Spaziergang mit Puma - Laura Coleman - E-Book

Spaziergang mit Puma E-Book

Laura Coleman

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit Anfang zwanzig ist Laura Coleman vor allem eins: orientierungslos. Frustriert kündigt sie ihren Job in London und reist mit dem Rucksack durch Bolivien. Dort führt ein Zufall sie in eine Tierauffangstation mitten im Dschungel. Das Camp ist schmutzig, die Tiere sind verblüffend exzentrisch und überall schwirren Mücken - doch trotz aller Beschwerden gibt Laura nicht auf und bleibt. Als ihr aufgetragen wird, täglich mit dem traumatisierten Pumaweibchen Wayra spazieren zu gehen, ist sie entschlossen, sich der Herausforderung zu stellen. Langsam bildet sich ein feines Band, das die beiden für immer verändert ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 516

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMottoAnmerkung der AutorinTeil EinsTafelteilTeil ZweiTeil DreiEpilogDanksagung

ÜBER DAS BUCH

Mit Anfang zwanzig ist Laura Coleman vor allem eins: orientierungslos. Frustriert kündigt sie ihren Job in London und reist mit dem Rucksack durch Bolivien. Dort führt ein Zufall sie in eine Tierauffangstation mitten im Dschungel. Das Camp ist schmutzig, die Tiere sind verblüffend exzentrisch und überall schwirren Mücken – doch trotz aller Beschwerden gibt Laura nicht auf und bleibt. Als ihr aufgetragen wird, täglich mit dem traumatisierten Pumaweibchen Wayra spazieren zu gehen, ist sie entschlossen, sich der Herausforderung zu stellen. Langsam bildet sich ein feines Band, das die beiden für immer verändert …

ÜBER DIE AUTORIN

Laura Coleman ist Autorin und Umweltaktivistin. Sie hat viele Jahre in Bolivien verbracht, lebt inzwischen jedoch wieder in ihrer britischen Heimat.

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Puma Years«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2021 by Laura Coleman

Published by arrangement with Samar Hammam, Rocking Chair Books Ltd

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Jakob Arnold, Düsseldorf

Bilder im Tafelteil: © Laura Coleman, außer S. 2–3 © Benjamin Portal, S. 4 © Robert Heazlewood, S. 6–7 © Sarah M. Hanners, S. 8–9 © Scott Fletcher, S. 10 © Nicole Marquez, S. 12–13 © JP Miller, S. 14–15 © Scott Fletcher, S. 16 © Lucas Ring

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen nach einem Originalentwurf von © Micaela Alcaino

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2889-8

luebbe.de

lesejury.de

 

Für alle, die den Parque lieben.

Und für Wayra.

 

Keines war mehr übrig, dem man den Namen hätte nehmen können, und doch fühlte ich mich ihnen so nah, wenn ich eines von ihnen schwimmen oder fliegen oder traben oder krabbeln sah, an mir vorbei oder über meine Haut, oder nachts hinter mir lauernd, oder tagsüber neben mir spazierend. Sie schienen so viel näher zu sein, als wenn ihre Namen wie durchsichtige Barrieren zwischen uns gestanden hätten: so nah, dass meine Angst vor ihnen und ihre Angst vor mir zu ein und derselben Angst wurden. Und die Anziehung, die viele von uns spürten, das Bedürfnis, die Schuppen oder die Haut oder die Federn oder das Fell des Anderen zu berühren oder zu reiben oder zu streicheln, das Blut oder Fleisch des Anderen zu kosten, uns gegenseitig zu wärmen – diese Anziehung hatte sich nun mit der Angst vereint, und der Jäger konnte nicht vom Gejagten, der Essende nicht von der Nahrung unterschieden werden.

– Ursula K. Le Guin, Sie nimmt die Namen

ANMERKUNG DER AUTORIN

Pumas haben viele Namen. Vielleicht weil sie früher den gesamten amerikanischen Kontinent durchstreiften, von Kanada bis zu den Grenzen Feuerlands. Florida-Panther, Kuguar, Berglöwe, Silberlöwe, Catamount, Mountain Screamer, Red Tiger, Cuguacuarana, Geisterkatze … Angeblich gibt es über achtzig verschiedene Bezeichnungen, mehr als für jedes andere Tier. Aber ich lernte sie in Bolivien als Puma kennen.

Die meisten Namen in diesem Buch wurden geändert. Manche Personen setzen sich aus mehreren Vorbildern zusammen, einige zeitliche Abläufe und Ereignisse wurden umgestellt, damit dieses Buch in halbwegs angemessener Länge erscheinen konnte, sind jedoch größtenteils so, wie ich mich an sie erinnere. Die Organisation und den Ort habe ich nicht verändert. Comunidad Inti Wara Yassi ist eine bolivianische NGO mit dem Ziel, Opfern des Wildtierhandels ein neues Leben zu ermöglichen. Das Schutzgebiet heißt Ambue Ari. Sie werden von Menschen aufrechterhalten, deren Kraft man nicht in Worte fassen kann.

TEIL EINS

Es ist 2007, und ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Ich bin nicht klein, aber auch nicht wirklich groß. Ungefähr einen Meter siebzig, mit einer schiefen Nase, Brüsten, die Rückenschmerzen verursachen, und Watschelfüßen. Ich fühle mich etwas verloren, ohne zu wissen warum. Ich bin fast schon mein ganzes Leben Single. Ich esse und rauche, wenn ich nervös bin, und das bin ich oft. Meine Eltern führen eine psychotherapeutische Praxis. Ich habe eine Schwester und zwei Brüder, allesamt sehr erfolgreich. Ich komme aus England und habe einen Abschluss in Kunstgeschichte, weiß aber nicht, dass Affen Witze machen oder schwermütig sein können. Ich weiß nicht, wie ein Puma aussieht.

»Gringa. ¡Aquí!«

Wir holpern schon wer weiß wie lange in einem klapprigen Bus dahin, fünf Stunden vielleicht.

Ich wische mit meinem Ärmel über die gesprungene Fensterscheibe und spähe durch die Schlieren im Kondenswasser. Ich sehe nur Dschungel.

»En serio?« Ich kann die Angst in meiner Stimme nicht verbergen.

»¡Si! El parque.«

Die Frau neben mir zieht ihr Kind von meinem Schoß und ein Mann – da klettert er bereits über die Sitzreihen, über andere dicht an dicht gequetschte Passagiere, Hühner, Babys, irgendeinen exotischen Vogel und Säcke voller Reis – erhebt Anspruch auf meinen kostbaren Platz. Dann stehe ich allein auf einer leeren, geraden Straße mitten im bolivianischen Amazonas-Regenwald und sehe die Rücklichter des Busses verschwinden. Ein leichter Dunst lässt den dünnen, aufgeplatzten Asphalt wie Wasser treiben. Hohe Gräser und Bäume, grün, lila, orange und golden, ragen über die Böschung. Es gibt Blätter in jeder Farbe, bis alles in einer ungeheuren Weite zu verschmelzen scheint. Es riecht nach Hitze, als wäre die Luft zu knapp, und das Atmen fällt mir schwer. Der Himmel ist blau, aber am Rand sieht man schon ein rötliches Gold. Bald kommt die Nacht. Als ich im Bus saß, hatte ich mir draußen eine tiefe Stille vorgestellt, aber da lag ich falsch. Der Dschungel summt, er spricht eine Sprache, die ich nie zuvor gehört habe.

Ich schlage nach einer Mücke an meinem Hals und habe Blut an der Hand. Eine weitere schwirrt um mein Ohr herum. Ich fuchtele jammernd mit den Armen, drehe mich im Kreis. Der Dschungel ist überall, und als ich mich umdrehe und einen Affen auf einem Straßenschild sitzen sehe, schnelle ich mit einem Aufschrei zurück. Er ist so groß wie ein kleines Kind, gekrümmt und mit dichtem rotbraunem Fell. Auf dem Schild steht in knallroten Buchstaben KEINE AFFEN AUF DER STRASSE! Er starrt mich nur an. Na und? Was willst du dagegen tun? Ich werde gar nichts tun. Es wird bald dunkel und ich bin allein im Dschungel. Ich fühle mich schwach. Da höre ich etwas anderes neben dem Summen des Dschungels. Es rumort fürchterlich, und plötzlich schießt ein großes, schwarzes Schwein aus dem Unterholz. Es hebt den Kopf – einen roten BH zwischen den Zähnen – und sieht mir direkt in die Augen. Ich bin kurz davor mich umzudrehen und loszurennen, als ein Mann hinter dem Schwein auftaucht. Er zieht sich Zweige aus den Haaren.

»Panchita!«

Das Schwein wirbelt herum und rast davon. Ich höre das Echo der Hufe, bis es ganz vom grünen Dunst verschluckt wird.

Es gibt einen Wald – keinen richtigen, eher ein kleines, spärliches Wäldchen – dort, wo ich aufgewachsen bin. Als ich acht war, wollte ich eine Nacht darin verbringen. Mein Dad begleitete mich und ließ mich dann, wie gewünscht, allein. Später fand ich heraus, dass er mich keineswegs allein gelassen, sondern ganz in der Nähe mit einer Packung Kekse und einer Thermoskanne Tee sein Lager aufgeschlagen hatte. Aber ich hatte mich in meinem Schlafsack zusammengerollt, den fremden Geruch von Morast und Moos in der Nase, während die Angst heiß durch meinen Körper strömte. Ich schaffte zehn Minuten, bevor ich weinend nach Hause rannte, meinen Schlafsack unter dem Arm und felsenfest überzeugt, dass in den knackenden und rauschenden Bäumen über mir lauter Monster saßen.

»¡Bienvenidos!« Der Mann vor mir grinst gutgelaunt. »Agustino. Soy el veterinario aquí.« Er mustert mich, als sei er kein bisschen überrascht, mich hier auf dieser Straße mit diesem Affen zu sehen, während der beißende Geruch des verschwundenen Schweins noch in der Luft hängt. Als würden ständig irgendwelche Fremden hier landen und von derartigen Kreaturen begrüßt werden. Ich nicht. Ich lande normalerweise nicht an solchen Orten.

Eine dreimonatige Rucksacktour in Bolivien sollte mir neue Perspektiven verschaffen, nachdem ich eine ganze Reihe von Jobs gekündigt hatte. Es fühlte sich an, als hätte ich eine Landkarte für mein Leben, die mir vorgab, wie es sein sollte – aber ich war vom Kurs abgekommen. Ich hatte schon zu viele Jobs aufgegeben, immer in der Hoffnung, einer davon würde mir den Weg zum Erfolg weisen. Die letzte Stelle, Marketing in einem bekannten Reiseunternehmen, hatte mir den Rest gegeben. Backpacking würde sicher alles wieder einrenken. Ich wollte verwandelt zurückkehren wie die Elizabeth Gilbert der Millennials, eine Person, die mit hochgereckten Armen Achterbahn fuhr, gute Entscheidungen traf, ganz ungezwungen auf Dates ging und wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Eine Person, die Firmenfeiern liebte, die nicht um Mitternacht auf dem Küchenfußboden saß, Erdnussbutter in sich hineinschaufelte und dann das Haus nicht verlassen konnte, weil sie kein Kleidungsstück fand, in dem sie nicht fett aussah. Eine Frau, die sich am Straßenrand eines beliebigen Ortes wiederfindet und sich keine Sorgen macht. Die eine Freundin sein kann und eines Tages auch eine Ehefrau, eine Mutter, eine erfolgreiche Karrierefrau. Alles, was ich nicht bin, aber glaubte, sein zu wollen.

Nun bin ich allerdings schon seit zwei Monaten unterwegs, und ich habe die nach Bier und kaltem Erbrochenen stinkenden Mehrbettzimmer satt. Ich gehe anderen, kontaktsuchenden Rucksackreisenden noch immer aus dem Weg und habe ein Problem mit den künstlichen Touristenorten, an denen die Lama-Steaks mehr kosten als ein Flug. An einem dieser Orte hörte ich jemanden sagen, dass man nach Norden gehen müsse, um per Anhalter auf einem einheimischen Boot die Wege abseits des Reiseführers zu entdecken. Man könne in einer Hängematte schaukeln, rosafarbene Flussdelfine beobachten und Kokosmilch trinken. Das klingt sehr schön, dachte ich. Also reiste ich in Richtung Norden und wartete zwei Wochen an einem matschigen Flussufer auf ein Boot, das nie kam. Sonnenverbrannt, einsam, aufgebläht von den vielen Empanadas und durchgespült vom Regen machte ich mich schließlich auf die Suche nach einem Internetcafé, um meinen Rückflug zu buchen. Ich wollte aufgeben. Ich wollte nach Hause. Aber in diesem Internetcafé stieß ich – bei kalter Pizza, warmem Bier und einer Schachtel Zigaretten – auf den Flyer einer bolivianischen Tierschutzorganisation mit einem fröhlich aussehenden Affen. Man konnte sich freiwillig melden. Nur aufgrund eines verzweifelten Gefühls der Sinnlosigkeit und meiner inneren Stimme, die mich anstachelte, doch noch nicht aufzugeben, stehe ich nun hier. Ich weiß nichts über diesen Ort, außer dass es Affen gibt und dass sie fröhlich aussehen.

Wobei dieser Affe nicht gerade gutgelaunt wirkt. Er kommt auf uns zu, greift nach Agustinos Hosenbein und zieht sich daran hoch, bis der Mann das mürrische Tier in den Armen wiegt. Ich hatte den Tierarzt auf mein Alter geschätzt, aber jetzt bin ich unsicher. Er hat dezente, dunkelbraune Linien an den Augen und sein schwarzes Haar ist wild und zerzaust. Er ist klein, etwas übergewichtig und ich mag sein rundes Gesicht auf Anhieb. Er greift in seine Jackentasche und holt ein Stück Käse hervor. Der Affe heult vor Begeisterung auf, schnappt sich den Käse und stopft ihn in den Mund. Agustino sieht mich verlegen an. Er küsst den pelzigen Affenkopf. »Coco sollte keinen Käse bekommen, aber nur so kommt er von der Straße runter. Es ist zu gefährlich für ihn hier. Zu viele Autos.«

Ich blicke die leere Straße entlang und nicke schwach. Die Gefahr durch zu viele Autos erscheint mir lächerlich. Wir sind am Ende des Universums, und sogar der kleine Bus, der mich hergebracht hatte, ist nur noch eine blasse Erinnerung.

»Komm!« Agustino trabt los und biegt rasch auf einen schmalen, gewundenen Pfad ab. Coco klettert höher, um sich an Agustinos Schultern festzuhalten. Während er auf und ab wippt, seine kleinen haarigen Finger an Agustinos Kragen klammernd, schnaubt er lang und laut und schwermütig.

»Ja«, murmele ich leise, »geht mir auch so.«

Es ist bedeckt und feucht, die Luft ist diesig, als wir, dem Schwein folgend, unter dem Blätterdach verschwinden. Ich laufe, um aufzuholen, mein Rucksack schlägt gegen meine Schultern. Ich wische mir immer wieder mit den Händen über das Gesicht, während mir alles Mögliche in die Nase, den Mund und die Ohren fliegt. Spitze, aufdringliche Zweige verfangen sich in meinem Haar, zerkratzen meine Haut. Der Pfad ist dunkel. Ich kann nicht nur den hohen Ton der Moskitos hören, sondern auch Vögel, Käfer und Grillen und etwas verdächtig Großes im Dickicht. Die Geräusche rücken näher und ich rieche Erde, Feuchtigkeit, Fäulnis.

Wir sind etwa fünf Minuten unterwegs (auch wenn es sich viel länger anfühlt), als Agustino endlich anhält und sich umdreht.

»Willkommen in el parque!«

Wir sind am Rande einer Lichtung angekommen, umringt von Hütten und heruntergekommenen Gebäuden. Einige Menschen laufen umher, ein paar Einheimische, ein paar Fremde, Schlammspritzer, schmutzverkrustete Kleidung und Gummistiefel. Agustino beginnt zu winken und ruft mit lauter, fröhlicher Stimme: »Samita!«

Eine junge Frau löst sich von den anderen und kommt auf uns zu. Auch sie trägt einen Affen. Er könnte Cocos Zwilling sein, doch während Coco einen eindrucksvollen roten Bart trägt, hat dieser Affe gar keinen Bart, als wäre sein Fell am Kinn gestutzt worden. Sobald die Frau nah genug ist, springt Coco von Agustino ab. Irgendwie schafft es die Frau, ihn im Gehen aufzufangen, ohne dabei langsamer zu werden, obwohl sich beide Affen wütend anknurren und eifersüchtig um den Platz buhlen. Sie beugt sich vor und streckt ihre Hand aus.

»Ich bin Samantha. Sammie.«

Der Geruch, der von ihr ausgeht, ist heftig.

Ich schätze die Lage grob ein. Meine Situation ist beunruhigend. Die Affen sind toll, aber … dieser überwältigende Geruch, wie ein nasses T-Shirt, in das ein Fisch gewickelt wurde und das bei vierzig Grad vor sich hin fault! Und da sind noch mehr Tiere. Das riesige Schwein liegt mit ausgestreckten Gliedern im Schlamm, es schnarcht und merkt gar nicht, dass die Menschen über es hinwegsteigen müssen. Ich weiß, dass es dasselbe Schwein ist, denn der Spitzen-BH liegt neben ihm wie eine Trophäe. Dann sehe ich eine waschbärähnliche Kreatur, die ein lautes, aggressives Fiepen von sich gibt, den Schwanz im rechten Winkel zum Boden, während es versucht, sich unter der Tür eines Gebäudes durchzugraben. Der Dschungel hängt über allem, er verhindert jede Aussicht auf Licht oder Raum. Ich bin nicht weit von der Straße entfernt. Dort wurde der Himmel bereits rot, hier sehe ich den Himmel gar nicht. Die Luft ist dunkel – als könnte ich mit dem Arm hindurchfahren und sie würde sich bewegen wie Rauch.

»Ich … ähm …«, murmele ich.

Sammie zieht die Augenbrauen hoch. Sie ist eine Fremde, wie ich. Amerikanerin, glaube ich. Sie ist in etwa so alt wie ich. Sie ist klein und etwas füllig. Ich glaube, sie ist hübsch. Es ist schwer zu sagen. Der Schlamm ist überall, in dicken Klumpen zwischen ihren Haaren, auf ihrer Kleidung, ihrer Haut. An ihrem Gürtel hängt eine rostige, übel aussehende Machete. Sie wischt sich mit dem muffigen, feuchten Ärmel den Schweiß von der Stirn und lacht. Sie hat ein irres Lachen. Es wird von den Bäumen zurückgeworfen und lässt sie größer scheinen, als sie ist.

»Keine Sorge«, sagt sie.

»Ich mache mir keine Sorgen«, sage ich schnell. Es ist eine Lüge. Ich mache mir jede Menge Sorgen.

»Hast du eine Stirnlampe?« fragt sie über ihre Schulter hinweg, als sie losgeht und mich auffordert, ihr zu folgen. »Wir haben keinen Strom, kein heißes Wasser.«

Was machen diese Leute, frage ich mich hektisch, ohne Strom und heißes Wasser?

Die beiden Affen klammern sich an ihren Hals und werfen mir zweifelhafte Blicke zu.

»Dein Mehrbettzimmer heißt La Paz«, sagt sie und hilft mir, meinen Rucksack neben einem langen Backsteingebäude abzustellen, das vielleicht einmal weiß war. Es gibt vier Türen, von denen die grüne Farbe abblättert und an denen Schilder hängen. SANTA CRUZ. LA PAZ. BENI. POTOSÍ.

»La Paz ist nett«, fährt sie fort, während ich nach meiner Taschenlampe wühle. »Sind momentan nur drei Leute drin. Duschen.« Sie zeigt auf eine gerade noch sichtbare Bretterbude unter den Bäumen. »Toiletten mit Spülung, aber wenn du schlau bist, benutzt du die lieber nicht.« Bei dem Wort Spülung deutet sie mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft an, und Coco grunzt zustimmend. Sie schaut liebevoll zu ihm hinunter. Ich frage mich, wie lange sie schon hier ist. Jahre? Auf dem Flyer war von mindestens zwei Wochen die Rede …

»Wir nennen das hier den Patio.« Sie deutet gutgelaunt auf die Lichtung, die eher einer matschigen Kreuzung gleicht, die Pfade nur lose mit Steinen gesäumt. In der Mitte gibt es ein paar kümmerliche Bänke und einen schiefen, freistehenden Wasserhahn. Sammie zeigt zur Seite. »Comedor, da essen wir.« Eine rechteckige Holzkonstruktion ohne Wände, nur grüne Netze, vermutlich um die Insekten fernzuhalten. Drinnen wurden Kerzen angezündet, tanzende Schatten breiten sich auf dem Boden aus.

»Hinter den Schlafräumen ist Agustinos Praxis«, fährt Sammie fort. »Solltest du dich verletzen, geh dahin.«

»Zu dem Tierarzt?«

»Agustino ist ein Ass mit dem Skalpell.« Sammie lacht laut. Ich zucke zusammen. Nur eine Nacht, sage ich mir im Stillen. Ich muss nur eine Nacht überleben. Morgen früh kann ich gehen.

»Wenn ich die Toilette mit Spülung lieber nicht benutzen soll … wo soll ich dann … ähm …« Ich verstumme allmählich und werde so rot wie das Fell der Affen.

Sie dreht sich um und zeigt in die Dunkelheit. »Plumpsklo.« Dann lehnt sie sich an die Wand, um ihr Gleichgewicht zu halten, zieht lässig einen ihrer Gummistiefel aus, und ein Schwall braunes Wasser ergießt sich auf den Boden. Ich schaue entsetzt zu.

Sie zwinkert schelmisch. »Sumpf.«

Mein Mund bleibt offen stehen. »Sumpf?«

Dann spaziert sie winkend davon. Die Affen drehen ihre Köpfe, um mich zu beobachten, ihre Augen glänzen in der mittlerweile fast rabenschwarzen Dunkelheit. Die Finsternis ist so dicht, es fühlt sich an, als wäre ich verschluckt worden. Einen Moment stehe ich allein im bedrohlichen Dunkel. In der Menge aus Schwirren und Pulsieren und Klopfen kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Dann geht ein unangenehmer Ruck durch meinen Bauch, und da ich keine Wahl habe, betrete ich waghalsig den von Sammie angezeigten Pfad, der kein richtiger Pfad ist, sondern nur ein etwas weniger dunkler Bereich zwischen anderen dunklen Bereichen im Dickicht. Der Strahl meiner Taschenlampe trifft auf Äste, lässt sie weiß aufleuchten wie Rippen, wie gestapelte und zusammengefügte tote Körper.

Nach wenigen Minuten bin ich ringsum von dichtem Laub umgeben. Der »Pfad« ist eine Sackgasse, das Plumpsklo ein Verschlag an dessen Ende. Ich öffne die klapprige Tür mit dröhnendem Herzschlag, ziehe meine Jeans herunter und halte mich über dem kaputten Sitz einer Toilette, die nicht mehr ist als ein unendlich tiefes Loch. Der Gestank ist so schlimm, dass ich würgen muss. Es platscht laut, als das, was ich loswerde, sehr weit unten auf eine suppige Oberfläche trifft. Meine Knie berühren die Rückseite der Tür und ich lese eine darauf gekritzelte Nachricht. El lugar perfecto para meditar, pensar, soñar, amar, compartir, escuchar, hablar y estar. – Dies ist der perfekte Ort zum Meditieren, Nachdenken, Träumen, Lieben, Teilen, Zuhören, Reden und Sein. Ich schnaube. Da hat jemand Sinn für Humor. Ich finde mein Verhältnis zu Insekten ziemlich normal: Ich mag sie nicht. Einmal habe ich meine Schlafzimmertür abgeschlossen und eine Woche auf dem Sofa übernachtet, weil eine Spinne über mein Kopfkissen gekrabbelt war. Aber hier an der Sitzkante ist eine ganze Ansammlung von grauen Spinnweben. Linien von Termiten verzieren die Wände. Ich drehe mich um, ohne es zu wollen, aber ich kann nicht anders. Da bewegt sich etwas. Es windet sich. Scheiße und Maden. Ich schreie. Eine Spinne so groß wie eine Untertasse klettert gemächlich den Sitz hinauf, schwarz mit gelben Fangzähnen.

Ich bin schnell draußen, meine Jeans ist noch nicht einmal zu. Als ich zum Patio zurückkomme, ist glücklicherweise niemand da, um zu sehen, wie ich vornübergebeugt stehenbleibe, keuchend und mit schmerzhaftem Seitenstechen. Ich fühle mich an die Schulzeit erinnert, als wir unermüdliche Runden um den Block laufen mussten, unsere gut sichtbaren Westen leuchteten in der winterlichen Dämmerung. Es war eine anspruchsvolle Mädchenschule, und mithilfe dieser Läufe bekamen wir die Chance, herauszufinden, wer von uns Darwins »Überleben des Stärkeren« am nächsten kam – als Übung für später, wenn wir antreten würden als Anwältinnen, Ärztinnen, Stadtbewohnerinnen, Pendlerinnen mit weichen Händen und noch weicheren Aktentaschen. Schon damals wusste ich, dass diese Art von Wettbewerb nichts für mich ist. Allerdings gab ich mir weiterhin Mühe, Runde für Runde, mein Gesicht rot wie eine Tomate und mit brennendem Seitenstechen, während andere Mädchen kicherten und mir die kalte englische Feuchtigkeit in die Knochen stieg.

Tief durchatmend blicke ich in das helle Kerzenlicht des Comedor. Die Leute lachen, essen zu Abend. Vom Duft des angebratenen Knoblauchs läuft mir das Wasser im Mund zusammen, aber ich bin erschöpft, verschwitzt und meine Haare … Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, wie meine Haare aussehen.

Ich finde die Tür zu La Paz. Auf dem Fußboden liegen Kerzenstummel. Als ich einen anzünde, fliegen unheimliche Schatten über die von Spinnweben bedeckten Ziegelsteine. Ich weiß nicht, wie spät es ist, vermutlich nicht viel später als sieben. Es gibt drei Stockbetten, sechs Betten insgesamt, und nur ein kleines Fenster an der rückliegenden Wand. Überall liegt Zeug: Rucksäcke, Schuhe, alte Stiefel, Seile zwischen den Betten, die als Wäscheleinen dienen. Die nasse Wäsche daran verstärkt den Eindruck einer schimmeligen, feuchten Höhle. Ich inspiziere ein leeres oberes Bett und finde eine harte, unnachgiebige Heumatratze vor, die mit Plastik ummantelt ist. Na, da werde ich ja kein bisschen schwitzen, denke ich und lache verzweifelt auf. Es gibt kein Laken, aber ein Moskitonetz, das schon nach einem flüchtigen Blick Risse und Blutflecken aufweist. Was sich daraus schließen lässt, ist zu entsetzlich. Ich schwinge mich komplett bekleidet hinauf. Obwohl es zu früh ist und mir so heiß ist, dass ich kotzen könnte, ziehe ich mir meinen Schlafsack über den Kopf, schließe die Augen und bete, dass nichts und niemand mich bemerkt.

Als ich aufwache, brüllt etwas. Da ist ein Löwe in meinem Zimmer. Ich schnelle hoch, stoße mir den Kopf an den Balken. Licht fällt durch das grüne Fensternetz. Wo bin ich? Was zum …

Ein Affe sitzt neben meinen Füßen. Kein Löwe. Der Moment der Erleichterung macht mich ganz benommen, dann begreife ich: Ein Affe sitzt neben meinen Füßen! Auf meinem Schlafsack! Es ist der ohne Bart, und er sieht noch immer nicht glücklich aus, überhaupt nicht glücklich! Ich rutsche weg so schnell ich kann und quetsche mich gegen die Wand. Ich will nichts anfassen. Weder den Affen noch das Moskitonetz, die Ziegel mit Spinnweben, die glänzende, steinharte, unebene Matratze, die durch meinen Schweiß ganz glitschig geworden ist und in der es vermutlich vor Bettwanzen und Flöhen nur so wimmelt. Der Affe hält inne. Seine braunen Augen voller – Mitleid, Zorn, Kummer? Ich weiß es nicht. Er holt erneut Luft, bläht seine Brust auf und lässt ein gigantisches Gebrüll los. Ich halte mir die Ohren zu.

»Keine Sorge. Das ist nur sein Morgenritual. Er lernt gern die neuen Mädels kennen.«

Ein Kopf taucht plötzlich auf. Buschige Locken, ein rotblonder Bart, der Hals eines Rugbyspielers. Das Gesicht ist erstaunlich blass und übersät mit Sommersprossen. Graublaue Augen. Englisch mit einem Akzent aus Manchester. Er streckt lächelnd seine Hand aus, um den Affen zu streicheln. Um seine Augen bilden sich Fältchen.

»Hola Faustino«, flüstert er.

»Der darf nicht hier drin sein!«

Wir zucken zusammen. Ich spähe durch mein Netz. Mitten im Raum steht eine junge Frau, die Arme in die Hüften gestemmt. Dunkle Locken umrahmen ihr Gesicht, es glänzt scharlachrot.

»Thomas!« Sie schaut den Typen an. »Schaff den Affen hier raus. Verdammt nochmal, Tom.« Sie zeigt vorwurfsvoll mit dem Finger auf uns, als wäre das hier aus irgendeinem Grund auch meine Schuld. Der Affe streckt ihr nur die Zunge heraus. Sie gibt einen lauten Ausruf der Empörung von sich, bevor sie zu einem an der Wand lehnenden Rucksack hinübergeht und aggressiv darin herumwühlt. Sie spricht mit starkem Akzent, osteuropäisch vermute ich. »Wenn er wieder an meinen Sachen war …«

»War er nicht, Katarina. Er ist kein Dieb, stimmt’s, Foz?«

Der Affe schaut Tom mitleiderregend an. Dann kriecht er in Toms Arme und beide werfen der Frau finstere Blicke zu, während sie das Zimmer verlassen. Die Tür fällt scheppernd hinter ihnen ins Schloss.

»Wo ist er?« Kleidung fliegt umher.

»Was hast du verloren?« Ich schaue unter meinem Netz hervor.

Die Frau blickt mürrisch zu mir hoch. »Oh, du lebst. Wir waren uns nicht sicher.« Ich werde rot, als sie sich wieder dem Kleiderhaufen zuwendet. »Meinen BH. Er hat wieder meinen verdammten BH genommen.«

»Da war dieses Schwein gestern. Das hatte einen BH. Einen roten.« Ich lache, denn mir wird plötzlich bewusst, wie dämlich das klingt. Aber ich will, dass sie mir die Störung mit dem Affen verzeiht. Ihre großen braunen Augen weiten sich.

»Panchita?«

Und bevor ich noch irgendetwas sagen kann, stürmt sie aus der Tür. Ihre anklagenden Rufe schallen über den Patio. Ich lege mich auf den Rücken, blicke hoch in die Dachsparren. Hoffentlich habe ich keinen Riesenfehler gemacht. Das letzte, was ich will, ist Ärger mit diesem Schwein.

Ich stehe auf dem Patio. Es ist gerade mal halb sieben, und es geht schon zu wie im Bienenstock. Ich wünsche mir, ich hätte in meiner Jugend tatsächlich etwas Nützliches gelernt, zum Beispiel wie man mit Holz arbeitet oder auf Bäume klettert, statt die Zeit mit Tagträumen und Rauchen hinter der Sporthalle zu verbringen. Hier fügen sich alle perfekt ein, als hätten sie schon ihr ganzes Leben im Dschungel verbracht. Ich starre ehrfürchtig auf das Treiben. Es sind unterschiedliche Altersgruppen und Nationalitäten, mehr bolivianische Menschen als Fremde, und auch Kinder – ich sehe mindestens fünf. Ein pausbäckiger Junge, der nicht älter aussieht als elf, trägt die Waschbärenkreatur in seinen Armen – Teanji hatte ihn jemand genannt. Den Waschbären, nicht den Jungen. Sie unterhalten sich in Fieplauten.

Im Tageslicht stelle ich fest, dass das Lager schlimmer aussieht als gestern Abend. Seltsame, geschäftige Tiere streifen umher. Eichhörnchen, Meerschweinchen-Ratten mit getüpfelten Linien wie Rennstreifen, wieder dieses Schwein – obwohl ich nicht mehr sicher bin, ob es wirklich ein Hausschwein ist … Es scheint eher eine wuchtige tropische Mischform aus Hausschwein und Wildschwein zu sein. Einige grob erhaltene Pfade führen in den Wald hinein, die Bäume biegen sich über mir. Altes Werkzeug, Bretter und rostige Zaunteile liegen durcheinander im Schlamm, einzelne Ziegelsteine, verwelkte Blätter, bröckelnder Zement und Pfützen. Es hat wohl Versuche gegeben, diesen Ort fröhlicher wirken zu lassen – das Gebäude mit dem Schlafraum wurde irgendwann mit bunten Bildern von Dschungeltieren verziert, aber inzwischen sind mehr abblätternde Farbe und Spinnweben zu sehen als Tukane und Papageien. Wenn ich genau hinsehe, erkenne ich tausende winzig kleine pinke Eier, die in den Fugen eingebettet sind. Es schaudert mich, und ich versuche mir nicht auszumalen, welche Herzschläge in diesen Eiern heranreifen. Es riecht überwältigend nach nasser Erde und faulenden Früchten.

»Laura?«

Ich drehe mich um. Eine Frau kommt auf mich zu. Sie ist Bolivianerin, klein mit rundem Gesicht, ihr Haar ist zu dicken schwarzen Zöpfen geflochten, die ihr fast bis zur Taille reichen. Sie geht etwas gebückt und hat Müdigkeitsfältchen an den Augen. Ihr Outfit besteht aus Jeans, Gummistiefeln, einem dicken Hemd und einem abgenutzten, alten Cowboyhut. Außerdem hat sie einen Rucksack dabei, an dem eine Machete, Seile, Karabiner und Eimer baumeln. Ihre Art zu gehen ist wie ein Angriff, sie schwingt ihre Arme, als wolle sie die Luft aus dem Weg schieben. Ich habe das Gefühl, einen Schritt zurückweichen zu müssen, um ihr Platz zu machen. Und das tue ich, bis ich mit dem Rücken an der Tür zu La Paz stehe. Aber dann ist sie da, neben mir, und lächelt. Wenn sie lächelt, glätten sich die Linien in ihrem Gesicht, ihre Haut strahlt und plötzlich möchte ich auf sie zugehen, nicht zurück.

»Vamos«, sagt sie forsch.

Schon geht sie weiter, und ich folge ihr durch die Netztüren des Comedor. Meine Hand öffnet sich, als sie mir einen dampfenden Becher mit Kaffee reicht, mein Körper sinkt gehorsam auf eine wackelige Bank. Ich muss mich am Tisch festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie setzt sich mir gegenüber und legt ihre Hände mit den Handflächen nach unten auf das rissige Holz. Ihre Hände sind voller Narben.

Der Raum ist … sonderbar. Es gibt drei lange Tische, an die sich vielleicht dreißig Menschen quetschen könnten, aber jetzt sind wir nur zu zweit. Die Wände bestehen aus Ziegelsteinen, bis sie ungefähr auf Hüfthöhe einfach enden und in die grünen Netze übergehen. Der Boden ist festgetretene Erde, das Dach besteht aus Blechplatten. Es fühlt sich an, als wären wir gar nicht in einem Raum. Die beiden roten Affen sitzen draußen auf einer niedrig hängenden Kletterpflanze und beäugen mich streng. Coco und Faustino.

Ich schaue hinunter zu meinem Kaffee, schließe meine Finger um die Wärme des alten Plastikbechers. Eigentlich trinke ich keinen Kaffee. Kaffee bringt mich aus der Fassung. Aber jetzt halte ich mich an meinem Kaffee fest, als würde mein Leben davon abhängen. Er ist etwas Vertrautes. Ich kenne diesen Geruch. Er ist normal.

»Hablas español?« Die Stimme der Frau ist tief, so als würde sie jemand anderen ansprechen, den ich nicht sehen kann. Ich schätze, sie ist Mitte dreißig. Vielleicht Ende dreißig.

Ich verziehe das Gesicht, mache das Zeichen für mittelmäßig mit den Händen. »Más o menos.«

Sie nickt. »Entonces mi nombre es Mila.« Sie wechselt ins Englische mit einem starken Akzent. »Ich bin die Leiterin von diesem Parque, zusammen mit unserem Tierarzt, Agustino. Du hast ihn schon kennengelernt, oder?«

Ich nicke rasch.

»Wir kümmern uns um wilde Tiere, die aus dem illegalen Tierhandel gerettet wurden. Monos, aves, chanchos, tapires, gatos –«

»Gatos?« Ich unterbreche sie. Katzen? Ich frage mich, ob es wohl auch Hunde gibt. Das heitert mich auf. Ich mag Hunde. Aber als ich nach draußen blicke, das spanische Wort fällt mir nicht ein, sehe ich bloß diese Affen. Ich zucke erschrocken zusammen, als ich einen Jungen entdecke, der offenbar eine junge Anakonda um den Hals trägt.

»Sí. Wir haben sechzehn Katzen. Jaguare, Ozelote. Und Pumas.«

Ich starre sie stumm an. Natürlich. Keine Hauskatzen.

»Ich habe einen Puma, mit dem du arbeiten kannst.«

»Einen Puma?«

Sie nickt. »Aber wenn du das willst, musst du dich für einen Monat verpflichten. Mindestens dreißig Tage für die Arbeit mit einem Puma.« Dann zögert sie, sieht mich eindringlich an. Ich zupfe nervös an meinem Kragen, blicke auf ihre vernarbten Hände. »Wenn nicht, kannst du kürzer bleiben. Zwei Wochen. Arbeit mit Vögeln, Affen.«

Ich höre jedoch kaum etwas nach dem Wort Puma. Mir ist nicht ganz klar, was ein Puma ist. Er muss wohl groß sein, wild und kraftvoll. Ich bekomme Gänsehaut an meinen Armen, trotz der Hitze. Die ausgeprägten Sprenkel in Milas Iris sehen aus wie die Wirbel in einem Tigerauge. Ich bin unsicher, ob ich die Art Mensch bin, die Mila mit etwas Großem und Wildem und Kraftvollem arbeiten lassen will. Meine Knöchel sind schwach. Vielleicht sollte ich einfach meine Sachen holen. Vielleicht sollte ich einen Bus heranwinken oder mir ein Taxi rufen? Kann ich das, ein Taxi rufen?

Sie mustert mich.

»Dieser Puma heißt Wayra.«

Ich drücke fest auf den Rand meines Bechers. Als ich es nicht schaffe, etwas zu sagen, will sie aufstehen. Ihr ist klar geworden: ja, dieses Mädchen ist tatsächlich nicht die Richtige dafür.

Ich schaue mich verzweifelt um. Mein Blick bleibt bei den Affen hängen. Könnte ich die Richtige dafür sein? Der ohne Bart, der in meinem Bett saß, hat jetzt den BH. Er hält ihn mit einer Hand fest, seine haarigen Finger umklammern die Träger. Mein Mund öffnet sich und schließt sich wieder. Der Dieb! Verschmitzt führt er ihn an seine Nase und nimmt einen langen, tiefen Atemzug, bevor er ihn Coco hinüberschiebt, der misstrauisch schaut. Faustino grunzt und zwingt Coco, den BH aufzuheben. Coco klettert auf das Dach und stopft den BH in ein Loch in der Wand, bevor er mit schuldbewusstem Blick wieder herunterkommt.

Ein Puma. Ich.

Plötzlich nicke ich, ein wenig benommen. Es ist die Erschöpfung, die Hitze, diese verdammten Affen … Aber als sie zu mir zurückschaut und mich nicken sieht, strahlt Mila.

Es ist eine meiner schönsten Erinnerungen: Ich kuschele mich mit meiner Schwester im Bett unserer Eltern ein, und wir zeichnen mit den Fingern die goldenen Ranken auf Mums alter, schwerer Ausgabe von Der Herr der Ringe nach. Zwar war es dunkel hinter den Vorhängen, aber wir waren sicher. An einem Abend las Mum uns vor, am nächsten übernahm Dad, während die Hobbits ihre langsame, quälende, furchterregende Reise durch Mittelerde fortsetzten. Und später, als ich älter wurde, las ich weiterhin gern Fantasy, Science-Fiction … Ich konnte nicht genug bekommen von dunklen Wäldern, tiefen Ozeanen und heulenden Berggipfeln. Aber es machte wohl vor allem so viel Spaß, weil ich wusste, dass ich sicher in meinem Zuhause war.

Ich sitze da, nicke und lächele Mila über den Tisch hinweg an wie ein Trottel – ich will sie unbedingt zufriedenstellen. Und ich denke an das, was auf mich wartet, wenn ich in einem Monat nach Hause zurückkehre. All die erdrückenden Jobs, die ich gekündigt habe. Die Hochzeitseinladungen von den Mädchen, mit denen ich in der Schule konkurriert habe. Ich date nicht einmal, außer man zählt die Freunde, mit denen ich alle Jubeljahre betrunken und heimlich abgestürzt war. Will ich es geheim halten oder wollen sie es? Ich weiß es nicht. Habe ich in der Schule meine wichtigste Überlebensstrategie gelernt?

Lächle, wenn dir jemand in den Arsch kneift, deine Brüste betatscht, über dein Gewicht lacht. Manchmal fühlt es sich an, als würde ich schon so lange brav lächeln, ich tue es im Schlaf. Hey, Dude, den ich für meinen festen Freund hielt – du gehst schon einen Monat mit einer anderen aus? Kein Problem! Lächeln. Eltern – ihr lasst euch scheiden? Das kommt überraschend! Aber natürlich, wenn ihr unglücklich seid. Lächeln. Der Chef ist ein Wichser. Lächeln. Und jetzt werde ich durch das ganze Lächeln und Nicken womöglich bald von einem Puma zerfleischt.

Das Frühstück zieht in einem verschwommenen Durcheinander aus Kaffee und Brötchen vorüber. Nach und nach kommen Menschen von draußen in den Comedor, sie sehen abgearbeitet, aber äußerst fröhlich aus. In dem Brotbeutel befinden sich Rattendreck und eine Armee von großen schwarzen Kakerlaken. Ich versuche trotzdem zu essen, wie es die anderen tun, aber als ich in mein altbackenes Stück Brot beiße, wird es schwer, Haltung zu wahren, denn eine ganze Familie roter Ameisen schießt über meine Zunge. Sammie erklärt im Vorbeigehen und mit sehr wenig Anteilnahme, dass es »nur Eiweiß« sei. Das kommt davon, wenn man im Dschungel Brot zu lagern versucht, nehme ich an … Nahrung ist für alle da.

Ich bin jetzt wieder auf der Straße. Sie scheint sich weiter und weiter in das unendliche Nichts des Dschungels auszudehnen. Sieht aus wie das Cover eines billigen Science-Fiction-Romans, bei dem man von vorneherein weiß, dass alle verloren sind. Der Himmel ist nicht mehr rot oder golden, sondern ganz und gar hellblau. Die junge Frau vor mir wippt auf ihren Stiefelabsätzen vor und zurück. Jane. Sie hat mich hierhergebracht, in ihrer zu großen Latzhose und ihrem fröhlichen Strohhut. Oscar steht neben ihr, sein Lächeln so fröhlich wie ihr Hut. Er ist groß wie eine Giraffe, außergewöhnlich gutaussehend mit einem Bart und einem kräftigen amerikanischen Akzent. Jane ist zierlich, eine Australierin mit schwarzen Locken und einer Stupsnase, sie sollten in einem Hochglanzmagazin abgebildet sein, Jane auf Oscars Schultern balancierend, eine wunderschöne Zirkusnummer, bei der etwas schrecklich schiefgelaufen ist und beide ihren Verstand verloren haben.

Es ging alles sehr schnell.

Mila hat so wunderschön gelächelt. Sie hat meine Hand genommen, wir haben alte Arbeitskleidung und Stiefel für mich gesucht, sie hat mich zu Agustino geführt, damit ich bezahlen konnte. Ich habe ihm weniger als zweihundert Dollar gegeben, was ihm zufolge für dreißig Tage Kost und Logis reichen würde. Und Puma war noch immer unwirklich, märchenhaft.

Aber nun …

»Ihr führt Jaguare und Pumas spazieren? Außerhalb ihrer Käfige? An der Leine?« Ich gebe mein Bestes, so zu tun, als ob ich das im Gehen verarbeiten könnte. Als würde ich jeden Tag solche Dinge erleben.

Oscar nickt munter.

»Und das werden wir jetzt machen?« Ich blicke von einem zum anderen und höre meine Stimme ansteigen.

Janes Augen sind grüne Blitze im blendenden, am Asphalt abprallenden Sonnenlicht. »Ja.«

Ich nehme einen ordentlichen Zug von meiner Zigarette. Es ist noch nicht einmal neun, und es müssen schon mehr als fünfunddreißig Grad sein. Der Wald zeichnet sich bedrohlich auf beiden Seiten ab, klebrig und schwer. Ein dünner Schweißfilm bedeckt meinen Körper wie die Wasserschicht in einem Neoprenanzug. Ich schüttele den Kopf, blicke wieder in die erwartungsfrohen Gesichter von Jane und Oscar, in einen Wald, dessen Grün ich mir bisher nur in meinen Träumen vorstellen konnte.

Ich denke an die vielen Standpauken meiner Eltern zum Thema Aufgeben. Ich frage mich, was sie jetzt wohl sagen würden, und ich lache in mich hinein. Gib auf! Gib sofort auf!

Ich bemühe mich um ein mutiges Lächeln.

»Dann lasst uns zu Wayra gehen.«

Jane stapft in schnellem Tempo die Straße hinunter, als würde ich es mir anders überlegen, wenn sie nicht schnell genug wäre. Sie hat recht. Ich trabe, um Schritt zu halten. Oscar schlendert glücklich hinterher und deutet auf, wie er mir erzählt, wilde Kapuzineraffen. Sie schwingen sich zwitschernd am Straßenrand entlang. Ab und zu greift einer daneben und kracht unter den Hohnrufen der Artgenossen in die Büsche. Sie tun mir leid, und die ersten paar Male schnappe ich nach Luft und strenge mich an zu sehen, ob es ihnen gut geht. Aber sie kommen schnell wieder auf die Beine, als wären ihre Knochen aus Gummi. Oscar hat erzählt, dass er seit fünf Wochen hier ist. Ich habe keine Ahnung, wie lang Jane hier ist. Länger als Oscar, vermute ich. Sie schert sich nicht um die Affen, und ich bleibe dicht hinter ihr.

»Wayra ist ein wildes Tier«, sagt sie über die Schulter hinweg. »Wir holen sie aus dem Käfig, damit sie etwas Freiheit hat, sich die Beine vertreten kann, wenigstens ein bisschen von dem Gefühl erlebt, das sie in der Wildnis gehabt hätte.«

Ich nicke rasch. Was ich verstanden habe: Wir arbeiten mit geretteten Tieren. Tiere, die verbotenerweise aus dem Dschungel geholt, als Haustiere auf dem Schwarzmarkt verkauft oder beim Zirkus und im Zoo untergebracht wurden, um nie wieder freigelassen zu werden. Das alles würde mich vermutlich trauriger machen, wenn mir nicht eine riesengroße Frage im Kopf herumspuken würde.

»Ist das nicht gefährlich?«, flüstere ich.

Zuerst antwortet Jane nicht, aber dann hält sie an. Das Grün ihrer Augen wird zu Bronze.

»Vielleicht ist es das«, sagt sie endlich. »Aber wir müssen für uns selbst entscheiden, ob diese Tiere es wert sind.« Ihr Blick ist angespannt, ihre Schultern fast bis zu den Ohren hochgezogen. Dann zeigt sie nach links, wo zwei kleine Baumstämme, deren Äste so knorrig aussehen wie Hexengesichter, etwas weiter vorne stehen als die anderen. Sie sind zur Sonne ausgerichtet und haben einen seidigen Glanz. »Halt einfach Ausschau nach diesen beiden«, sagt sie, als würden sie entscheiden, wer hineingehen darf und wer nicht. »Hier gehen wir rein.« Dann bleibt sie stehen, ihre Schultern entspannen sich. »Komm mit.« Sie lächelt. »Sie wartet sicher schon.«

Ich stolpere durch die Hexen und in die Dunkelheit hinein. Meine Füße treffen auf unebene Erde, und der Geruch von Tau erfüllt meine Nase. Ich kämpfe mich durchs Gras, aber es ist wild, ragt hoch über meinen Kopf, die Kanten rasiermesserscharf. Man kann kaum mehr als einen Meter weit sehen. Im Dschungel gibt es zwei Jahreszeiten, Regenzeit und Trockenzeit. Ich bin im April angekommen, am Ende der Regenzeit. Der Dschungel ist selten so schön wie jetzt, nach fünf Monaten Regen. Bald wird es trocknen und die Erde wird ausdörren, der Schlamm reißt auf und die Blätter zerkrümeln. Aber jetzt? Ist es atemberaubend. Irgendwie ist es ein Grün, das aus allen erdenklichen Farben besteht.

Ich drehe meinen Kopf hin und her, hole einige Male zu schnell Luft. Es gibt keinen Himmel, nur hochragende, mit Blättern überzogene Bäume, so ausladend wie die Umhänge von Zauberern. Einige Bäume sind so groß wie Riesen, die Köpfe angeschwollen, die Haut pellt sich in bronzenen Flüssen, die Körper mit Dornen gepanzert. Vögel. Irgendwo zu meiner Linken ist ein Specht, vielleicht auch ein Ara. Hoch oben sind die Affen, Brüllaffen wie Coco und Faustino, ihre Schreie hallen nach. Es gibt Vorhänge aus Bambus, die auch in mittelalterliche Folterkammern passen würden. Überall wachsen Moose, Flechten, Kaskaden aus giftgrünem Farn, Lianen wie Seile, Pilze in allen Farben, fremdartige Blüten in blau, lila, sonnenblumengelb. Bäume ersticken andere Bäume. Ameisen bauen Gräben. Sie tragen Blätter, die um ein Vielfaches größer sind als sie selbst, Tierkörper, tote Dinge, Samen, Blumen. Ameisen kleiner als eine Sommersprosse, Ameisen größer als mein Daumen, erdbeerrot, glänzend schwarz. Ameisen mit Zangen, um Wunden zu stechen. Käfer mit Panzern aus geschliffenem Kristall, tennisballgroße Kröten, wasserballgroße Termitennester. Die Blütenblätter sind Kleckse aus gelb, kupferrot, kobaltblau, ultramarin. Da steht ein Baum, dessen Brettwurzeln so riesig sind, dass ich aufrecht hindurchgehen könnte, und niemand würde mich finden. Er ist übersät mit schrillen Pilzen wie aus einer Urwelt.

Ich werfe einen Blick zurück in die Richtung, in der mein Gehirn die Straße vermutet, und dann gehe ich los. Es ist märchenhaft. Der Pfad schlängelt sich, der Untergrund ist flach, bis er es plötzlich nicht mehr ist, eine scharfe Biegung über einen kleinen Hügel, und dann sehe ich nichts mehr. Der Boden ist bedeckt von einem Moosteppich, und weiße Blüten leuchten in den wenigen Flecken aus Sonnenlicht. Ich weiß nicht, in welche Richtung wir gehen, nur dass wir uns weiter und immer weiter von der Sicherheit des Lagers entfernen. Wir gehen zehn Minuten, zwanzig, ich bin nicht ganz sicher. Duftwolken schlagen mir entgegen, nehmen mir die Luft, bevor sie wieder schwächer werden, durch andere ersetzt, noch süßer, dichter, schwerer. Das Atmen tut weh. Das Denken. Die Grüntöne werden dunkler, die Gerüche unangenehmer, fauliger, der Pfad zugewachsener, der Himmel ist nur noch eine Erinnerung.

»Jeden Tag glaube ich, es ist ein Traum«, murmelt Jane.

Ich verfange mich an einem herabhängenden Stück Bambus, einer verknoteten Dornenranke. Es ist ein Traum, denke ich, während ich mich befreie. Ich glaube, ich war noch nie an einem Ort mit eigenem Herzschlag. Millionen von Herzschlägen. Ich stelle mir drängelnde Leute in der nach Schweiß stinkenden Londoner U-Bahn vor. Da gibt es mehr als eine Million Herzschläge, aber sie sind alle gleich. Sie sind alle wie meiner. Hier ist nichts so wie bei mir.

Jane hält an. »Wir sind fast da.«

Wir stehen im Schatten einer Würgefeige. Der Baumstamm ist mit schmarotzerartigen Ästen umwickelt, Schlingpflanzen so stark miteinander verwoben wie Haare, die immer und immer wieder geflochten wurden, bis sie mehr Zopf als Ranken sind und sich in einem endlosen Blätterdach verlieren.

Schlagartig wird meine Angst vor allem um mich herum von etwas Stärkerem verdrängt. Von einer zweiten Angst, zugespitzter, konzentrierter. Und doch ist da noch etwas anderes. Neugier. Vorfreude. Ein Prickeln läuft mir über den Rücken.

Ein Schild wurde an die Rinde genagelt. Es ist alt und verwittert, aber ich kann trotzdem lesen, was darauf steht: HOLA WAYRA PRINCESA.

Janes Stimme ist hell und klar. »¡Hola, Wayra!«

Ich starre sie an. Sie scheint zehn Zentimeter gewachsen zu sein.

»Hola, Liebling!« ruft Oscar.

»Sag auch hallo«, fordert Jane mich auf. »Damit du sie nicht erschrickst.«

Ich nicke. »¡Hola, Wayra!«

Ich weiß nicht, was mich hinter der Biegung des Pfades erwartet. Aber Janes Augen, die sich nicht entscheiden können, ob sie grün oder braun sind, füllen sich mit einer Art Verzückung.

»Mein Schatz! Princesa. ¿Cómo estás?« Es klingt fast wie ein Gedicht.

Wir steigen eine abschüssige Böschung hinunter. Die Erde ist sandig und meine Füße suchen nach Halt. Dann noch ein kleiner Hügel und noch ein umschlungener Baum, die Rinde so rot wie Ahornblätter. Oscar hilft mir über einen morschen Holzstamm. Ich rieche etwas Fruchtiges, und plötzlich, obwohl ich damit rechne, sind wir auf einer Anhöhe und blicken auf eine Lichtung. Ungefähr so groß wie zwei Tennisfelder, von einem Ende zum anderen. Sie ist gesäumt von langen Bahnen einer einzigen Pflanzenart, so groß wie ich und mit Blättern wie dunkelgrün lackierte Paddel, hellgrün, wo sie von der Sonne angestrahlt werden. Über uns ist der blaue Himmel zu sehen, was mich irritiert. Ich bin beinahe überrascht, dass es ihn noch gibt. Aber ich sehe ihn mir nicht lange an, denn weniger als zehn Schritte entfernt steht der Käfig.

An den Fuß der Anhöhe geschmiegt, misst er ungefähr zehn mal zwölf Meter, vorne etwas breiter als an den Seiten. Er nimmt ein Drittel der Lichtung ein. Als Dach dient ein niedriges dreieckiges Zelt, und ein knorriger Baum ist die Hauptstütze, er steht aufrecht wie ein Maibaum und sticht oben durch die Spitze. Am Boden des Käfigs liegt Matsch, der die Farbe von gebräunter Butter hat. Außerdem sehe ich ein paar miteinander verbundene Holzplattformen, einige höher, andere tiefer. Ein paar geschnittene Holzstämme, Büsche mit viel Grün und Palmblätter. Hinten ein erhöhter Unterschlupf im Schatten einer blauen Plane. Vorne links eine große, kastenartig hervorstehende Tür. Lichtflecken sprenkeln den Boden, aber im Gegensatz zum Rest der Lichtung liegt der Käfig größtenteils im Schatten.

Sie ist nur schwer zu erkennen, ihre Farbe ähnelt den Schatten. Aber dann peitscht ihr langer Schwanz.

»Hola, Wayra«, flüstere ich.

Die einzigen gut erkennbaren Stellen von ihr sind die Augen, so grün wie die Oberflächen der paddelförmigen Pflanzen, und ihre Nase, so rosa wie ein Sonnenuntergang. Sie schaut uns einen stillen Moment lang an. So lang, dass ich denke, sie wird sich gar nicht bewegen, und als sie endlich von der Plattform herunterspringt und so elegant landet, als hätte sie sich gar nicht bewegt, trete ich voller Respekt einen Schritt zurück.

Sie schleicht auf uns zu, und ich bin so überwältigt, dass ich beinahe aufschreie, als Jane beide Arme vorsichtig durch den Zaun schiebt. Schnell trete ich noch einen Schritt zurück. Was tut sie da? Hier gibt es im Umkreis von achtzig Kilometern keinen Arzt. Ich werde sie durch den Dschungel zurücktragen müssen und dabei zusehen, wie ein Tierarzt sie wieder zusammenflickt. All das schießt mir in der Sekunde durch den Kopf, die Wayra braucht, um den Käfig zu durchqueren. Dann leckt sie. Sie leckt tatsächlich an Jane. Und Jane sieht selig aus. Sie hat ihre Ärmel hochgekrempelt, und der Puma drückt sich gegen ihre Hände.

Jetzt weiß ich, was sie ist. Ich habe das Tier immer Berglöwe genannt. Andere Bezeichnungen tauchen aus den verborgenen Tiefen meines Gehirns auf. Silberlöwe, Kuguar … Schon komisch. Mir war nicht bewusst, dass sie alle dasselbe meinen. Ich überlege kurz, das laut zu sagen, aber entscheide mich dagegen. Man kann das Lecken hören, ein Geräusch so rau wie hartes Schleifpapier.

»Wie war deine Nacht?«, murmelt Jane, fasst unter Wayras Kinn und krault ihren Hals. Die Pumadame streckt ihren Hals vor, dreht ihr Gesicht – lauter scharfkantige Knochen und warme Farben – zum Himmel, schließt ihre Augen. Sie scheint … ruhig. Sie ist dünn, geschmeidig. Vielleicht wird sie mich doch nicht zerfleischen. Die Kanten ihrer Wirbelsäule sind definiert. Die Muskeln am Rücken, den Schultern und Oberschenkeln ebenfalls. Sie hat die Farbe eines bleigrauen Himmels. Dann blinzele ich. Es stimmt nicht, sie hat die Farbe von gelbbraunem Ocker. Sie ist kleiner als ich dachte. Vielleicht so groß wie ein großer Hund, nur ein wenig größer als der Schäferhund meiner Mum.

Ich mache automatisch einen Schritt nach vorn. Doch als ich das tue, wirbelt sie herum. Ihre Augen weiten sich, werden durch die großen Pupillen plötzlich schwarz, und ihre Ohren liegen flach an, während sie mich ansieht, als würde sie sagen: WAS. ZUM. TEUFEL. BIST. DU? Dann öffnet sie ihr Maul und faucht. Angst und Galle schießen in mir hoch, als hätte ich einen Tritt ins Gesicht bekommen. Es ist körperlich. So gewaltsam, so heftig, so vollkommen eindeutig, dass ich erschreckenderweise fast in Tränen ausbreche.

Wayra rennt davon, springt auf ihre höchste Plattform – mindestens einen Meter über meinem Kopf – und ihr Blick ist stechend. Dann beginnt sie wütend ihre Pranken zu putzen, die Krallen sind ausgefahren.

»Es bedeutet Wind«, sagt Jane mit einem strahlenden Lächeln, während sie ihre Arme aus dem Käfig zieht und aufsteht. »Ist sie nicht umwerfend?«

Als ich Jane verständnislos ansehe, legt sie ihren Kopf schief.

»Ihr Name. Es ist Quechua.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Oscar und klopft mir noch immer munter lächelnd auf die Schulter. »Sie muss erst warm werden. Sie ist ein Puma.«

Ich beobachte, wie eine rote Ameise eine tote Ameise über meinen Stiefel transportiert. Ich war schon Empfangsdame, Umschlagbefüllerin, Barfrau, Philosophiestudentin, Englischstudentin, Kunststudentin, Putzfrau, Telefonberaterin, Tankstellenangestellte, Marketingspezialistin … und nichts davon hat mich auf das hier vorbereitet. In einem anderen Leben hätten Jane, Oscar und ich vielleicht Freunde sein können. Wir hätten uns vielleicht in einem Bus nach Patagonien oder sonst wo kennengelernt und uns bei Empanadas und schlecht synchronisierten Kung-Fu Filmen prächtig verstanden. Aber jetzt mag ich die beiden kaum ansehen. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass Wayra mich verstohlen beobachtet, ihren Schwanz halb im Maul. Jane nimmt einen Schlüssel von ihrem Hals und schiebt ihn in das schwere Schloss an der Tür. Ich fühle mich wie benebelt. Der Boden scheint sich zu bewegen.

»Machst du die Tür jetzt auf?«

»Ja.«

»Und …« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Was passiert dann?«

Sie winkt mich herbei. Als ich mich nicht rühre, lächelt sie, ihre Augen funkeln ein wenig. Ihre Wangen sind blasser geworden, die Sommersprossen so dunkel wie eine umgekehrte Galaxie. Ich will ihr vertrauen. Das will ich wirklich. Aber sie hält den Schlüssel zum Käfig einer Pumadame, die mich gerade angefaucht hat, als wollte sie mich töten! Unvermittelt bricht die ganze aberwitzige Realität über mich herein. Ich muss beinahe lachen, als Jane ein Seil hochhält. Es mag einmal rot gewesen sein, aber jetzt ist es alt und blassrosa. Es hängt an einem Kabel, das sich auf Kopfhöhe von einer Ecke des Käfigs, direkt neben der Tür, bis zum anderen Ende der Lichtung spannt, wo es um einen großen Baum mit silbriger Rinde gebunden ist. Ich runzle die Stirn, da ich den Grund dafür nicht begreife, als ich ein tiefes, bösartiges Knurren höre. Ich drehe mich hastig um und springe etwa zwei Meter weit. Meine Hand schnellt zu meinem Herzen. Wayra steht im Türrahmen. Ihre Ohren sind so weit angelegt, dass es aussieht, als habe sie gar keine. Sie wirkt wie ein sehr wütender Seehund. Ich bringe mein Gesicht unter Kontrolle, als Jane ihren Arm ausstreckt und ihn vor Wayras Nase hält. Eine Opfergabe. Wayra ignoriert ihn.

»Versuch, keine plötzlichen Bewegungen zu machen, okay?«, sagt Jane. »Sie mag es nicht, erschreckt zu werden.«

Sie mag es nicht, erschreckt zu werden? Und was ist mit mir? Ich atme einige Male ein, schlucke die Angst herunter und bleibe regungslos stehen. Jane fädelt das Seil durch die Tür. An einem Ende ist ein Karabiner, wie ihn Kletterer nutzen, um Felsvorsprünge zu erklimmen. Und Wayra trägt ein schwarzes Halsband (wie die Nacht, wie die momentane Farbe ihrer Augen), an dem ein glänzender Silberring befestigt ist. Bereit zum Einhaken.

»Siehst du die Größe ihres Käfigs?«, fragt Oscar, als er näher heranrückt, bis sein verschwitzter, haariger Arm an meinen drückt. Ich bin ihm dankbar, lehne mich unmerklich gegen ihn. »In der Wildnis würde sie mehr als zweihundert Quadratkilometer durchstreifen. Ihre Welt ist auf diese Größe geschrumpft, nur weil ein Mensch einen Puma als Haustier haben wollte.«

»Wir leinen sie also an dieses Seil?«, flüstere ich und will dabei nicht auf die Ironie hinweisen.

Wayra hat aufgehört zu knurren. Sie hat sich hingelegt und drückt ihren Hals an den Zaun. Ich schäme mich dafür, aber in diesem Moment hoffe ich, dass sie keine Lust hat. Aber Jane lässt den Karabiner schon durch den Ring an Wayras Halsband gleiten. Als er einrastet, zieht Oscar die Tür auf. Dann ist es einen Moment lang still. Wayra setzt ihre vordere Pranke auf den Boden. Im nächsten Augenblick – ist sie weg! Raus aus dem Käfig. Das Seil bewegt sich am Kabel entlang, »Läufer« hat Oscar es genannt, und macht dabei ein Geräusch wie eine Seilrutsche. Sie fliegt förmlich. Als sie am anderen Ende ankommt, denke ich, sie wird einfach weiterrennen. Aber im Dunkel des Silberbaums mit seinen gebogenen Ästen – hoch wie ein Wachposten – dreht sie um. Die Schatten der Äste fallen auf ihren Rücken und versilbern sie ebenfalls. Ihre Ohren sind aufgerichtet, die schwarzen Spitzen passen genau zu ihrer Schwanzspitze. Und es gibt keinen Zaun, keine Mauern zwischen uns. Es ist unfassbar, wie schnell sie die Lichtung überquert hat. Sie ist nur, sagen wir, … dreißig Meter von mir entfernt. Das schafft sie in wenigen Sekunden. Mein Herz schlägt so entsetzlich laut, ich kann kaum etwas anderes hören. Gestern war ich noch in einer Stadt. Mit Häusern, Lichtschaltern und Ärzten. Vertrauten Dinge. Jetzt stehe ich mit einem Puma im Dschungel!

Jane flüstert: »Der Läufer soll ihr Raum außerhalb des Käfigs geben, ohne an uns gebunden zu sein.«

Ich bewege mich nicht und sage kein Wort. Wayra legt den Kopf schief. Ihr Maul ist geöffnet, und sie knurrt, tief aus dem Bauch heraus. Ihre Zähne schimmern, mir rutscht das Herz in die Hose. Einer ihrer Fangzähne ist eingerissen und gekerbt. Sie hebt ihre Pranke. Es gibt keinen Grund, so zu denken, jedenfalls fällt mir keiner ein, aber ich weiß, dass sie über mich urteilt. Mich abschätzt. Meine Angst bleibt nicht tief drinnen, wo sie hingehört. Sie wabert aus mir heraus, so kräftig wie alter Fisch, wie im untersten Fach vergessener Käse, wie ein Hund, der sich in Scheiße gewälzt hat. Ich spüre so viel Adrenalin, jemand sticht mit heißen Nadeln in meinen Brustkorb. Ihr Fell hat eine Million Nuancen von Grau und Braun, Zinn und Schwarz. Was tue ich hier? Nicht rühren. Nicht loslaufen. Nicht …

»Komm, los geht’s!« Jane packt meine Hand, und plötzlich bewegen wir uns. Ich stoße eine Art Gurgeln aus, das eigentlich irgendeine Frage werden sollte, aber zwischen Gehirn und Zunge verloren ging. Wayra hat sich verächtlich abgewandt und geht von uns weg. Mir bleibt keine Zeit für Erleichterung, denn Janes Finger umklammern meinen Arm. Wayra klopft mit dem Schwanz, und auf ihrem Rücken ist eine dunkelbraune Linie zu sehen, durchbrochen von schroffen, geometrischen Schatten. Sie knurrt noch immer.

»Wenn sie ohne den Läufer gehen will«, erklärt Jane, während wir uns viel zu schnell fortbewegen, »muss immer jemand vor ihr gehen. Sie braucht einen Beschützer.«

Beschützer? Sie braucht Schutz? Sie verlässt doch gerade selbstsicher die Lichtung.

»Wir müssen uns beeilen«, raunt Jane. »Está bien, chica. Está bien.« Ich frage mich, ob sie mich beruhigen will oder Wayra. Aber ich konzentriere mich auf ihre Stimme. Australierin. Wenn ich die Augen schließe, wache ich vielleicht in Sydney auf. Sie zieht mich weiter voran. Mit jedem Schritt bin ich weniger in Australien. Ich bin näher an Wayra. Wayra schaut über ihre Schulter und wirft mir einen Blick voller Abscheu zu. Meine Hände zittern, also verstecke ich sie in meinen Ärmeln. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die gesprenkelten, laut raschelnden Blätterreste. Die Blätter lösen sich im Mulch der Wurzeln auf, steigen dann hinauf in das ozeanfarbene Blätterdach. Kommen wieder herunter. Ich rieche Blumenduft gemischt mit dem beißenden Gestank von Katzenurin. Wayras Seil spannt sich, sie ist so weit gegangen, wie es geht, und ihr Knurren ist lauter geworden, ein Motorengeräusch aus dem Inneren ihres Bauches. Es war eine Illusion: ihre Körpergröße; die Vorstellung, sie sei gar nicht so groß. Sie ist riesig! Ihr Rücken reicht mir bis zum Oberschenkel und ihre Pranken sind wie Teller.

Jane nimmt meine Hand. »Geh!«

Oscar befestigt Wayras Seil an seinem Gürtel. Da ist ein Pfad, der an dem Baum vorbeiführt. Wayra blockiert den Weg, aber Jane zögert nicht. Sie geht weiter, als wolle sie sich eben vorbeidrängeln, und nimmt mich mit. Jane ist so nah, dass mir ihr saurer Schweißgeruch in die Nase steigt. Erst starre ich die grollende Pumadame an, in der Gewissheit, dass ich um nichts in der Welt an ihr vorbeigehen möchte. Im nächsten Augenblick ist es schon passiert, und ich schaue zurück, meine Hand berührt zaghaft mein Bein, dort wo mich eben ihr Fell gestreift hat. Dann rennen wir. Ich renne. Ich sehe den blauen Himmel aufblitzen, einen Klecks grün, aber am meisten denke ich an Janes Griff um meinen Arm. Bewegen, nicht anhalten und nicht den Knöchel brechen, rennen. Das Blut rauscht in meinen Ohren und meine Lunge platzt gleich. Ich kann Wayra nicht hören, aber ich kann Oscar hören, wie er hinter mir den Pfad entlangprescht. Sie ist irgendwo zwischen mir und ihm.

Ich strauchele, als wir auf eine Kreuzung aus Bambus und den Paddelpflanzen treffen. Mein Gesicht brennt. Alles an mir brennt. Noch nie in meinem Leben bin ich so gerannt. Ich drehe mich aufgeregt um, mir schwirrt der Kopf, als würde er mir gleich vom Körper springen.

»Will sie …« Ich keuche, ziehe den Arm weg und versuche verzweifelt über die Kreuzung zu blicken, aber ich kann nichts erkennen, nur ein paar Büsche und verstrickte rote und blaue Kletterpflanzen wie die Venen am Herzen. Ich kann das langsamer werdende Stampfen von Oscars Füßen hören. »Will sie uns jagen?«

Janes Wangen leuchten so rot, dass ihre Sommersprossen unsichtbar geworden sind. »Nein! Sie will einfach nur rennen!«

Ich höre ein Rascheln. Eine Pranke, eine rosa Nase, gespitzte Ohren. Sie trottet über die Kreuzung, wirft uns einen scharfen Blick zu, eher flüchtig als angriffslustig. Ein wenig Angst, die oberste Schicht, verfliegt. Sie jagt uns nicht. Ich bin mit einer Pumadame im Dschungel, und sie jagt mich nicht!

Sie ist stehengeblieben und sieht nach oben. Oscar hält ebenfalls an, einige Meter dahinter. Ein Eichhörnchen über Wayras Kopf. Es ist ein englisches Eichhörnchen auf Speed. Sein Fell hat die Farbe eines Verkehrshütchens, und sein Schwanz sieht aus, als wäre er eine Woche lang im Friseursalon geföhnt worden. Es sitzt in den Bambushalmen, eine braune Nuss fest zwischen die Pfoten geklemmt. Es weiß Bescheid. Sein Gesichtsausdruck kommt mir bekannt vor. Schreckliche Angst und doch Hoffnung. Hoffnung, dass es nur ganz ruhig sitzen bleiben muss, um von niemandem bemerkt zu werden. Aber Wayras Schwanzspitze zuckt wie die einer Hauskatze. Ich weiß, was das bedeutet. Es bedeutet, dass deine Feder oder der kleine glitzernde Spielzeugfisch oder die Socke oder was auch immer du in Händen hältst, gleich so richtig in die Mangel genommen wird. Ich starre das Eichhörnchen hilflos an und versuche, ihm meine Gedanken zu übertragen: LAUF! Ein Speicheltropfen fällt zu Boden. Wenn Wayra ihr Gesicht so nach oben dreht, sehen ihre Augen größer aus, wie bei einem Tier, das im Dunkeln gelebt hat. Ihre Augen mussten plötzlich wachsen, um alles wahrnehmen zu können. Das weiße Fell an ihrem Kinn sticht hervor wie Schnee. Ihr Gesicht sieht fast grün aus. Mir wird klar, dass sie im Käfig nicht klein ausgesehen hatte, sondern gequetscht. Und hier draußen hat sie sich nun ausgedehnt, um den Raum einzunehmen, der ihr zusteht.

Mit einem Anflug von Übelkeit denke ich: Wenn ich meinen Flug gebucht hätte, wäre ich jetzt auf dem Weg nach England. Und in wenigen Wochen säße ich vermutlich wieder in einem Büro. Ich würde geöffnete Browserfenster auf meinem Bildschirm anstarren. Facebook, BBC-Nachrichten, Reiseseiten, um nach Zielen zu suchen, die ich gern besuchen würde, Karriereseiten mit Jobs, um die ich mich gern bewerben würde. Wenn ich mir das alles dann nicht mehr ansehen könnte, wenn meine Gedanken in eine Abwärtsspirale geraten, in ein dunkles Loch fallen würden, aus dem sie nicht mehr herauskämen, würde ich aus dem Fenster auf die einzig sichtbaren Dinge schauen: farblose Wolken und Beton.

Sie regt sich so plötzlich, dass ich mich abgelenkt und träge an meinem Computerbildschirm erwischt fühle. Jane muss mich festhalten, und dann zieht sie mich mit sich, als Wayra, die inzwischen eineinhalb Meter hoch auf einen Ast über dem Eichhörnchen gesprungen ist, nur wenig behindert durch das Seil und den ein Meter fünfundneunzig großen Amerikaner am anderen Ende, losstürzt. Das Eichhörnchen ist davongeflitzt, aber das ist Wayra egal. Sie macht einen Satz nach vorn und ich muss mich anstrengen, um vor ihr zu bleiben. Sie verschlingt den Pfad. Hier kann man Affen jagen, dort schoßhundgroße Ratten, ein Baum zum Kratzen, ein Laubhaufen, um sich darin zu wälzen, eine Herde wilder Schweine, ein glänzendes Gürteltier, das so dicht an meinem Stiefel herumschnüffelt, dass wir fast darüber fallen, eine Gruppe der orangefarbenen Waschbär-Tiere – tejones, erklärt mir Jane, oder Nasenbären – etwa fünfzig von ihnen, die wie Affen von Baum zu Baum springen und dabei wie verrückt fiepen.

Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, wie lange wir noch laufen werden, nicht einmal wie spät es ist, aber alles, was zählt, ist, vorn zu bleiben, bei Jane zu bleiben. Als ich schließlich glaube, nicht mehr weiter rennen oder gehen zu können, verändert sich Wayras Energie. Ich dachte, sie hätte Spaß gehabt. Aber jetzt knurrt sie die