen wäre, aber anscheinend brauchte es eine noch deutlichere Ansage.
Wortlos hatte ich mich gebückt, um meine Sachen wieder einzusammeln. Damals trugen wir Federmäppchen mit uns herum. Meines war pink, mit Hello Kitty drauf und voller gespitzter HB-Bleistifte. Ich hatte mir einen rausgenommen, war aufgestanden und hatte ihn ihr seitlich an den Kopf gerammt.
Der Bleistift war zerbrochen und ein Teil in ihrem Hals steckengeblieben. Syd hatte angefangen zu schreien, und die anderen Kinder waren verständlicherweise völlig ausgerastet. Ich jedoch war währenddessen wie betäubt gewesen – der Druck war weg. Im Vergleich zu allen anderen Malen, wo ich etwas Schlimmes getan hatte, hatte dieser körperliche Angriff auf Syd in etwas Neuem resultiert: einer Art Euphorie.
Ich war glückselig davongelaufen. Wochenlang hatte ich jegliches subversive Verhalten ausprobiert, um den Druck verschwinden zu lassen, aber nichts hatte funktioniert. Jetzt aber war – dank dieses einen gewaltsamen Akts – kein My des Drucks mehr da. Er war nicht nur weg, sondern war ersetzt worden von einem absoluten inneren Frieden. Es fühlte sich an, als hätte ich ein Eilverfahren zur Gelassenheit entdeckt, das zu gleichen Teilen wirksam und verrückt war. Nichts davon ergab einen Sinn, aber es war mir egal. Ich war eine Weile benommen durch die Gegend gelaufen, dann nach Hause gegangen und hatte meiner Mutter in aller Ruhe von dem Vorfall erzählt.
»Was verdammt noch mal hast du dir dabei gedacht?«, wollte mein Vater von mir wissen. Ich saß am Fuß meines Betts. Meine Eltern standen vor mir und wollten Antworten. Die ich jedoch nicht hatte.
»Nichts«, erwiderte ich. »Ich weiß es nicht. Ich hab es einfach gemacht.«
»Und es tut dir nicht mal leid?« Dad war frustriert und gereizt. Er war gerade von einer seiner Geschäftsreisen zurückgekehrt und meine Eltern hatten sich gestritten.
»Doch! Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut!« Ich hatte Syd sogar schon einen Entschuldigungsbrief geschrieben. »Warum sind also immer noch alle so sauer auf mich?«
»Weil es dir nicht leidtut«, erwiderte Mom leise. »Nicht wirklich. Nicht von ganzem Herzen.« Dann schaute sie mich an wie eine Fremde. Er lähmte mich, dieser Blick. Das war der gleiche Blick, den Ava mir während Vater-Mutter-Kind zugeworfen hatte. Ein Blick der vagen Erkenntnis, als würde sie mir sagen wollen: »Irgendwas stimmt nicht mit dir. Ich weiß zwar noch nicht genau, was, aber ich spüre es.«
Mein Magen machte einen Satz, als hätte man mich in den Bauch geboxt. Ich hasste es, wie Mom mich an diesem Abend anschaute. Das hatte sie noch nie gemacht, und ich wollte, dass sie wieder damit aufhörte. Wenn sie mich so ansah, war sie wie eine Fremde, die mich zum allerersten Mal anschaute und mich nicht kannte. Auf einmal war ich wütend auf mich selbst, weil ich die Wahrheit gesagt hatte. Es hatte niemandem dabei geholfen, etwas zu »verstehen«. Wenn überhaupt hatte es alle nur noch mehr verwirrt, inklusive mir. Erpicht darauf, alles wieder ins Reine zu bringen, stand ich auf und wollte sie umarmen, aber sie hielt mich mit erhobener Hand davon ab.
»Nein«, sagte sie. »Nein.« Sie starrte mich erneut lange und intensiv an und verließ dann das Zimmer. Ich beobachtete, wie mein Vater hinter ihr herlief, wie ihre Schatten immer kleiner wurden, als sie die Treppe hinunterliefen. Ich verkroch mich ins Bett und wünschte mir, ich hätte jemanden, dem ich wehtun könnte, damit ich mich wieder so wie nach dem Angriff auf Syd fühlen könnte. Ich gab mich mit mir selbst zufrieden, drückte mir ein Kissen an die Brust und grub mir die Fingernägel in den Unterarm.
»Bereue es!«, zischte ich mir selbst zu. Ich kratzte weiter an meiner Haut und presste die Kiefer zusammen, mit aller Macht ein schlechtes Gewissen erhoffend. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich das versuchte, ich weiß nur noch, wie verzweifelt und wütend ich war, als ich schließlich aufgab. Erschöpft ließ ich mich ins Bett fallen. Ich schaute meinen Arm an. Er blutete.
Nach dem Vorfall mit Syd zog sich Mom von uns allen zurück. Wochenlang verließ sie ihr Zimmer fast nicht mehr, und wenn, dann sah sie immer traurig aus. Zu der Zeit hatte Nanny Lee meist das Sagen. Ich liebte Nanny Lee. Sie war nett und einfühlsam, und sie las uns immer auch dann noch aus Büchern vor, wenn wir schon lange schlafen sollten. Aber eigentlich brauchte ich meine Mutter.
Die Euphorie, die ich nach dem Angriff auf Syd gespürt hatte, war sowohl befremdlich als auch verlockend. Ich wollte sie wieder spüren. Ich wollte wieder wehtun. Aber ich wollte es auch nicht. Ich war verwirrt und hatte Angst, und ich brauchte meine Mutter. Ich wusste nicht, wie alles so hatte aus dem Ruder laufen können, ich wusste nur, dass es meine Schuld war und dass ich einen Weg finden musste, es wieder geradezubiegen.
Eines Tages saß ich oben in meinem Zimmer und dachte genau darüber nach, als mir ein bekannter Geruch in die Nase stieg.
Schokotorte.