Steirerblut/Steirerherz - Claudia Rossbacher - E-Book

Steirerblut/Steirerherz E-Book

Claudia Rossbacher

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Beschreibung

Steirerblut - Band 1 Als Sandra Mohr vom LKA in Graz in die Steirische Krakau gerufen wird, um den Mord an einer Journalistin aufzuklären, strapaziert nicht nur ihr neuer Vorgesetzter Sascha Bergmann ihre Nerven. Die Ermittlungen in ihrem Heimatort führen unweigerlich zu Konflikten mit der verschworenen Dorfgemeinschaft und mit der eigenen Familie. Steirerherz - Band 2 Ihr zweiter Fall führt Sandra Mohr und Sascha Bergmann in die Weststeiermark, wo die gepfählte Leiche einer jungen Frau wie eine Vogelscheuche auf einem Kürbisacker aufgestellt wurde. Während die Ermittler den Spuren folgen, wächst die Befürchtung, dass der Täter erneut zuschlagen könnte.

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Seitenzahl: 588

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Claudia Rossbacher

Steirerblut Steirerherz

15 Jahre SteirerkrimisBand 1&2

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Bereits erschienen als Einzelbände: Steirerblut (2011) und Steirerherz (2012)

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © ORF/Allegro Film/Petro DomeniggISBN 978-3-7349-3460-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Vortwort der Autorin

Liebe Leserinnen,

liebe Leser!

15 Jahre Steirerkrimis – dafür möchte ich mich von ganzem Herzen bei Ihnen bedanken! Ohne Sie wären meine Steirerkrimis nicht so erfolgreich. Ja, vielleicht gäbe es sie gar nicht mehr.

Wie? Sie kennen meine Bücher noch gar nicht? Dann freut es mich umso mehr, dass Sie jetzt zu diesem Doppelband mit den ersten beiden Steirerkrimis gegriffen haben. Vielleicht haben Sie ja den einen oder anderen im Fernsehen oder in den Mediatheken gesehen. Aber beginnen wir von vorne.

Als ich 2010 den ersten Kriminalroman mit meinen Ermittlern Sandra Mohr und Sascha Bergmann vom LKA Steiermark geschrieben hatte, war eine Krimi-Trilogie geplant, doch es sollte anders kommen. Steirerblut eroberte nicht nur die Herzen der Steirer im Sturm, das Buch schaffte es auf Anhieb in die österreichischen Bestsellerlisten. Die Folgebände Steirerherz und Steirerkind konnten diesen großartigen Erfolg sogar noch toppen. Es lag auf der Hand, die Steirerkrimi-Reihe fortzusetzen, und damals beschloss ich auch, die alphabetische Reihenfolge meiner Buchtitel bis zum »Z« (Steirerzwist erscheint im Januar 2026) fortzuführen, um selbst nicht den Überblick zu verlieren.

Seither durfte ich in 15 Bänden quer durch alle Bezirke und die schönsten Regionen der Steiermark morden und mich über eine stetig wachsende Leserschaft, fantastische Verkaufszahlen und zahlreiche Auszeichnungen in Österreich freuen.

Die zunehmende Bekanntheit der Steirerkrimis – auch in Deutschland – ist nicht zuletzt den quotenstarken TV-Filmen zu verdanken, die Regisseur Wolfgang Murnberger seit der ersten Verfilmung von Steirerblut mit einem fantastischen Team für ORF und ARD umsetzt. Mittlerweile zeichnet er zusammen mit seiner Frau Maria Murnberger auch für die Drehbücher verantwortlich. Dass diese inhaltlich von meinen Büchern abweichen, ist den unterschiedlichen Medien geschuldet – ein Roman lässt sich eben nicht in 90 Minuten pressen. Die notwendigen Kürzungen bringen zwangsläufig Änderungen mit sich, damit die Story logisch bleibt. Außerdem entschied sich Miriam Stein als Sandra Mohr nach vier Folgen aus der beliebten TV-Reihe auszusteigen und musste in einer sogenannten Spin-Off-Folge (nach einem Drehbuch ohne Romanvorlage) den Steirertod sterben.

Chefinspektor Sascha Bergmann – von Anfang an grandios von Hary Prinz verkörpert – wird in den Filmen seither von seiner neuen Partnerin Anni Sulmtaler, gespielt von Anna Unterberger, unterstützt. In meinen Büchern hingegen heißt die Figur Anni Thaler und arbeitet im Hintergrund für Bergmanns Team, während Sandra Mohr weiterlebt und mit Sascha Bergmann weiterermittelt. Die meisten Leserinnen und Leser sind darüber sehr froh, da ihnen meine beiden Protagonisten längst ans Herz gewachsen sind. Am besten macht man sich über die Unterschiede zwischen Büchern und Filmen keine Gedanken, sondern genießt sie einfach als das, was sie sind: Steirerkrimis, die Ihnen spannende und unterhaltsame Stunden mit authentischen Charakteren an sehens- und besuchenswerten Tatorten in der malerischen Steiermark bescheren.

Herzlich

Ihre Steirerkrimi-Autorin

Claudia Rossbacher

Schloss Kainberg, im Frühjahr 2025

Hinweis

Ein Glossar der steirischen bzw. österreichischen Ausdrücke befindet sich am Ende des Buchs.

Steirerblut Sandra Mohrs erster Fall

Widmung

Für meine Mutter

† 05.08.2013

Prolog

Nackte Füße, morsches Geäst.

Ein Knacken – stolpern, fallen.

Die Arme schießen nach vorn. Instinktiv.

Weiches, feuchtes Moos.

Der Duft des Waldes. Modrig. Ein wenig nach Pilzen.

Hochrappeln, brüllt die Stimme im Kopf.

Weiterlaufen durch die kühle Nacht!

Weiterlaufen um dein Leben!

Die Tritte treffen hart.

Wieder und immer wieder.

Der Schmerz brennt längst nicht mehr.

Nur noch die Seele. Gedemütigt, verletzt, geschunden.

Die Stimme versagt.

Ein letzter Blick.

Bleiche Fratze im Mondlicht.

Ast in der Hand meines Mörders.

Kalt. So kalt.

Kapitel 1

Donnerstag, 16. September – St. Raphael im Krakautal/Steiermark

»Und? Was meint der Gerichtsmediziner?« Chefinspektor Sascha Bergmann starrte in seine Kaffeetasse, als würde er die Antwort auf seine Frage darin lesen können.

Warum sieht er mir nie in die Augen?, fragte sich Abteilungsinspektorin Sandra Mohr nicht zum ersten Mal. Seit der ranghöhere Wiener Kollege vor drei Wochen überraschend bei der Mordgruppe des Landeskriminalamts Steiermark in Graz aufgetaucht war, wich er ihren Blicken aus. Langsam hatte sie die ständigen Umstrukturierungen im Zuge der jüngsten Polizeireform satt. Kaum hatte sie sich an etwas oder jemanden gewöhnt, war alles schon wieder anders. Und selten war es besser als zuvor. Jetzt musste sie sich also mit Sascha Bergmann zusammenraufen. Kein leichtes Unterfangen, wie es schien. Irgendwie waren sie nicht kompatibel. Was bestimmt nicht an ihr lag, sondern vielmehr an seiner Borniertheit, die ihr einen normalen Umgang mit ihm unmöglich machte. Manchmal ertappte sie ihn dabei, wie er sie beobachtete. Unauffällig, wie er wohl meinte. Umso auffälliger war es dann, wenn er sich blitzartig von ihr abwandte. Was – hatte sie sich schon des Öfteren gefragt – was fürchtete er, das sie in seinen Augen entdecken könnte? Was hatte er vor ihr zu verbergen?

Sandra Mohr fuhr mit ihrem Bürostuhl einen halben Meter zur Seite, um die Papiere, die der Drucker eben ausgeworfen hatte, zu entnehmen. Dann rollte sie in ihre Ausgangsposition zurück und streckte sich nach vorn, um Bergmann seinen Ausdruck über beide Schreibtische zu reichen. Es war nicht nötig, sich eigens dafür vom Stuhl zu erheben. In dem gerade mal zwölf Quadratmeter großen Personal-Aufenthaltsraum der örtlichen Polizeiinspektion, der kurzerhand zum Büro des Ermittlerduos aus der Landeshauptstadt umfunktioniert worden war, gab es keine andere Möglichkeit, als die zwei alten, wuchtigen Holztische direkt neben dem einzigen Fenster Tischfront an Tischfront aufzustellen. Wenigstens würde sie so von ihrem provisorischen Arbeitsplatz aus nicht mitbekommen, wenn Bergmann wieder einmal diese einschlägige Kontaktbörse im Internet besuchte. Wie neulich im Grazer Büro, als ihr Blick zufällig auf seinen Bildschirm gefallen war. Dass er auf der Suche nach einer ernsthaften Beziehung war, schloss Sandra aus. Allem Anschein nach zählte dieses Portal zu jenen, die in erster Linie sexuelle Kontakte vermittelten, und Bergmann war schließlich verheiratet. Arme Frau. Ob sie wusste, was ihr Mann so trieb? In Sandras Augen war ihr neuer Kollege ein ziemlicher Kotzbrocken. Darüber konnte auch sein passables Äußeres nicht hinwegtäuschen. Jedenfalls nicht sie.

»Von der Gerichtsmedizin wissen wir, dass Eva Kovacs wesentlich massivere Verletzungen erlitten hat, als wir es am Tatort und auf den Fotos erkennen konnten«, kommentierte sie das Protokoll in ihren Händen. »Die linke Niere war gequetscht, die Milz ruptiert. Hämatome waren praktisch überall, und sie hatte mehrere Frakturen: Nasenbeinbruch, drei gebrochene Rippen und der zertrümmerte Schädel – die Todesursache, wie wir schon vor Ort angenommen haben.«

»Wir?«, fragte Bergmann, während er die Spitze seines Bleistiftes prüfte. Sandras Wangen nahmen Farbe an. »Na, der Max«, sie räusperte sich, »der örtliche Inspektionskommandant Max Leitgeb, die Notärztin, Frau Doktor Sortsch, und ich«, klärte sie den Kollegen auf.

Bergmann drehte seinen Bleistift einige Male im Spitzer herum. Als ihm die Mine spitz genug zu sein schien, sah er über Sandra hinweg auf die weiße Magnettafel hinter ihrem Rücken, die wie alles hier – außer ihren Laptops und dem Drucker – aus dem letzten Jahrtausend stammte.

Aus dieser Distanz konnte er auf den Fotos nicht viel erkennen, wusste Sandra, höchstens, dass die nackte Frau, die darauf abgelichtet war, mausetot war. Sie wusste aber auch, dass er die Bilder schon zuvor in Graz studiert hatte. Sie selbst hatte sie ihm gestern, an ihrem ersten Arbeitstag in St. Raphael, gemailt – nur ein paar Stunden, nachdem die tote Eva Kovacs aus Wien im Wald gleich hinter dem Gasthof ›Zur Goldenen Gans‹ entdeckt worden war. Sandra war umgehend nach dem Leichenfund in aller Herrgottsfrüh hierher aufgebrochen, während Bergmann in Graz auf die Tote und auf den einzigen Hinterbliebenen, Paul Kovacs, wartete, der seine verstorbene Ehefrau in der Gerichtsmedizin ein letztes Mal sehen wollte.

Dass sie diesmal ausgerechnet in ihrem Heimatdorf ermitteln musste, nervte Sandra. Von allen Einsatzorten auf der Welt, war der hier mit Abstand der unangenehmste für sie. Was hatte das Opfer bloß hierher verschlagen? Was suchte eine offenbar wohlhabende Frau in den besten Jahren in diesem gottverlassenen Kaff? Und wieso hatte sich die Kovacs nicht in einem dieser angesagten Wellness- und Beautytempel in der oststeirischen Thermenregion einquartiert?

Wenn sich schon Gäste nach St. Raphael verirrten, so waren es doch vor allem ältere, Ruhe suchende Leute, die hier ihre Sommerfrische genossen. Oder Wintersportler, die untertags die nahe gelegene Skiregion Kreischberg und – nach dem Après-Ski – die Straßen der Umgebung unsicher machten. Viele der Besucher waren schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten Stammgäste und kamen in privaten Zimmern und Ferienwohnungen in der Umgebung unter. Oder eben im einzigen Gasthof des Ortes, ›Zur Goldenen Gans‹, den Maria Oberhauser vulgo Mizzi gemeinsam mit ihrem Sohn, dem Michl, führte.

Eva Kovacs hatte vor zwei Tagen, am Nachmittag des 14. September, bei der Mizzi eingecheckt. Die blonde Dame – laut Auskunft der Wirtin ›a typische Weanerin‹, was in deren Augen nichts Gutes zu bedeuten hatte – war zum ersten Mal hier aufgetaucht. Allein. Und nur für eine Nacht. Dennoch hatte es ein Doppelzimmer sein müssen. In schmalen Einzelbetten könne sie kein Auge zu tun, hatte sie der Mizzi erklärt. Und dass sie auf der Durchreise sei. Wohin sie unterwegs war, hatte die Dame aus der fernen Bundeshauptstadt jedoch nicht erwähnt.

Oberflächlich betrachtet war die kleine Ortschaft, in der die Fremde gelandet war, ein beschauliches Plätzchen. Die wenigen Häuser, die ins satte Grün der hügeligen Landschaft mit den angrenzenden Nadelwäldern eingebettet waren, wirkten allesamt gepflegt. Die frisch gefärbten Fassaden strahlten in kräftigem Gelb, zartem Pistaziengrün oder hellem Altrosa um die Wette. Die Fenster waren spiegelblank geputzt, die Holzbalkone und Vorgärten mit üppig blühenden Blumen geschmückt. Und die saubere Luft wirkte wie Balsam für feinstaubgeplagte Städterlungen. Doch Sandra war damals nicht grundlos aus dieser ländlichen Idylle geflüchtet.

Was also hatte jemand wie Eva Kovacs in St. Raphael gewollt? War sie wirklich nur auf der Durchreise gewesen? Beruflich oder privat? Ohne ihren Ehemann? Ganz offensichtlich hatte die Dame nicht zu jenen Tagesausflüglern gezählt, die um diese Jahreszeit durch die Wälder streiften, um nach Eierschwammerln oder Herrenpilzen zu suchen, mutmaßte Sandra. Weder im funkelnagelneuen BMW noch im Zimmer der Toten hatte sich geeignetes Schuhwerk für einen Spaziergang durch die steirischen Wälder befunden. Mizzis einziger Hausgast wäre mit ihrer ausschließlich hochhackigen Schuhkollektion nicht sehr weit gekommen, ohne sich zumindest den Knöchel zu verstauchen. Eine Sprunggelenksverletzung war jedoch eine der wenigen Blessuren, die an der Leiche des Opfers nicht diagnostiziert worden war. »Der Täter hat mehrmals auf sie eingetreten und sie anschließend mit einem Fichtenast erschlagen. Todeszeitpunkt zwischen zwei und drei Uhr 30 morgens. In der Kopfwunde haben sich Spuren von Fichtenrinde befunden. Die Tatwaffe selbst ist allerdings noch nicht aufgetaucht. Obwohl die Tatortgruppe den Tatort im Umkreis von etwa zwei Kilometern abgesucht hat«, berichtete Sandra weiter.

»Heimtückisch, so ein Fichtenwald«, merkte Bergmann an, »viel zu viele Fichten.«

Sollte das etwa witzig sein? Idiot! Sandra atmete tief durch. An seinen seltsamen Humor würde sie sich niemals gewöhnen. Aber aus der Fassung konnte er sie damit auch nicht bringen. »Der Täter muss sehr kräftig sein. Oder er war ziemlich wütend«, fuhr sie fort.

»Oder beides.«

Sandra schickte Bergmann einen grimmigen Blick hinüber, den er noch nicht einmal bemerkte. Stattdessen starrte er auf den Bericht und schien darauf zu warten, dass sie weitersprach.

»Wie es aussieht, hat er sie vom Gasthof hinüber in den Wald gejagt. Sie war wohl schon zu diesem Zeitpunkt nackt. Es wurden keine Kleidungsstücke am oder rund um den Tatort gefunden.«

»Die könnte der Täter ja auch nach der Tat mitgenommen haben.«

»Wäre möglich. In jedem Fall aber war sie barfuß im Wald unterwegs. Ihre Fußsohlen sind ziemlich lädiert. Außerdem hat die Tatortgruppe neben den Abdrücken des Schäferhundes und der Schuhe des Herrchens, die beim Morgenspaziergang quasi über die Leiche gestolpert sind, zwei weitere gefunden: die Fußabdrücke des Opfers und das Schuhprofil des mutmaßlichen Täters. Er trug Laufschuhe der Marke Nike. Vorjahresmodell, US-Größe 9,5 – das entspricht in etwa einer 43 – ein bisschen größer.«

»Die werden wohl einige Male über den Ladentisch gegangen sein.« Bergmann rollte mit dem klapprigen Bürostuhl zurück und hievte seine Füße, die in Nikes steckten, auf die Tischplatte. »Größe neuneinhalb, bitte sehr.«

»Und? Soll ich dich jetzt gleich festnehmen?«, meinte Sandra trocken.

Bergmann lachte. »Hey, du kannst ja richtig witzig sein.«

»Und du kannst deine Treter runternehmen«, sagte sie und widmete sich wieder dem Bericht. Bergmann machte keinerlei Anstalten, ihrer Aufforderung zu folgen, was Sandra auch gar nicht erwartet hatte. »Er muss mehrmals Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt haben. Die Spermamenge, die sichergestellt wurde, spricht dafür«, fuhr sie fort.

Bergmann räusperte sich und nahm nun doch die Füße vom Tisch. »Alles von einem Täter?«, fragte er sichtlich interessiert und rollte wieder nach vorn.

»Ja. Alles von einem einzigen Mann.«

»Nicht schlecht.«

»Wie bitte?«, fuhr Sandra ihn an.

»Nicht wichtig.«

Doch wichtig. Himmelherrgott! Was ging nur im kranken Gehirn ihres Partners vor, fragte sie sich ärgerlich.

Diesmal war es an ihm fortzufahren. »Mehrere Ejakulationen also …«

Sandra nickte mit schmalen Lippen. Bergmann war der Letzte, mit dem sie über multiple Orgasmen sprechen wollte.

»Bevor oder nachdem er ihr den Schädel eingeschlagen hat?«, murmelte er.

»Bitte?«

»Ich habe mich gerade gefragt, ob er sie in lebendigem und danach vielleicht noch einmal in totem Zustand gefickt hat«, wurde Bergmann deutlich. Für Sandras Geschmack viel zu deutlich.

»Penetriert hat, wollte ich sagen«, korrigierte er sich übertrieben artig. Sein verbaler Ausrutscher schien ihm keineswegs leidzutun, urteilte Sandra, während sie beobachtete, wie er einen Schluck von seinem Kaffee nahm, der längst kalt sein musste. Wollte er sie mit dieser geschmacklosen Formulierung provozieren? Sie dachte gar nicht daran, darauf einzusteigen. »Das werden wir wohl nur vom Täter selbst erfahren. Der Gerichtsmediziner hat lediglich festgestellt, dass sie noch gelebt haben muss, als sie Geschlechtsverkehr hatte«, beantwortete sie seine Frage, um einen ruhigen Tonfall bemüht.

»Irgendwelche Spuren im Zimmer des Opfers?«, fragte er weiter.

»Jede Menge Fingerabdrücke und Haare.«

»Nicht weiter überraschend in einem Hotelzimmer«, ätzte Bergmann. »Ich meinte Blut oder Sperma.«

»Blut- und Spermaspuren sind in einem Hotelzimmer aber auch nicht sonderlich überraschend«, konterte Sandra.

Bergmann verzog die Mundwinkel zu einem säuerlichen Grinsen und schwieg.

Sandra fuhr fort: »Die Bettwäsche war unbenutzt und sauber, bis auf ein blondes Haar am Kopfpolster. Möglicherweise von der Toten. Kein frisches Sperma weit und breit, auch kein frisches Blut. Jedenfalls nichts, was die Tatortgruppe vor Ort ausmachen konnte. Nur da und dort vereinzelt alte Spuren auf der Matratze, wie sie eben in fast jedem Hotelzimmer zu finden sind. Aber vielleicht kann uns das DNA-Gutachten mehr verraten.«

»Bei so einem Spurenchaos würde ich mit keinem aussagekräftigen Ergebnis rechnen.«

Mit dieser Annahme lag Bergmann wahrscheinlich richtig, musste Sandra ihm insgeheim zustimmen. »Besonders ärgerlich ist die Tatsache, dass die Böden im Erdgeschoss des Gasthofs zwischen sechs und sechs Uhr dreißig am Tatmorgen aufgewaschen wurden, damit sie bis zum Frühstück trocknen konnten«, berichtete Sandra weiter. »Das war eine knappe Dreiviertelstunde vorm Eintreffen der Tatortgruppe. Noch dazu wird in der ›Goldenen Gans‹ ein Spezialmittel zur Reinigung der Steinböden verwendet, wie man es auch in Krankenhäusern einsetzt. Die Wirtin hat zu Protokoll gegeben, sie habe ja nicht ahnen können, dass sie mit ihrer frühmorgendlichen Putzaktion die Spuren eines Kapitalverbrechens zuverlässig entfernt.«

»Na, sauber.« Bergmann wirkte ein wenig enttäuscht, dass Sandra auf sein Wortspiel nicht reagierte. Mit ernster Miene fuhr er fort: »Wir gehen also davon aus, dass der Täter sein Opfer durch den Wald gehetzt und dort vergewaltigt hat – möglicherweise noch mal post mortem«, fasste er zusammen.

»So sieht es aus. Aber warum ist das Opfer mitten in der Nacht nackt oder zumindest barfuß aus dem Haus gerannt?«

»Wenn sie keine Schlafwandlerin war, hat wohl ihr Mörder sie dazu veranlasst, nehme ich an. Kann ich mir ihre Sachen mal ansehen?«

Sandra blickte auf die Uhr. »Das kannst du gerne tun. Bis auf die sichergestellten Gegenstände wie Handy, Wertgegenstände und so weiter ist noch alles in ihrem Zimmer. Die Nummer zwei im Erdgeschoss. Beide Schlüssel befinden sich bei den Asservaten. Genau wie die Wertsachen der Toten. Frau Schreiner ist noch exakt eine halbe Stunde im Dienst.«

Bergmann kratzte sich am unrasierten Kinn und zeigte zur Tür. »Schreiner? Du meinst Blondie vis-à-vis?«, fragte er mit einem Augenzwinkern.

Sandra nickte. »Ihr Büro ist gegenüber. Und sie heißt Schreiner. Petra Schreiner. Nicht Blondie.«

Wieder lachte er über einen Witz, der keiner war, stellte Sandra irritiert fest.

»Wie sieht es mit ähnlichen Verbrechen aus?«, kehrte Bergmann noch immer lächelnd zum Fall zurück.

»Die Serientätertheorie können wir getrost ad acta legen. Die Daten des Bundeskriminalamts wurden inzwischen abgeglichen. Es gibt keine auffälligen Parallelen zu irgendwelchen Tötungsdelikten in der Vergangenheit. Weder hier in der Steiermark noch irgendwo anders in Österreich.«

»Auch nicht im benachbarten Ausland?«

»Nichts, was in der Datenbank aufzufinden wäre.«

»Was ist mit ortsfremden Personen? Ist im fraglichen Zeitraum irgendjemand aufgefallen, der nicht hier ansässig ist?«

»Soweit wir wissen, nein. Niemand hat in den letzten Tagen einen Fremden zu Gesicht bekommen. Außer der Kovacs natürlich. Die wurde dafür gleich von ein paar Leuten gesehen.«

»Kein Wunder. Sie muss ein heißer Feger gewesen sein in ihrem knallroten Z4 M Roadster.«

»Sie war definitiv eine auffällig attraktive Erscheinung, und sie hielt sich anscheinend zum ersten Mal in St. Raphael auf. Niemand hat sie hier je zuvor gesehen. Zumindest keiner von denen, die der Leitgeb und ich bisher einvernommen haben. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was sie ausgerechnet an diesen Ort verschlagen hat.«

»Diese Frage werden wir am besten ihrem Mann stellen. Und noch ein paar andere dazu. Er hat sich für morgen angekündigt.«

»Der Kovacs kommt hierher?«, fragte Sandra überrascht.

»Ja. Gegen zehn Uhr vormittags. Er möchte sehen, wo es passiert ist. Und die Sachen seiner Frau abholen. Eigentlich hatte er das schon für heute vorgehabt. Er wollte gleich von Graz herfahren. Aber dann musste er doch noch mal nach Wien zu einem wichtigen Geschäftstermin.«

»Er musste zu einem Geschäftstermin?«, wiederholte Sandra ungläubig. »Nachdem seine Frau bestialisch ermordet wurde? Scheint mir ziemlich gefühlskalt zu sein, dieser Herr Kovacs. Was macht er denn beruflich?«

»Immobilienentwickler. Er ist Architekt, Diplomingenieur. Ihm gehört die Kovacs Projektentwicklung & Consulting GmbH. Die Firma operiert nicht nur in Österreich höchst erfolgreich, sondern auch in Osteuropa. Momentan baut er gerade ein riesiges Einkaufszentrum in der Slowakei. Soll noch um einiges größer werden als das in Vösendorf bei Wien.«

»Verstehe. Dann war er es wohl, der den feudalen Lebensstil seiner Ehefrau finanziert hat. Ihr Gehalt hätte dafür nämlich nicht ausgereicht. Sie war Journalistin beim Clinch-Magazin, hat im Monat an die 3.900 Euro brutto verdient, plus Spesen. Ihre Sachen zählen nicht gerade zu den billigsten. Der neue BMW M Z …« Sandra stockte.

»Z4 M Roadster«, sprang Bergmann prompt ein.

»Wie auch immer. Der Wagen war auf die Kovacs GmbH zugelassen. Ihre Rolex war mit Diamanten besetzt, und der Brillant auf ihrem Ring von beachtlicher Größe und Reinheit. Nicht zu vergessen: die Designer-Kleidung, die wir im Zimmer gefunden haben. Alles nur vom Feinsten.«

Bergmann nickte. »Herr Kovacs scheint ebenfalls zu wissen, was gut und teuer ist: feiner Anzug, teure Armbanduhr – Marke weiß ich nicht – ist wohl eher dein Spezialgebiet. Auch er fährt einen BMW, 7er Limousine, titansilber metallic.«

»Und wie ist er sonst so, der Herr Kovacs? Wie hat er sich denn bei der Leichenidentifizierung verhalten?«

»Er wirkte ziemlich gefasst. Ein wenig steif und etwas blass um die Nase. Insgesamt ein sehr beherrschter Typ, denke ich.«

»Da bin ich aber mal gespannt auf morgen.«

»Wir werden uns den feinen Herrn zur Brust nehmen. Sag mal, du kennst doch hier fast jeden. Gibt es unter den Einheimischen jemanden, dem du ein derart brutales Verbrechen zutraust?«

Sandra strich eine hellbraune Haarsträhne hinters Ohr und lehnte sich zurück. Selbstverständlich hatte sie sich diese Frage längst selbst gestellt. »Ich weiß nicht. Ich war 18, als ich von hier weggezogen bin. Und seither vielleicht fünfmal zu Besuch.«

»Trotzdem kennst du doch viele Leute von Kindesbeinen an.«

»Das schon.«

»Also?«

Sandra schwieg einen Moment lang, bevor sie antwortete. »Es gibt da vielleicht ein, zwei Typen, die wir uns vorknöpfen sollten.«

»Gut. Schreib sie für morgen auf die Liste.«

»Hab ich schon. Ich glaube allerdings nicht wirklich daran, dass ein Einheimischer unser Mann ist. Ich meine, wer von denen sollte ein Motiv gehabt haben? Wie gesagt, die Kovacs war völlig fremd hier. Außerdem hat es seit über 50 Jahren kein Gewaltverbrechen in diesem Ort oder in der näheren Umgebung gegeben. Kein Mord, kein Totschlag …«

»Kein Sexualdelikt?«, unterbrach Bergmann sie.

»Nichts Aktenkundiges.«

»Und abseits der Akten?«, hakte er nach.

Sandra fühlte die Hitze in ihre Wangen steigen. Nach all den Jahren konnte sie immer noch nicht begreifen, dass der Missbrauch an ihrer ehemaligen Klassenkameradin Franziska Edlinger durch deren Vater unter den Teppich gekehrt worden war. Zwar hatte damals der ganze Ort darüber getuschelt, aber dennoch weggesehen. Auch Sandra hatte geschwiegen. Unter Androhung harter Strafen. Das war eine jener Begebenheiten, die sie ihrer Mutter heute noch vorwarf. Was wohl aus Franziska geworden war? Und aus deren widerlichem Vater? Sie beschloss, Max nach dem Schicksal der Edlingers zu befragen.

»Gab es nun etwas oder nicht?«, unterbrach Bergmann ihre Gedanken.

»Nun ja, es gab da eine ziemlich unschöne Geschichte in den frühen 90ern. Ein Vater hat seine älteste Tochter über Jahre hinweg sexuell missbraucht«, erzählte sie.

»Und?«

»Nichts und. Es wurde keine Anzeige erstattet.«

»Aber dein Vater war doch Gendarm hier im Ort.«

»Mein Vater hatte damit nichts zu tun. Er hat sich schon Jahre zuvor nach Fürstenfeld versetzen lassen.«

»Und du?«

»Was ich?«

»Na, was hast du getan?«

»Ich war damals 14 Jahre alt. Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?«

»Deine Freundin darin bestärken, ihren Vater anzuzeigen, zum Beispiel.«

»Sie war nicht meine Freundin. Aber glaube mir, genau das habe ich mehrmals versucht«, antwortete Sandra in einem schärferen Ton als beabsichtigt.

»Offenbar warst du nicht sehr überzeugend.«

»Sag mal, klagst du mich etwa an? Ich muss mich doch nicht vor einem oberg’scheiten Wiener rechtfertigen, der überhaupt keine Ahnung vom Leben in einer kleinen Ortschaft hat«, fuhr sie ihn an.

»Hoppla, ein Gefühlsausbruch«, bemerkte Bergmann sichtlich amüsiert.

Da war es wieder: dieses selbstgefällige Grinsen!

Ganz ruhig, Sandra, komm wieder runter, versuchte sie sich zu beruhigen. »Entschuldige, Sascha. Aber du hast wirklich keine Ahnung, was am Land so alles läuft. Du kennst doch nur die geschönten Klischees auf den bunten Postkarten und in den Tourismusprospekten.«

»Dann erzähl mir halt, was hier so alles läuft.«

»Im Moment konzentriere ich mich darauf, einen Mordfall aufzuklären.«

»Und wenn das eine mit dem anderen unmittelbar zusammenhängt?«, blieb Bergmann stur.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sich ein Kinderschänder für die Kovacs interessiert hätte?«

»Wohl kaum. Sie war Mitte 30. Nicht gerade im richtigen Alter für jemanden, der es mit Kindern treibt.«

»Eben. Außerdem muss der Edlinger inzwischen weit über 60 sein. Wahrscheinlich ist er gar nicht mehr kräftig genug für so eine Tat.«

»Wahrscheinlich auch nicht mehr potent genug. Denk an die Spermamenge. Wie oft hintereinander kann man eigentlich noch in diesem Alter?«

»Das kann ich dir leider nicht beantworten. Aber wenn du darauf bestehst, finde ich es für dich heraus.«

»Nicht nötig. Setz ihn auf die Liste. Dann fragen wir ihn morgen selbst.«

»Das kannst du gerne übernehmen.« Sandra fuhr ihren Laptop herunter, der an diesem Abend ausnahmsweise einmal im Büro bleiben würde. »Willst du Max Leitgeb bei den morgigen Einvernehmungen dabeihaben? Er kennt die Leute hier in- und auswendig.«

»Ich denke, wir kommen auch ohne deinen Dorfpolizisten klar. Er soll lieber ein Auge auf die Landjugend werfen, damit ihr nichts Böses widerfährt.«

Schon wieder dieses spöttische Grinsen! Das reichte für diesen Tag. Sandra stand auf, nahm ihre Handtasche und die Lederjacke und schubste den Stuhl mit dem Knie unter den Schreibtisch. »Ich denke, wir sind fertig für heute. Ich bin nämlich zum Abendessen eingeladen«, verabschiedete sie sich.

»Lass mich raten … Max, richtig?«

Sandra schlüpfte wortlos in ihre Jacke, ohne Bergmann eines Blickes zu würdigen. Dennoch konnte sie fühlen, dass er sie beobachtete. Woher zum Teufel wusste er das? Sie hätte doch genauso gut bei ihrer Familie essen können. War sie für Bergmann wirklich so leicht zu durchschauen?

»Muss ich denn wirklich ganz allein in der verqualmten Gaststube mein Abendessen einnehmen?«, fragte er gespielt vorwurfsvoll.

»Du rauchst doch selber. Außerdem brauchst du ja nicht hier zu übernachten. Fahr heim nach Graz und komm morgen wieder«, schlug sie ihm vor, während sie durch die Tür ging, ohne sich umzudrehen.

»Meinst du, es wird spät werden, Liebling?«, rief er ihr übermütig hinterher.

Sie hatte nicht vor, sich noch weiter von diesem arroganten Idioten provozieren zu lassen. Es ging ihn überhaupt nichts an, dass ihr Ex sie zum Essen eingeladen hatte. Die Tatsache, dass sie nach all den Jahren wieder ein Date mit ihrer Jugendliebe hatte, fühlte sich auch so schon schräg genug an. Da konnte sie auf Bergmanns beißende Kommentare getrost verzichten. Nicht dass sie Schmetterlinge im Bauch gehabt hätte, aber ein wenig nervös war sie nun doch. Schließlich war die unvermeidliche berufliche Begegnung am Tatort und in der Polizeiinspektion etwas völlig anderes gewesen als das bevorstehende private Treffen in Max’ Wohnung. Warum hatte sie seine Einladung überhaupt angenommen? Was, wenn er mehr von ihr wollte, als nur über längst vergangene Zeiten plaudern? Würde sie mit ihm schlafen, wenn er darauf aus war?

Der gute alte Max. Sie hatte ihn von heute auf morgen verlassen, kurz nachdem sie nach Graz gezogen war, um wie er – und wie schon ihr Vater davor – die Polizeischule zu absolvieren. Sie wollte ihr neues Leben in der Stadt ohne Einschränkungen genießen. Weit weg von allem, was sie an St. Raphael erinnerte, an ihre Mutter und ihren Halbbruder Mike. In Gedanken versunken trat Sandra hinaus in die Dämmerung und zog fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Herrlich, diese frische Luft! Das war wirklich eines der wenigen Dinge, die sie an St. Raphael schätzte. Obwohl es da auch noch ein paar andere Dinge gab, wie die intakte Natur und einige nette Menschen wie Max. Sie würde heute Abend nicht mit ihm schlafen. Auch wenn sie sich noch so sehr nach körperlicher Nähe sehnte. War es wirklich schon ein halbes Jahr her, dass sie Sex gehabt hatte, überlegte Sandra, während sie hinter dem Steuer des Dienstwagens Platz nahm.

Max öffnete ihr die Tür des alten Bauernhauses. »Wie schön, dass du schon hier bist! Komm doch rein in die gute Stube«, begrüßte er sie im Vorzimmer. Sandra ließ sich aus der Jacke helfen und zog aus alter Gewohnheit ihre Straßenschuhe aus. Max bückte sich nach den Gästepantoffeln und stellte sie kommentarlos direkt vor ihre Füße.

»Das sieht ja toll hier aus«, meinte sie ehrlich begeistert und schlüpfte in die Filzschlapfen.

»Nicht wahr? Unglaublich, was der Architekt aus den alten Gebäuden gemacht hat«, stimmte er ihr zu.

Bei Sandras letztem Heimatbesuch vor drei Jahren hatten sich die meisten der verlassenen Wirtschaftsgebäude noch in einem erbärmlichen Zustand befunden. Inzwischen waren daraus stilgetreu renovierte Wohnhäuser geworden, die, in der sanften Hochtalsenke gelegen, in neuem Glanz erstrahlten. So viel hatte sie schon am Vortag im Vorbeifahren erkennen können. Nun staunte sie, wie gemütlich die große Stube wirkte, in der seinerzeit geschlafen, gegessen, gewohnt und gefeiert worden war. Max diente das geräumige Zimmer als Wohn-, Ess- und Arbeitsraum. Die ursprünglichen Deckenbögen und der uralte Schiffboden waren liebevoll restauriert worden, genauso wie die Rauchkuchl mit dem antiken Herd im Nebenraum, die ansonsten zur modernen Küche umfunktioniert worden war. Max schob die Auflaufform mit dem Sterz ins Backrohr und öffnete eine Flasche Schilcher von der weststeirischen Weinstraße. Während er einschenkte, erzählte er, dass der Bauherr beinahe an der Renovierung der völlig verrußten alten Wände verzweifelt wäre. Schlussendlich hatte er dann doch noch den Tipp eines alten steirischen Maurers angenommen, der ihm zu Kuhmistmörtel geraten hatte, um den Originalzustand der Wände wiederherzustellen. Und siehe da, es hatte tatsächlich funktioniert.

Nachdem sie angestoßen und den fruchtig-reschen Schilcher gekostet hatten, führte er Sandra auf die Terrasse, hinter der ein romantischer Garten mit Schwimmbiotop angelegt worden war. Leider war es zu kalt, um draußen zu sitzen und das idyllische Ambiente zu genießen. Sandra musste Max versprechen, im nächsten Sommer wiederzukommen, um hier mit ihm und den Kumpels von früher seinen Geburtstag zu feiern.

Wenn es etwas gab, worauf Sandra noch weniger Lust hatte, als hier in der Kälte herumzustehen und in Max’ schmachtende Augen zu blicken, dann war es, mit seinen immerzu durstigen Freunden abzufeiern. Dennoch willigte sie ein, zu kommen, bevor sie ihm fröstelnd in die Wohnung folgte. Bis zu seinem Geburtstag im Juli blieb ihr noch genügend Zeit, um eine passende Ausrede zu finden, warum sie es doch nicht zur Feier schaffen würde.

»Wer wohnt denn sonst noch hier?«, fragte sie.

»Niemand. Nur ich.«

»Ich meinte, dort drüben, im anderen Teil des Gehöfts. Dort hat doch vorhin Licht gebrannt.«

»Ach so. Da wohnt der Matthias mit seiner Frau und der Kleinen.«

»Dein Bruder hat Familie? Das wusste ich gar nicht.«

»Du weißt einiges nicht, was hier in der Zwischenzeit passiert ist. Wie denn auch? Du bist ja nie da.«

Das klang beinahe wie ein Vorwurf ihrer Mutter. Sandra ließ sich seufzend neben Max auf das bequeme Ecksofa fallen. »Was soll ich denn hier? Es reicht doch, wenn ich alle paar Jahre mit meiner Mutter und ihrem missratenen Sohn in die Haare gerate. Wenn ich nur an Mike denke, wird mir schlecht … Meinst du, dass er …? Ach, lassen wir das heute Abend lieber. Der Matthias ist also verheiratet?«

»Ja, mit einer Kärntnerin aus Wolfsberg. Anita heißt sie. Hübsche Frau, Volksschullehrerin. Er hat sie bei irgend so einem Pädagogen-Seminar kennengelernt.«

»Na, das passt doch perfekt.«

»Kann man so sagen. Sie unterrichtet an der hiesigen Volksschule. Matthias ist dort mittlerweile Direktor.«

»Und Bürgermeister, ich weiß. Das hab ich sogar in Graz mitbekommen. Die beiden haben eine Tochter?«

»Ja, die Leni. Ein süßes Dirndl. Sie feiert nächste Woche ihren zweiten Geburtstag.«

»Klingt nach Bilderbuchfamilie.«

»Ist es auch. Der Matthias ist wirklich zu beneiden.« Max seufzte und hatte plötzlich diesen wehmütigen Zug um die Mundwinkel, den Sandra noch von früher kannte. Er hatte sich schon mit 19 Jahren eine Familie gewünscht, als sie gerade mal 16 gewesen war. Der Gedanke an eigene Kinder hatte ihr damals Angst gemacht. Und auch heute war er für sie – trotz ihrer 31 Jahre – immer noch unvorstellbar. Irgendwie fühlte sie sich einfach nicht reif genug für eine Familie. Außerdem bot das Leben einer Kriminalpolizistin viel zu wenig Raum für eigene Kinder. Wieder ein Mann, mit dem sie nicht kompatibel war, dachte Sandra. Hatte sie sich nicht dasselbe erst vor ein paar Stunden gedacht, wenn auch in einem völlig anderen Zusammenhang? Wie kam sie bloß darauf, ausgerechnet jetzt an Bergmann zu denken, ärgerte sie sich. Ihr chauvinistischer Partner würde es glatt noch schaffen, aus ihr, der das Thema Gender-Mainstreaming gehörig auf die Nerven ging, eine Feministin zu machen.

»Möchtest du noch Wein zum Essen? Ich glaube, der Sterz ist jetzt fertig. Zumindest riecht er so«, unterbrach Max ihre Gedanken an Bergmann.

»Ja, gern. Ein Achtel vertrage ich schon noch.«

»Nicht, dass du mir nachher betrunken Auto fährst. Ich bin zwar nicht im Dienst, aber im Falle des Falles wäre es meine Pflicht, dich bis morgen früh hier festzuhalten«, scherzte er und verschwand in der Küche.

»Das hättest du wohl gern«, murmelte Sandra vor sich hin und nippte am Schilcher.

Nach dem Essen machte es Max ihr nicht gerade leicht, standhaft zu bleiben. Seine Lippen waren so weich wie früher, sein Duft immer noch vertraut. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich danach, seine harte Männlichkeit in sich aufzunehmen. Doch Sandras Wille, sich der Lust nicht einfach hinzugeben, war stärker. Als ihr Verlangen beinahe unerträglich wurde, stand sie auf und ließ Max enttäuscht und wütend auf dem Sofa zurück.

Wohin hätte Sex mit dem Ex auch führen sollen?, fragte sich Sandra auf der Heimfahrt immer wieder. Außer zu einer kurzfristigen körperlichen Befriedigung und zur neuerlichen Erkenntnis, dass es für sie keinen Weg zurück gab. Auch wenn Max sich das vielleicht noch so sehr wünschte. Warum hatte sie ihn überhaupt so nahe an sich herangelassen, ärgerte sie sich über die eigene Schwäche. Dies war jedenfalls der letzte Abend gewesen, den sie mit Max privat verbracht hatte, schwor sie sich, als sie die ›Goldene Gans‹ erreichte.

Viertel vor zwölf brannte noch Licht in der Gaststube. Sandra beschloss, den Wagen am Parkplatz hinter dem Gasthof abzustellen und das Haus über den Hintereingang zu betreten, um möglichst unbemerkt in ihr Zimmer zu gelangen. Sie hatte keine Lust, angetrunkenen Gästen zu begegnen. Oder ihrem Partner, der mit Sicherheit einen zynischen Kommentar für sie übrig hatte. Oder – was das Schlimmste überhaupt gewesen wäre – ihrem Halbbruder Mike, der sich gerne mal am Stammtisch volllaufen ließ.

Wenn es bloß nicht so stockdunkel hier wäre, dachte sie und begann sich langsam, Schritt für Schritt, entlang der gartenseitigen Hausmauer vorwärtszutasten. Bis sie das wütende Bellen vor Schreck erstarren ließ. »Mephisto? Ganz ruhig. Ich bin’s doch nur!«, rief sie in den finsteren Garten. Gott sei Dank! Die Zwingertür war geschlossen, sonst wäre der Schäferhund längst an ihrem Bein gehangen. Sandra setzte sich wieder in Bewegung, während Mephistos Bellen in ein noch viel furchteinflößenderes Knurren überging.

»Nach dem Schäferstündchen ein Schäferhündchen«, hörte sie eine Männerstimme sagen. Mephisto schlug erneut an, und Sandra sah zum Balkon hinauf. Dort oben stand Bergmann und zog an einer Zigarette. Die Glut leuchtete zwar nicht hell genug, um sein Gesicht erkennen zu können, aber so ein dämlicher Spruch fiel nur ihm ein. Außerdem lag sein Balkon direkt neben ihrem.

»Witzig, Bergmann! Mach wenigstens das Licht an, damit ich die verdammte Türe endlich finde!«, rief sie ihm zu. Im selben Moment ging die Hintertür auf, und Michl trat aus dem Haus ins Freie. Rasch ging Sandra auf ihn zu. »Ich bin’s, Michl: Sandra! Ich hab den Lichtschalter nicht gefunden.«

»Sandra! Warum schleichst du dich denn über die Hintertür rein? Vorn ist doch eh noch offen. Kusch, Mephisto! Jetzt halt’s schon zamm!«, rief er dem Hund zu und ließ seinen Hausgast eintreten.

»Zum Glück ist der im Zwinger«, meinte Sandra erleichtert und blieb im Vorraum, der einerseits zum Korridor im Erdgeschoss, andererseits zum Treppenhaus führte, stehen. Michl sperrte die Tür hinter sich zu. Sandra mochte Hunde, aber vor Schäferhunden hatte sie gehörigen Respekt. Immerhin gingen die meisten Bissverletzungen auf das Konto dieser Rasse. Die gefährlichsten Exemplare waren jene aus der Polizeizucht, die schon als Junghunde ausgesiebt wurden, weil sie sich charakterlich nicht für den Dienst eigneten und deshalb an Privatpersonen abgegeben wurden. In den falschen Händen waren diese Tiere wie ungesicherte Waffen, die jederzeit losgehen konnten. Im besten Fall fielen sie irgendwann andere Hunde oder das eigene Herrchen an, im schlimmsten kleine Kinder. Sandra war als junge Polizistin mit einigen tragischen Fällen konfrontiert worden, die sie von Mal zu Mal vorsichtiger werden hatten lassen.

»Untertags ist der Mephisto ganz ein Lieber. Nur im Finstern kann er nicht zwischen Gästen und Einbrechern unterscheiden. Deshalb sperren wir ihn in den Zwinger, bevor’s dunkel wird.«

»Er schlägt also immer an, wenn sich nachts wer hinterm Haus aufhält?«

»Ja. Manchmal sogar bei mir und der Mutter. Kommt ganz auf den Wind drauf an. Ich glaub, er sieht schlecht im Dunkeln. Er erkennt uns wohl erst am Geruch oder an der Stimme.«

»Dann müsstet ihr ihn doch auch in der Mordnacht bellen gehört haben. Die Spuren deuten zweifelsfrei darauf hin, dass Eva Kovacs und ihr Mörder am Zwinger vorbeikamen, bevor sie durch euren Garten in den Wald liefen.«

»Also ich hab nichts gehört. Ich hab tief und fest geschlafen.«

»Wo liegt denn dein Zimmer?«

»Ganz oben. In der Mansarde. Auf der Straßenseite.«

»Verstehe. Und in der Früh bist du dann mit dem Hund in den Wald spazieren gegangen«, wiederholte Sandra seine Aussage, die er unmittelbar nach dem Leichenfund zu Protokoll gegeben hatte.

»Eigentlich wollte ich dort gar nicht hin. Aber als ich den Zwinger aufgesperrt hab, ist der Mephisto hinausgerannt wie ein Irrer und gleich abgezischt in den Wald. Ich hab befürchtet, dass er Wild gewittert hat und bin so schnell ich nur konnte hinter ihm her. Gott sei Dank hab ich die Taschenlampe dabeigehabt. Es war ja noch stockfinster.«

»Der Hund hat leider ganz was anderes gewittert. Schlaues Kerlchen …«

»Magst du noch was trinken? Wir haben gleich Sperrstund.«

»Nein danke, Michl. Ich bin müde und muss morgen früh raus. Wir werden noch einige Leute befragen. Mit dir und der Mizzi tät ich gern beim Frühstück anfangen. Passt euch viertel nach sieben?«

»Wir haben dir und dem Max doch gestern schon alles erzählt, was wir wissen.«

»Mein Kollege Bergmann hat aber auch noch ein paar Fragen an euch. Das ist doch okay, oder?«

»Ja, klar. Brauchts ihr die Branka und den Vilko auch noch einmal?«

Sandra verneinte. Weder hatte sie an das Hausmädchen noch an den schwulen slowenischen Koch weitere Fragen. Als Täter schieden für sie beide aus. Branka hatte ein Alibi – ihr Mann hatte bezeugt, dass sie die ganze Nacht neben ihm geschlafen hatte. Und Vilko kam mit seiner sexuellen Gesinnung, dem zarten Körperbau und Schuhgröße 41 für die Tat ebenso wenig infrage. Sandra glaubte ihm, dass er die Mordnacht schlafend in seinem Bett verbracht hatte, auch wenn es dafür keinen Zeugen gab.

»Trinkst du Tee oder Kaffee zum Frühstück?«, erkundigte sich Michl.

»Tee mit Zitrone. Ach ja, noch was: Wird Franziska morgen wieder da sein? Sie arbeitet doch bei euch, oder nicht?« Das hatte ihr Max erzählt und noch einiges mehr über die Familie Edlinger. Oder das, was von ihr noch übrig war.

»Ja, wieso?« Michl wirkte überrascht.

»Ich frage ja nur, weil ich sie noch nicht gesehen habe, seit ich hier angekommen bin.«

»Ach so. Die Franzi hat nicht arbeiten können mit ihrem verstauchten Knöchel. Der war richtig dick angeschwollen. Aber jetzt geht’s ihr schon wieder besser.«

»Wobei hat sie sich denn verletzt?«

»Beim Radlfahrn. Sie ist blöd umgeknickt beim Absteigen.«

»Oje. Na dann, bis morgen.«

»Gute Nacht, Sandra.« Michl ging vorbei an den beiden Türen, die zu den Gästetoiletten führten, in Richtung Gaststube.

Sandra nahm die Treppe in den ersten Stock. Auf halbem Weg stand Bergmann plötzlich vor ihr. »Mein Gott, Sascha! Musst du mich so erschrecken? Mir hat der Hund schon gereicht. Was machst du denn hier im Treppenhaus?«

»Ich wollte nach dir sehen. Nachdem ich das Balkonlicht eingeschaltet und noch mal hinuntergeschaut habe, warst du plötzlich verschwunden.«

»Michl Oberhauser hat mich hereingelassen. Er hat wohl den Hund gehört.«

»Das hab ich doch längst mitbekommen.«

»Hast du etwa gelauscht?«

»Was dachtest du denn? Ich bin Polizist … Komm, gehen wir auf mein Zimmer. Wer weiß, wer uns hier alles zuhört«, flüsterte er.

»Es war ein langer Tag, Sascha. Ich wollte gerade liegen gehen«, protestierte sie.

»Was wolltest du? ›Liegen‹ gehen?«, fragte er grinsend.

»Schlafen gehen, meinte ich. ›Liegen‹ ist der steirische Ausdruck dafür.« Kaum war sie hier, fiel sie automatisch in das ländliche Kauderwelsch ihrer Kindheit zurück.

»Liegen gehen«, wiederholte Bergmann kopfschüttelnd, und Sandra wunderte sich, dass ihm diesmal kein blöder Kommentar über die Lippen kam.

»Was soll ich überhaupt bei dir im Zimmer?«, fragte sie, während sie ihm über die letzten Stufen in die erste Etage folgte.

»Mir bei einem Glas Zweigelt gestehen, dass ich morgen spätestens um sieben Uhr 15 beim Frühstück erscheinen soll, um die Wirtin, ihren Sohn und eine gewisse Franziska, die einen verstauchten Knöchel hat, einzuvernehmen.« Bergmann sperrte die Tür auf und betrat sein Zimmer.

»Das weißt du also schon alles von deinem Lauschangriff«, antwortete sie lächelnd und drehte sich auf dem Absatz um. »Gute Nacht, Sascha«, verabschiedete sie sich und ging eine Tür weiter, um kurz danach in ihrem Zimmer zu verschwinden.

Kapitel 2

Freitag, 17. September

»Sie haben den Hund also gehört, sich aber nichts weiter dabei gedacht?«, wiederholte Bergmann die Antwort der Wirtin. »Dass er überhaupt gebellt hat, fällt Ihnen reichlich spät ein.«

»Das Hundsviech schlägt in der Nacht wegen jeder Fliege an. Das ist doch nichts Besonderes«, rechtfertigte sich Mizzi, die mit den beiden Kriminalbeamten am Frühstückstisch saß, nachdem zuvor ihr Sohn noch einmal ausführlich befragt worden war.

»Fliegen pflegen des Nächtens zu schlafen«, belehrte Bergmann sie und versuchte aufs Stichwort, die Stubenfliege auf dem Tisch mit der bloßen Hand einzufangen. Das lästige Insekt war schneller als er. Es entkam, um wenig später wieder auf dem Tischtuch zu landen und das Frühstück fortzusetzen. Franziska Edlinger servierte Bergmann die zweite Tasse Kaffee. Mizzi starrte den Kriminalbeamten immer noch verständnislos an.

»Michl hat uns schon erzählt, dass Mephisto nachts oft bellt«, erklärte Sandra.

»Noch eine Frage, Frau Oberhauser: Wieso haben Sie eigentlich in aller Herrgottsfrüh die Böden im Erdgeschoss aufgewaschen?«

»Franziska war nicht da. Also hab ich das übernommen.«

»Um sechs Uhr morgens?«, fragte Bergmann ungläubig.

Mizzi zuckte mit den Schultern. »Damit die Böden noch vor dem Frühstück trocken sind«, bestätigte sie erneut. Was aus ihrem Mund so selbstverständlich klang, konnte Bergmann nicht begreifen. »Aber warum denn dieser Aufwand? Wegen eines einzigen Frühstücksgasts?«, fragte er verständnislos.

»In meinem Gasthof ist es immer sauber. Egal, wie viele Gäste da sind. Wir sind ja hier nicht im Saustall. Aber wenn Sie es genau wissen wollen: Zuerst wollte ich nur die Gaststube aufwaschen, das war nämlich dringend notwendig. Und weil ich schon mal dabei war, hab ich gleich den ganzen Flur, die Gästetoiletten und den Korridor sauber gemacht.«

»Alles in einem Aufwasch quasi«, meinte Bergmann.

»Ist Putzen vielleicht ein Verbrechen?«, fragte Mizzi missmutig.

»Nein. Natürlich nicht«, antwortete Sandra und sah dabei die ankommende Franziska an. »Hast du nachher noch ein paar Minuten Zeit für mich?«, fragte sie die große, stämmige Frau, die mit ihr die Schulbank gedrückt hatte. Franziskas schwammiges Gesicht wirkte noch blasser, als sie es in Erinnerung hatte. Ihre klobige Hand zitterte, während sie die Kaffeetasse vor Bergmann abstellte. Sie nickte stumm, dann humpelte sie in Richtung Küche, in der sie schließlich wieder verschwand.

»Sie ist mit den Nerven völlig am Ende«, berichtete Mizzi. »Du weißt doch, dass sie sehr sensibel auf so was reagiert. So ein grausliches Verbrechen …«, sagte die Wirtin zu Sandra.

»Meinen Sie damit den Mord an Eva Kovacs oder den Missbrauch an Frau Edlinger durch den eigenen Vater seinerzeit?«, fragte Bergmann und beobachtete seelenruhig, wie der Zucker aus dem bunt bedruckten Säckchen in seinen schwarzen Kaffee rieselte.

Das war einer jener wenigen Momente, in denen Sandra die Kaltschnäuzigkeit ihres Kollegen bewunderte.

Mizzi schnappte nach Luft und sah erst Bergmann, dann Sandra an. »Hast du ihm das unbedingt erzählen müssen?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Ja, Mizzi. Als Kriminalbeamtin musste ich das tun. Aber falls es dich beruhigt, der Missbrauch an der Franzi ist längst verjährt. Es gab damals weder eine Anzeige noch einen offiziellen Strafantrag, wie du dich sicher erinnerst.«

Bergmann sah Sandra von der Seite an und wandte sich wieder ab, bevor sich ihre Blicke treffen konnten. Sandra wusste selbst, dass ihre Antwort fast wie eine Entschuldigung geklungen hatte. Dieses verdammte Kaff und seine Bewohner ließen sie immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Ob sie es wollte oder nicht. Sie fürchtete sich schon davor, was das morgige Mittagessen bei der Mutter in ihr auslösen würde. Hoffentlich blieb ihr wenigstens Mike erspart. Es reichte schon, dass er für heute auf dem Programm stand, wenn auch nur dienstlich, was die bevorstehende Begegnung zumindest ein wenig erträglicher erscheinen ließ.

»Was wurde eigentlich aus dem alten Edlinger? Lebt der Mann noch?«, fragte Bergmann.

»Ja«, antwortete Sandra, die Max am Abend zuvor ausführlich zu den Edlingers befragt hatte. Bevor sie wie ein alberner Teenager mit ihm herumgeknutscht hatte, worüber sie sich heute noch mehr ärgerte als gestern. »Franzis Mutter ist inzwischen verstorben, die Geschwister sind längst weggezogen«, konzentrierte sie sich wieder auf den Fall. »Fritz Edlinger hat vor einigen Monaten einen Schlaganfall erlitten«, erzählte sie weiter. »Er kann seither weder sprechen noch sich bewegen. Die Franzi wohnt bei ihm im Haus und pflegt ihn.«

»Sie kümmert sich um ihren alten Vater, so gut sie kann. Wie es sich für eine brave Tochter eben gehört.« Mizzi nickte zustimmend.

Brave Tochter? Sandra traute ihren Ohren nicht. Selbst Bergmann schien zu dieser Aussage kein spontaner Kommentar einzufallen. Hatte Franziska ihrem Peiniger wirklich verziehen und opferte sich, nach allem, was er ihr angetan hatte, auch noch für ihn auf? Oder war sie so sehr ihrer Opferrolle verhaftet, dass sie noch immer nicht anders konnte, als den Bedürfnissen des Täters zu entsprechen? Selbst wenn dieser nur dahinvegetierte und gar nicht mehr in der Lage war, sich zu äußern.

»Der Fritz hat außer der Franzi auch noch eine mobile Pflegehilfe«, fuhr Mizzi fort. »Die Frau Gerlinde von der Caritas schaut morgens und abends bei ihm rein. Das haben die beiden dem Michl zu verdanken. Überhaupt hilft er ihnen, wo er nur kann. Er ist ja so ein braver Bub, mein Michl. Weißt du übrigens schon, dass er die Franzi im nächsten Mai heiraten wird?«, meinte sie zu Sandra. Bevor sie antworten konnte, war Bergmann zur Stelle. »Na, gratuliere.«

Am Tonfall erkannte Sandra, dass sein Sarkasmus zurückgekehrt war. Die Welt war wieder in Ordnung.

»Wie meinen S’ denn das?«, fragte Mizzi skeptisch. Auch ihr war nicht entgangen, dass seine Glückwünsche nicht ganz ehrlich gemeint waren.

Bergmann ließ den Löffel langsam in seiner Tasse kreisen und folgte mit den Blicken der rotierenden Flüssigkeit. »Das meine ich genau so, wie ich es gesagt habe«, erwiderte er emotionslos.

»Hören Sie mal: Die Franzi ist ein braves Dirndl. Auch wenn sie manchmal schwache Nerven hat. Und mein Michl ist ein herzensguter Kerl. Wissen Sie, wir am Land halten noch zusammen, egal was passiert. Gemeinsam schaffen wir nämlich alles. Da könnts ihr Stadtleut euch noch einiges abschneiden. Ihr kennts doch nicht einmal eure nächsten Nachbarn!«, schimpfte die Wirtin.

Sandra wusste nur allzu gut, was Mizzi meinte. Genau vor dieser eingeschworenen Dorfgemeinschaft, der man einfach nicht entkommen konnte, war sie damals geflüchtet.

»Beruhigen Sie sich bitte, Frau Oberhauser. Ich weiß doch, dass bei Ihnen die Welt noch in Ordnung ist. Solange man alles Unangenehme vertuscht. Dummerweise haben wir es hier mit einem Mord zu tun. Der lässt sich nicht so einfach unter den Teppich kehren. Tut mir leid. Da müssen wir hart bleiben.« Bergmann hatte es auf den Punkt gebracht. Das hatte gesessen.

Mizzi stand die Zornesröte im Gesicht. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Aber behandeln Sie uns gefälligst mit ein wenig mehr Respekt. Mir ist es wurscht, wer Sie sind. Von einem Großkopferten wie Ihnen lass ich mich nicht beleidigen. Auch nicht, wenn Sie ein Kriminaldings-was-weiß-ich-denn-was sind. Sind Sie jetzt endlich fertig mit Ihrer depperten Fragerei? Ich muss nämlich in die Kuchl.«

»Geh, Mizzi. Der Herr Chefinspektor hat es doch nicht so gemeint.« Natürlich hatte Bergmann es genau so gemeint. Warum, um alles in der Welt, versuchte Sandra schon wieder zu schlichten?

»Warum denn so versöhnlich heute, Frau Kollegin? So kenn ich dich ja gar nicht«, fragte Bergmann, nachdem die wütende Wirtin in der Küche verschwunden war.

»Ich mag auch nicht, was St. Raphael aus mir macht. Deswegen bin ich unter anderem von hier weggezogen.« Sandra seufzte. So ehrlich hatte sie ihm nicht antworten wollen. Zum Glück schwieg er, während sie ihren Tee austrank. Sie musste ihr altes Ich ganz schnell wieder begraben.

Franziska kehrte aus der Küche zurück und hantierte hinter der Schank.

»Ich befrage noch schnell Franziska Edlinger, bevor wir aufbrechen. Alleine, wenn du nichts dagegen hast. Ich befürchte nämlich, dass deine Befragungsmethoden bei ihr einen Nervenzusammenbruch auslösen könnten«, flüsterte Sandra ihm zu.

»Hältst du mich denn wirklich für so unsensibel? Das enttäuscht mich aber schon ein wenig.« Bergmann griff in die Jacke, die über der Lehne seines Stuhls hing, und zauberte eine Zigarette hervor.

»Geh doch schon mal hinaus eine rauchen. Ich komm dann gleich nach«, schlug Sandra vor.

»Bin schon fort.« Bergmann kippte den restlichen Kaffee in einem Zug hinunter und steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel. Dann stand er auf und strebte der Tür entgegen.

»Aber bitte nicht im Auto rauchen«, rief Sandra ihm hinterher.

Bergmann winkte ihr, ohne sich umzudrehen, und verließ den Gasthof durch den Haupteingang.

Sandra wandte sich an Franziska. »Magst du dich nicht kurz zu mir setzen? Es dauert bestimmt nicht lang.«

Franziska sah sie unsicher an, stellte das saubere Glas ab, das sie eben aus der Spülmaschine genommen hatte, und humpelte zu Sandra an den Tisch.

»Ich muss dich fragen, was du am 15. September zwischen zwei und halb vier Uhr morgens gemacht hast. Reine Routinefrage, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versuchte Sandra ihr Gegenüber zu beruhigen.

Franziska räusperte sich, bevor sie leise antwortete. »Ich war in meinem Bett und habe geschlafen.«

»Kann das irgendjemand bezeugen?«

Franziska schüttelte den Kopf und sah auf ihre rissigen Hände. »Der Vater kriegt nimmer viel mit. Die Gerlinde – das ist seine Pflegerin – hat sich kurz nach zwanzig Uhr bei mir verabschiedet. Das weiß ich so genau, weil kurz darauf meine Lieblingskrimiserie angefangen hat.«

»Und danach bist du nicht mehr aus dem Haus gegangen?«

Franziska schüttelte den Kopf, während sie die Krümel am Tischtuch zusammenkratzte. »Nein. Ich hab mich am Heimweg verknöchelt. Beim Radlfahren«, erklärte sie.

»Und der Michl war in der Tatnacht auch nicht mehr bei dir auf Besuch?«

Franziska sah Sandra erschrocken an und bekreuzigte sich. In ihren Augen standen Tränen. Das Verbrechen schien ihr wirklich schwer zuzusetzen. Immerhin war sie selbst ein Opfer sexuellen Missbrauchs, vergegenwärtigte sich Sandra und beschloss, das Gespräch in eine erfreulichere Richtung zu lenken. »Schon gut, Franzi. Ich meinte ja nur, weil ihr doch im kommenden Mai heiraten wollt. Ich finde das übrigens großartig. Gratuliere euch beiden von Herzen!« Sandra schenkte ihr ein ehrliches Lächeln.

Franziska wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und bedankte sich kaum hörbar. Ihre bleichen Wangen hatten auf einmal eine rosige Farbe angenommen, was ihr – wie früher so oft – eine gewisse Ähnlichkeit mit Miss Piggy verlieh, wenngleich sie heute keine hellblonde Lockenmähne mehr trug, sondern eine aschblonde, ausgefranste Kurzhaarfrisur, die vor allen Dingen eines war, nämlich praktisch. Franziska lächelte zaghaft. »Kann ich dann den Tisch abräumen?«, fragte sie.

»Sicher, gleich. Wir sind hier sofort fertig. Nur noch eine Frage: Hattest du Kontakt mit Eva Kovacs? Ich meine, bist du ihr jemals persönlich begegnet – vor ihrem Tod?«

Noch einmal bekreuzigte sich Franziska. Sandra erinnerte sich daran, dass ihr Gegenüber immer schon sehr religiös gewesen war. Ob der Glaube ihr auch geholfen hatte, ihr Schicksal zu bewältigen und ihrem Peiniger zu vergeben? Oder war ihre Gottgläubigkeit der Grund, dass sie ihren Vater geradezu zwanghaft ehrte, wie es die zehn Gebote forderten, obwohl er der Letzte war, der Respekt verdiente?, grübelte Sandra.

»Ich bin dieser Frau nur ein einziges Mal begegnet. Die Mizzi hat mich gleich nach ihrer Ankunft in ihr Zimmer geschickt, um ihr einen Kaffee zu bringen. Sie hat mir dafür zehn Euro gegeben. Der Rest ist für mich, hat sie gesagt.«

»Ziemlich großzügig. Und wann war das?«

»Um halb fünf, in etwa.«

»Und wie lange hast du an diesem Tag gearbeitet?«

»Bis sechs, dann bin ich nach Hause gefahren.«

»Mit dem Fahrrad – und hast dir dabei den Knöchel verletzt«, wiederholte Sandra.

Franziska nickte.

»Hast du einen Hausschlüssel vom Gasthof?«, wollte Sandra wissen.

»Nein. Die Mizzi mag nicht, dass die Angestellten Schlüssel haben.«

»Die Branka hat also auch keinen?«

»Die schon gar nicht. Die Branka ist doch Ausländerin, da ist die Mizzi ganz besonders vorsichtig.«

Sandra beschloss, die Bemerkung zu ignorieren. Die Vorurteile gegenüber Ausländern, auch wenn diese längst österreichische Staatsbürger waren, waren den St. Raphaelern einfach nicht auszureden. Das hatte sie schon damals immer wieder vergeblich versucht und es irgendwann aufgegeben.

»Und wo warst du gestern und vorgestern?«

»Zu Hause. Wegen meinem Knöchel. Ich hab immer wieder für die arme Frau gebetet.« Franziska bekreuzigte sich zum dritten Mal an diesem Morgen.

»Wann und wie hast du denn von der Tat erfahren?«

»Gleich in der Früh, so um halb acht – von der Gerlinde.«

Die stille Post von St. Raphael funktionierte also immer noch hervorragend. »Alles klar, Franzi. Noch eine Bitte hätte ich an dich: Kannst du heute irgendwann in der Polizeiinspektion vorbeischauen? Wir brauchen deine Fingerabdrücke.«

Franziskas Augen weiteten sich erneut vor Schreck.

»Auch das ist reine Routine. Die Abdrücke vom Michl und der Mizzi haben wir schon am Mittwoch genommen. Die von Vilko und Branka auch. Jetzt fehlen nur noch deine, damit wir die Spuren aus dem Gästezimmer abgleichen und jene des Täters herausfiltern können.«

Franziska nickte. »Na, gut. Dann schau ich am Nachmittag vorbei, gleich nach dem Mittagessen.«

»Fein. Wir sehen uns also später.« Sandra erhob sich, um mit Bergmann in die Polizeiinspektion zu fahren. Die morgendlichen Befragungen hatten sie keinen Schritt weitergebracht. Weder Michl noch Mizzi oder Franziska hatten ihnen brauchbare Hinweise liefern können. Vielleicht würde Mike für neue Erkenntnisse sorgen, dem sie auf ihrem Weg ins Büro einen Überraschungsbesuch abstatten wollten. Es war anzunehmen, dass ihr arbeitsloser Halbbruder noch im Bett lag und seinen Rausch ausschlief. Zum ersten Mal war Sandra dankbar, dass Bergmann an ihrer Seite war, um die Befragung zu übernehmen.

Nach zweimaligem Klingeln stand Sandras Mutter in der offenen Haustür. »Sandra? Was machst du denn hier um diese Uhrzeit?«, fragte sie sichtlich verwundert. »Du wolltest doch erst morgen kommen.«

»Hallo, Mama. Das ist mein Kollege, Chefinspektor Sascha Bergmann. Wir müssen dir und Mike ein paar Fragen stellen.«

»Wegen der Toten im Wald?« Sandras Mutter beäugte Bergmann von oben bis unten. Ihr Blick blieb schließlich an seinem rechten Knie hängen, das durch ein kleines ausgefranstes Loch in den ausgewaschenen Jeans hervorblitzte. Die Mutter war bereits angezogen und frisiert und wirkte wie immer sehr gepflegt, wenngleich sie nicht geschminkt war. Make-up fand sie billig. Sie überließ es lieber den Damen des horizontalen Gewerbes, sich das ›Gsicht anzuhiasln‹, wie sie das Schminken nannte. Sandra wusste, dass die zerrissene Hose des Beamten der Mutter ein Dorn im Auge war. Wie alles, was nicht in ihr ordentliches Weltbild passte. Sogar die weich gespülten Unterhosen musste die Mutter noch bügeln.

»Guten Morgen, Frau Feichtinger. Dürfen wir eintreten?«, fragte Bergmann. Offensichtlich war ihm das Namensschild an der Tür nicht entgangen. Sandra hatte ihm nicht erzählt, dass sie als Einzige in der Familie den Namen ihres leiblichen Vaters trug, der inzwischen verstorben war. Anfangs hatte sie eine Adoption durch den Stiefvater trotz ihres zarten Alters vehement abgelehnt. Später war das nicht mehr nötig gewesen, da auch er der Mutter ziemlich rasch abhandengekommen war – kaum, dass Mike das Licht der Welt erblickt hatte.

»In Gottes Namen, kommen Sie halt rein. Aber ziehen Sie sich die Schuhe aus!«, keifte Helga Feichtinger.

»Mama, wir sind im Dienst. Du kannst doch von einem Polizisten nicht verlangen, dass er die Schuhe auszieht«, protestierte Sandra.

»Warum denn nicht? Oder wascht mir die Polizei nachher den Boden auf?«

»Wenn du ernsthaft darauf bestehst, mache ich das morgen«, bot Sandra der Mutter an.

»Nicht nötig. Das schaffe ich gerade noch allein«, meinte Helga Feichtinger schnippisch und führte die beiden Kriminalbeamten in ihren Straßenschuhen in die Küche. »Der Mike schläft aber noch«, fügte sie beleidigt hinzu.

»Das dachte ich mir schon. Kannst du ihn bitte aufwecken?«, fragte Sandra und nahm ihren Platz auf der Eckbank ein.

»Bist du verrückt? Du weißt doch, wie grantig er wird, wenn man ihn so früh aus dem Bett holt.«

Dieser Nichtsnutz soll gefälligst seinen faulen Hintern aus dem Bett bewegen, hätte Sandra ihr am liebsten entgegengeschleudert. Es war unglaublich, was Mike sich alles erlauben durfte, ohne dafür auch nur den geringsten Vorwurf der Mutter zu riskieren. Ganz im Gegensatz zur Tochter, die ihr nie etwas recht machen konnte.

Bergmann nahm ebenfalls auf der Küchenbank Platz und sah auf seine Armbanduhr. »Acht Uhr sieben. Das wird Ihr Sohn schon verkraften. Und wir seine schlechte Laune mit Sicherheit auch«, mischte er sich ein.

»Wenn Sie meinen …« Helga Feichtinger verließ die Küche.

Bergmann starrte sehnsüchtig auf die Filtermaschine, deren Glaskanne zu fast drei Viertel gefüllt war. »Meinst du, ich kann noch einen Kaffee bekommen?«

»Klar.« Sandra stand auf, nahm ein lilafarbenes Häferl mit Halloween-Motiven aus der Kredenz und füllte es mit Kaffee. Das gute Geschirr wurde, seit sie denken konnte, im Wohnzimmerschrank aufbewahrt. Wie unpraktisch das war, fiel ihr an diesem Morgen zum ersten Mal auf.

»Schwarz, bitte. Mit Zucker.«

»Ich weiß … Ich finde gerade keine andere Tasse«, entschuldigte sie sich und stellte das Häferl und die Zuckerschale vor ihn auf den Tisch.

»Macht doch nichts. Passt irgendwie ins Gesamtbild«, meinte er grinsend.

Wo er recht hat, hat er recht, dachte Sandra.

»Trinkst du denn niemals Kaffee?«, erkundigte er sich, während er sein Getränk zuckerte.

»Ab und zu mal einen Espresso nach dem Essen. Ansonsten trinke ich lieber Tee.«

»Deine Mutter muss mal sehr hübsch gewesen sein.«

»Wenn man auf den herben Typ steht … Und sag jetzt bitte nicht, dass ich ihr ähnlich sehe«, warnte sie ihren Kollegen.

»Na ja, nicht besonders …«

»Danke.«

»Es ist mir schon aufgefallen, dass es zwischen euch gewisse atmosphärische Störungen gibt.«

»Ach ja? Warte mal, bis du Mike erst kennenlernst.«

»So schlimm?«

»Viel schlimmer.«

»Gibt es einen konkreten Grund, warum dein Bruder auf deiner Verdächtigenliste ganz oben steht?«

»Er ist mein Halbbruder. Darauf bestehe ich … Ich traue ihm alles zu.«

»Was hat er dir denn bloß angetan?«

»Darum geht es hier nicht.«

»Sondern?«

»Er manipuliert Menschen, nutzt sie aus, geht über Leichen – nicht in wörtlichem Sinne, hoffe ich zumindest. Doch er kann schon mal gewalttätig werden, wenn er nicht bekommt, was er will.«

»Ist er denn schon einmal in Konflikt mit dem Gesetz geraten?«

»Ein halbes Jahr lang ist er in der Justizanstalt Graz Jakomini eingesessen. Er hat seine Freundinnen misshandelt, ihnen immer wieder Geld abgeknöpft und ihre Kreditkarten benutzt. Ohne ihr Wissen, versteht sich. Ein paarmal ist die Mutter finanziell eingesprungen, nachdem er aufgeflogen ist, damit der feine Herr Sohn ungeschoren davonkommt. Die letzte Freundin hat sich allerdings nicht von ihr bestechen lassen. Sie hat Mike angezeigt, und er wurde wegen Körperverletzung und Betrugs verurteilt. Er hat schon immer lieber Frauen ausgenutzt, anstatt selbst zu arbeiten. Im Moment lebt er wohl von der Sozialhilfe. Und von unserer Mutter, befürchte ich.«

»Mama hält wohl in allen Lebenslagen zu ihrem Sohnemann.«

»Worauf du dich verlassen kannst. Mike darf seit jeher machen, was er will. Hauptsache, es tut ihm hinterher leid und er gelobt Besserung. Das reicht ihr schon. Sie hat jedes Mal tausend Gründe, um ihm zu verzeihen und erwartet das auch von mir. Was meinst du, wie oft ich schon versucht habe, ihr die Augen zu öffnen?«, redete sich Sandra den Frust von der Seele.

»Auweia«, meinte Bergmann und nahm einen Schluck Kaffee.

»Entschuldige, dass ich dich mit meiner Familiengeschichte belästige.«

»Das ist schon okay.«

»Ich …«

»Es tut mir leid«, unterbrach Sandras Mutter die Unterhaltung. »Mike bittet euch, später noch mal zu kommen.«

»Haben Sie ihm denn nicht gesagt, dass die Kriminalpolizei ihn vernehmen möchte?«, fragte Bergmann ungläubig.

»O ja. Das hab ich.«

»Na warte!« Sandra wollte aufspringen, doch Bergmann hielt sie zurück.

»Lass mal«, meinte er beschwichtigend, um sich anschließend wieder der Mutter zuzuwenden: »Ihr Sohn soll um Punkt 14 Uhr in der Inspektion erscheinen, sonst …«

»Sonst lassen wir ihn in Handschellen vorführen«, unterbrach Sandra ihn. Ihre grünen Augen funkelten gefährlich, als sie sich erhob.

»Aber Sandra! Mike ist doch dein kleiner Bruder«, echauffierte sich die Mutter.

»Das ist er nur zur Hälfte. Und selbst wenn er es zur Gänze wäre, würde ich nicht davor zurückschrecken.«

»Was redest du nur wieder für einen Unfug? Was soll sich denn dein Kollege von uns denken?«, fragte sie in Richtung Bergmann, der in aller Ruhe seinen Kaffee austrank.

Was die anderen über sie dachten, war wie immer das Wichtigste, ärgerte sich Sandra über die Mutter. Bloß nicht darauf eingehen, beschwor sie sich selbst. Diese Diskussion konnte nur in einem Streit enden.

»Na ja, ich weiß ja, woher du deine Herzlosigkeit hast«, fuhr die Mutter fort, während die Tochter ihre Hände in die Taschen der Lederjacke bohrte.

»Von meinem Vater, so wird es wohl sein. Auf Wiedersehen, Mama.« Endlich stand auch Bergmann auf und folgte Sandra zur Küchentür.

»Kommst du morgen zum Mittagessen?«, rief Helga Feichtinger der Tochter hinterher.

Sandra hätte viel darum gegeben, in diesem Augenblick Nein sagen zu können. Stattdessen hielt sie inne und drehte sich um. Bergmann tat es ihr gleich.