Steirerzwist - Claudia Rossbacher - E-Book
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Steirerzwist E-Book

Claudia Rossbacher

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Beschreibung

Kaum ist Sandra Mohr aus dem Urlaub zurück, wird in Graz eine tote Joggerin mit durchtrennter Kehle aus der Mur geborgen. Am Einsatzort stellt die LKA-Ermittlerin fest, dass sie die ermordete Hoteldirektorin flüchtig kannte. Kurz darauf wird unter einer nahen Brücke die Leiche eines Obdachlosen mit ähnlichen Verletzungen gefunden. Wurde die Frau beim Joggen zufällig zur Mordzeugin und musste deshalb sterben? Oder war alles ganz anders? Sandra Mohr und Sascha Bergmann ermitteln in einem Fall, der mit jeder neuen Spur noch undurchsichtiger wird.

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Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Claudia Rossbacher

Steirerzwist

Sandra Mohrs 15. Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

nach einer Idee von Hannes Rossbacher, Kainberg

unter Verwendung der Fotos von: © Hannes Rossbacher; malshak_off / stock.adobe.com; ppart / iStock.com

ISBN 978-3-7349-3328-8

Widmung

Für Stoffl

†10.2.2025

Vorbemerkung

Ein Glossar der steirischen beziehungsweise österreichischen Ausdrücke befindet sich am Ende des Buches. Bestimmte Abkürzungen und ihre Erklärungen sind dort ebenfalls zu finden.

Der Lesbarkeit zuliebe wurde auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen, weiblichen beziehungsweise diversen Sprachformen verzichtet. Die Personenbezeichnungen gelten im Zweifelsfall für alle Geschlechter.

Vorwort der Autorin

Liebe Leserinnen,

liebe Leser!

Da ist er: der 15. Steirerkrimi! Ursprünglich war eine Trilogie geplant, doch es sollte anders kommen.

»Steirerblut« eroberte nicht nur die Herzen der Steirer im Sturm, das Buch schaffte es auf Anhieb auf die österreichischen Bestsellerlisten. Die Folgebände »Steirerherz« und »Steirerkind« konnten diesen großartigen Erfolg sogar noch toppen. Es lag also auf der Hand, meine Steirerkrimi-Reihe fortzusetzen. Damals beschloss ich auch, die bis dorthin zufällige alphabetische Reihenfolge meiner Buchtitel bis zum »Z« fortzuführen, um nicht den Überblick zu verlieren.

Seither durfte ich quer durch alle Bezirke und in den schönsten Regionen der Steiermark morden und mich über eine stetig wachsende Leserschaft, fantastische Verkaufszahlen, zahlreiche Auszeichnungen und quotenträchtige Verfilmungen freuen (deren Steirertitel alphabetisch aus der Reihe tanzen, aber soll sein).

Sie ahnen es bereits: Mit dem vorliegenden Band »Steirerzwist« ist meine Buchreihe am Ende des Alphabets angelangt. Und wie geht es jetzt weiter?

Zunächst werde ich mir eine Schreibpause gönnen, um meine Batterien wieder aufzuladen, neue Ideen zu schöpfen und darüber nachzudenken, wie und wann es mit den Steirerkrimis weitergeht. Für Sandra Mohr und Sascha Bergmann ist die Geschichte jedenfalls noch lange nicht zu Ende, und so wird sich für meine treuen Leserinnen und Leser wohl irgendwann ein neues Kapitel öffnen.

Gerne können Sie mir ein E-Mail an [email protected] schreiben – auch wenn Sie Fehler im Text entdecken, damit ich gegebenenfalls Korrekturen und Ergänzungen für die nächsten Auflagen veranlassen kann.

Und nun wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung und spannende Stunden!

Herzlichst,

Ihre

Claudia Rossbacher

Kainberg, im Oktober 2025

Zitat

»Alles fließt, nichts bleibt.«

Heraklit, griechischer Philosoph (6. Jh. v. Chr.)

Kapitel 1

Montag, 1. Juli

Der Morgen blitzte durch den Spalt zwischen den schweren, blickdichten Vorhängen. Sie lebte noch. Dabei hätte sie gestern sterben sollen.

Blinzelnd tastete Mimi nach ihrem Handy auf dem Nachtkästchen. Ein, zwei, vielleicht drei Sekunden vergingen, bis sie das Datum und die Uhrzeit entziffern konnte: Montag, 1. Juli, 5.18 Uhr.

Nicht, dass sie die anonymen Drohungen ernst genommen hätte, die letzte Woche täglich auf ihrem Handy eingegangen waren. Oder gar die Polizei eingeschaltet hätte wegen eines lächerlichen Spinners, der Frauen Angst einjagen wollte. Wie in einem abgedroschenen Thriller hatte er die Tage bis zu ihrem vermeintlichen Tod heruntergezählt. Den Gefallen, sich zu fürchten, tat sie diesem Feigling ganz bestimmt nicht. Da hätte er schon schwerere Geschütze auffahren müssen. Die unbekannten Nummern, hinter denen er sich versteckte, hatte sie alle blockiert, die Nachrichten gelöscht, wie die anderen Spams, die immer wieder eintrudelten. Dennoch war sie auf der Hut. Man wusste ja nie.

Gestern war der Countdown abgelaufen. Nichts war passiert, auch keine neue Drohung eingegangen. Alles schien wieder in Ordnung. Hoffentlich blieb es dabei.

Gähnend schaltete sie den Alarm aus, der sie pünktlich um 5.30 Uhr geweckt hätte, und öffnete ihren Kalender. Der erste Termin war um 8.30 Uhr mit der neuen Bankettmanagerin angesetzt. Mehr Frauenpower und frischer Wind konnten dem geschichtsträchtigen Familienbetrieb nicht schaden. Wobei Mimi längst ihre eigene lässig-elegante Note ins »Grand Hôtel Waldner« eingebracht hatte. Die frei stehenden Badewannen in den Suiten waren ebenso ihre Idee gewesen wie die orientalische Wellness-Oase und die Neugestaltung des Restaurants und der Bar, die ihre Handschrift und ihren Namen trugen: »Madame Mimi«.

Seit dem Tod ihres Mannes leitete Mimi Waldner das einzige Fünfsternehaus der Stadt allein weiter. Nicht einmal der Defibrillator hatte Wolfgang mehr zurückholen können. Der Ärmste war gerade einmal 59 Jahre alt geworden. Zu viel Stress, zu viele Schnitzel, zu viel Alkohol, kein Sport und schon lange kein Sex mehr. Zumindest nicht mit ihr. Aber deswegen hatte sie den fast 20 Jahre älteren Hotelier ohnehin nicht geheiratet. Nicht, dass sie Wolfgang nicht geliebt hätte, doch für erotische Stunden gab es jüngere, heißere Kerle. Nur leider wurde man sie manchmal nicht so leicht wieder los.

Sie hatte sich schon gefragt, ob die anonymen Nachrichten vielleicht von einem beleidigten Ex-Liebhaber oder von jemandem stammten, dem sie irgendwann auf die Zehen gestiegen war. Da fielen ihr einige Männer –und Frauen – ein.

Wie auch immer. Der Spuk war vorbei. Die Drohungen waren wohl nur ein schlechter Scherz irgendeines Schlappschwanzes gewesen, über den sie sich nicht weiter den Kopf zerbrechen wollte. Da war sie schon mit ganz anderen Kalibern fertig geworden. Mimi legte das Smartphone weg, reckte sich in die eine Richtung und streckte sich dann in die andere.

Der junge Mann an ihrer Seite atmete tief und gleichmäßig. Wahrscheinlich würde er auch noch schlummern, wenn sie vom Joggen zurückkam. Sie zog die leichte Sommerdecke bis zu seinen Hüften hinunter, um sich noch einmal an dem Anblick seines Sixpacks zu erfreuen. Sein bestes Stück zeichnete sich deutlich unter der Decke ab. Im Moment hatte sie jedoch anderes im Sinn als Sex. Alles zu seiner Zeit. Sie wusste ja, wo er zu finden war, wenn ihr danach war.

Mimi schwang ihre durchtrainierten Beine aus dem Bett, band ihre langen, karamellblonden Haare zusammen und erhob sich. Sie zog den Vorhang ein wenig beiseite, öffnete die Terrassentür und trat barfuß auf die Dachterrasse. Das champagnerfarbene Seidennachthemd bedeckte kaum ihren wohlgeformten Hintern.

Ein prachtvoller Sommertag brach an. Die Oleander in den schweren Terrakottatöpfen blühten heuer besonders üppig. Das Stubenmädchen würde später die Pflanzen gießen. Vom anderen Murufer drangen die schrillen Rufe der Mauersegler herüber, die um die Franziskanerkirche jagten und über die ziegelroten Dächer der Altstadt schossen. Weiter links ragte der Uhrturm auf dem nahe gelegenen Schloßberg in den Morgenhimmel. Einzig das Edelstahldach des Kaufhauses in der Sackstraße stach seit dem Umbau aus der denkmalgeschützten Dachlandschaft hervor und gefährdete den UNESCO-Weltkulturerbe­status von Graz. Ob und wann der vermeintliche Schandfleck wie ursprünglich geplant mit patinierten Bronzeplatten verkleidet werden würde, um sich wieder in das historische Erscheinungsbild einzufügen, stand bei der angespannten Wirtschaftslage in den Sternen. Mimi war jedenfalls froh, dass es das Traditionskaufhaus angesichts der vielen Geschäftsschließungen in der Innenstadt überhaupt noch gab. Sonst hätte sie ihre Kleidung, Accessoires und Kosmetikartikel online kaufen müssen. Oder in den Shoppingzentren an der Peripherie, wo überall dieselbe Einheitsware der meist internationalen Ketten angeboten wurde. Wenn sie vor lauter Arbeit keine Zeit fand, schickte ihr das Kaufhaus eine Personal Shopperin mit vorselektierter Ware ins Hotel, die sie sofort oder erst später anprobieren konnte. Was der langjährigen Stammkundin nicht gefiel oder nicht passte, wurde gleich wieder mitgenommen oder gelegentlich abgeholt. Abgesehen von all den persönlichen Annehmlichkeiten trugen solche Betriebe, die Hunderte Arbeitsplätze schufen und Kommunalsteuern zahlten, zu einer lebendigen Stadt bei und zogen wahrscheinlich mehr Touristen an als die Welterbezone.

Mimi trat an die Brüstung und blickte hinunter. Der Autoverkehr am Grieskai hielt sich frühmorgens noch in Grenzen. Selbst auf der nahen Großbaustelle an der Tegetthoffbrücke herrschte Ruhe. Nur die Stromschnellen der Mur rauschten unaufhörlich aus dem Norden heran, strömten an der Murinsel vorbei und tosten unter Stegen und Brücken hindurch. Flussabwärts drosselte die Mur ihr Tempo und floss weitaus gemächlicher in den Süden.

Mimi trat ein paar Schritte zurück und bückte sich mit gestreckten Beinen. Mühelos berührten ihre perlmuttfarbenen Fingernägel die passend lackierten Zehennägel. Einige Atemzüge lang verharrte sie so, dann richtete sie sich wieder auf, breitete ihre Arme aus und sog die frische Morgenluft tief ein. Der Tag versprach, der bisher heißeste des Jahres zu werden. Höchste Zeit für ihre Laufrunde, die sie gestern wegen dieser lästigen Todesdrohung hatte ausfallen lassen. Vorsicht war besser als Nachsicht.

Fabian schlummerte weiterhin selig in ihrem Bett, während Mimi ins Bad ging, um sich die Zähne zu putzen und das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Anschließend cremte sie sich mit Lichtschutzfaktor 50+ ein, um die Hautalterung möglichst lange hinauszuzögern. Gute Gene allein genügten nicht. Regelmäßige Bewegung war mindestens genauso wichtig wie ausreichend Wasser, wenig Alkohol und eine ausgewogene Ernährung.

Zufrieden betrachtete Mimi ihr Spiegelbild. Man sah ihr nicht an, dass sie in wenigen Wochen ihren 41. Geburtstag feiern würde. Dabei hatte sie bisher nichts an sich machen lassen – nicht einmal Botox oder Hyaluronsäure spritzen. Ihre angeborenen Schlupflider verliehen ihr einen eindringlichen, geheimnisvollen Blick aus eisblauen Augen, der mit der richtigen Schminktechnik noch intensiver wirkte. Sollten ihre Oberlider irgendwann so stark erschlaffen, dass sie ihr Sichtfeld störten, würde sie sich an eine Freundin wenden. Marie-Therese war eine hervorragende plastische Chirurgin – eine der besten in Graz.

Im Joggingoutfit verließ Mimi die Wohnung und trabte nahezu geräuschlos über den Teppichläufer die Treppe hinunter ins Parterre, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

Die Rezeptionistin aus der Nachtschicht war die Erste, die sie bemerkte und ihr auf dem Weg ins Restaurant einen guten Morgen wünschte. Die Tische waren bereits in der Nacht nach dem Abendessen gedeckt worden. In aller Herrgottsfrüh musste das Servicepersonal nur noch das Frühstücksbuffet herrichten, das keine Wünsche offenließ. Und falls dem anspruchsvollen Gast doch etwas fehlte, konnte er bestellen, was das Herz und der verwöhnte Gaumen begehrten.

Eine Kellnerin hantierte bereits mit der Espressomaschine an der Bar. Mimi bestellte einen Ristretto. Genau hier hatte ihre eigene Karriere im Grand Hôtel Waldner vor über zwei Jahrzehnten begonnen. Seitdem war viel Wasser die Mur hinuntergeflossen. Ihr Ziel hatte sie dabei niemals aus den Augen verloren, hatte hart gearbeitet und trotz aller Widerstände mehr erreicht, als sie sich je vorgenommen hatte.

Die Hoteldirektorin kippte den starken Kaffee in zwei Zügen hinunter, trank einen Schluck Wasser nach und bat die junge Kellnerin, ihre Trinkflasche mit Leitungswasser aufzufüllen. An sich war Selina ja recht hübsch, doch leider war kaum noch etwas an ihr natürlich. Die Extensions waren zu blond und zu lang, die Wimpern zu stark geliftet und die Oberlippe aufgespritzt. Wenn sie nicht gerade lächelte, ließen die dunklen Balken über ihren Augen ihr Gesicht zornig wirken, was Mimi an die bunten Vögel aus dem Computerspiel »Angry Birds« erinnerte, das ihr Sohn früher ständig gespielt hatte.

Moritz war inzwischen 19. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergangen war. Im Mai hatte er die Matura in der Hotelfachschule mit Bravour bestanden. Keine Woche später war sein Vater plötzlich verstorben. Der arme Bub. Nach dem Begräbnis war Mimi mit ihm nach Ibiza geflogen. Moritz durfte den ganzen Sommer in ihrem Ferienhaus bleiben und Freunde einladen, wann immer er wollte. Sie hoffte, dass ihm das helfen würde, die Trauer um seinen Vater zu bewältigen. Im Herbst sollte er in Cornell sein Studium an der renommierten Universität für angehende Hoteliers antreten. Ihr einziger Sohn erfüllte Mimi mit Stolz und Glück. Schon jetzt vermisste sie ihn, doch sie wusste, dass sie ihn loslassen musste. Moritz sollte die Welt entdecken und Erfahrungen sammeln, um eines Tages mit Freude nach Hause zurückzukehren und die Leitung des Grand Hôtel Waldner in fünfter Generation zu übernehmen.

Mimi verließ die Bar durch die Lobby. Als sie auf den Gehsteig hinaustrat, zeigte ihre Smartwatch 5.45 Uhr an. Vor dem Kunsthaus dröhnten die Motoren. Autos hupten, Straßenbahnen rumpelten und quietschten über die Gleise. Pünktlich um sieben würde der ohrenbetäubende Lärm des Presslufthammers hinzukommen. Die Großbaustelle schadete dem Hotelbetrieb. Der allgegenwärtige Staub trieb den Reinigungsaufwand in die Höhe. Die Gäste beschwerten sich über den Baulärm, manche reisten verfrüht wieder ab. Andere, die die aktuellen Rezensionen im Internet lasen, stornierten ihre Übernachtungen oder buchten erst gar nicht. Die Brücke musste saniert werden, keine Frage. Aber warum gleich so viele Baustellen auf einmal? Man hätte meinen können, die dunkelrot-grüne Stadtregierung provoziere das Verkehrschaos absichtlich, um die Autos ganz aus der Stadt zu verbannen. Radfahrer durften dagegen noch immer durch die Fußgängerzone in der Schmiedgasse fahren – die meisten so schnell, dass einem angst und bange wurde. Doch auch sie litten zurzeit unter der Sperre des Murradwegs am linken Ufer.

Mimi lief fast jeden Tag am rechten Murufer flussaufwärts bis zum Kalvarienberg und wieder zurück. Danach blieb ihr noch genug Zeit, zu duschen, sich herzurichten und anzuziehen. Das Frühstück ließ sie ohnehin ausfallen, um ihren 16-stündigen Fastenintervall einzuhalten. Das sollte die Zellverjüngung anregen, den Stoffwechsel unterstützen und Entzündungen im Körper reduzieren.

Während sie am Lendkai entlangtrabte, hing sie ihren Gedanken nach. Simone Encic trat an diesem Tag ihren Dienst als Bankettleiterin an. Mimi war überglücklich, den Tyrannen los zu sein, den ihr Mann vor einer Ewigkeit eingestellt hatte. Raimund Berlati war endgültig Geschichte, dachte sie erleichtert und beschleunigte ihre Schritte. Was für ein schöner Tag!

Am Einstieg zur Citylaufstrecke an der Keplerbrücke kamen ihr zwei Joggerinnen entgegen, die sie vom Sehen kannte. Die Frauen begrüßten einander flüchtig. In Gedanken versunken lief Mimi weiter. Einige Radfahrer fuhren an ihr vorbei, denen sie keine Beachtung schenkte. Bei der Schrebergartensiedlung kam ihr eine alte Dame entgegen mit ihrem Rauhaardackel an der Leine.

Mimi nahm die Abzweigung zur Kalvarienbrücke, als plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten trat. Schwarzer Hoodie, schwarze Kappe und Kapuze darüber, schwarze Hose, dazu dunkelblaue Sneakers. Wahrscheinlich ein Obdachloser, der sein Lager beim Brückenpfeiler aufgeschlagen hatte. Sie versuchte, auszuweichen, doch er stellte sich ihr in den Weg.

Was zum Teufel wollte der Kerl von ihr? Glaubte er ernsthaft, sie würde beim Joggen Bargeld oder Wertsachen mit sich herumschleppen? Irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor. Sie wollte ihn gerade anschnauzen, als plötzlich die Klinge seines Messers aufblitzte. Vor Schreck rutschte ihr die Wasserflasche aus der Hand, fiel auf den Boden und rollte davon. Seine Hand schnellte nach vorn. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihrem Bauch aus und raubte ihr den Atem. Keuchend krümmte sie sich, sah die blutige Klinge, die der Angreifer aus ihren Eingeweiden zog. Entsetzt stöhnte sie auf.

»Heute bist du dran«, knurrte er hasserfüllt.

Erst jetzt fiel ihr sein Schnauzer auf.

»Fahr zur Hölle, Schlampe!«

Ungläubig griff Mimi sich an den Bauch. Warmes Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. In panischer Todesangst wollte sie um Hilfe schreien. Doch der Mann presste ihr von hinten die Hand auf den Mund und setzte ihr das Messer an die Kehle. Er schob sie vor sich her, drängte sie am Gebüsch vorbei zur Böschung, die zur Mur hin abfiel. Unter ihr tosten die Stromschnellen. Die Notruftaste auf ihrer Smartwatch kam ihr in den Sinn – zu spät.

Es knirschte laut, als die Klinge direkt unter ihrem Ohr in den Hals drang. Ein tiefer Schnitt öffnete ihre Kehle. Ihr verzweifeltes Röcheln verlor sich im dumpfen Rauschen. Die Welt verschwamm vor ihren Augen.

Ihr letzter Gedanke galt ihrem Sohn – Moritz …

Mimi Waldner versank in der kalten, finsteren Stille, die sie unaufhaltsam mit sich riss.

Kapitel 2

Was war denn heute bloß los? Seit Sandra Mohr an ihrem Schreibtisch im LKA saß, klingelte ununterbrochen das Telefon. Sascha Bergmann telefonierte ebenfalls an seinem Arbeitsplatz und machte sich Notizen. Der dritte Schreibtisch war verwaist. Die Kollegin, mit der sich die Abteilungsinspektorin und der Chefinspektor das Büro teilten, war im wohlverdienten Urlaub, während er für Sandra gestern geendet hatte. Ihre Mailbox quoll über. Den Preis für drei rundum genussvolle Wochen im Schilcherland zahlte sie jedoch gern. Die Erinnerung an Georg löste ein warmes Kribbeln im Bauch aus. Und nicht nur dort. Ein Blick auf das Display ihres Festnetzapparats verriet ihr, dass der Anruf aus einem österreichischen Mobilfunknetz kam. Sie nahm den Hörer ab. »LKA 1, Abteilungsinspektorin Sandra Mohr«, meldete sie sich freundlich.

»Hallo, Schwester!«, folgte die Antwort.

Sandra stockte der Atem, als sie die Stimme vernahm, die sie nie wieder im Leben hatte hören wollen. Ihre gute Laune war schlagartig beim Teufel, im wahrsten Sinn des Wortes.

»Hallo?«, hakte der Leibhaftige nach. »Bist noch dran, Schwesterherz?«

Sandra erwachte aus ihrer Schockstarre. »Mike«, brachte sie mühsam hervor.

»Wer sonst? Oder hast noch einen anderen Bruder, von dem ich nix weiß?«, provozierte Mike sie.

»Halbbruder!«, fauchte Sandra nun gar nicht mehr freundlich ins Telefon. Sein hämisches Lachen jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Wieso war dieser Taugenichts überhaupt schon so früh wach? Vor 10 Uhr vormittags stand er doch nie freiwillig auf.

Bergmann horchte auf.

»Nenn mich gefälligst nicht Schwester«, fuhr Sandra leiser, aber nicht weniger bestimmt fort. »Was willst du überhaupt von mir?« Sie spürte, wie die Zornesröte ihr in die Wangen stieg. Ihr Puls raste. Wenn sie jetzt bloß keine Panikattacke überrollte. Sandra zwang sich, bewusst tief ein- und auszuatmen, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Am besten legte sie gleich wieder auf.

»Die Mama ist tot«, verkündete Mike, bevor sie ihren Plan umsetzen konnte. »Aber dich schert’s eh net … Ich wollt dir nur sagen, dass es nix zum Erben gibt. Pfiat di, Sandra!«

»Was? … Mike? … Hallo? … Mike!« Dieses Gfrastsackl hatte einfach aufgelegt. Fassungslos starrte Sandra den Hörer an. Was hatte er gesagt? Ihre Mutter war tot? Sie würgte die Nachricht hinunter. Ihr Magen ballte sich zu einem Klumpen zusammen. Die Zornesröte in ihrem Gesicht war verblasst. Während Sandra ins Leere starrte und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, warf Bergmann, der gerade telefonierte, einen Blick herüber, den sie kaum bemerkte.

Ihre Mutter war 71 Jahre alt geworden, rechnete sie nach – deutlich unter der aktuellen Lebenserwartung von 84,2 Jahren für Frauen in Österreich. Vollkommen gesund war Helga Feichtinger, wie sie seit der Hochzeit mit Mikes Vater hieß, nie gewesen, besonders psychisch nicht. Seit der Scheidung hatte sie mehrere Suizidversuche überlebt und dafür stets anderen die Schuld zugeschoben, nicht zuletzt ihrer Tochter, zu der sie den Kontakt abgebrochen hatte, nachdem Mike seine Halbschwester krankenhausreif geprügelt hatte. Was auch immer ihr vorbestrafter Sohn anstellte, die Mutter verzieh es ihm und kam selbstverständlich auch für seine Schulden auf. Sogar das Haus, das ohnehin schon belastet war, hatte sie ihm überschrieben, und Mike hatte es verkauft, während sie wieder einmal in der Nervenklinik war. Sandra hatte gehört, dass er mit dem Erlös nach Thailand ausgewandert war und die Mutter ihrem Schicksal überlassen hatte. Trotzdem musste sie irgendwie über die Runden gekommen sein. Andernfalls hätte sie vermutlich ihren Stolz überwunden und Sandra um Geld gebeten. Wen hätte sie sonst fragen sollen? Mike? Den ohnehin bescheidenen Ertrag aus dem Hausverkauf hatte er bestimmt in null Komma nichts verprasst. Vielleicht hatte die Mutter am Ende doch noch jemanden kennengelernt, der sie unterstützte. Oder sie hatte im Lotto gewonnen.

Wann und woran sie gestorben war, hatte Mike ebenso wenig erwähnt wie den Begräbnistermin. Sollte Sandra ihrer Mutter überhaupt die letzte Ehre erweisen? Oder wäre das nur heuchlerisch? Jedenfalls wollte sie mehr erfahren. So mir nichts, dir nichts würde Mike diesmal nicht davonkommen.

Sandra fühlte sich elend. Sie atmete tief durch und drückte auf Wahlwiederholung, doch Mike hob nicht ab. Stattdessen meldete sich seine Mailbox. Sie wollte ihm keine Nachricht hinterlassen, sondern speicherte seine Nummer auf beiden Handys – dem privaten und dem dienstlichen –, um ihn so bald wie möglich ungestört anrufen zu können.

»Alles in Ordnung?« Bergmann stand hinter seinem Schreibtisch und hantierte mit der Dienstwaffe.

»Ja, ja … alles okay …«, stammelte Sandra. Ihr Herz schlug nicht mehr ganz so wild, doch die Todesnachricht lag ihr noch immer schwer im Magen.

»Hat dich gerade dein Bruder angerufen?«

Warum fragte er so scheinheilig, als hätte er ihr Gespräch nicht mitbekommen? »Mike ist nicht mein Bruder«, stellte sie klar. Sie trank einen Schluck lauwarmen Pfefferminztee, in der Hoffnung, dass sich der Knoten in ihrem Magen lösen würde. Mike war zurück. Der Gedanke jagte ihr mehr Angst ein, als sie sich selbst eingestehen wollte.

Bergmann war noch immer mit seiner Glock beschäftigt.

»Mein Halbbruder hat mir mitgeteilt, dass unsere Mutter gestorben ist«, sagte Sandra.

Der Chefinspektor blickte von seiner Dienstwaffe auf. »Oh«, sagte er perplex. Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Nicht einmal Beileid auszusprechen, kam ihm in den Sinn.

Sandra legte ohnehin keinen Wert auf leere Floskeln – schließlich wusste Bergmann über ihre zerrütteten Familienverhältnisse Bescheid. Als sie damals ausgerechnet in ihrem Heimatdorf ermitteln mussten, hatte er Mike und ihre Mutter kennengelernt. Aber das war eine andere Geschichte.

»Möchtest du lieber hierbleiben oder kommst du mit?« Bergmann steckte die Pistole ins Hüftholster und schlüpfte in sein zerknittertes, schlammbraunes Leinensakko.

»Wohin?« Sandra war noch immer durcheinander, hatte aber nebenbei mitbekommen, dass er mit der Landesleitzentrale telefonierte.

Er ließ sein Smartphone in die Sakkotasche gleiten und griff nach seinem Kaffeehäferl. »Leichenfund in Graz. Die Kollegen haben in der Augartenbucht eine tote Frau aus der Mur gezogen.«

»Ist sie ertrunken?«, erkundigte sich Sandra, während er den Kaffee hinunterkippte und das Häferl auf den Schreibtisch stellte.

»Die Leiche weist multiple Verletzungen auf, unter anderem wurde ihre Kehle durchtrennt.« Wie es dazu gekommen war, galt es zu ermitteln. Dass die Frau sich das selbst angetan hatte, war jedoch höchst unwahrscheinlich.

»Wart auf mich, ich komm mit.« Sandra fuhr den Rechner herunter, schnallte sich den Holster um und bückte sich nach ihrer Tasche. Alles Weitere würde sie Bergmann unterwegs entlocken, sofern er bereits mehr wusste.

Kapitel 3

Sandra setzte den grafitgrauen Octavia-Kombi auf dem Parkplatz der Landespolizeidirektion zurück. Wäre Bergmann nicht ein dermaßen miserabler Autofahrer gewesen, hätte sie diesmal ihm das Steuer des zivilen Dienstwagens überlassen, aber so lebensmüde war sie dann doch nicht. Bis zum Leichenfundort war es ohnehin nur ein Katzensprung. Dafür lohnte es sich nicht einmal, das Blaulicht hinter dem Fahrersitz hervorzuholen.

»Wie war dein Urlaub?« Bergmann musterte sie durch die grau getönten Gläser seiner Sonnenbrille.

Sandra schaute an ihm vorbei, nickte dem Portier zu und passierte den geöffneten Schranken, um am Ende der Ausfahrt wieder anzuhalten. »Viel zu kurz«, antwortete sie ihrem Vorgesetzten knapp. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Schlimm genug, dass er ihren Freund von früheren Mordermittlungen im Schilcherland kannte. Der Täter war längst überführt, die Akte geschlossen. Einer Beziehung zwischen der Kriminalpolizistin und dem Förster vom Reinischkogel stand nichts mehr im Weg, auch nicht der Chefinspektor, der Sandra ihr privates Glück zu missgönnen schien. Aber das war sein Problem.

Während ihr Blick auf den Verkehr in der Straßganger Straße gerichtet war, hing sie ihren Gedanken nach. Mit ihren 45 Jahren galt es beinahe als Wunder, noch einen passenden Mann zu finden. So hieß es jedenfalls immer. Die guten Männer waren vergeben, die übrigen genügten den Ansprüchen reiferer Frauen meist nicht oder trugen irgendeinen Ballast mit sich herum. Georg war jedoch die berühmte Ausnahme: intelligent, naturverbunden, geschieden, kinderlos und noch dazu ein einfühlsamer Liebhaber. Was wollte frau mehr? Sandra konnte sich eine Zukunft mit ihm sehr gut vorstellen, wollte jedoch nichts überstürzen. Vielleicht war gerade das ihr Fehler. Ihre beste Freundin zögerte nie, packte zu, wenn sich ihr eine Chance bot, und nahm sich, was ihr gefiel. Früher hatte Andrea nichts anbrennen lassen und gern einen ihrer Sprüche zum Besten gegeben: »Als der liebe Gott die Welt erschuf, versprach er den Frauen, dass an jeder Ecke ein guter Mann wartete. Und dann machte er die Erde rund.« Andrea hatte nie geglaubt, dass es den Richtigen für sie gab, und schon gar nicht nach ihm gesucht. Bis Robert Primus vor fast zehn Jahren in ihr Leben trat, mit dem sie glücklich verheiratet war.

Bergmann zappelte nervös auf dem Beifahrersitz. »Wird das heute noch was?«

Gerade wollte Sandra ihn bitten, sich nützlich zu machen und das Blaulicht hinter ihrem Sitz hervorzuholen, da tat sich eine Lücke im Verkehr auf. Sie gab Gas und bog nach links ab. »Ist die Leiche schon identifiziert?«, fragte sie und reihte sich in die Kolonne ein.

Bergmann entspannte sich und lehnte sich zurück. »Noch nicht. Aber bei der Toten dürfte es sich um eine Joggerin handeln. Sport ist wohl doch Mord«, meinte er sarkastisch.

»Dann müsste ich längst tot sein«, entgegnete Sandra, ohne eine Miene zu verziehen.

»Nimmst du zum Laufen einen Ausweis mit?«, fragte er.

Sandra schüttelte den Kopf.

»Dann müssen wohl die Finger- oder Zahnabdrücke zur Identifikation herhalten«, meinte er.

»Ich hab nicht vor, beim Sporteln zu sterben.« Sandra warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.

»Ich meinte auch nicht dich, sondern die unbekannte Wasserleiche«, entgegnete Bergmann spitzfindig. »Die Joggerin hatte keinen Ausweis bei sich.«

»Ach so«, erwiderte Sandra. »Den könnte sie aber auch in der Mur verloren haben.«

Bergmann nickte nachdenklich.

Sandra bremste den Wagen hinter der zäh stadteinwärts rollenden Kolonne ab und funkte die Landesleitzentrale an, um sich nach der besten Zufahrtsmöglichkeit zur Augartenbucht zu erkundigen. Das Navi zeigte nämlich keine an.

Bergmann drehte sich indes unaufgefordert nach dem Blaulicht um und öffnete das Fenster, um es auf dem Dach zu fixieren, während Lubensky Sandra anwies, hinter dem Augartenbad vorbeizufahren. Danach sollte sie die Einfahrt für die Fahrzeuge der Grünraumpflege und des Winterdienstes nehmen, erklärte er ihr. Früher hatte man dort den vielen Schnee aus der Stadt abgeladen, doch in den letzten Jahren schneite es in Graz nur noch selten, und kaum etwas blieb liegen.

Sandra warf einen Blick in den Rückspiegel und scherte aus. Mit eingeschaltetem Blaulicht kam sie zügig durch den Stau. Kurz vor drei viertel acht hielt sie vor der Polizeiabsperrung an der Zufahrt zum Augarten.

Die beiden uniformierten Kollegen salutierten. Einer schob den mobilen Absperrzaun beiseite, damit der zivile Dienstwagen passieren konnte.

Sandra stellte den Kombi in Ufernähe neben einem silbernen Kastenwagen der Tatortgruppe ab, dessen Heck­türen weit geöffnet waren. Beim Aussteigen fielen ihr die Schaulustigen auf, die sich am nahen Augartensteg drängten. Die meisten dokumentierten das Geschehen mit dem Handy. An vorderster Front standen einige Reporter, deren Kameras auf das abgesperrte Einsatzgelände gerichtet waren. Ein Polizeizelt und eine Plane schirmten die Tote von neugierigen Blicken ab und verhinderten pietätlose Aufnahmen, die sich sonst in Windeseile verbreiten würden.

Das weiter entfernte Murufer verbarg sich hinter Bäumen und dichtem Gestrüpp. Nur aus den obersten Stockwerken der Gebäude am Grieskai konnte man vielleicht herübersehen, jedoch nicht in das Zelt hinein. Sämtliche Zugänge waren abgesperrt, uniformierte Polizisten auf dem gesamten Einsatzgelände verteilt.

»Was machen die Gaffer dort oben?«, schnauzte Bergmann einen älteren Stadtpolizisten an. »Könnt ihr den Steg nicht sperren?« Sein unrasiertes Kinn deutete auf die Schaulustigen.

Der Uniformierte beeilte sich, die Anordnung des Chefinspektors auszuführen, während Sandra ihm zum Flussufer folgte. Kriminaltechniker in weißen Overalls sicherten dort Spuren. Weitere Männer in olivgrünen Wathosen stocherten mit langen Stangen im seichten Wasser. Ein paar an Menschen gewöhnte Enten schwammen unbeeindruckt an ihnen vorbei.

Der Chefinspektor sprach den Leiter der Tatortgruppe an, der ihn über den aktuellen Stand der Dinge informieren sollte.

Jörg Schöffmann wischte sich den Schweiß von der geröteten Stirn. Nicht nur seine Nase hatte zu viel Sonne abbekommen. »Die Leiche wurde bäuchlings im seichten Wasser zwischen den beiden Kiesinseln aufgefunden«, berichtete der ältere, untersetzte Mann und deutete auf die Tafel mit der Ziffer »1«, die im Gestrüpp einer kleinen bewachsenen Insel hing. »Der Einsatzleiter hat die Personalien der Zeugen bereits aufgenommen.«

»Und wo ist der Kollege?«, fragte Bergmann.

Jörg Schöffmann legte die Handkante an die Stirn, um die Sonne abzuschirmen, und blickte sich um. »Ich seh ihn grad nicht. Aber er sollte hier irgendwo sein.«

»Habt ihr bei der Leiche irgendwelche Gegenstände sichergestellt?«, erkundigte sich der Chefinspektor.

Der Kriminaltechniker nickte. »Bringst du mir bitte die Asservate herüber, Stefan?«, rief er seinem jüngeren Kollegen zu, der beim Tatortwagen beschäftigt war. Dann wandte er sich wieder den Ermittlern zu. »Die Frau hat Laufkleidung und eine Smartwatch am linken Handgelenk getragen. Leider ist Wasser ins Gehäuse eingedrungen. Aber vielleicht lassen sich die Daten trotzdem auslesen.«

»Dere«, begrüßte Stefan Baumgartner die Kollegen jovial und reichte Bergmann einen der beiden durchsichtigen, innen beschlagenen Plastikbeutel.

Bergmann musterte die Uhr und gab sie dann an Sandra weiter.

Sie hatte ein Faible für mechanische Uhren, weniger für digitale. Dennoch war ihr klar, dass die Smartwatch zu den hochwertigsten Modellen gehörte, die derzeit auf dem Markt erhältlich waren. Das Display der Edelstahluhr war geborsten und glich einem Spinnennetz. Vermutlich Saphirglas – kratzfest, aber bruchempfindlich. »Die ist teuer, oder?« Sandra fotografierte die Uhr mit dem blassrosa Sportarmband, um die Bilder griffbereit zu haben, bevor die Tatortfotos der Polizeifotografin in der Akte verfügbar waren.

Stefan nickte und nahm den Asservatenbeutel zurück. »Diese Smartwatch kostet an die tausend Euro«, erklärte er. »Es ist das neueste LTE-Modell.«

»Und was kann die so Besonderes?« Bergmann drehte seine Handflächen nach oben und sah ihn fragend an.

»Sehr viel. Die Uhr sendet selbstständig über die eingebaute eSIM, also auch ohne Verbindung mit dem Handy. Sie speichert Nachrichten und Anrufe in der Cloud und im Back-up. Dort finden sich auch Gesundheitsdaten wie Puls, Blutsauerstoff, Schlafphasen und Aktivität. Sie kann sogar ein EKG aufzeichnen.«

»Dann lässt sich anhand der Daten der Todeszeitpunkt bestimmen?«, fragte Bergmann hoffnungsfroh.

»Unter Umständen«, dämpfte Stefan allzu hohe Erwartungen.

»Mehr als ein paar Stunden kann ihr Tod nicht zurückliegen«, nahm sein Vorgesetzter an. Jörg Schöffmann hatte bereits zahllose Wasserleichen gesehen, die aus der Mur, aus anderen Gewässern oder aus Pools und Badewannen geborgen worden waren.

»Die Smartwatch zeichnet auch Standortdaten auf«, fuhr Stefan fort. Damit ließen sich Bewegungsprofile rekonstruieren.

»Dann wüssten wir auch, wo die Frau ins Wasser gefallen ist?«, fragte Bergmann.

»Wenn die Sturzerkennung aktiviert war und automatisch ein Notruf abgesetzt wurde, hätten wir einen zusätzlichen Hinweis. Auf jeden Fall bräuchten wir Zugriff auf ihr Handy oder auf die Cloud, um an die Daten zu gelangen.«

»Na, dann gebt euch Mühe.«

Stefan grinste säuerlich.

»Was hast du da?«, fragte der Chefinspektor.

Der Kriminaltechniker reichte ihm den anderen Asservatenbeutel. »Ihre Socken«, sagte er. »Das restliche Gewand bleibt bis zur Obduktion auf der Leiche, damit wir Spuren und Verletzungsmuster analysieren können. Danach geht alles ins Labor.«

Bergmann betrachtete die lila Socken und hielt Sandra den Beutel hin, damit sie auch davon ein Foto machte. »Habt ihr sonst noch etwas gefunden?«, fragte er.

»Noch nicht.« Der Leiter der Tatortgruppe deutete auf seine Leute, die am Ufer und im seichten Flussbett nach Spuren und Beweisstücken suchten. »Falls die Frau noch etwas bei sich hatte, dürfte es weiter nördlich in der Mur versunken sein.« Alle vier blickten flussaufwärts, wo sich der Schloßberg erhob. Weiter oben war der Fluss abschnittsweise ein reißender Strom. Durch die beschauliche Augartenbucht floss er umso gemächlicher.

»Die Frau muss irgendwo nach dem Kraftwerk Weinzödl in der Mur gelandet sein, sonst wäre ihre Leiche am Wehr oder in einem Einlaufgitter hängen geblieben.«

»Dann liegt der Tatort also in dem Abschnitt weiter nördlich, und die Strömung hat die Leiche hierhergetrieben«, konstatierte Bergmann.

Jörg Schöffmann nickte. »Wahrscheinlich war die Frau an der Citylaufstrecke joggen. Theoretisch könnte sie aber auch woanders getötet und ihre Leiche zur Mur gebracht worden sein, um den Tatort zu verschleiern.«

»Unwahrscheinlich«, meinte Bergmann.

»Sehe ich auch so«, stimmte ihm der Leiter der Tatortgruppe zu. »Aber warten wir ab, ob die Hunde etwas aufspüren. Die Trupps sind bereits unterwegs und durchkämmen stromaufwärts beide Ufer nach tatrelevanten Spuren und Beweisstücken«, sagte er. »Außerdem sind weitere Polizisten ausgeschwärmt, um mögliche Augenzeugen zu finden.«

Die Spurensicherung an den kilometerlangen Murufern glich der sprichwörtlichen Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, dachte Sandra. Unklar war zudem, ob die Frau in den Fluss gefallen oder gestoßen worden war. »Hatte sie Laufschuhe an, als sie gefunden wurde?«, fragte sie.

Jörg Schöffmann bejahte ihre Frage.

»Ich hol die Schuhe aus dem Zelt, sobald die Gerichtsmedizinerin mit der Leiche fertig ist«, sagte Stefan. »Die gehen dann mit der Kleidung ins Labor.«

Mit Schuhen war die Frau kaum freiwillig ins Wasser gegangen, überlegte Sandra. Es sei denn, sie hatte vorgehabt, sich das Leben zu nehmen. »Könnte es sich um einen Suizid handeln?«

»Einen Suizid oder Unfall können wir ziemlich sicher ausschließen.« Der erfahrene Tatortermittler hatte die Leiche bereits begutachtet und seine ersten Einschätzungen mit der Gerichtsmedizinerin geteilt. »Da war definitiv Fremdeinwirkung im Spiel. Die Schnittwunde an der Kehle stammt von einem scharfkantigen Werkzeug, vermutlich von einem Messer. Eine Schiffsschraube war das ganz bestimmt nicht. Solche Verletzungen sehen anders aus.« Außerdem gab es in dem Flussabschnitt zwischen Weinzödl und Augartenbucht keinen regulären Schiffsverkehr – abgesehen von offiziellen Einsatzbooten, nicht motorisierten Freizeitbooten und Wassersportgeräten. »Die Leiche weist zudem einen tiefen Bauchstich auf. Ich wüsste nicht, was außer einem Messer sonst solche Verletzungen verursacht haben könnte«, ergänzte er.

»Dann können wir davon ausgehen, dass der Täter ihr mit einem Messer die Kehle durchtrennt und sie anschließend – tot oder noch lebendig – in die Mur geworfen hat?«, fragte Bergmann.

»Oder die Täterin?«, warf Sandra ein.

»Der gewaltsame Modus Operandi spricht doch eher für einen männlichen Täter«, meinte der Leiter der Tatortgruppe aus Erfahrung.

»Welches Messer kommt als Tatwaffe infrage?« Bergmann sah ihn erwartungsvoll an.

Der Kriminaltechniker wiegte den Kopf hin und her. »Da möchte ich mich noch nicht festlegen. Wir sehen uns die Stichwunde bei der Obduktion genauer an, dann sollten wir mehr wissen.«

Bergmann nickte nachdenklich. »Liegt aus deiner Sicht eine Übertötung vor?«

Jörg Schöffmann sah keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass der Täter mehr Gewalt angewendet hatte, als nötig gewesen wäre, um die Frau zu töten. Auch wenn der Bauchstich oder der Kehlschnitt allein ausgereicht hätten, und sie außerdem hätte ertrinken können.

»Vielleicht wurde sie ausgeraubt«, spekulierte Stefan. »Hier treibt sich allerlei Gsindl herum.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Was könnte die Frau beim Joggen schon bei sich gehabt haben, das ein lohnendes Tatmotiv abgegeben hätte? Außerdem hätte ihr der Täter vermutlich auch die teure Smartwatch abgenommen.«

»Nicht, wenn die Uhr schon hin war«, wandte Stefan ein.

Sandra zuckte mit den Schultern. »Sie könnte auch Opfer einer Sexualstraftat geworden sein«, griff sie ihren früheren Gedanken wieder auf. »Oder sie war schlicht ein Zufallsopfer und wurde von einem wahnsinnigen Täter ermordet. Es gibt ja immer wieder religiöse oder andere Fanatiker, aber auch psychisch Kranke, die aus blindem Hass töten oder weil sie imaginären Stimmen in ihrem Kopf gehorchen.« Ein vorsätzlicher Mord ließ sich ebenfalls nicht ausschließen.

»Warum ist die Leiche eigentlich nicht wie sonst üblich untergegangen?«, fragte der Chefinspektor. Normalerweise tauchten Wasserleichen erst nach Tagen oder Wochen wieder an der Oberfläche auf – durch den Auftrieb der Gase, die bei der Verwesung entstanden. Falls sie überhaupt wieder auftauchten.

»Ich vermute, dass sich unter dem eng anliegenden Trikot eine Luftblase gebildet haben könnte, die dem Körper Auftrieb verliehen und ihn in die Augartenbucht getrieben hat, wo er letztlich gestrandet ist«, erklärte Jörg Schöffmann. »Nach dem hohen Pegelstand im Juni war die Strömung wohl noch immer stark genug, um den Körper zu stabilisieren und ein Absinken zu verhindern. Die Verwesung dürfte hingegen keine Rolle gespielt haben. Der Gasaustausch in den inneren Organen hatte bei der Bergung noch nicht eingesetzt.«

Bergmann gab sich vorerst mit den Erklärungen der Kriminaltechniker zufrieden. »Wenn euch der Einsatzleiter unterkommt, schickt ihn gleich zu mir, ja?« Er wandte sich dem Polizeizelt zu, und Sandra folgte ihm hinein.

Die schwüle Luft und der strenge Geruch ließen sie für einen Moment den Atem anhalten.

Bergmann nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Sakkotasche.

Die Gerichtsmedizinerin unterbrach ihre Arbeit am Laptop, begrüßte die Ermittler und reichte ihnen Einweghandschuhe, die sie anzogen. Unter einer schwarzen Folie lag die Leiche.

Sandra musste unwillkürlich an ihre Mutter denken, die jetzt vielleicht im Kühlfach eines Bestattungsunternehmens ruhte, falls sie nicht schon beigesetzt worden war. Dieser verfluchte Mike!