Stadt der Finsternis - Stunde der Macht - Ilona Andrews - E-Book
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Stadt der Finsternis - Stunde der Macht E-Book

Ilona Andrews

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Beschreibung

Es kann nur eine geben ...

Kate Daniels hat in ihrem Leben viel erreicht, seit sie sich als Söldnerin um die Probleme in Atlanta kümmert. Sie hat viele Freunde gefunden und sich ebenso viele Feinde gemacht. Sie hat ihre Vergangenheit hinter sich gelassen, mit ihrem Vater Roland einen sehr zerbrechlichen Frieden geschlossen und genießt jetzt die Zeit als Mutter eines kleinen Sohnes. Doch das ist nur die Ruhe vor dem Sturm: Ein Feind aus uralter Zeit hat sich erhoben, mächtiger noch als alles, was Kate je kannte - und er hat es auf sie abgesehen. Er plant, sich Kate und all jene, die sie liebt, untertan zu machen. Er will die Welt in ihren Grundfesten zerstören. Kates einziger Ausweg ist, sich mit ihren Gegnern zu verbünden, um die Menschheit abermals vor dem drohenden Untergang zu retten ...

"Ilona Andrews ist ein Garant für fesselnde Lesestunden!" Patricia Briggs

Der letzte Band um Kate & Curran!

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Seitenzahl: 541

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Inhalt

TitelZu diesem BuchPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17EpilogDanksagungDie AutorinDie Romane von Ilona Andrews bei LYXImpressum

Ilona Andrews

Stadt der Finsternis

STUNDE DER MACHT

Roman

Ins Deutsche übertragen vonBernhard Kempen

Zu diesem Buch

Für Kate und Curran ist es so weit: Sie genießen die Freuden der Elternschaft in vollen Zügen und verwöhnen ihren kleinen Sohn, wo sie nur können. Alles scheint in geregelten Bahnen zu laufen. Mit ihrem Vater Roland hat Kate einen zerbrechlichen Frieden geschlossen. Sie weiß, dass dies nicht von Dauer sein wird, aber sie nutzt den Moment zum Durchatmen. Doch als sie eines Nachts von Teddy Jo, einer Reinkarnation des griechischen Gottes Thanatos, zu einem Tatort gerufen wird, ist sich Kate sicher, dass es mit den ruhigen Zeiten vorbei ist: In einem verlassenen Vorort von Atlanta entdecken sie die Überreste von Menschen, die offenbar zu Tode gekocht wurden. Selbst Kate, die bereits viel gesehen und viel erlebt hat, kommt dabei an ihre Grenzen. Es stellt sich heraus, dass sich ein Feind aus uralter Zeit erhoben hat, mächtiger noch als alles, was Kate je kannte, und er ist bereit, die Welt mit allem, was auf ihr lebt, zu zerstören. Ihr läuft die Zeit davon, und jedes Quäntchen Magie ist nötig, um das Böse aufzuhalten … auch wenn das bedeutet, dass sich Kate mit ihrem Vater verbünden und gleichzeitig dessen schändlichen Plänen Einhalt gebieten muss. Es brennt an allen Fronten, und auf Kates Schultern lastet nicht nur das Schicksal Atlantas, sondern auch das all derer, die ihr am Herzen liegen …

PROLOG

Der Schmerz breitete sich von meiner Hüfte in den ganzen Körper aus und zog meine Knochen auseinander. Ich knirschte mit den Zähnen. Er verzerrte mich, bis ich glaubte, ich würde daran zerbrechen und dann aufgeben. Ich ließ mich zurück ins Wasser sinken.

Andrea tupfte mein Gesicht mit einem kühlen Lappen ab. »Fast geschafft.«

Curran drückte meine Hand. Ich drückte zurück.

Über uns an der Decke spiegelten sich die hellen Wellenmuster des Wassers. Hübsch …

»Bleib bei uns«, sagte Doolittle zu mir.

Ich hätte die Augen gern für eine Minute geschlossen. Nur für eine Minute. Ich war so müde.

»Dauert es immer so lange?«, blaffte meine Tante.

»Manchmal«, sagte Evdokia, deren Hand auf meinem Bauch lag.

»Bei mir hat es nie so lange gedauert.«

»Bei jeder Frau ist es anders«, erklärte Andrea ihr.

Eine Wehe erfasste mich. Ich biss die Zähne zusammen. Es fühlte sich an, als würden meine Knochen gespalten. Es ging vorbei, und ich sackte zurück.

»Es sind jetzt schon sechzehn Stunden«, knurrte meine Tante. »Sie ist erschöpft und hat Schmerzen. Tut etwas. Gebt ihr welche von diesen Pillen, von denen eure Zivilisation so begeistert ist.«

»Sie darf keine Pillen nehmen«, erwiderte Evdokia mit ruhiger Stimme. »Dazu ist es zu spät. Das Baby kommt.«

»Gib ihr die Pillen, oder ich töte dich, Hexe.«

»Wenn du ihr irgendetwas gibst, wird es dem Baby schaden«, sagte Andrea.

Das Baby. Ich kehrte aus dem Nebel in die Realität zurück. Wir befanden uns im Hexenwald, in der Höhle mit der magischen Quelle. Ich konnte spüren, wie draußen die Zirkel arbeiteten. Sie hatten die Höhle in eine Decke aus undurchdringlicher Magie gehüllt. Solange sie hielt, würde mein Vater uns nicht finden. Zumindest gingen wir davon aus. Um mich herum schwappte das Wasser der magischen Quelle. Ich lag in der glatten Mulde des Steins, den Kopf erhoben, die Füße in Richtung des Teichs gestreckt. Evdokia stand zwischen meinen Beinen, bis zu den Hüften im Wasser. Doolittle wartete zu meiner Rechten. Es waren viel zu viele Leute hier.

Ein weiterer Krampf erschütterte mich. Der Schmerz fraß an mir.

»Pressen«, sagte Doolittle. »Pressen. Ja, genau so, gut … gut.«

»Du schaffst das«, sagte Curran zu mir. »Komm schon, Baby.«

Ich packte seine Hand und presste. Ein greller Schwall aus Höllenqualen schoss durch mich hindurch, und dann war es plötzlich leichter.

»Noch einmal«, sagte Doolittle.

»Pressen«, drängte Evdokia. »Du kannst es schaffen.«

»Pressen! Noch einmal!«

Ich hatte keine Kraft mehr, aber irgendwo fand ich doch noch welche, presste erneut, und auf einmal fühlte sich mein Körper so leicht an. Der Schmerz breitete sich in mir aus, heiß und beinahe tröstend. Ich blinzelte.

»Glückwunsch!« Evdokia hob etwas aus dem Wasser, und ich sah meinen Sohn. Er war rot und runzlig, mit einem dunklen Haarschopf, und er war das Wunderschönste, das ich jemals gesehen hatte. Er holte tief Luft und schrie.

Curran grinste mich an. »Du hast es geschafft, Baby.«

Meine Tante glitt ins Wasser, wie ein durchscheinender Schatten. Evdokia zerschnitt die Nabelschnur und hielt ihr meinen Sohn hin. Erra nahm ihn entgegen, trug ihn mit reiner Magie, die ihre geisterhaften Arme erfüllte. Ein Machtimpuls schoss durch sie hindurch und dann in das Baby. Für eine Sekunde glühte mein Sohn.

»Er ist von wahrem Blut.« Stolz vibrierte in Erras Stimme. »Seht den Prinzen von Shinar und wisset, dass er vollkommen ist!«

Magie brach über uns aus. Ich spürte es sogar durch die Barriere. Sie zielte wie eine Nadel auf den Schild der Hexen. Mein Vater kam.

Meine Tante zerfiel zu einer Wolke aus reiner glühender Magie. Die Wolke umwirbelte meinen Sohn. Er schwebte im Kokon aus Erras Macht, wurde durch ihre Essenz abgeschirmt.

Die Magie meines Vaters krachte in die Hexenbarriere. Einen qualvollen Sekundenbruchteil lang hielt sie, doch die Nadel grub sich immer tiefer hinein, drückte immer fester. Jeden Augenblick würde er sie durchdrungen haben.

Er würde unseren Sohn nicht bekommen.

Macht schoss in einem konzentrierten Schmerzstrom aus mir hervor. Ich legte all meine Kraft hinein. Meine Macht traf auf die eindringende Magie. Das Wasser des Teichs erhob sich in langen Strähnen und hing dann über dem trockenen Grund in der Luft.

Machtworte kamen von meinen Lippen. »Nicht heute. Niemals.«

Wir rangen miteinander, die Magie vibrierte zwischen uns, die Ströme der Macht wanden sich, als wären sie lebendig.

Die magische Nadel drang weiter vor, angetrieben von Rolands ganzer Kraft.

Ich schrie, aber es war kein Schmerz in meiner Stimme, sondern nur Zorn. Magie strömte in mich, als das Land mir die Energie gab, die ich brauchte, dann stieß ich damit gegen den Eindringling.

Die Nadel zerbrach.

Das Wasser fiel in das Höhlenbecken zurück.

Ich ließ mich sinken. Mein Vater war gescheitert.

Ich war erledigt, völlig erledigt.

Curran sprang ins Wasser. Erra ließ unseren Sohn frei, und Curran fing ihn auf. Meine Tante verwandelte sich wieder. Etwas flog zwischen ihr und Curran hin und her, ein seltsamer Blick, aber ich war zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen.

Curran legte unseren Sohn auf meine Brust. Ich drückte ihn an mich. Er war so winzig. Unglaublich winzig. Ein Leben, das Curran und ich gemeinsam geschaffen hatten.

Curran umfasste mich mit den Händen und hob uns beide zu sich hoch.

»Benenne das Kind«, sagte Erra.

»Conlan Dilmun Lennart«, sagte ich. Der erste Name bezog sich auf Currans Vater. Der zweite kam von Erra. Es war der Name eines antiken Königreichs, und sie hatte gesagt, dass es ihn beschützen würde.

Conlan Dilmun Lennart wand sich auf meiner Brust und weinte. Auf der ganzen Welt gab es keinen schöneren Klang.

KAPITEL 1

13 Monate später

Dumpfe Schläge rissen mich aus dem Schlaf. Ich war mit dem Schwert in der Hand aufgesprungen und in Bewegung, bevor mein Gehirn verarbeitet hatte, dass ich stand.

Ich hielt inne, Sarrat erhoben.

Ein schmaler Strahl aus wässrigem Morgenlicht fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen herein. Die Magie war aktiv. Links von mir, im kleinen Kinderzimmer, das Curran von unserem Schlafzimmer abgetrennt hatte, stand Conlan in seiner Krippe. Er war hellwach.

Außer mir und meinem Sohn war niemand im Zimmer.

Bumm-bumm-bumm.

Jemand pochte gegen meine Haustür. Die Uhr an der Wand verriet mir, dass es zehn vor sieben war. Wir gingen spät zu Bett und standen spät auf, wie es für Gestaltwandler üblich war. Alle, die ich kannte, waren sich dessen bewusst.

»Oh-oh!«, sagte Conlan.

›Oh-oh‹ trifft es genau. »Warte auf mich«, flüsterte ich. »Mami muss sich um etwas kümmern.«

Ich lief aus dem Schlafzimmer, bewegte mich schnell und leise und schloss die Tür hinter mir.

Bumm-bumm-bumm.

Immer langsam mit den jungen Pferden, ich komme ja schon! Und dann bist du mir eine gute Erklärung schuldig.

Ich brauchte zwei Sekunden, um die lange Treppe vom zweiten Stock bis zur verstärkten Vordertür hinunterzusteigen. Ich packte den Hebel, schob ihn zur Seite und öffnete die Metallklappe vor dem kleinen Fenster. Ich blickte in Teddy Jos braune Augen.

»Was zum Teufel machst du hier? Weißt du, wie spät es ist?«

»Öffne die Tür, Kate«, zischte Teddy Jo. »Es ist ein Notfall.«

Es war immer ein Notfall. Mein gesamtes Leben war eine lange Abfolge von Notfällen. Ich entriegelte die Tür und zog sie auf. Er stürmte herein, an mir vorbei. Sein windzerzaustes Haar stand ihm vom Kopf ab. Sein Gesicht war blutleer, und seine Augen blickten wild. Er war mit Höchstgeschwindigkeit hergeflogen.

Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Teddy Jo war Thanatos, der griechische Todesengel. Es war schon einiges nötig, um ihn zu verschrecken. Aber ich fand, dass es in letzter Zeit ohnehin zu still gewesen war.

Ich schloss die Tür und verriegelte sie wieder.

»Ich brauche Hilfe«, sagte er.

»Ist irgendwer in diesem Moment in Gefahr?«

»Sie sind tot. Alle sind tot.«

Was auch immer geschehen war, war bereits geschehen.

»Du musst mitkommen und es dir ansehen.«

»Kannst du mir sagen, worum es geht?«

»Nein.« Er griff nach meiner Hand. »Du musst sofort mitkommen.«

Ich betrachtete seine Hand auf meiner. Er ließ mich los.

Ich ging in die Küche, nahm einen Krug mit Eistee aus dem Kühlschrank und schenkte ihm ein großes Glas ein. »Trink das und versuch dich zu beruhigen. Ich werde mich anziehen und einen Babysitter für Conlan organisieren, und dann gehen wir.«

Er nahm das Glas. Der Tee zitterte.

Ich stürmte nach oben, öffnete die Tür und wäre fast mit meinem Sohn zusammengestoßen. Conlan sah mich grinsend an. Er hatte mein dunkles Haar und Currans graue Augen. Er hatte auch Currans Humor, was mich in den Wahnsinn trieb. Conlan hatte früh laufen gelernt, mit zehn Monaten, was normal für Gestaltwandlerkinder war, und jetzt konnte er schon sehr schnell rennen. Zu seinen Lieblingsspielen gehörte es, vor mir davonzulaufen, sich unter verschiedenen Möbelstücken zu verstecken und Sachen von horizontalen Flächen zu werfen. Umso besser, wenn sie dabei kaputtgingen.

»Mami muss arbeiten.« Ich zog das lange T-Shirt aus, das ich als Nachthemd benutzte, und holte mir einen Sport-BH.

»Baddaadada!«

»Tja, ich wüsste auch gern, wo dein Papa ist. Wahrscheinlich auf einer seiner Expeditionen.«

»Baba?« Conlan horchte auf.

»Noch nicht«, sagte ich und griff nach meiner Jeans. »Er müsste morgen oder übermorgen zurückkommen.«

Conlan stapfte durchs Zimmer. Abgesehen von frühen Laufversuchen und einer recht beängstigenden Kletterfähigkeit waren bei ihm keine Anzeichen zu erkennen, dass er ein Gestaltwandler war. Bei der Geburt hatte es keine Gestaltwandlung gegeben, und er hatte sich bis jetzt noch nie verändert. Mit dreizehn Monaten sollte er sich eigentlich regelmäßig in ein kleines Löwenbaby verwandeln. Doolittle hatte Lyc-V in Conlans Blut gefunden, sogar in großer Menge, aber das Virus war inaktiv. Wir hatten gewusst, dass es eine Möglichkeit war, weil mein Blut den Immortuus-Erreger innerhalb von Sekunden zum Frühstück verspeiste. Curran hatte jedoch gehofft, dass unser Sohn ein Gestaltwandler sein würde. Genauso wie Doolittle. Eine Weile hatte der Heilmagier des Rudels verschiedene Strategien ausprobiert, um die Bestie hervorzulocken. Er wäre immer noch damit beschäftigt, wenn ich dem keinen Riegel vorgeschoben hätte.

Vor etwa sechs Monaten hatten Curran und ich die Festung besucht und Conlan für etwa zwanzig Minuten mit Doolittle allein gelassen. Als wir zurückkehrten, lag Conlan heulend am Boden, während drei Gestaltwandler in Kriegergestalt ihn anknurrten und Doolittle zuschaute. Einen hatte ich durchs Fenster geworfen, einem anderen den Arm gebrochen, bevor Curran mich bändigen konnte. Doolittle versicherte mir, dass unserem Sohn keine Gefahr drohte, und ich teilte ihm mit, dass er sofort damit aufhören würde, unser Baby zu seinem Vergnügen zu quälen. Ich hatte meinen Standpunkt unterstreichen können, indem ich Conlan mit einer Hand an mich drückte und mit der anderen Sarrat schüttelte, die mit meinem Blut bedeckt war. Anscheinend hatten meine Augen geglüht und die Festung des Rudels gebebt. Also wurde gemeinschaftlich entschieden, dass weitere Tests unnötig waren.

Ich brachte Conlan weiterhin zu den vereinbarten Terminen zu Doolittle; auch dann, wenn er hinfiel oder nieste oder irgendwelche anderen Babysachen machte, die mich um sein Leben fürchten ließen. Trotzdem behielt ich alle Anwesenden die ganze Zeit im Auge.

Ich schnallte meinen Gürtel um, schob Sarrat in die Scheide auf meinem Rücken und band mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Und jetzt schauen wir mal, ob deine Tante für ein paar Stunden auf dich aufpassen kann.«

Ich hob ihn auf und nahm die Treppe nach unten.

Teddy Jo ging wie ein Tiger im Käfig vor unserem Hauseingang auf und ab. Ich schnappte mir die Schlüssel für unseren Jeep und marschierte zur Tür hinaus.

»Ich werde dich hinfliegen«, sagte er.

»Nein.« Ich marschierte über die Straße zum Haus von George und Eduardo. Ich würde George eine Torte kaufen müssen, weil sie uns in letzter Zeit so oft als Babysitterin ausgeholfen hatte.

»Kate!«

»Du hast gesagt, dass niemand in unmittelbarer Gefahr schwebt. Wenn du mich hinfliegst, werde ich in mehreren hundert Metern Höhe an einer Spielplatzschaukel hängen, die von einem hysterischen Todesengel getragen wird.«

»Ich bin nicht hysterisch.«

»Gut, dann von einem sehr aufgewühlten Todesengel. Du kannst vorausfliegen und mir den Weg zeigen.«

»Fliegen ist schneller.«

Ich klopfte an Georges Tür. »Willst du meine Hilfe oder nicht?«

Er stieß einen frustrierten Laut aus und stapfte davon.

Die Tür schwang auf, und George erschien. Die hellbraunen Locken umschwebten ihren Kopf wie ein Heiligenschein.

»Tut mir furchtbar leid«, setzte ich an.

Sie breitete die Arme aus und nahm Conlan entgegen. »Wer ist mein Lieblingsneffe?«

»Er ist dein einziger Neffe.« Nachdem Currans Familie gestorben war, hatten Mahon und Martha, die Alphas des Schwer-Clans, ihn wie ihren eigenen Sohn aufgezogen. George war ihre Tochter und Currans Schwester.

»Unwichtig.« George hob ihn mit ihrem gesunden Arm auf. Der andere Arm war ein Stumpf, der wenige Zentimeter über dem Ellbogen endete. Inzwischen war der Armstumpf schon zwölf Zentimeter länger geworden. Doolittle schätzte, dass er sich in drei Jahren vollständig regeneriert haben würde. George ließ sich durch den halben Arm in keiner Weise beeinträchtigen. Sie drückte Conlan einen Schmatzer auf die Stirn. Er rümpfte die Nase und nieste.

»Tut mir wirklich furchtbar leid, aber es ist ein Notfall.«

Sie winkte ab. »Geh nur, geh nur …«

Ich drehte mich um und ging zu Dereks Haus.

»Was jetzt?«, knurrte Teddy Jo.

»Ich hole mir Rückendeckung.« Ich hatte das Gefühl, dass ich welche brauchen würde.

*

Ich lenkte den Jeep über eine überwucherte Straße.

»Er sieht aus, als hätte ihm jemand ein Wespennest in den Arsch geschoben«, stellte Derek fest.

Über uns flog Teddy Jo voraus und drehte ständig scheinbar ziellos in diese und jene Richtung ab. Seine Schwingen waren aus Mitternacht gemacht, so schwarz, dass sie alles Licht schluckten. Normalerweise war sein Flug ein überwältigender Anblick, aber heute bewegte er sich, als würde er versuchen, unsichtbaren Pfeilen auszuweichen.

»Irgendwas hat ihn wirklich sehr aufgeregt.«

Derek verzog das Gesicht und rückte das Messer an seiner Hüfte zurecht. Während seiner Zeit beim Rudel hatte er immer einen grauen Jogginganzug getragen, aber seit er sich offiziell von den Gestaltwandlern Atlantas losgesagt hatte, führte er das normale Leben eines Stadtbewohners. Jeans, dunkles T-Shirt und Arbeitsstiefel waren jetzt seine Uniform. Sein einstmals hübsches Gesicht würde nie mehr wie früher sein, und er gab sich große Mühe, die Rolle des ewig mürrischen und stoischen einsamen Wolfs aufrechtzuerhalten, obwohl der alte Derek immer wieder zum Vorschein kam. Gelegentlich sagte er etwas, und alle lachten.

Im Moment war mir nicht nach Lachen zumute. Alles, was Thanatos aufregte, konnte nur schlimm sein. Ich kannte ihn jetzt seit fast zehn Jahren. Er hatte ein paarmal die Nerven verloren. Zum Beispiel als er einem schwarzen Wolchw ins Gesicht geschlagen hatte, weil man ihm sein Schwert gestohlen hatte. Aber das hier spielte sich auf einem ganz anderen Niveau ab. Er war völlig außer sich.

»Das gefällt mir nicht«, stellte Derek leise fest.

»Glaubst du, das Universum interessiert sich für deine Meinung?«

»Nein, aber es gefällt mir trotzdem nicht. Hat er gesagt, wohin wir fahren?«

»Serenbe.« Ich wich einem Schlagloch aus.

»Nie davon gehört.«

»Eine kleine Siedlung südwestlich von Atlanta. Früher war es ein protziges Wohnviertel für Wohlhabende, das sich selbst als ›urbanes Dorf‹ bezeichnete.«

Derek sah mich blinzelnd an. »Was zum Teufel ist ein urbanes Dorf?«

»Das ist eine hübsche, architektonisch geplante Trabantenstadt in einem malerischen Wäldchen für Leute mit zu viel Geld. Für Typen, die sich ein Millionen-Dollar-Haus bauen, es als ›Hütte‹ bezeichnen und nach draußen spazieren, um mit der Natur eins zu sein. Und dann eine halbe Meile fahren, um zehn Dollar für eine Tasse ganz besonderen Kaffee zu bezahlen.«

Derek verdrehte die Augen.

»Während der letzten paar Jahrzehnte sind alle reichen Leute aus Sicherheitsgründen zurück in die Stadt gezogen, und jetzt lebt da draußen eine Farmergemeinschaft. Die meisten Häuser stehen auf etwa zwei Hektar Land, das als Acker oder Garten genutzt wird. Es ist ganz nett. Wir waren zum Pfirsich-Festival im Juni dort.«

»Ohne mich.«

Ich bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Du wurdest eingeladen. Aber wie ich mich erinnere, musstest du dich ›um etwas kümmern‹, was du dann stattdessen getan hast.«

»Dann muss es sehr wichtig gewesen sein.«

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, in einen Umhang oder Mantel zu investieren? Das wäre sehr praktisch, wenn man bedenkt, wie oft du in der Stadt herumrennst und das Unrecht bekämpfst.«

»Ich bin nicht der Mantel-und-Degen-Typ.«

Der Jeep rollte über die Wellen, die von dicken Wurzeln unter dem Pflaster aufgeworfen wurden, wahrscheinlich von den hohen Eichen, die die Straße säumten. Vor der Wende hätten wir ungefähr eine halbe Stunde für diese Strecke gebraucht. Jetzt waren wir schon fast zwei Stunden unterwegs. Wir waren über die I-85 gefahren, was mit dem Verkehr und anderen Problemen etwa neunzig Minuten gedauert hatte, und nun arbeiteten wir uns auf dem South Fulton Parkway nach Westen vor.

»Er landet«, gab Derek bekannt.

»Na prima.«

Vor uns schoss Teddy Jo herab. Für einen Moment hing er als Schattenriss vor dem hellen Himmel, die schwarzen Flügel weit ausgebreitet, die Füße nur wenige Meter über der Straße, ein dunkler Engel, der in einer Zeit geboren war, als die Menschen von ihrem Blut opferten, um ihren Verstorbenen eine sichere Passage ins Jenseits zu erkaufen.

»Angeber«, murmelte Derek.

»Grün steht dir nicht so gut.«

Teddy Jo setzte auf der Straße auf. Er faltete die Flügel zusammen, die sich in einer schwarzen Rauchwolke auflösten.

»Weißt du, was er ist, wenn er fliegt?«, fragte Derek.

»Nein, erhelle mich.«

Derek lächelte. Es war ein sehr kleines Lächeln, das lediglich die Kante eines Reißzahns entblößte. »Er ist eine schöne große Zielscheibe. Man könnte ihn einfach abschießen. Wo will er sich verbergen? Er ist einen Meter achtzig groß und hat die Flügelspannweite eines kleinen Flugzeugs.« Derek gluckste leise.

Man konnte einen Wolf aus der Wildnis holen, aber er würde für immer ein Wolf bleiben.

Ich parkte neben Teddy Jo und öffnete die Tür. Ein Lärmschwall vom Zauberwassermotor schlug mir entgegen.

»Lass ihn laufen«, schrie Teddy Jo im Krach.

Ich schnappte meinen Rucksack und verließ den Jeep. Derek stieg auf der anderen Seite aus und bewegte sich mit geschmeidiger Anmut. Wir ließen den fauchenden Jeep stehen und folgten Teddy Jo nach rechts in eine Nebenstraße.

Die Bäume beschatteten den Weg. Normalerweise war es im Wald still, aber es war der Sommer der siebzehnjährigen Zikaden-Paarung. Alle siebzehn Jahre tauchten die Zikaden in großer Zahl auf und sangen. Der Chor war so laut, dass er alle sonstigen Waldgeräusche übertönte, und er verzerrte Vogelgesang und Eichhörnchengezwitscher zu seltsam erschreckenden Lauten.

Ein behelfsmäßiges Schild am Straßenrand verkündete: BETRETENVERBOTEN. ANWEISUNGDESSHERIFFSVONFULTONCOUNTY.

Darunter stand geschrieben: COY PARKER, WENN DU NOCH EINMAL DIESE LINIE ÜBERSCHREITEST, WERDE ICH DICH PERSÖNLICH ERSCHIESSEN. SHERIFF WATKINS.

»Wer ist Coy Parker?«

»Ein jugendlicher Draufgänger aus der Gegend. Ich hatte mal ein Gespräch mit ihm. Er hat nichts gesehen.«

Etwas an der Art, wie Teddy Jo das sagte, verriet mir, dass Coy Parker seine Nase nicht noch einmal in diese Scheiße stecken würde.

»Warum hat man keine Wachen aufgestellt?«, fragte Derek.

»Personalmangel«, sagte Teddy Jo. »Sie haben fünf Leute für das gesamte County. Und es gibt nicht viel zu bewachen.«

»Worum geht es hier überhaupt?«, wollte ich wissen.

»Du wirst sehen«, sagte Teddy Jo.

Der Weg bog nach rechts ab und brachte uns zu einer langen Straße. Auffahrten zweigten davon ab und führten zu Häusern auf etwa zwei Hektar großen Grundstücken. Hohe Zäune schirmten die Häuser ab, manche aus Holz, manche aus Metall, mit Stacheldraht bewehrt. Hier und dort erlaubte ein gusseiserner Zaun einen Blick in einen Garten. Nachdem die Versorgungsketten durch die Wende zusammengebrochen waren, legten viele Menschen wieder Gärten an. Kleine Farmen wie diese schossen überall rund um Atlanta aus dem Boden, teilweise in der Stadt, aber häufiger noch am Stadtrand.

Es war still. Zu still. Zu dieser Tageszeit hätte man die üblichen Geräusche des Lebens hören müssen: schreiende und lachende Kinder, bellende Hunde, fauchende Zauberwassermotoren. Doch die gesamte Straße war in Stille gehüllt, abgesehen von den lüsternen Zikaden, die um die Wette sangen. Unheimlich.

Derek atmete ein und ging in die Hocke.

»Was ist los?«, fragte ich.

Seine Oberlippe zitterte. »Ich weiß nicht.«

»Such dir ein Haus aus«, sagte Teddy Joe mit ausdruckslosem Gesicht.

Ich wandte mich der nächsten Auffahrt zu. Derek rannte los, in einer Geschwindigkeit, die für ihn einem entspannten Dauerlauf entsprach, für die meisten Leute jedoch ein unglaubliches Tempo war. Ein Wolf konnte seine Beute aus fast zwei Meilen Entfernung wittern. Ein Gestaltwandler prägte sich im Laufe seines Lebens Tausende von Duftsignaturen ein. Wenn Derek irgendeiner Spur folgen wollte, würde ich mich ihm nicht in den Weg stellen.

Ich musterte das Haus. Gitter vor den Fenstern. Solide Wände. Ein guter Nachwendebau: sicher, gut zu verteidigen, ohne Schnickschnack. Ein schmaler Spalt trennte den Rand der stabilen blauen Tür vom Türrahmen. Unverriegelt. Ich drückte mit den Fingerspitzen dagegen, und die Tür schwang an gut geölten Scharnieren auf. Der Gestank von verfaultem Essen hüllte mich ein. Ich trat hinein. Teddy Jo folgte mir.

Das Haus hatte eine offene Raumaufteilung. Die Küche ging nach links ab und ein Wohnzimmerbereich nach rechts. Hinter der Küche und der Kochinsel stand ein Tisch, auf dem jemand die Reste seines Frühstücks zurückgelassen hatte. Ich kam näher. Eine Glasflasche mit Ahornsirup und Teller mit etwas, das Waffeln gewesen sein könnten, waren mit Flaum überzogen.

Keine sprichwörtlichen Anzeichen eines Kampfes. Kein Blut, keine Einschusslöcher, keine Krallenspuren. Nur ein leeres Haus. Eine Straße voller leerer Häuser. Ich hatte ein ungutes Gefühl.

»Sieht es hier überall so aus?«

Teddy Jo nickte. Er war im Türrahmen stehen geblieben, als würde er sich nicht in den Raum wagen. Das Ganze hatte etwas Verstörendes, als wäre die Luft selbst still und fest. Es war ein Todeshaus. Ich wusste nicht, woher ich es wusste, aber ich spürte es genau. Seine Bewohner waren gestorben, und mit ihnen war auch das Herz des Hauses gestorben.

»Wie viele?«

»Die gesamte Trabantenstadt. Fünfzig Häuser. Zweihundertdrei Personen. Ganze Familien.«

Verdammt!

Was konnte so etwas bewirken? Hatte etwas sie genötigt, den Essenstisch zu verlassen und einfach nach draußen zu gehen? Verschiedene Kreaturen konnten Menschen unter ihren Bann zwingen, die meisten von ihnen auf Wasserbasis. Ein brasilianischer encantado konnte wahrscheinlich eine ganze Familie beschwören. Ein starker menschlicher Magier mit telepathischen Fähigkeiten könnte in der Lage sein, vier Menschen unter Kontrolle zu halten, und sie zwingen, seinen Befehlen zu gehorchen. Angenommen, jemand hätte diese Leute aus ihren Häusern geführt. Was dann?

Draußen nahm ich einen tiefen Atemzug. Derek kam herübergeschlendert.

»Was hast du mit dieser Geschichte zu tun?«, fragte ich.

»Ich wurde gerufen«, sagte Teddy Jo.

Aha. Eine griechische Familie hatte zu ihm gebetet, ihm vermutlich ein Opfer dargebracht. In den alten Zeiten wäre es ein Sklave gewesen. Jetzt vermutlich ein Hirsch oder eine Kuh.

»Ich habe das Blut getrunken«, fügte er hinzu.

Ein Pakt war besiegelt worden. Er hatte ihr Opfer angenommen, und das verpflichtete ihn zu einer Gegenleistung.

»Was wollten sie von dir?«

Seine Stimme klang dumpf. »Sie fragten mich, ob ihr Sohn tot sei. Er sollte am vergangenen Sonnabend heiraten. Aber er und seine Verlobte tauchten nicht auf. Die Familie machte sich Sorgen und schaute am Sonntag nach ihnen. Dabei fanden sie das hier vor. Die Familie rief die Sheriffs. Sie kommen heute, um den Tatort zu inspizieren. Deshalb war es nötig, dass wir vor ihnen hier sind.«

»Was ist mir ihrem Sohn?«, fragte Derek.

»Alek Katsaros ist tot«, sagte Teddy Jo. »Aber ich bin nicht in der Lage, seinen Verwandten seine sterblichen Überreste zu übergeben.«

»Warum?« Denn das war seine Aufgabe. Wenn ein Mensch seines Glaubens oder von griechischer Abstammung starb, wusste Thanatos genau, was aus seiner Leiche geworden war.

»Ich werde es unterwegs erklären.«

»Bevor wir gehen«, warf Derek ein, »möchte ich dir noch etwas zeigen.«

Ich folgte ihm zur Rückseite des Hauses. Hinter dem gusseisernen Zaun lag ein pelziger brauner Körper. Ein Schaft ragte aus dem Auge des toten Hundes.

»Fast alle hier hatten Hunde«, sagte Derek. »Und es ist mit allen dasselbe. Mit einem Schuss erledigt.«

Mit Pfeil und Bogen zu schießen war eine erworbene Fähigkeit, die eine Menge Übung erforderte. Einem Hund einen Pfeil ins Auge zu schießen, und das aus einer Entfernung, die groß genug war, dass der Hund nicht beim Anblick oder Geruch eines Fremden ausrastete, war so gut wie unmöglich. Es müsste schon ein einmaliger Meisterschuss sein. Andrea, meine beste Freundin, war dazu in der Lage, aber sonst kannte ich niemanden, der dazu imstande war.

Durch das Tor im Zaun kehrte ich auf das Grundstück zurück. Erdbeerbüsche in ordentlichen Reihen mit den letzten Beeren der Saison, dunkelrot und überreif. Ein kleiner Holzwagen mit einer Puppe darin. Mein Herz zog sich zu einem festen, schmerzenden Klumpen zusammen. Hier hatten kleine Kinder gelebt.

Derek hüpfte über den fast zwei Meter hohen Zaun mit Stacheldraht, als wäre nichts dabei, und landete neben mir. Sein Blick richtete sich auf die Puppe. Ein blassgelbes Feuer legte sich über seine Augen.

Ich ging vor dem Hund in die Hocke, eine große zottige Promenadenmischung mit dem albernen Gesicht eines Labradors. Fliegen umschwärmten den Kadaver und sammelten sich auf dem Blut, das aus der Wunde sickerte und an dem Schaft in der linken Augenhöhle klebte.

Es war kein Armbrustbolzen, sondern ein Pfeil mit Holzschaft und hellgrauer Befiederung. Alte Schule. Pfeile waren keine Kugeln. Ihre Flugbahn war viel stärker gekrümmt. Der Pfeil erhob sich ein kleines Stück und fiel dann, und in Anbetracht der Reaktionszeit des Hundes musste der Schütze etwa dreißig Meter entfernt gewesen sein … mehr oder weniger.

Ich drehte mich um. Hinter mir breitete eine große Eiche gleich außerhalb des Zauns ihre Äste aus.

Derek folgte meinem Blick, nahm quer durch den Garten Anlauf, sprang und verschwand zwischen den Ästen der Eiche. Wenig später kehrte er zurück.

»Menschlich«, sagte er. »Und noch etwas anderes.«

»Was?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Haare an seinen Armen sträubten sich. Was auch immer es war, es roch nicht richtig.

»Was für eine Art Geruch ist es?«

Er schüttelte den Kopf. »Eine falsche Art Geruch. So etwas habe ich noch nie zuvor gewittert.«

Gar nicht gut.

Ich warf einen Blick zu Teddy Jo. »Hast du mir noch mehr zu zeigen?«

»Folge mir.«

Wir verließen die Trabantenstadt und liefen zum Jeep zurück. Teddy Jo stieg auf den Beifahrersitz. »Fahr den Parkway weiter.«

Ich tat es.

Die Bogenschützen hatten zuerst die Hunde getötet. Das war das wahrscheinlichste Szenario. Sofern sie Hunde nicht einfach aus irgendeinem merkwürdigen Grund hassten, hatten sie es getan, damit die Tiere nicht bellten. Das passte weniger zu meiner Theorie einer geistigen Beeinflussung. Ein Wesen oder ein Mensch mit der Fähigkeit, den Willen anderer zu bezwingen, hätte sich vermutlich nicht weiter um die Hunde gekümmert.

Ein Kitsune könnte auf seltsame Weise Sinn ergeben. Die Meinungen gingen auseinander, ob Kitsune tatsächlich magische Tiere, Fuchsgeister oder Gestaltwandler waren, aber alle waren sich darin einig, dass sie Ärger bedeuteten. Sie stammten aus Japan, und je älter sie wurden, desto mehr verstärkte sich ihre Macht. Sie konnten Illusionen heraufbeschwören und Träume beeinflussen, und sie hassten Hunde. Aber Kitsune waren körperlich gesehen Füchse und hatten deren unverkennbaren Geruch sogar in menschlicher Gestalt.

»Hast du Füchse gerochen?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Derek.

Also konnte ich auch diese Theorie vergessen.

Vor uns schnitt eine Straße von rechts durch einen niedrigen Hügel und mündete in den Parkway.

»Bieg hier ab«, sagte Teddy Jo.

Ich bog ab. Der Jeep rollte schlingernd über die Dellen in der alten Straße. Voraus erhob sich ein großes Gebäude, bleich und fensterlos. Im Dach klaffte ein Loch.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein altes Auslieferungslager von Walmart.«

Derek riss die Tür auf seiner Seite auf und sprang aus dem Jeep. Ich trat auf die Bremse. Am Straßenrand beugte er sich vor und würgte.

»Was ist los?«, brüllte ich.

»Der Gestank«, stieß er hervor und würgte erneut.

Ich stellte den Motor ab. Die plötzliche Stille war ohrenbetäubend. Ich konnte nichts Ungewöhnliches riechen.

Stille. Wo zum Teufel waren die Zikaden?

Derek kam zum Jeep zurück. Ich warf ihm ein Tuch zu, damit er sich den Mund abwischen konnte.

»Hier entlang.« Teddy Jo lief über die Straße auf das Lagerhaus zu.

Wir holten ihn ein. Er zog eine kleine Dose mit Mentholsalbe aus der Tasche und hielt sie mir hin.

»Du wirst es brauchen.«

Ich rieb mir etwas davon unter die Nase und gab die Dose zurück. Teddy Jo bot sie Derek an, der nur den Kopf schüttelte.

Etwa sieben Meter vor dem Lagerhaus überwältigte mich der Gestank: ölig, scheußlich, mit einer Spur Schwefel, der Gestank von etwas Grässlichem und Verfaulendem. Er drang durch den Mentholgeruch, als wäre die Salbe gar nicht da. Ich hätte mir fast die Hand auf den Mund gedrückt.

»Scheiße.« Derek blieb stehen und würgte trocken.

Teddy Jos Gesicht war eine Maske aus Stein.

Wir gingen weiter. Der Gestank war jetzt unerträglich. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ich Gift inhalieren.

Wir umrundeten das Gebäude. Eine glänzende Pfütze breitete sich vor uns aus, groß genug, um als Teich durchzugehen. Das Zeug war durchscheinend und gräulich-beigefarben und überflutete den gesamten Parkplatz auf der Rückseite. Irgendeine Flüssigkeit … nein, keine Flüssigkeit. Geleeartig wie eine Schicht aus Agar. Und wo die Sonne im richtigen Winkel auftraf, schimmerte sie leicht, verdunkelt von Klumpen aus etwas Festem.

Ich ging daneben in die Knie.

Was zum Teufel sah ich hier? Etwas Langes, Strähniges …

Dann wurde es mir klar.

Ich wirbelte herum und rannte. Ich schaffte etwa fünf Meter, bevor die Kotze aus mir hervorbrach. Wenigstens war ich weit genug entfernt, um den Tatort nicht zu kontaminieren. Ich würgte alles aus und hustete dann noch ein oder zwei Minuten lang. Endlich ließen die Krämpfe nach.

Ich drehte mich um. Von dieser Stelle aus konnte ich ihn immer noch sehen, den Klumpen innerhalb des festen Gels. Menschliche Kopfhaut, das braune Haar zu einem Zopf geflochten und mit einem rosafarbenen Gummi zusammengebunden. Wie Kinder es trugen.

Die dünne Maske, die Teddy Jo menschlich machte, riss auf. Flügel brachen aus seinen Schultern hervor, und als er den Mund öffnete, erkannte ich Fangzähne. Seine Stimme erweckte in mir das Bedürfnis, mich ganz eng zusammenzurollen. Ich wurde von alter Magie durchflutet und mit schrecklicher Trauer erfüllt.

»Irgendwo da drinnen sind Alek Katsaros und Lisa Winley. Seine künftige Ehefrau. Ich kann ihn spüren, aber er ist über das Ganze verteilt. Ich kann ihn nicht zu seiner Familie zurückbringen. Er ist verloren. Sie alle sind in diesem Massengrab verloren.«

»Das tut mir furchtbar leid.«

Er wandte sich mir zu, seine Augen waren pechschwarz. »Ich kann mit einem Blick die Todesursache erkennen. Das ist meine Natur. Aber das hier verstehe ich nicht. Was ist das?«

Dereks Gesicht sah schrecklich aus. »Ist das Erbrochenes? Hat etwas sie alle gefressen und dann wieder ausgewürgt?«

Ich hatte das ungute Gefühl, dass ich genau wusste, was es war. Ich ging am Rand der Pfütze entlang. In der Mitte, wo es im unebenen Parkplatz eine Mulde gab, die durch Regen und Vernachlässigung eingesunken war, schien sie etwas mehr als einen halben Meter tief zu sein. Ich brauchte vier Versuche, die Pfütze zu umkreisen, hauptsächlich, weil ich immer wieder anhalten und trocken würgen musste. Ich schaute mir die Haarklumpen und einzelnen Fleischstücke an.

Ich hatte schon viel Gewalt und Blut gesehen, aber das hier war etwas ganz anderes. Es stand sehr weit oben auf der Liste der Dinge, von denen ich mir wünschte, ich hätte sie nie gesehen. Vom bloßen Anblick hatte ich Schmerzen in der Brust. Ich schluckte Galle hinunter.

»Wonach suchst du?«, fragte Thanatos mich mit seiner obskuren Stimme.

»Es geht um das, was ich nicht finde. Knochen.«

Er starrte auf das Gel. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Er öffnete den Mund und schrie. Es war ein Laut, den kein Mensch von sich geben konnte, ein scharfes Kreischen, irgendwo zwischen einem Adler, einem sterbenden Pferd und etwas, das ich noch nie zuvor gehört hatte.

Derek fuhr zu mir herum, in seinem Gesicht stand eine Frage geschrieben.

»Es ist nicht das Erbrochene von irgendeinem Monster«, erklärte ich ihm. »Jemand hat sie gekocht.«

Derek zuckte zurück.

Ich brachte kaum die Worte heraus. »Sie wurden gekocht, bis das Fleisch von den Knochen fiel, die man herausgenommen hat, bevor die Brühe hier ausgekippt wurde. Und was auch immer in diese Flüssigkeit gegeben wurde, ist entweder magisch oder giftig. Hier gibt es keine Fliegen und keine Maden. Hier sind nirgendwo irgendwelche Insekten. Ich höre keine einzige Zikade. Alles von diesen Menschen und ihren Kindern ist da drin.«

Derek ballte die Hände zu Fäusten. Er stieß ein raues Knurren aus. »Wer? Warum?«

»Genau das werden wir herausfinden müssen.« Und wenn ich wusste, wer dafür verantwortlich war, würden die Übeltäter sich wünschen, sie wären stattdessen selbst gekocht worden.

KAPITEL 2

Ich fuhr zur Trabantenstadt zurück. Das Telefon im ersten Haus funktionierte, und ich wählte aus dem Gedächtnis die Nummer von Biohazard mit Luthers Anschluss. Ich hätte die ganze Sache einfach dem Empfang melden können, aber das hier war so schlimm, dass ich die Hierarchie durchbrechen musste.

Das Telefon klingelte. Und klingelte. Und klingelte.

Komm schon, Luther.

Es klickte in der Leitung. »Was ist?«, fragte Luthers gereizte Stimme.

»Ich bin’s.«

»Was auch immer los ist, Unreine, ich habe dafür keine Zeit. Ich muss sehr wichtige Zaubersprüche …«

»Jemand hat zweihundert Menschen gekocht und die flüssigen Überreste bei einem Auslieferungslager von Walmart in der Nähe von Serenbe zurückgelassen.«

Stille.

»Hast du ›gekocht‹ gesagt?«

»Habe ich.«

Luther fluchte.

»Das Massengrab ist ungesichert und magisch aktiv. Hier gibt es keine einzige Fliege. Keine Insektenaktivität im Umkreis von einer Viertelmeile. Ich habe ein einfaches Wehr aus Kreide darum gezogen, und Teddy Jo hält Wache. Die Polizei wird noch heute kommen, um den Tatort zu sichern. Wenn du also vor dem Sheriff hier sein willst, musst du dich beeilen. Der Ort liegt westlich vom South Fulton Parkway. Ich markiere die Nebenstraße für dich.«

»Bin schon unterwegs. Entferne dich nicht von der Grabstätte, Kate. Tu alles, was nötig ist, um alle anderen daran zu hindern, sich dort herumzutreiben.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich sitze praktisch drauf.«

Ich legte auf und rief zu Hause an. Keine Antwort. Hatte ich mir fast gedacht. Curran war immer noch nicht zurück.

Ich rief George an. Conlan hatte sich zu einem Nickerchen hingelegt. Er hatte etwas Müsli gegessen und war ihr zweimal erfolgreich davongelaufen.

Ich legte auf und suchte in der Küche des toten Hauses nach Salz. In der Speisekammer fand ich einen großen Beutel. Ich trug ihn nach draußen zum Jeep, wo ich gerade noch rechtzeitig sah, wie Derek vier Vierzig-Pfund-Säcke schleppte, als würden sie gar nichts wiegen.

»Woher hast du die?«

»Hab eine Jagdhütte gefunden«, sagte er. »Anscheinend wurde sie benutzt, um Salzlecken für Wildtiere zu füllen. Da ist noch mehr.«

»Wir werden es brauchen.«

Wir gingen gemeinsam zur Hütte.

»Erzähl mir über Geruchsspuren«, forderte ich ihn auf.

»Menschlich«, sagte er. »Aber es ist noch etwas anderes darunter. Ein verkorkster Geruch. Wenn man einen Loup wittert, riecht er falsch. Toxisch. Man weiß, dass es kein Gespräch geben wird. Entweder tötest du ihn, oder er tötet dich. So stinken diese Wesen. Im Grunde wie Loups, aber irgendwie auch nicht wie Loups.«

»Verdorben?«, fragte ich nach.

»Ja. Das trifft es gut. Die Menschen wurden zum Eingang der Trabantenstadt gebracht.«

Ich wartete, aber mehr sagte er nicht dazu.

»Und dann?«

»Dort hört die Geruchsspur auf«, erklärte er. »An der Pfütze taucht sie wieder auf.«

»Sie hört auf wie bei einer Teleportation?«

»So in etwa.«

Ich hatte schon ein paarmal mit Teleportation zu tun gehabt. Einen Menschen zu teleportieren erforderte eine enorme Menge Macht. Das erste Mal hatte eine Versammlung sehr mächtiger Wolchws, heidnische russische Priester, so etwas durchgeführt, aber dazu war ein Opfer nötig gewesen. Beim zweiten Mal hatte es ein Dschinn getan. Dschinns waren recht alte Kreaturen, äußerst mächtig und sehr selten. Es gab einfach nicht genug Magie in der Welt, um die fortdauernde Existenz eines solchen Wesens zu ermöglichen. Dieser spezielle Dschinn war in einem Edelstein eingesperrt gewesen. Das war ein sehr ausgeklügeltes Gefängnis, das ihn, wenn eine Technikwoge ihren Höhepunkt erreichte, zwischen magischen Wellen festhielt. Trotzdem brauchte er einen Menschen mit einem ausreichenden Reservoir an Magie, von dem er Besitz ergreifen konnte, um seine Tricks durchzuziehen. Dann hatte er sich vor dem Finale in der Unicorn Lane versteckt, wo selbst während einer Technikphase noch einige Magie floss.

Wie zum Teufel hatten der oder die Unbekannten zweihundert Menschen verschwinden lassen?

Ich hatte keine Lust, mich noch einmal mit einem Dschinn auseinanderzusetzen. Beim letzten Mal hatte ich einen Schlaganfall erlitten, das heißt, sogar mehrere Schlaganfälle gleichzeitig, und wäre daran fast gestorben.

Ich drehte mich zu Derek um. »Konntest du an der Geruchsspur erkennen, ob all diese Leute gleichzeitig verschwunden sind?«

»Ja, genau das ist passiert.«

»Zweihundert Menschen und das, was sie zusammengetrieben hat«, überlegte ich laut. »Also kommt Teleportation nicht infrage, weil dazu zu viel Magie nötig wäre. Es kann nur eine Nischenrealität sein.«

Derek warf mir einen Blick zu.

»Erinnerst du dich an den letzten Flair, als Bran auftauchte? Er hat die meiste Zeit mitten unter uns, aber außerhalb unserer Realität verbracht.«

»Ich erinnere mich an die Rakshasas und ihren fliegenden Palast in einem magischen Dschungel.«

Natürlich erinnerte er sich daran. Wenn man bedachte, was sie mit seinem Gesicht angestellt hatten, würde er sie wohl nie vergessen. »Das hier ist wahrscheinlich ganz ähnlich. Jemand ist gekommen, hat sich einen Haufen Leute geschnappt und sie irgendwohin gebracht.« Was auf die Anwesenheit einer alten Macht hindeutete, was wiederum bedeutete, dass wir ein dickes Problem hatten.

Die alten Mächte – Götter, Dschinns, Drachen, die Großen, die Mächtigen, die Legendären – benötigten zu viel Magie, um in unserer Realität existieren zu können. Aber sie existierten irgendwo, im Nebel, in anderen Bereichen unserer Dimensionen, nur lose mit unserer Welt verbunden. Niemand wusste genau, wie das alles funktionierte. Niemand wusste, was geschehen würde, wenn sich eins dieser Wesen manifestierte und von einer Technikwoge erwischt wurde. Nach der gängigen Meinung würden sie einfach aufhören zu existieren, was der Grund war, warum wir diese alten Wesen nur während eines Flairs sahen, ein magischer Tsunami, der alle sieben Jahre über uns kam. In dieser Phase hielt die Magie mindestens drei Tage lang an, manchmal sogar länger.

Diese Gegend war nicht allzu stark mit Magie gesättigt. Dieses Wesen hatte Mumm, falls wir es mit einer alten Macht zu tun hatten. Normalerweise neigte ich dazu, für alles, was seltsam, mächtig und magisch war, meinen Vater verantwortlich zu machen, aber es fühlte sich nicht nach ihm an. Ich hatte nichts Vertrautes gespürt, und es hatte nichts Elegantes oder Raffiniertes, die Überreste einfach so auf irgendeinem vergessenen Parkplatz abzuladen. Die Magie meines Vaters schockierte einen mit ihrer Schönheit, bevor sie einen tötete.

»Diese Macht hat zweihundert Menschen in ihren Schlupfwinkel gebracht, um sie zu kochen?«, fragte Derek. »Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ging es um die Knochen?«

»Auch das weiß ich nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob die Knochen vielleicht nur eine Nebensache waren. Es gäbe viel schlimmere Interpretationen.«

Derek blieb stehen und sah mich an.

»Sie könnten langsam bei lebendigem Leib gekocht worden sein, um sie zu foltern«, sagte ich.

Er wandte sich der Hütte zu.

»Die Welt ist ziemlich im Arsch«, sagte ich zu ihm. »Deshalb bin ich froh, dass ich Conlan habe.«

Er bedachte mich mit einem strengen Blick.

»Die Welt braucht mehr gute Menschen, und mein Sohn wird ein guter Mensch sein.«

Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis das laute Fauchen von Zauberwassermotoren die Ankunft von Biohazard ankündigte. Zwei Geländewagen kämpften sich knurrend und spuckend die Straße hinauf. Hinter ihnen transportierte ein schwer gepanzerter Laster einen Wassertank. Dahinter folgten zwei weitere Geländewagen. Die Fahrzeuge entließen Leute und Behälter mit orangefarbenen Sicherheitsanzügen. Die Leute nahmen einen Atemzug von der Luft, die fünfzig Meter entfernt von der Pfütze aufstieg, und setzten sich Masken auf.

Luther kam zu uns herüber. Er war stämmig gebaut und dunkelhaarig, trug Stiefel, schmutzige Shorts und ein T-Shirt, auf dem stand: EINRITTERAUFDERPISTE, EINMAGIERINDERKISTE.

»Ich mag das T-Shirt«, sagte ich zu ihm. »Sehr professionell.«

Er ließ sich nicht ködern. Er starrte nur auf das Massengrab in Gelee. Wir hatten einen einfachen Salzkreis darum gezogen. Für Kreidelinien war das Pflaster zu sehr aufgebrochen.

»Ich brauche eine Aussage«, sagte er. »Vom Werwolf und auch von Thanatos. Wo ist er?«

Ich nickte. Teddy Jo hatte oben auf dem Dach des Lagerhauses Stellung bezogen und blickte auf das Grab hinab. Schwarzer Rauch stieg von ihm auf und wirbelte um seinen Körper. Wenn er die Macht dazu hätte, würde er sofort die Überreste des jungen Paars herausholen und wiederbeleben. Aber er hatte sie nicht. Keiner von uns war so mächtig. Nur Götter brachten Menschen von den Toten zurück, und das Resultat war, um es freundlich auszudrücken, für gewöhnlich zwiespältig.

»Er trauert«, erklärte ich Luther. »Einer aus seinem Volk ist da drinnen. Er kann seine Seele nicht ins Jenseits führen. Dazu müsste er über dem Toten bestimmte Rituale durchführen, aber es gibt keine Möglichkeit, seine Leiche aus der Masse herauszulösen. Er kann den Toten nicht zu seiner Familie zurückbringen. Deswegen ist er sehr zornig, also wäre ich mit der Befragung lieber etwas vorsichtiger.«

Luther nickte.

Ich erzählte ihm von der unterbrochenen Geruchsspur. Je länger ich sprach, desto tiefer wurden die Runzeln auf seiner Stirn.

»Eine alte Macht?«, fragte er nach.

»Ich hoffe nicht.«

Er starrte wieder auf das Grab. »Ganze Familien, sogar die Kinder?«

»Es scheint so.«

»Warum?«

Ich wünschte, ich wüsste den Grund. »Die Knochen fehlen.«

Er verzog das Gesicht. »Menschliche Knochen haben die höchste Konzentration von Magie. Deshalb werden sie von Ghouls gekaut. Wissen wir mit Sicherheit, dass die Knochen herausgenommen und zurückbehalten wurden?«

»Nein, aber rein statistisch müssten darin zumindest ein paar Knochen sein. Ein Schädel, ein Oberschenkelknochen, irgendetwas. Aber ich habe nur weiches Gewebe gesehen.«

Er seufzte, für einen Moment wirkte er viel älter, und seine Augen blickten gehetzt. »Ich werde dir Genaueres sagen, nachdem wir alles geborgen und untersucht haben.«

Wir standen eine Weile da, vereint in unserer Entrüstung und Trauer. Wir beide würden uns durch diese Masse graben, er von seinem Ende aus, ich von meinem. Schließlich würden wir den Verantwortlichen finden. Aber es würde den Familien nichts nützen, deren Reste auf dem Parkplatz lagen und die man wie Müll abgeladen hatte.

Schließlich nickte Luther und ging, um seinen orangefarbenen Anzug zu holen, während ich meine Aussage machte.

*

Wir gerieten in die Hölle hinter einem Lastwagenkonvoi auf der Magnolia Bridge. Normalerweise wäre ich auf eine Seitenstraße abgebogen, aber die Magnolia war eine der neuen Brücken, die die Trümmer eingestürzter Straßenüberführungen und Häuser überspannten. Sie war der schnellste Weg zurück zum Büro, und ich hatte den Kopf immer noch voller gekochter Menschen. Als mir klar wurde, was passierte, war es bereits zu spät.

Es kostete uns eine gute halbe Stunde, und als wir vor Cutting Edge anhielten, war es schon Nachmittag. Derek stieg aus, schloss die Kette vor unserem Parkplatz auf, damit ich den Wagen dort abstellen konnte.

Auf der Straße war es heute relativ ruhig. Die Hitze hatte die meisten Kunden verjagt, die normalerweise Bill Horns Kesselflickerladen und Nicoles Autowerkstatt frequentierten. Nur Mr Tucker hielt die Stellung. Die Jahre hatten seinen einstmals breitschultrigen und vermutlich muskulösen Körper auf eine magere, fast gebrechliche Gestalt reduziert. Sie hatten ihm auch den größten Teil seines Haars geraubt, weshalb er es so kurz trug, dass es wie ein weißer Flaum wirkte, der über seiner dunkelbraunen Kopfhaut schwebte. Doch seinen Unternehmungsgeist hatten die Jahre nicht zerstören können. Zweimal am Vormittag und mindestens einmal am Nachmittag lief er mit einem großen Schild unsere Straße entlang. Auf dem Schild stand: ACHTUNG! DASENDEDERWELTISTGEKOMMEN! ÖFFNETDIEAUGEN!

Als ich aus dem Jeep stieg, verkündete Mr Tucker dieselbe Botschaft mit lauter Stimme, wie er es schon viele Male zuvor getan hatte. Doch als Südstaatler glaubte Mr Tucker außerdem fest an die Regeln der Höflichkeit.

»Bereut eure Sünden! Das Ende ist gekommen! Wie geht es euch heute?«

»Kann mich nicht beklagen«, log ich. »Möchten Sie etwas Eistee? Es ist heiß hier draußen.«

Mr Tucker zeigte mir eine Metallflasche. »Hab schon welchen bei Bill bekommen. Vielen Dank. Wir sehen uns.«

»Alles klar, Mr Tucker.«

Ein Auto fuhr langsam vorbei, offensichtlich auf der Suche nach etwas. Mr Tucker stürzte ihm entgegen und schwenkte sein Schild. »Bereut eure Sünden! Öffnet die Augen. Ihr lebt inmitten der Apokalypse!«

Ich seufzte, schloss die Seitentür auf und trat ein.

Derek folgte mir mit verzogener Miene. »Eines Tages wird ein Auto ihn überfahren.«

»Und wenn das passiert, bringen wir ihn ins Krankenhaus.«

Mr Tucker hatte recht. Wir lebten in der Apokalypse. Stück für Stück starb mit jeder Magiewoge etwas mehr von der alten technisch geprägten Welt, und die neue Welt mit ihren Mächten und Monstern wurde ein wenig stärker. Aber da ich eins der Monster war, sollte ich mich vielleicht nicht darüber beschweren.

Wir mussten unsere Aufgabenliste bereinigen. Serenbe hatte jetzt Vorrang. Ich betrachtete die große Tafel, die an der Wand hing. Drei aktive Fälle: ein Ghoul auf dem Oakland-Friedhof, eine mysteriöse »Kreatur« mit funkelnden Augen, die die Studenten am Kunstinstitut erschreckte und sich von kostbarer Farbe ernährte, und eine Meldung über einen abnormal großen leuchtenden Wolf in einer Vorstadt nicht weit von der Dunwoody Road.

Derek trat vor die Tafel und wischte den Wolf ab. »Hab ihn letzte Nacht erwischt.«

»Was war es?«

»Desandra.«

Ich sah ihn blinzelnd an. »Die Alpha des Wolfsclans?«

Derek nickte.

»Was hat sie in Dunwoody Heights gemacht?«

»Sie hat versucht, ihre Jungs für eine Gymnastikklasse in der Stadt anzumelden, und jemand von den anderen Eltern bekam einen Wutanfall. Also bat man sie, wieder zu gehen. Während der letzten drei Nächte hat sie sich in einem Pulver gewälzt, das im Dunkeln leuchtet, und das Haus dieser Frau bedroht.«

»Hast du ihr erklärt, dass Einschüchterungsversuche nicht den Interessen des Rudels dienen?«

»Ja. Sie erwiderte, dass sie damit durchgekommen wäre, wenn ich mich nicht eingemischt hätte.«

Ich wahrte eine stoische Miene. »Damit ist der Fall tatsächlich abgeschlossen. Gute Arbeit!«

»Kein Ding.«

»Und wo hast du die Scooby Snacks gelassen?«

»Saukomisch«, sagte er trocken.

Ich musterte die Tafel. Vor einem Jahr hätte ich Ascanio den Farbenfresser-Fall zugeworfen und ihn dann vergessen. Aber Ascanio hatte sich in letzter Zeit rar gemacht. Er kam kaum noch vorbei. Die letzten paar Male hatte ich ihn anrufen müssen, nachdem er zuvor pausenlos um Jobs gebettelt hatte. Die Schule hatte einen großen Teil seiner Zeit beansprucht, und letztes Jahr hatte er seinen Abschluss gemacht.

Offiziell stand er immer noch auf unserer Gehaltsliste. Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer des Bouda-Hauses.

Miranda antwortete mit einem gehauchten »Hallo!«

»Ich bin’s.«

Die Sexyness verschwand aus ihrer Stimme. »Oh, hallo, Kate!«

»Ist die üble Ausgeburt zu Hause?«

»Er hilft Raphael bei irgendwas.«

Das war die gleiche Antwort, die ich auch bei meinem letzten Anruf bekommen hatte. »Okay. Würdest du ihm mitteilen, dass ich einen Job für ihn habe, falls er interessiert ist?«

»Klar.«

Ich war Ascanios Arbeitgeberin, aber Raphael und Andrea waren seine Alphas, und für den Bouda-Clan stand die Loyalität zum Clan über allem anderen. Raphael übertrumpfte mich. »Andererseits … schon gut. Wir werden uns selbst darum kümmern.«

»Okay«, sagte Miranda.

Ich legte auf. Wenn Ascanio im Einsatz war und Julie mit Curran ein Jagdabenteuer erlebte, reduzierte sich das Team auf Derek und mich.

»Willst du, dass ich es übernehme?«, fragte er.

»Nein, ich brauche dich für Serenbe. Wir werden die Sache an die Gilde weiterleiten müssen.« Es gefiel mir gar nicht, Jobs an die Gilde abzugeben.

Ich hatte versprochen, den Auftrag zu erledigen, als ich ihn angenommen hatte, und ich legte großen Wert darauf, ihn tatsächlich zu erledigen. Jetzt musste ich den Klienten erklären, dass wir zu viel zu tun hatten. Das war schlecht fürs Geschäft, und ich fühlte mich wirklich mies dabei. Aber manchmal blieb mir eben nichts anderes übrig.

Ich rief Barabas in der Gilde an. Ich hätte mich an den Buchhalter wenden können, aber da Barabas der Leiter war, würde es schneller gehen. Außerdem begaben sich die Söldner ständig in gefährliche Situationen. Sie mussten von Serenbe erfahren. Je mehr Leute davon wussten, desto besser standen unsere Chancen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Er nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Ja?«

»Ich muss zwei Jobs an dich weitergeben. Der eine ist nervig, aber für die Ghoul-Beseitigung ist jemand nötig, der gut ist.«

»Startet dein Vater eine Invasion?«

»Nein, aber etwas Schlimmes ist passiert.« Ich erzählte ihm von Serenbe. »Wer auch immer das getan hat, ist unbehelligt davongekommen. Ich habe das Gefühl, dass es kein einmaliges Ereignis war.«

Es folgte ein langer Moment angespannter Stille.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich.

»Ja. Ich überlege nur, wie ich die Söldner darüber informieren kann, ohne dass es zu einer Panik kommt.«

»Ruf mich zurück, wenn dir etwas eingefallen ist.« Ich konnte ein paar gute Tipps gebrauchen, welche Regeln für panikfreie Benachrichtigungen beachtet werden sollten.

»Das werde ich. Wir übernehmen die beiden Aufträge.«

»Danke.«

Ich legte auf, zog die zwei Akten über den Ghoul und den Farbenfresser hervor und legte sie auf meinen Schreibtisch. Ich würde sie Barabas überreichen, wenn ich heute nach Hause kam. Nachbarn zu sein hatte seine Vorteile.

»Glaubst du wirklich, dass es noch einmal passieren wird?«, fragte Derek.

»Ja.«

»Warum?«

Ich lehnte mich gegen den Tisch. »Sie haben die Hunde getötet, zweihundert Menschen rausgeholt und sie verschwinden lassen. Niemand konnte entkommen. Keiner der Angreifer starb, das heißt, wir haben keine Leichen oder große Blutlachen gefunden. Nichts ist schiefgelaufen. Sie haben nichts vermasselt. Man kann keine große Anzahl von Menschen unter Kontrolle halten, ohne dass man es vorher geübt hat.«

»Du meinst, sie haben so etwas schon einmal gemacht.«

»Ich weiß, dass sie es schon mehr als einmal gemacht haben. Und wenn sie es mehr als einmal gemacht haben, ist es wahrscheinlich, dass sie für irgendwas einen ständigen Nachschub an Menschen brauchen, also werden sie es noch einmal tun. Dann muss ich dabei sein und sie davon abhalten. Diese Stadt wird nicht zu ihrem Jagdgebiet, solange ich es verhindern kann. Deshalb werden du und ich jetzt das Rudel, das Volk, den Orden und jede andere verantwortliche Person anrufen, die wir kennen, und allen mitteilen, was geschehen ist.« Biohazard würde eigene Benachrichtigungen hinausschicken, aber ich wollte das Netz so weit wie möglich auswerfen.

Derek ging zu seinem Schreibtisch. »Zuerst das Rudel.«

»Nur zu!«

*

»Kate?« Dereks Gesicht tauchte vor mir auf.

Ich rieb mir die Stirn. »Ja?«

»Essen?«, fragte er.

Essen? Ich hatte heute noch gar nichts gegessen. »Essen wäre toll.«

Er nickte und verließ das Büro.

In den vergangenen zwei Stunden hatte ich mit den Sheriffbüros der drei Countys gesprochen, wo man mich kannte: in Douglas, Gwinnett und Milton. Beau Clayton, der Sheriff von Milton County, und ich hatten eine lange Vorgeschichte. Es gefiel ihm gar nicht, von den verschwundenen Menschen zu hören.

Ich rief den Orden an und bat darum, mit Nick Feldman zu sprechen, worauf Maxine, die telepathische Sekretärin des Ordens, mir sagte, dass er in der Stadt, aber nicht im Haus war. Also musste ich eine Nachricht für ihn hinterlassen. Ich fasste mich kurz.

Falls der Orden irgendetwas wusste, würde man es mir nicht mitteilen, und meinen Informationen traute man dort sowieso nicht. In den acht Monaten, seit ich meinen Beruf wieder ausübte, hatten wir bei ein paar Fällen kooperieren müssen, und die Zusammenarbeit mit Nick Feldman, dem derzeitigen Verteidiger der Ritter, war jedes Mal eine Tortur gewesen. Es war schon schlimm genug, dass meine Mutter die Ehe seiner Eltern ruiniert hatte, aber Nick hatte außerdem einige Zeit als Undercoveragent im inneren Zirkel von Hugh d’Ambray verbracht und aus erster Hand erfahren, wie mein Vater vorging. Er hasste unsere gesamte Familie mit der Hitze von tausend Sonnen und hatte es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, unsere Existenz zu beenden.

Derek hatte die Polizeibehörden der Stadt, das Rudel und einige Straßenkontakte übernommen, die er sich aufgebaut hatte. Zu zweit hatten wir so ziemlich alles abgedeckt. Jetzt war nur noch das Volk übrig.

Ich wählte die Nummer.

»Sie sind mit dem Kundenservice des Casinos verbunden«, beantwortete ein junger Mann den Anruf. »Hier spricht Noah. Wie können wir Ihnen den Tag verschönern?«

Dazu wäre schon ein Wunder nötig. »Stellen Sie mich bitte zu Ghastek oder Rowena durch.«

»Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe?«

»Kate?«

»Erwarten sie Ihren Anruf?«

Großartig. Ich hatte einen neuen Lehrling erwischt. »Nein.«

»Ich bräuchte noch einen Nachnamen, Ma’am.«

»Lennart.«

»Einen Augenblick, bitte.«

Es piepte, dann sprach Noah zu jemandem. »Hallo, hier ist eine Kate Lennart, die mit dem Furchtlosen Anführer sprechen möchte. Sie steht nicht auf der Liste.«

Anscheinend hatte Noah noch nicht gelernt, wie man Anrufer in die Warteschleife schaltete.

»Kate wer?«, fragte eine andere Männerstimme.

»Kate Lennart?«

»Du Idiot, das ist die In-Shinar!«

»Was?«, quiekte Noah.

»Du hast die In-Shinar in der Warteschleife, du Blödmann! Ghastek wird dich an den Eiern aufhängen.«

Uff.

»Was mache ich jetzt?« Panik schwang in Noahs Stimme mit.

Du könntest mich mit Ghastek verbinden. Aber wenn ich jetzt etwas sagte, würden die beiden nur noch mehr ausflippen.

Es piepte ein paarmal. Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie Noah hektisch mit dem Telefon hantierte und wie ein kleines Kind wahllos irgendwelche Tasten drückte. Dann hörte ich, wie die Verbindung unterbrochen wurde.

Als ich das letzte Mal bei der Ernennung neuer Gesellen zugegen gewesen war, hatte Ghastek mich mit den Worten vorgestellt: »Seht die Unsterbliche, die In-Shinar, die Blutklinge von Atlanta!« Ich hatte die Zeremonie mit dem Versuch zugebracht, ihn mit purer Willenskraft zu töten. Als ich ihn anschließend deswegen zusammengestaucht hatte, fragte er mich, für wen ich eher mein Leben aufs Spiel setzen würde, für die Blutklinge von Atlanta oder für Kate Lennart, Kleinunternehmerin. Ich hätte ihm sagen sollen, dass er mich mal konnte. Ich war selbst schuld.

Ich legte den Telefonhörer ab und zählte im Kopf bis fünf. Das musste genug Zeit für sie sein, sich wieder einzukriegen.

Dann wählte ich die gleiche Nummer.

»Kundenservice«, krächzte Noah.

»Ich bin’s noch mal. Ein Gespräch mit Ghastek, bitte.«

»Ja, Lady Ma’am, ähm, In-Shinar, ähm, Eure Majestät.«

Ich wartete. Nichts geschah.

»Noah?«

»Ja?«, antwortete er in einem verzweifelten Flüstern. Er schien dem Tode nahe zu sein.

»Stellen Sie bitte den Anruf durch.«

Er gab ein leises ersticktes Geräusch von sich, dann klickte es in der Leitung, und Rowenas sanfte Stimme war zu hören. »Hallo, Kate. Wie geht es Conlan?«

Ihr zu sagen, dass einer ihrer Gesellen mich soeben »Lady Ma’am« genannt hatte, wäre kontraproduktiv gewesen. »Es geht ihm gut.«

»Wann bringst du ihn mal vorbei?«

Rowena stammte aus demselben Dorf wie meine Mutter. Sie hatten eine ähnliche magische Begabung, auch wenn die meiner Mutter viel stärker gewesen war. Dieses Talent hatte seinen Preis. Frauen, die es hatten, fiel es schwer, schwanger zu werden, und noch schwerer, ein Kind auszutragen. Ich war eine Ausnahme, was vielleicht mit Rolands Genen zu tun hatte. Jedenfalls hatten Curran und ich keine Schwierigkeiten mit der Zeugung gehabt. Rowena hatte nie eigene Kinder gehabt, obwohl sie sich verzweifelt welche wünschte. Sie hatte mir einmal gesagt, dass die Welt nicht sicher genug für Kinder war, solange mein Vater am Leben war. Stattdessen überschüttete sie meinen Sohn mit ihrer mütterlichen Zuneigung.

»Sobald es mir möglich ist. Ich habe schlechte Neuigkeiten.«

»Geht es um deinen Vater?« Ihre Worte klangen beunruhigt.

»Nein. Zumindest glaube ich es nicht.«

Dann erzählte ich ihr von Serenbe.

»Wie schrecklich«, sagte Rowena anschließend.

Es gab nicht viel, das eine Herrin der Toten schockieren konnte. Auch mich konnte nicht mehr allzu viel schockieren. Inzwischen hatte ich diese Geschichte etwa sieben- oder achtmal erzählt. Man sollte meinen, dass sie durch die Wiederholung an Schärfe verlor, aber, nein, jedes Mal war die Sache genauso bestürzend wie zuvor.

»Wir werden uns bei Biohazard melden und versuchen, ein paar Proben zu bekommen, um sie zu analysieren«, sagte Rowena.

»Das wäre toll.«

Ich verabschiedete mich und legte auf, bevor sie die Gelegenheit erhielt, mich zu fragen, ob Conlan bereits irgendwelche magischen Fähigkeiten entwickelt hatte. Alle wollten, dass mein Sohn mehr war. Dabei war er wunderbar, so wie er war.

Jemand klopfte an meine Tür.

»Herein!«, rief ich.

Die Tür schwang auf, und Raphael trat ein. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und hatte eine dunkelgrüne Flasche dabei.

»Vorsicht vor Boudas«, sagte ich. »Insbesondere wenn sie Geschenke mitbringen.«

Er lächelte. »Darf ich hereinkommen?«

»Bitte.« Ich zeigte auf den Besucherstuhl. »Setz dich.«

Er tat es. Sein schwarzes Haar fiel in sanften Wellen auf seine Schultern. Wenn die Leute Wörter wie »hinreißend« benutzten, um einen Mann zu beschreiben, lachte ich normalerweise nur. Doch für Raphael fand ich dieses Wort angemessen. Er hatte etwas an sich, etwas in seinen dunkelblauen Augen, in seiner Haltung, eine Andeutung des ungezähmten Gestaltwandlers, die durch die Oberfläche schimmerte – irgendetwas, bei dem Frauen sofort an Sex dachten. Zum Glück war ich dagegen immun.

»Was ist in der Flasche?«

Er schob sie mir über den Schreibtisch zu. Auf dem handgeschriebenen Etikett mit einem hübschen orange-gelben Apfel stand: Bs Bester Cider.

Ich pfiff. »Jetzt weiß ich, dass es etwas Schlimmes ist.«

Als Curran und ich geheiratet hatten, spendete der Bärenclan mehrere Fässer mit Honig-Ale für die Hochzeitsfeier. Das Ale war ein rauschender Erfolg. Als Raphael klar wurde, dass das Haus des Bouda-Clans mitten in einem Apfelgarten stand, erkannte er eine Geschäftsmöglichkeit. Bs Cider war seit einem Jahr auf dem Markt, und wie alles, was Raphael anfasste, verwandelte es sich in Gold.

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, ein langes Bein über das andere geschlagen. Das Leben mit Andrea tat Raphael gut. Er sah adrett aus. Sein Anzug passte ihm so perfekt, dass er maßgeschneidert sein musste.

»Lass mich raten. Dein Schneider hält dein letztes Outfit in Geiselhaft, und du willst, dass ich es befreie.«

»Wenn ich dich darum bitten würde, wären anschließend alle Beteiligten blutüberströmt, und mein Anzug wäre ruiniert. Nein, in einem solchen Fall würde ich meine Frau fragen. Sie würde dem Kerl aus hundert Metern Entfernung zwischen die Augen schießen.«

Genau das würde sie tatsächlich tun.

»Ich bin gekommen, um über den Jungen zu reden«, sagte er. »Ich habe den Cider mitgebracht, weil es kein leichtes Gespräch sein wird.«

Oh.

»Ich möchte dich bitten, ihn zu entlassen.«

Das hatte ich mir fast gedacht. »Warum ist Ascanio nicht gekommen, um für sich selbst zu sprechen?«

»Weil du ihn aufgenommen hast, als sonst niemand ihn haben wollte. Tante B hat ihn zu dir geschickt, weil er nicht zu bändigen war, und sie wusste, dass er früher oder später etwas Falsches tun oder sagen würde, worauf ihm jemand die Kehle rausreißen würde. Du hast ihm einen Job und ein Zuhause gegeben, du hast ihn ausgebildet und ihm vertraut. Du hast ihn in jemanden verwandelt, der inzwischen ein Gewinn für den Clan ist. Das alles ist ihm bewusst. Er ist dir treu ergeben.«