Stella Goldschlag - Peter Wyden - E-Book

Stella Goldschlag E-Book

Peter Wyden

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Beschreibung

Stella Goldschlag war blond, schön und schlagfertig. Sie war intelligent und vielseitig begabt und zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land hätte sie wohl eine glänzende Karriere gemacht. Doch Stella war Jüdin und lebte in Deutschland. Ihre Eltern hatten es nicht geschafft, rechtzeitig auszureisen. Die Katastrophe trat ein, als Stella verhaftet und von der Gestapo gefoltert wurde. Um ihre Eltern vor der Deportation zu bewahren, erklärte sie sich bereit, versteckt lebende Juden an die Gestapo zu verraten. Ihre Eltern konnte sie nicht retten, und doch machte sie bis Kriegsende weiter, immer mörderisch effizient. Peter Wyden, geboren 1923 als Peter Weidenreich in Berlin, ist mit Stella Goldschlag zur Schule gegangen, und war, wie fast alle Jungen dort, in sie verliebt. Dass sie das »blonde Gift« wurde, die Greiferin, die hunderte Juden in den Tod geschickt hatte, erfuhr er, als er 1946 als junger US-Soldat nach Berlin zurückkehrte. Ihr Schicksal ließ ihn nicht los. Jahrelang recherchierte er für seine Biografie, sichtete Archivmaterial und sprach mit mehr als 150 Personen: Überlebenden, Augenzeugen, Historikern und Psychologen. Und er sprach mit Stella, die bis 1994 in Westdeutschland im Verborgenen lebte. Peter Wyden versteht es, uns die Tragödie der letzten Juden von Berlin nahezubringen. Er urteilt nicht und er entschuldigt nicht. Er erzählt eine wahre Geschichte.

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Peter Wyden

Stella GoldschlagEine wahre Geschichte

Aus dem Amerikanischen

von Ilse Strasmann

Mit einem Vorwort

von Christoph Heubner

Steidl

Peter Wyden wurde 1923 als Peter Weidenreich und Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren. 1937 floh die Familie in die USA, wo Wyden an der City University of New York studierte. Anschließend verpflichtete er sich bei den US-Streitkräften und ging mit der Psychological Warfare Division der US-Armee gegen Ende des Zweiten Weltkrieges nach Europa. Als Sergeant leitete Wyden 1945 die Lokalredaktion der Allgemeinen Zeitung in Berlin. Zu seinen Reportern gehörten Egon Bahr und Peter Boenisch. Nach Kriegsende arbeitete er weiter als Reporter in den USA für u.a. The Wichita Eagle, The St. Louis Post-Dispatch, Newsweek und Saturday Evening Post. Bis zu seinem Tod 1998 lebte Wyden in Ridgefield, Connecticut.

Ilse Strasmann arbeitete nach dem Abitur ein halbes Jahr als Au-Pair in Manchester und absolvierte anschließend eine Buchhändlerlehre. Sie studierte außerdem Publizistik und Germanistik. Strasmann war 13 Jahre lang Lektorin und Redakteurin bei den Kinderbuchverlagen Carlsen und Ravensburger. Verheiratet war sie mit dem Germanisten und Verlagslektor Gilbert Strasmann. Sie übersetzt seit über dreißig Jahren literarische Werke aus dem Englischen, mit den Schwerpunkten Geschichte und Zeitgeschichte.

INHALT

Vorwort von Christoph Heubner

BUCH EINS – Heranwachsen mit Hitler

1. Die Erinnerung

2. Stella

3. Ein Berliner Junge

4. Eine Schule für Flüchtlinge

5. Ausreise

6. 1938: Das Jahr, das den Anfang vom Ende brachte

7. Das dritte Feuer

BUCH ZWEI – Die Entscheidung: Herauskommen oder festsitzen

8. 1939: Fluchtversuch

9. Die letzte Zwischenstation auf dem Weg zur Freiheit

10. Am Rand des Abgrunds

11. »Alles ist von SS umstellt!«

12. »Zum Bad«

13. Das Leben als U-Boot

BUCH DREI – Leben mit der Gestapo

14. Der Pakt mit dem Teufel

15. Blut geleckt

16. Der Chef und seine Greiferin

17. Die Greiferin und ihr Liebhaber

18. Das Hertha-Dreieck

19. Das Heino-Dreieck

20. Die letzten Tage

BUCH VIER – Die Folgezeit

21. Stella

22. Der Prozess

23. Stellas Tochter

24. Für Eichmann arbeiten

25. »Liebe Stella …«

26. Urteil

27. Schatten einer Mutter

BUCH FÜNF – Bewältigen

28. 1988: Ein Jahr der Endpunkte

29. »Siehst du, Hitler, du hast doch nicht gesiegt!«

NACHBEMERKUNG

DANKSAGUNG

DIE BEFRAGTEN

BEMERKUNGEN ZU DEN QUELLEN

REGISTER

Vorwort

In der Erinnerung bleibt die schamhaft stockende Stimme Raphaëls, des französisch-jüdischen Auschwitz-Überlebenden, der vor wenigen Jahren erstmals begann, davon zu erzählen, dass in Auschwitz auch der eigene Charakter wölfischen Herausforderungen und Veränderungen ausgesetzt war: Es gab Häftlinge, die von der Auschwitz-Hölle und vom Hunger aufgefressen wurden, ihre Gier nach irgendetwas Essbarem machte auch vor dem Kanten trockenen Brotes nicht Halt, den der Nachbar und Leidensgenosse unter seiner Pritsche versteckt hatte. »Wir haben gestohlen und wir wollten leben: Wenn du keine Schuhe hattest, warst du schon auf dem Weg in die Gaskammer: Barfuß über die steinigen Wege zur Arbeit gejagt zu werden, immer im Laufschritt, das machten die Füße und der Mensch nicht lange mit. Und wenn du nicht mehr arbeiten konntest, warst du nutzlos und wurdest bei der nächsten Gelegenheit ins Gas geschickt. Darum hat man demjenigen, der in völliger Erschöpfung nachts in einen abgrundtiefen Schlaf gefallen war, die Schuhe gestohlen. Viele schliefen mit den Schuhen unter ihrem Kopf, damit niemand sie stehlen konnte. Der Mensch ist bereit, vieles zu tun, wenn er leben will. Es war schlimm.«

Und ebenso schonungslos berichtet der polnische Überlebende A. G., wie er und andere Häftlinge – emotional und körperlich bewegungsunfähig – einen zum Skelett abgemagerten Mithäftling beobachten, der vor lauter Schwäche vom Latrinenbalken stürzt und langsam in der schlammigen Brühe menschlicher Ausscheidungen versinkt: So als hätte es ihn nie gegeben.

Es brauchte Jahrzehnte, bis Auschwitz-Überlebende, die ihre Erinnerungen überhaupt in Worte zu fassen vermochten, in der Lage waren, Bilder wie die oben geschilderten zu übermitteln: Zu tief saßen Trauer und Scham, zu verlockend war der Gedanke, einer Welt, die nach langen Jahren der Verdrängung, der Geschäftigkeit und des Desinteresses endlich bereit war zuzuhören, das sauber zurechtgestutzte Bild einer solidarischen Gemeinschaft von Verfolgten zu präsentieren, in der man einander vor der Mörderwelt der deutschen SS beschützt und verteidigt hatte und in der es niemanden gab, der seine Mithäftlinge bestahl, sie bei der SS denunzierte oder in der Lagerwelt auf Befehl der SS Aufgaben übernahm und sich so dem »Pakt mit dem Teufel« auslieferte: »Der Mensch ist bereit, vieles zu tun, wenn er leben will.«

Die Untergegangenen und die Geretteten nannte der italienische Jude und Auschwitz-Überlebende Primo Levi sein letztes Buch, das 1986 – ein halbes Jahr vor seinem Freitod – erschienen war. Mit diesem Titel setzte er auch jenem namenlosen Menschen ein Denkmal, dessen elendiges Sterben in der Latrinengrube seine Mithäftlinge regungslos beobachtet hatten.

Peter Wyden hat sehr bewusst seinem Buch Stella ein Zitat aus diesem letztem Werk Primo Levis vorangestellt, das deutlich werden lässt, vor welche Herausforderungen er sich bei der Recherche und dem Schreiben des Buches gestellt sah und dass ihm angesichts dieser Herausforderungen seine eigene »andere« Geschichte besonders bewusst gewesen ist: Denn auch Peter Wyden ist ja ein Geretteter, gerettet vor den Mördern und vor jenen entsetzlichen Herausforderungen, mit denen sich seine ehemaligen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden in Berlin und in Deutschland konfrontiert sahen. Davongekommen und gerettet dank der Hellsichtigkeit seiner Mutter Helen, die 1937 darauf drang, dass sich die Familie Weidenreich vor Hitler in Sicherheit brachte und aus Nazi-Deutschland flüchtete. Viele der Jungen und Mädchen aus seiner Schulklasse hatten dieses Glück nicht. Peter, damals 15 Jahre alt, konnte seinen Lebensweg in den USA fortsetzen und anglisierte später seinen Namen: Peter Wyden. Und weil er seiner Mutter auch sein zweites Leben verdankt, ist ihm ihre Erwähnung im »Vorspann« seines Buches – noch vor dem Zitat von Primo Levi – ein wichtiges Anliegen.

1945 kehrt Peter Wyden mit amerikanischen Truppen nach Deutschland zurück und sieht Berlin wieder: Nach der Ermordung der Juden und der kriegerischen Verheerung Europas war der Krieg, der von Deutschland begonnen wurde, nach Deutschland zurückgekommen: Berlin lag in Trümmern, bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Von der Familie, den Freunden, den Bekannten waren die meisten in den Lagern der Nazis ermordet worden, nachdem man sie vorher aus der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt und für vogelfrei erklärt hatte. Immer wieder konfrontiert mit dieser entsetzlichen Realität beginnt Peter Wyden seine Suche nach den Jugend- und Schulgefährten. Diese Suche ist auch geprägt von den Erinnerungen an die Faszination des Heranwachsens, den Verlockungen und Wirrungen, die dieses Heranwachsen damals in Berlin mit sich gebracht hatte. Ein Gesicht, ein Mensch, eine junge Frau leuchtet vor allem anderen aus diesen Erinnerungen hervor: Stella Goldschlag, die den jungen Peter Weidenreich und alle seine männlichen Klassenkameraden mit ihrer Ausstrahlung und ihrer Schönheit in ihren Bann geschlagen hatte. So wie in der jüdischen Privatschule, die der junge Peter besuchen musste, die Direktorin Frau Dr. Goldschmidt für alle Schülerinnen und Schüler Mut, Phantasie und Widerstandskraft verkörperte, so wussten alle, dass der Mitschülerin Stella Goldschlag, die mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Anmut verzauberte, eine große Zukunft bevorstehen würde. Dessen waren sich alle sicher: »Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land wäre sie wohl eine gefeierte Sängerin oder eine bekannte Journalistin geworden.«

In ihrer aller Zeit und in ihrer Stadt jedoch zerbrach die Welt, in der sie sich bisher zu Hause gefühlt hatten: Das einzige Terrain, auf dem sich alle noch einigermaßen beheimatet fühlten, war das Gelände der Goldschmidt-Schule, und vor der Hässlichkeit des braunen Alltags und ihrem brüllenden Hass stand die begabte und schöne Stella Goldschlag, der die Zukunft hätte gehören müssen.

Peter Wyden hat nach seiner Rückkehr nach Deutschland nach diesem Mikrokosmos seiner Jugend gesucht, der einzigen verlässlichen und integren Welt, die ihm von Berlin, von Deutschland geblieben war und er hoffte bei seiner Suche von Anbeginn an, dass Spuren und Menschen dieser Welt, die ihm so viel bedeutete, bestehen geblieben und auffindbar sein würden. Der Gedanke, dass Menschen aus dieser Welt ihrerseits schuldig geworden waren und im »Pakt mit dem Teufel« andere Verfolgte ans Messer geliefert haben könnten – diese Überlegung lag zu Anfang seiner Spurensuche wohl außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Am 17. März 1946 zerbricht für Wyden auch diese Gewissheit. In einer Berliner Zeitung stößt er auf die Schlagzeile: »Hunderte von Juden dem Henker ausgeliefert.« Der Artikel, den er mit wachsendem Entsetzen liest, bezieht sich auf die 24-jährige jüdische Gestapo-Agentin Stella Kübler, die früher Stella Goldschlag geheißen hatte.

Mit diesem Tag beginnt der Versuch Peter Wydens – jenseits aller Verstörung und aller Verachtung – zu verstehen. Ihn treibt kein Voyeurismus, keine Sensationslust, keine Gier nach öffentlicher Aufmerksamkeit oder das Kalkül, einer Sensation auf der Spur zu sein, die sich literarisch verwerten lässt: Ihn treibt nichts als die brennende Frage eines Beteiligten, der davongekommen und dennoch gezeichnet ist: Warum?

Die Suche nach den Antworten auf diese Frage nimmt Jahre in Anspruch: Er nähert sich der für ihn so entscheidenden Frage in konzentrischen Kreisen, beschreibt wieder und wieder die Gesamtsituation, analysiert, fragt, lässt offen: Peter Wyden verurteilt nicht, gibt schließlich der Angeklagten, deren Taten längst bewiesen sind, die Chance, sich selbst zu erklären. Sein Buch wird 1992 in New York bei Simon & Schuster veröffentlicht, 1993 erscheint es erstmals im Steidl Verlag.

25 Jahre sind seit dem Erscheinen des Buches in Deutschland vergangen. Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Peter Wyden und den anderen Überlebenden des Holocaust war es immer besonders wichtig, beim verstörenden und unbequemen Blick in die Geschichte auch den Blick in die Gegenwart nicht zu vergessen. Ihre Beschreibung der Zerstörung der Demokratie, des antisemitischen Hasses, des Horrors der Verfolgung und der Deformation des menschlichen Charakters machte für sie vor allem Sinn als Beschreibung dessen, was sein kann: »Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.« (Primo Levi)

Und so erschließt sich diese Neuauflage vor allem aus dem Tatbestand, den der oben zitierte Primo Levi mit Blick auf seine Erinnerungen als »Abgrund von Niedertracht« beschrieben hat, den es immer wieder auszuloten gälte. Der Blick in diesen Abgrund birgt in sich zuallererst die Frage an uns selbst: Was würden wir tun, wenn es so weit ist? Und was tun wir, dass es nicht so weit kommt?

Christoph HeubnerExekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees

Für Helen

Wenn sie Hitler nicht richtig eingeschätzt hätte, wäre ich nicht hier.

»Es ist weder leicht noch angenehm, diesen Abgrund von Niedertracht auszuloten, aber dennoch bin ich der Meinung, dass man es tun muss; denn was gestern verübt werden konnte, könnte morgen noch einmal versucht werden und uns selber oder unsere Kinder betreffen.«

Primo LeviDie Untergegangenen und die Geretteten, 1986

BUCH EINS

Heranwachsen mit Hitler

1. Die Erinnerung

Stellas Tochter lebt als Krankenschwester in Israel, ist fast fünfzig, drahtig, angespannt, immer auf der Hut vor lauernden Gefahren, wie ein Reh. Ihre Bewegungen sind fahrig. Als Kettenraucherin ist sie chronisch heiser. Sie lebt von einer Mahlzeit am Tag und Strömen von Kaffee, schläft höchstens vier Stunden pro Nacht und manchmal nur zwei, und sie gibt zu, dass sie eine Perfektionistin ist. Sie wünschte, sie könnte aufhören, nach Vollkommenheit zu streben, und ist sich darüber im Klaren, dass sie Stellas schändliche Taten gutzumachen versucht.

Ihr Verlangen, den Schatten ihrer Mutter abzuschütteln, ist sehr intensiv. Sie wird ihn nicht los. Noch nach fast fünfunddreißig Jahren der physischen Trennung träumt sie immer wieder davon, ein Gewehr zu nehmen, Stella in Deutschland aufzuspüren und sie zu erschießen, um die Erinnerung auszulöschen. Damit sie aufhören kann zu büßen.

Stella stirbt nicht – obwohl Yvonne so ziemlich alles versucht hat, bis auf die tatsächliche Ausführung des gedachten Mordes. Sie weiß, dass ihre »biologische Erzeugerin« ihren Sex-Appeal ausnutzte, deshalb tut die Tochter alles, um bei sich die entgegengesetzten Merkmale zu kultivieren. Ihr grau werdendes Haar ist kurz geschnitten, ihre Haut wettergegerbt. Sie trägt Jeans, meidet Makeup und behauptet – ungeachtet der hohen Stirn und der blauen Augen, die sie von Stella geerbt hat –, sie sähe wie »die andere Seite« aus, wie der Vater, den sie nicht kennt, »wahrscheinlich einer wie Stella«, ein Mann für eine Nacht.

Emotional funktioniert die Trennung nicht. Der Makel bleibt. »Nichts kann mir helfen«, davon ist Yvonne überzeugt. »Ich muss damit leben und sterben. Ich bin Yvonne, die besser nie geboren wäre.«

Es lag nahe, dass Stella Goldschlag und Lieselotte Streszak, die so vieles verband, in jenem Jahr des großen Blutvergießens Freundschaft schlossen. Stella war siebzehn, Lilo sechzehn. Beide waren hübsch, von den Jungen umschwärmt, jüdisch und wurden von ihren bürgerlichen Eltern abgöttisch geliebt. Beide wuchsen im behaglichen Berliner Mittelstandsbezirk Wilmersdorf auf.

Die Zeiten waren jedoch alles andere als behaglich. Es war der Herbst des Jahres 1939, und Hitler hatte soeben den Zweiten Weltkrieg entfesselt. Auf seiner Liste der Feinde standen die Juden ganz oben, und für jüdische Jugendliche gab es gesellschaftliches Leben nur in ihren letzten Refugien, den Wohnungen ihrer Eltern.

So traf sich an Sonntagnachmittagen eine Gruppe von jungen Leuten in der Wilmersdorfer Wohnung des jüdischen Kaufmanns Kurt Kübler in der Mommsenstraße, wo sie tanzten, flirteten und sich unterhielten. Der Sohn des Hauses, Manfred Kübler, wurde Stellas fester Freund. Dort begegneten sich Lilo und Stella und fühlten sich schnell zueinander hingezogen.

Als sich das Kriegsglück gegen Hitler zu wenden begann und seine Obsession, alle Juden zu vernichten, im Wahnsinn der Todeslager gipfelte, besorgten sich beide Mädchen falsche Papiere und lebten heimlich und illegal im Verborgenen; sie verloren sich aus den Augen, bis sie sich im Februar 1944 zufällig trafen, als sie beide vor einem Milchladen in ihrem alten Viertel um Milch anstanden.

Lilo schrak zusammen. Die Berliner »U-Boote« – im Untergrund lebende Juden – standen über den Mundfunk immer noch untereinander in Verbindung und übermittelten sich lebenswichtige Nachrichten, und Lilo hatte ein haarsträubendes Gerücht gehört. Von ihrer alten Freundin Stella wurde behauptet, sie sei von der Gestapo »umgedreht« worden. Es hieß, sie habe eingewilligt, Juden zu verraten, sie aufzuspüren und sogar festzunehmen.

Lilo konnte sich das einfach nicht vorstellen, so beruhigte sie sich in dem Milchladen schnell, als Stella lächelte und sich über das Treffen mit der Freundin nur zu freuen schien. Die beiden jungen Frauen plauderten eine Weile und verabredeten dann, in Kontakt zu bleiben, und Lilo schob die ungeheuerliche Möglichkeit von sich, dass ihre Busenfreundin fahnenflüchtig und eine Verräterin geworden sein könnte.

Zehn Tage später erschien Stella an Lilos Wohnungstür. Jetzt lächelte sie nicht mehr. Ein junger Mann in Zivil stand drohend hinter ihr, aber es war Stella, die sprach.

»Es tut mir leid, Lilo«, sagte sie. »Ich muss dich auf Befehl der Gestapo verhaften. Mach keine Geschichten, keinen Fluchtversuch, sonst muss ich von der Schusswaffe Gebrauch machen.«

Ich war in jenen Hitler-Jahren ebenfalls mit Stella befreundet gewesen. Und wie ein immer wiederkehrender Traum ging mir eine Erinnerung an sie durch den Kopf, gleich nachdem ich in der New York Times die Überschrift entdeckt hatte: »Ehemaligentreffen erinnert an Schule für Juden in Nazi-Deutschland.« Ich sah sie vor mir, als ich den fünften Absatz überflog. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass in New York ein Treffen meiner Schulkameraden stattgefunden hatte, der Schüler der Goldschmidt-Schule in Berlin, die ich von Herbst 1935 bis Anfang 1937 besucht hatte, bis meine Eltern und ich in die Vereinigten Staaten emigrierten.

Erstaunlich! Ich hatte jeden Kontakt zu diesem Intermezzo meiner Vergangenheit verloren. Ich war dreizehn gewesen, als ich Dr. Leonore Goldschmidts Oase inmitten des Hitler’schen Wahnsinns verlassen hatte. Es war eine turbulente Zeit gewesen, und ich erinnerte mich vor allem an den Übergang von meinem Berliner zu meinem neuen Leben in New York. Die deutschen Lehrer und Mitschüler hatte ich nur noch undeutlich im Gedächtnis.

Stella war etwas anderes. Zwar habe ich kein fotografisches Gedächtnis, aber manche Menschen und Ereignisse meiner Jugend haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Dazu gehört Stella Goldschlag mit vierzehn Jahren in bauschigen schwarzen Turnhosen auf dem Weg in die Turnhalle der Goldschmidt-Schule.

Stella war die Marilyn Monroe unserer Schule: groß, schlank, langbeinig, kühl, mit hellblauen Augen, Zähnen wie aus der Zahnpastawerbung und blasser, seidiger Haut. Ihr kurz geschnittenes, leuchtend blondes Haar schien zu tanzen, wenn sie sich bewegte. Ihre Haltung war so vollkommen, dass nicht viel dazu gehörte, sie sich als Denkmal der Schönheit auf einem Sockel vorzustellen, fern, schweigend, abgeschieden in ihren höheren Gefilden – ein Meisterwerk, unberührbar, ein Traum für einen pubertierenden Jungen und ein Wunschbild, das ich nicht vergessen konnte.

Ich sprach häufig mit meinem Idol während unserer Zeit in der Goldschmidt-Schule: Oder ich versuchte es zumindest. Eigentlich hätte es mir leichtfallen müssen, weil wir eine ganze Menge gemein hatten: zum einen unseren tyrannischen Klassenlehrer, vor allem aber auch Dr. Bandmanns Auswahlchor, in dem wir beim Singen nebeneinanderstanden. Dafür hatte ich gesorgt.

Durch das Singen hätten wir uns näherkommen können. Der nervöse Dr. Bandmann war unser aller Lieblingslehrer (er unterrichtete außerdem Mathematik), und Stella und ich gehörten zu einer Handvoll von Kindern mit guten Stimmen, die für die Chorauswahl der besten Sänger ausgesucht worden waren. Ich hatte etwas vom musikalischen Talent meiner Mutter geerbt, und da ich noch nicht im Stimmbruch war, war ich der einzige Junge, der im Sopran bei den Mädchen mitsang – ein berauschendes Privileg.

Auch Stella hatte ihre musikalische Begabung geerbt: Ihr Vater komponierte, und ihre Mutter war Konzertsängerin.

Schließlich hätte der tiefere Sinn unseres Musizierens Stella und mich einander näherbringen sollen. Der Lehrplan bei Goldschmidt war darauf zugeschnitten, potenzielle Flüchtlinge auf ein entwurzeltes Leben im Ausland vorzubereiten. Dauernd verließen uns Mitschüler, um nach Shanghai oder nach Cochabamba in Bolivien zu gehen, und Dr. Bandmann ließ uns zum Abschied singen. Es waren schmerzliche Anlässe, und wir Sänger sorgten für die angemessene Begleitung. Ich weiß noch, dass mir jedes Mal ein Kloß im Hals saß, wenn Stella und ich sangen:

Wenn du bist im Glückdenk an uns zurück…

Aber meine Zunge war immer wie gelähmt, wenn ich Stella nicht als Sängerin sah. Einmal verbrachte ich eine paradiesische halbe Stunde allein mit ihr – im dichtesten Berliner Verkehr. Ich durfte sie nach Hause begleiten, zu dem Mietshaus in der Xantener Straße in Wilmersdorf.

Sie fuhr auf ihrem Fahrrad, ich auf meinem (das leuchtend blau war und die begehrte Ballonbereifung hatte). Ich war von ihr hingerissen, blieb aber in belanglosem Schulgeschwätz stecken. Da ich nun wusste, wo sie wohnte, fuhr ich später oft an ihrem Haus vorbei, wurde davor langsamer oder hielt sogar an und hoffte auf eine »zufällige« Begegnung mit meiner Angebeteten. Nie kam Romeo dieser Julia nahe.

Inzwischen hatten wir das Jahr 1988, und es war Zeit für das nächste Ehemaligentreffen der Goldschmidt-Schüler. An einem nasskalten Abend stand ich im überheizten Tagungsraum des German Club der New York University in der Nähe des Washington Square in Greenwich Village, knabberte Häppchen und balancierte ein Glas Weißwein. Um mich herum drängten sich meine Schulkameraden, ebenfalls Flüchtlinge mit deutschem Akzent, ergraute Überlebende des »Dritten Reiches«. Die Bindung an die Schule hatte ein halbes Jahrhundert gehalten und uns wieder zusammengeführt, aber die eigentliche Bezugsperson war nicht die charismatische und überlastete Dr. Leonore Goldschmidt. Das war Hitler. Einen verrückten Augenblick lang dachte ich daran, dass im Grunde eines seiner alten Porträts – mit dem finsteren Blick und im braunen SA-Hemd – an der Wand des German Club der NYU hängen müsste.

Erinnerungen hingen schwer im Raum. Ich sprach mit dem Präsidenten einer Maschinenbaufirma im Bezirk Westchester, NY, und plötzlich holte er aus den Tiefen seiner Tasche ein zerknülltes gelbes Stück Stoff mit einem schwarzen Davidstern. Da war mir klar, dass er den Krieg in Berlin versteckt überlebt haben musste, denn der »Judenstern« wurde erst im September 1941 eingeführt und musste getragen werden, und zu der Zeit hatten die Nationalsozialisten die Auswanderung bereits verboten. Es gab keinen legalen Fluchtweg mehr, wie einige Jahre zuvor für meine Eltern und mich.

Ich hatte Stella in Turnhosen aus den Augen verloren, aber nicht aus dem Sinn. Ich wusste, dass sie in Berlin in der Falle gesessen hatte, wie der Maschinenbau-Geschäftsführer aus Westchester. Was war aus ihr geworden? In der Schule hatten wir viel über die sensationelle Stella geredet. Wir taten es noch. Die Frauen beneideten sie um ihren Charme, ihr Aussehen, ihre Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen. Die Männer tauschten bedeutsame Blicke.

Ob sie noch lebte? Wenn ja, wo? Gerüchte schwirrten durch den Raum. Niemand hatte sie seit dem Krieg, unserem Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, gesehen. Dennoch schienen die anderen zu wissen, dass mit dieser Mitschülerin etwas Ungewöhnliches geschehen war. Jemand hatte gehört, dass sie Spionin geworden sei. Jemand anderes sagte, sie sei von den Russen umgebracht worden. Mehrere behaupteten, sie hätten gehört, dass Stella, obwohl selbst jüdisch wie wir alle, für die Nazis gearbeitet hätte. Unglaublich!

Durch einen Zufall – die US-Army stationierte mich gleich nach dem Krieg in Berlin – war ich der einzige Ehemalige, der das Geheimnis kannte: die unbeschreiblichen Verbrechen, die Stella begangen hatte, um zu überleben. In drei Prozessen war sie der mehrfachen Beihilfe zum Mord für schuldig befunden worden. Wie viele Morde? Das konnte niemand sagen, weil fast alle potenziellen Kläger in den Vernichtungslagern zum Schweigen gebracht worden waren, aber sie war offensichtlich verantwortlich für den Tod mehrerer Dutzend Juden, wahrscheinlich sogar mehrerer hundert, nach einer der Polizeischätzungen sogar bis zu 2 300! Und es waren keine Serienmorde herkömmlicher Art, keine aus Leidenschaft, Wahnsinn oder Habgier begangenen Morde.

Stella hatte sich an andere Juden in ganz Berlin herangepirscht und sie an die Gestapo verraten, die sie zum Sterben in die Konzentrationslager deportierte. Sie arbeitete gewissermaßen als Vollstreckerin der vom »Führer« geplanten »Endlösung der Judenfrage«. Wie war das möglich – wo sie doch jüdisch war wie wir alle? Es war ein teuflischer Rollentausch – die Gejagte wurde zur Jägerin, das Opfer verwandelte sich in eine Täterin.

Vieles wusste ich noch nicht. Was war aus Stella geworden? Und warum, warum nur war sie bereit gewesen, in diesen faustischen Pakt mit Hitler einzuwilligen? Immer schon hatte ich für das Geheimnis dieser Schönheit, die ich einmal angebetet hatte, eine Erklärung finden wollen. Es war Zeit, dieser Frage ernsthaft nachzugehen.

Warum erst zu diesem späten Zeitpunkt? Vielleicht hatte mich die emotionale Überbelastung gelähmt: Es waren zu viele Beschreibungen der Gräuel, Bilder von den Verbrennungsöfen, den ausgemergelten Leichen, zu viele Dinge, denen man ins Auge blicken musste. Jahrzehntelang konnte ich keinen Film über den Holocaust ansehen. Erst der zeitliche Abstand verlieh meinem Wissensdurst die notwendige Energie.

Außerdem hatte ich begonnen, vielleicht weil ich älter werde, mich mehr für die Kunst des Überlebens zu interessieren, vor allem des Überlebens unter Bedingungen, die Stress-Experten als »Erfahrung von Extremsituationen« bezeichnen. Es war nur logisch, dass jemand meiner Generation und meiner Herkunft sich der extremsten Erfahrung meiner Zeit zuwandte, dem, was wir Holocaust nennen. Warum hatte ich überlebt? Warum konnten manche meiner Verwandten und Freunde sich retten und andere nicht? Was hatten die Opfer, die in der Falle saßen, tun müssen, um zu überleben? Stella zum Beispiel? Das musste ich wissen.

Ich begann mit Sophie aus William Styrons Buch Sophies Entscheidung.

»Du kannst eines deiner Kinder behalten«, hatte der betrunkene, nasebohrende SS-Arzt bei der Selektion in dem fiktiven Auschwitz zu ihr gesagt. »Das andere muss weg. Welches willst du behalten?«

Sophie begann zu schreien: »Ich kann nicht wählen! Ich kann nicht wählen!«

»Maul halten!«, befahl der Arzt ungeduldig. »Jetzt beeil dich und triff deine Wahl. Wähl eins aus, verdammt noch mal, oder ich schicke sie beide hinüber. Los!«

Sophie wählte eins ihrer Kinder und wurde ihr Leben lang von ihrem Gewissen gequält.

Ich wusste, dass auch im wirklichen Leben Menschen zu solchen Entscheidungen gezwungen worden waren. 1964 berichtete ein schwedischer Psychiater, Dr. Snorre Wohlfahrt, von einer damals zweiunddreißigjährigen jüdischen Mutter aus Polen, die vom SS-Arzt in einem Konzentrationslager vor die Wahl gestellt wurde: Sie könne entscheiden, ob sie oder ihre siebenjährige Tochter in die Gaskammer gehen solle. Die Mutter war überzeugt, dass sie selbst in jedem Fall vergast werden würde, und überließ dem Arzt ihre Tochter, damit das Kind nicht allein bliebe. Jahrzehnte später musste die Mutter in psychiatrische Behandlung, sie konnte es nicht ertragen, ein Kind zu sehen oder allein zu sein, und glaubte, dass unbekannte Menschen in der Straßenbahn sie »anklagend anstarrten«.

Ich wusste auch von Überlebenden, die jahrzehntelang schwiegen, weil es zu schmerzhaft war, die Narben ihrer Erinnerung zu berühren – Überlebende wie meine Cousine Lottchen in Amsterdam, die zehn Jahre alt gewesen war, als sie das Lager Bergen-Belsen verließ, in dem kurz zuvor ihre Freundin Anne Frank an Typhus gestorben war.

Ich las Das Tagebuch der Anne Frank wieder, diesen erschütternden Bericht einer Jugendlichen aus Frankfurt, die mit ihrer Familie in Amsterdam in einem Versteck unter dem Dach gefasst worden war, für das sie merkwürdigerweise keinen zweiten Ausgang geschaffen hatten. Anne wäre am 12. Juni 1989 sechzig Jahre alt geworden, und die Erinnerung an sie war immer noch lebendig. Man sah sich immer noch das Bühnenstück an, für das ihr Tagebuch die Vorlage war. Es wurden immer noch Bücher über Anne veröffentlicht. Immer noch meldeten sich Zeugen mit Aussagen über ihre letzten Tage, als sie, fast verhungert, nackt, in eine Decke gehüllt, »zum Weinen keine Tränen mehr« hatte.

Man hat nie herausgefunden, wer Anne an die holländische Polizei verraten hat. Warum hat er oder sie das getan? Warum spürte Stella Juden auf, damit sie auch getötet werden konnten? War sie das Gegenstück zur liebenswürdigen Anne Frank, ihr Negativ, der böse Mr. Hyde, die dunkle Seite des freundlichen Dr. Jekyll? Als ich an jenem Abend 1988 unter den anderen Überlebenden meiner Berliner Schule stand, beschloss ich, in Erfahrung zu bringen, was mit meiner Klassenkameradin, der Verräterin von der Goldschmidt-Schule, geschehen war. Vielleicht lebte sie noch. Wenn ja, dann glaubte sie vielleicht mit quälend schlechtem Gewissen, dass Fremde in der Straßenbahn sie anstarrten.

Selbst wenn Stella tot war, gab es vielleicht eine Erklärung, einen Schlüssel, der ihre Verbrechen und ähnliche Taten anderer verständlich machte. Es war unwahrscheinlich, dass sie die einzige Jüdin war, die andere Juden verraten hatte. Ich musste es herausbekommen. Ich musste endlich alles über Stella und diese blutschänderischen Morde wissen, dieses letzte Tabu meines Krieges.

2. Stella

In Stellas Kinderjahren war Berlin die hektische Metropole der Dreigroschenoper und des Blauen Engels mit Marlene Dietrich; es war die Stadt der exhibitionistischen Homosexuellen und der grell geschminkten Transvestiten in Christopher Isherwoods Berlin Stories und dem Musical Cabaret; die Stadt des Triumphs für die schwarze Josephine Baker, die in einem Kostüm aus Bananenschalen Shimmy tanzte; die Stadt der hemmungslosen Nacktheit und des Kokainschnupfens, der Horden bettelnder Strichjungen, die Stadt der aufblühenden Psychoanalyse, dieser neuen, modischen Kunst Sigmund Freuds aus dem provinziellen Wien, und die Stadt des strengen Funktionalismus der Bauhaus-Architektur.

In Stellas Elternhaus nahm man an diesem turbulenten Leben nicht teil. Wie eine kleine Prinzessin wuchs Stella auf, ein verhätscheltes, beschütztes Einzelkind in der gesetzten Förmlichkeit und dem Wohlstand des Westends. Sie selbst ärgerte sich, dass andere Kinder kleine Freiheiten hatten, die ihr versagt wurden, vermutlich, weil sie so besitzergreifend geliebt wurde. Ihre Eltern nannten sie Pünktchen, weil sie ihnen so klein und zart erschien.

»Tatsächlich wurde sie behandelt wie eine Prinzessin«, sagte Jutta Feig, die ganz in der Nähe aufwuchs und mit ihren Eltern oft bei den Goldschlags zu Besuch war. »Ihre Kleider waren vom neuesten Schick, und die Mutter erzählte nur ›meine Tochter hier‹ und ›meine Tochter da‹ und kämmte diese blonden Locken stundenlang. Ja, ja, sie war eine Prinzessin, und das wusste sie ganz genau.«

Außerdem war Stella ein Produkt der Assimilation – fast schon Absorption – der Juden in das Gewebe nichtjüdischen Lebens in der Reichshauptstadt. 173 000 Juden lebten in Berlin, 500 000 in ganz Deutschland. Sie war eine Prinzessin aus jener snobistischen Gruppe, die sich »Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens« nannte. Ihre Integration wäre noch vollkommener gewesen, wenn nicht so viele von ihnen auffällig wie Leuchtreklamen gewesen wären.

Sie waren zu erfolgreich, zu erkennbar mit ihren eindeutig jüdischen Namen, dem Neid der Nichtjuden zu sehr ausgesetzt. Sie nahmen zu häufig Positionen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses ein. Alle großen Berliner Warenhäuser – Wertheim, Hermann Tietz, N. Israel, KaDeWe – gehörten Juden. Alle wichtigen Zeitungsverleger und dreizehn der Theaterkritiker waren Juden. Die Bekleidungsindustrie, eine bedeutende Branche, war, wie allgemein bekannt, in jüdischer Hand.

Ebenso, in erstaunlichem Ausmaß, das gärende intellektuelle Leben. Außerhalb Berlins hatten nur wenige Juden in Deutschland Einfluss. In Hamburg gab es noch die mächtige Bankiersfamilie der Warburgs, aber sonst waren Juden überwiegend anonyme kleine Ladeninhaber. Berlin war völlig anders. Auch das kürzeste Verzeichnis der intellektuellen Elite der Stadt klang wie eine Namensliste vom Olymp der Kultur, der deutsch-jüdischen Kultur. Es war eine verblüffende Liste.

Arnold Schönberg, Kurt Weill und Bruno Walter gehörten zu den Musikern. Max Liebermann war ein verehrter Impressionist unter den Berliner Malern. Fritz Lang drehte M, und Ernst Lubitsch machte Dutzende von Filmen für die Ufa, bevor er nach Hollywood ging und mit Filmen wie Ninotschka mit Greta Garbo Erfolge errang. Max Reinhardt inszenierte schauspielerische Glanzstücke, und im berühmten Kaiser-Wilhelm-Institut wurde Albert Einstein zum »Schöpfer von Welten« und beherrschte das Reich der Physik.

Der zerknitterte, typische zerstreute Professor mit dem einprägsamen Gesicht unter den ewig unordentlichen Haaren, der Autofahren »zu kompliziert« fand, wohnte von 1914 bis 1933 in Berlin. Hier vervollkommnete er seine Relativitätstheorie, bekam den Nobelpreis, genoss seine geliebten Zigarren (von denen ihm seine Frau nur eine täglich zuteilte), hier segelte er auf der Havel und unterhielt Freunde damit, dass er auf der Geige kratzte. Und hier bewies 1932, im Jahr vor der Machtübernahme Hitlers, der angeblich so weltfremde Akademiker politische Weitsicht.

Er liebte, was er seine »Berlinisierung« nannte, aber er war Pazifist, und er war zum Teil in der Schweiz aufgewachsen und Schweizer Staatsbürger. Er hielt Hitler für einen barbarischen Diktator, mit dem er nichts zu tun haben wollte, nahm eine Stelle am Institute for Advanced Study an und ging nach Princeton, New Jersey.

Stellas Vater Gerhard Goldschlag war kein Einstein. Weit gefehlt. Für Juden wie ihn und seine Familie, die sich als Deutsche verstanden, schien der Antisemitismus vor allem – und in ihren Augen auch zu Recht – gegen Berlins äußerlich viel auffälligere Minderheit von 40 000 »Ostjuden« gerichtet zu sein. Diese ganz anderen Juden, die von Nichtjuden wie von Leuten wie den Goldschlags verachtet wurden, eigneten sich vorzüglich als Sündenböcke.

Die Ostjuden waren um die Jahrhundertwende vor den Pogromen der Zaren und dem Terror der Kosaken geflüchtet. Sie führten in freiwilliger Abgeschlossenheit ein Ghettoleben hinter dem Alexanderplatz, in den Elendsquartieren des Scheunenviertels, einem ursprünglich ländlichen Gebiet. Ihre großen, breitkrempigen schwarzen Hüte, die wallenden Bärte, die langen Schläfenlocken und ihr Jiddisch, das uns wie schlechtes Deutsch vorkam, erregten Aufmerksamkeit. Die Armut machte sie habgierig und oft skrupellos. Sie waren Außenseiter gewesen, bevor sie nach Deutschland kamen. Sie waren Außenseiter geblieben.

Beinahe-Gojim wie die Goldschlags bekannten sich zu ihrem jüdischen Erbe insofern, als sie Pessach, Chanukka und die höchsten Festtage Rosch Ha-Schana und Jom Kippur feierten – aber das war auch alles. Sie dachten nicht daran, sich dem Scheunenviertel auch nur zu nähern. Doch Hitler machte keinen Unterschied. Zunächst einmal hasste er, wie die meisten Österreicher, alle Berliner. Sie waren Saupreußen, arrogant, zynisch, zu schlagfertig und damit nur sehr mühsam der NS-Herrschaft zu unterwerfen. Und natürlich hasste er seit seiner Jugend alle Juden als Wucherer, Bolschewiken, Ausländer, Unberührbare und, wie er sich ausdrückte, »Parasiten«, die man »ausrotten« musste.

Trotz der jahrhundertelangen, mehr oder weniger starken Diskriminierung fühlten sich Juden wie die Goldschlags unter den 67 Millionen Deutschen sicher. Sie lasen Mein Kampf nicht – wer tat das schon. Hitler war eine vorübergehende Verirrung, das sagten alle. Eines Tages würde er sich ausgetobt haben, die Parolen würden ihm ausgehen und er die Macht verlieren, die er mit seinem Geschrei errungen hatte. Er war der Fremde, nicht die Juden, denn er hatte nichts gemein mit Goethe, Beethoven und den anderen unsterblichen Deutschen.

»Die Juden waren geradezu pathologisch in ihrem Patriotismus«, erinnerte sich Rabbi Joachim Prinz.1 »Mein Vater diente auch im Ersten Weltkrieg, und mein Großvater wurde 1866 im Krieg gegen Österreich verwundet. Er war darauf enorm stolz.« Der Rabbi, der später Präsident des American Jewish Congress und Vorsteher einer großen Synagoge in Newark, New Jersey, werden sollte, war besonders qualifiziert, die Berliner Juden zu beurteilen. Er liebte die Stadt, und ihre Juden liebten ihn. Er war ein kluger und ausgesprochen schöner Mann und ein eindrucksvoller Redner, der schon Berühmtheit erlangte, als er noch in den Zwanzigern war. Wer ihn predigen hörte, war unweigerlich berührt. Aber er kannte die Achillesferse seiner Gemeinde, zu der auch Stella und ihre Eltern gehörten.

»Juden sind politische Idioten«, sagte Rabbi Prinz. »Sie sind zu optimistisch, zu hoffnungsfroh. Was ein Feind ist, werden sie nie begreifen.«

Obwohl er kaum einen Namen hatte, konnte sich Vater Goldschlag in der damals heißesten Arena des Journalismus in Deutschland und überall in der Welt als erfolgreich betrachten: bei der Wochenschau. Als Französisch sprechender Chefredakteur des Berliner Büros von Gaumont, dessen Zentrale in Paris war, jonglierte er kühl mit der Berichterstattung über Katastrophen, Wahlen, Krönungen und andere Meldungen für die Schlagzeilen; er besänftigte die erregbaren, tollkühnen Kameramänner und hielt rund um die Uhr die äußerst knappen Fristen für Filmtheater auf der ganzen Welt ein.

Es war eine angesehene Tätigkeit, die ihn oft bis in die Nacht in seinem Büro festhielt, denn Wochenschauen, das Fernsehen jener Tage, informierten die Öffentlichkeit direkt über aktuelle Tagesereignisse.

Gaumont war einer der ersten, größten und schnellsten Filmproduzenten. Die Firma war 1908 gegründet worden, beschäftigte vor dem Ersten Weltkrieg 21 000 Angestellte und betrieb das größte Filmtheater der Welt (6 000 Sitzplätze), den Gaumont-Palace in Paris. Für den Bericht über die Amtseinsetzung des Prinzen von Wales im Jahr 1911 hängten sich Gaumonts Kamerateams mit zwei Milchwagen, die in fahrbare Dunkelkammern verwandelt worden waren, an das königliche Gefolge, und noch am gleichen Abend wurden gut 300 Meter Film über das Ereignis in London gezeigt.

Als ausländisches Unternehmen konnte Gaumont die Nationalsozialisten bis 1935 daran hindern, Goldschlag von seinem Posten zu entfernen, aber dann duldete das Propagandaministerium Juden nicht mehr in Positionen, wo sie das wirkungsvollste Agitationsmedium beeinflussen konnten. Joseph Goebbels selbst sah sich jeden Abend wichtige Ausschnitte an und genehmigte den fertigen Film für die Woche. Kein Geringerer als Hitler war letzter Zensor und überprüfte ebenfalls jede Folge.

Als Goldschlag seine hektische Arbeit aufgeben musste, beschloss er, einen tiefen Abgrund zu überwinden, und startete eine ganz neue Karriere in seiner zweiten Leidenschaft, der Musik, der deutschenMusik. Stella hörte einmal, dass ihn der Jüdische Kulturbund aufforderte, jüdische Musik zu schreiben, aber mit hebräischem Gesang wollte er nichts zu tun haben. Er hatte sich ein höheres Ziel gesetzt. Sein größter Wunsch war, als Komponist von Liedern zu Ruhm zu gelangen, den lyrischen Gesängen des großen romantischen Genres, die ihn zum rechtmäßigen Erben seiner Meister Schubert und Schumann machen würden.

Es blieb eine Wunschvorstellung. Als der Krieg begann, war Goldschlag ein rundlicher, bescheidener, stiller kleiner Mann, fünfzig Jahre alt und oft depressiv. Die Fliege, die er immer trug, und sein widerspenstiges dunkles Haar ließen ihn wie einen Maler wirken. Sein Fleiß, der an Besessenheit grenzte, trieb ihn dazu, mehr als 200 Lieder zu komponieren, eine gigantische Menge. Fast alle ruhten in seinem Schreibtisch, wurden nie aufgeführt, und wenn er sie selbst gelegentlich bei einem Konzert vortrug, wurden sie meistens nicht besonders freundlich aufgenommen.

»Bloße Kopie berühmter Vorbilder«, urteilte eine typische Rezension in einer jüdischen Wochenzeitung. Stella gab den Juden die Schuld an seiner Erfolglosigkeit. »Sie wollten ihn ausstechen«, sagte sie. Ihr Vater schob sein Scheitern auf die Schnelllebigkeit und die Voreingenommenheit der neuen Zeit; er wollte glauben, dass sich die Kritiker über das Genre des Kunstlieds als Ganzes lustig machten, nicht über seine Arbeit.

»Vielleicht bin ich achtzig Jahre zu spät geboren«, sagte er traurig zu einem Journalisten.

So sah er sich mit seiner Familie zu Armut und Bedeutungslosigkeit verdammt, die diese schließlich das Leben kosten sollten. Goldschlag gab Klavierstunden. Er schleppte sich von Konzert zu Konzert und begleitete Solisten. Er schrieb gelehrte Kritiken für jüdische Zeitschriften, die ihm so gut wie nichts einbrachten, aber immerhin ein Betätigungsfeld darstellten. Sein Einkommen reichte kaum für Lebensmittel und die Miete für die winzige Wohnung in der Xantener Straße 2 in Wilmersdorf, ganz in der Nähe des Ku’damms. Manchmal lebten sie von der Fürsorge.

Nur selten fand er Ermunterung, belebte etwas sein Verlangen nach Anerkennung als zukünftiger Schubert. Etwa wenn er eingeladen wurde, seine Lieder bei einem Konzert mehrerer jüdischer Komponisten vorzutragen. Noch im März 1941, nicht sehr lange bevor Auschwitz Vernichtungsfabrik wurde, reiste er nach Breslau, um sechs seiner Lieder bei einem Konzert des dortigen Kulturbunds zu spielen.

Das Programm jenes Abends enthielt Kompositionen von Goldschlag, deren Titel seine fortbestehende Hoffnung auf ein Überleben als deutscher Komponist und als deutscher Jude verraten. Ein Lied hieß »Gott war guter Laune«, ein anderes »Werdet nur nicht ungeduldig«.

Obwohl es nationalsozialistische Gesetze waren, die sein Publikum und seine Förderer auf Glaubensgenossen beschränkten, empfand Goldschlag diese Eingrenzung als entwürdigend. Vor der Hitlerzeit hatte er Einladungen von jüdischen Organisationen nicht angenommen. Schließlich war er Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg gewesen und stolz auf seine Mitgliedschaft im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Jüdisch zu sein war in Ordnung, solange diese Bezeichnung mit dem Dienst fürs Vaterland verbunden war.

Solche Versuche, sich mit den Verfolgern zu identifizieren, waren nicht ungewöhnlich und wurden nicht als lächerlich angesehen. In der Nachbarschaft der Goldschlags wohnten die Fröhlichs. Ihr Sohn Peter2, ein leidenschaftlicher Fußballfan, war ein Jahr jünger als Stella und kam fast täglich an ihrem Mietshaus vorbei. Auch sein Vater war Frontkämpfer gewesen, und wie so viele deutsche Juden erzählte er gern antisemitische Witze. Die Fröhlichs nannten sich lächelnd »Drei-Tage-Juden«, weil sie die Synagoge (kein deutscher Jude von Rang und Namen benutzte das jiddische Wort Schul) nur an den höchsten Feiertagen besuchten: Rosch Ha-Schana und Jom Kippur. Wenn er in späteren Jahren über seine Identität nachdachte, nannte Peter Fröhlich-Gay seine Jugend »schizophren«. Es sei Hitler gewesen, sagte er, der ihn zum Juden gemacht habe.

Das traf auch auf Stella zu, deren Verwandlung auf jenen Tag im Jahr 1935 zurückging, als die Verordnungen der Nationalsozialisten sie zwangen, die staatliche höhere Schule zu verlassen und in die jüdische Privatschule von Dr. Goldschmidt am Roseneck im exklusiven Stadtteil Grunewald einzutreten. Damit wurde sie erstmals und offiziell mit den überwiegend dunkelhaarigen und manchmal großnasigen Kindern der gehassten Minderheit auf eine Stufe gestellt, den Verfolgten, den Aussätzigen. Auch ihre Armut wurde offenbar. Die Goldschmidt-Schule war teuer. Stella konnte sie nur mit einem Stipendium besuchen. Das wurmte sie zusätzlich.

Das Grübchenlächeln ihrer Kindheit, die auffallend blonden Locken, die jetzt glatt gehalten wurden, die reizenden Kleidchen, die ihre sie vergötternde Mutter Toni in Ordnung gehalten hatte, die süße Ausstrahlung einer Shirley Temple – all das war inzwischen verschwunden. Zur Kühle der jugendlichen Prinzessin kamen die guten – oder außerordentlich guten – Zensuren und eine sprachliche Ausdrucksfähigkeit, die selbst die Jungen und Mädchen in der Goldschmidt-Schule beeindruckten, an der Wortgewandtheit nicht ungewöhnlich war.

»Wir waren alle neidisch«, erinnerte sich Ursula Tarnowski, die später College-Präsidentin auf Long Island, New York, war.

Die Männer hatten Stella als hinreißend und unnahbar im Gedächtnis, als Objekt erotischer Phantasien und vermutlich falscher Gerüchte über verbotenen Sex mit älteren Jungen. Mit der Zurückhaltung einer geborenen Schauspielerin erweckte Stella den Eindruck, unerreichbar und erreichbar zugleich zu sein. Diese Fähigkeit sollte sie ihr ganzes Leben mit fünf Ehemännern, dem Vater einer unehelichen Tochter und zahllosen Liebhabern nicht verlieren.

Ihre Schulfreundinnen kannten eine weniger anziehende Stella. Für sie war sie auch eine Angeberin, eine Lügnerin und überhaupt anders. Sie kicherten, als ein Lehrer in der Klasse fragte, welchen Beruf die Väter ausübten, und Stella erklärte: »Mein Vater ist ein Kommunist!« Sie wussten, dass Gerhard Goldschlag weder Jurist noch Arzt noch Kaufmann war wie die Väter der anderen. Kommunist war er auch nicht. 1935 saßen Kommunisten entweder im Gefängnis oder lebten im Untergrund. Stellas Vater war dieser Pantoffelheld und Klavierspieler, ein unbekannter Komponist, ohne Sinn für Politik und völlig mittellos.

Stella fand die Ärmlichkeit ihrer Familie unerträglich. Sie hasste die kleine Wohnung und ihre billigen, wenn auch modischen Kleider. Einige der Mädchen wussten, dass sie die Schule mit einem Stipendium besuchte, das Dr. Goldschmidt besorgt hatte. Stella wusste, dass sie es wussten, und das erbitterte sie. Sie war sich ihres sensationellen Aussehens deutlich bewusst und gierig nach der Aufmerksamkeit, die sie erregte. Sie wollte ein Star sein, kein Fall für die Armenhilfe, und versuchte ihre Blondheit gezielt einzusetzen, um ihrer Erblast zu entrinnen.

Stella fand es abscheulich, Jüdin zu sein. Ihr »arisches Aussehen« hatte ihre alte Schule nicht daran gehindert, sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit auszuschließen. Die anderen jüdischen Jugendlichen wussten, dass das ein Bestandteil des Hitler’schen Maßnahmenkatalogs war. Stella betrachtete es als eine Ungerechtigkeit und persönliche Kränkung. Sie wollte mehr sein als nur eine Jüdin. Juden waren Verlierer. Deshalb log sie und hoffte, ihre jüdische Identität abstreifen zu können. Ihre Freundinnen wussten, dass ihre Mutter, eine kalte, herrische Brünhild, im Chor der Synagoge sang, und sie kicherten hinter Stellas Rücken, wenn sie behauptete, ihre Mutter sei Christin.

Stella wollte auch gern weltklug scheinen, über ihre Jahre hinaus erfahren. Die Aufmerksamkeit, die ihr Aussehen bei den Jungen erregte, hatte ihr früh ein Bewusstsein von Sexualität vermittelt. Sie wollte verführerisch wirken, vor allem, weil sie damit ihresgleichen schockieren konnte. Stella fand es aufregend, zu schockieren. Wer schockiert, zieht die Aufmerksamkeit anderer auf sich.

Nach den Normen späterer Jahrzehnte waren Stellas Vorstöße in die Welt der Erwachsenen noch sehr zahm. Für die Zeit ihrer Jugend und die harmlose Welt unserer Schule waren sie ziemlich gewagt. Stella glänzte als inoffizielle Sexualkundelehrerin, denn Sexualkunde als Fach war noch nicht erfunden. Stella informierte andere Mädchen über anatomische Fakten, vernachlässigte aber auch die romantische Liebe nicht. Sie brachte Romane wie Im Westen nichts Neues mit in die Schule und erregte ihr privates Publikum mit dem Verlesen erotischer Passagen. Das machte sie interessant.

»Wir alle waren Evas, und sie war die Schlange«, erinnerte sich Lili Baumann, ihre beste Freundin.

Das war keine Übertreibung, wenn man die damals an der Schule herrschenden Sitten bedenkt. Einige der Mädchen waren abgestoßen von Stellas Frühreife. Ihre Neigung zu Wörtern aus dem sexuellen Bereich erschreckte sie. Ein paar Mädchen mieden die Nachwuchsschlange, als hätte sie Typhus. Die Eltern eines besonders scheuen Mädchens wurden von Frau Dr. Goldschmidt aufgefordert, ihre Tochter von Stella fernzuhalten. Aber um ihre Freundin Lili machte sich niemand Sorgen. Lili war stark und auf alles neugierig, Stella eingeschlossen. Sie bewunderte Stellas frühreife Art und war begeistert, dass sie an ihrem verbotenen Wissen teilhaben durfte.

Obwohl Lilis Lebenslust nie unter übertriebener Ängstlichkeit litt, hatten die Nationalsozialisten ihren Glauben an Freundschaft erschüttert. Bevor sie an die Goldschmidt-Schule kam, hatte sie in einem Klassenraum mit Zweierbänken gesessen, und Lili und ihre nichtjüdische Banknachbarin waren unzertrennlich gewesen. Eines Morgens stellte sie fest, dass ihre Freundin sie verlassen hatte und ihr Pult mit einem Mädchen teilte, das oft BDM-Uniform trug. Verwirrt fragte Lili ihre abtrünnige Freundin in der Pause, warum sie ihr untreu geworden sei.

»Jüdisches Blut stinkt«, erklärte die Elfjährige und wandte sich ab. Lili war tief verstört und lief den ganzen Weg weinend nach Hause. Am nächsten Tag meldete ihre Mutter sie in der Goldschmidt-Schule an.

Trotz ihres »arischen« Aussehens wankte Stellas Freundschaft zu Lili während der gemeinsamen Jahre in drei Schulen niemals: in der Volksschule an der Joachim-Friedrich-Straße, dem Hohenzollern-Lyzeum und schließlich der Goldschmidt-Schule. Sie waren sehr gegensätzlich, und gerade diese Gegensätzlichkeit faszinierte Lili.

Lili war wohlerzogen; sie stammte aus einer herkömmlichen, wohlhabenden Familie und hatte liebevolle Eltern. Ihr Vater war ein bedeutender Anwalt. Stella dagegen war eine Rebellin, eine gute Schülerin, aber ständig verstrickt in kleine Flunkereien und Proteste. Die Lehrer behielten Stella immer im Auge und waren auf der Hut vor Unannehmlichkeiten. Ihre Eltern schienen nicht zueinander zu passen. Lili stellte fest, dass Stella ihre laute, herrische Mutter fürchtete, und von dem erfolglosen kleinen Vater ihrer Freundin hatte sie selbst eine geringe Meinung. Sie war sicher, dass Stellas Mutter ihre und Stellas Haare färbte, noch eine herrlich gewagte Gepflogenheit, wenn das stimmte. Falsche und richtige Unterstellungen verfolgten Stella ihr Leben lang wie finstere und nicht abzuschüttelnde Schatten.

Mit der Zeit lernte Lili Stella auch als Person kennen, die sich anklammerte, als soziale Aufsteigerin. Lilis Eltern hatten eine riesige, schön eingerichtete Wohnung, in der Stella sich lieber aufhielt als in ihrem eigenen schäbigen Zuhause. Nicht immer war sie willkommen. Eines Nachmittags, als sie allein auf Lili wartete, schlich sie sich in das elterliche Schlafzimmer, nahm ein wertvolles Gemälde mit einem weiblichen Akt von der Wand und kopierte die Umrisse der nackten Figur mit Bleistift auf Pauspapier. Lilis Mutter entdeckte das Kunstwerk und warf Stella aus dem Haus.

»Das war Lili!«, schrie Stella – eine leicht durchschaubare Lüge.

Der Vorfall entzweite die Freundinnen nicht. Wie es bei Kindern so ist, wurde Stella in Lilis Augen zur Heldin. Ihr Bund wurde zu einer Mini-Verschwörung von kleinen Voyeurinnen, die sich gegen eine fade Erwachsenenwelt auflehnten.

Fade, aber nicht geschützt vor den bösen Leidenschaften, die Hitler entfacht hatte. In Stellas und Lilis Viertel, Wilmersdorf, wohnten viele jüdische Familien der Mittel- und Oberklasse. In den gediegenen, geräumigen Etagenwohnungen des relativ wohlhabenden Westends hatten sich mehr Juden niedergelassen als sonst wo, nämlich 26 000; das waren 13,5 Prozent der Bevölkerung (im Durchschnitt lebten in Berlin 4,3 Prozent Juden). Hier fanden dauernd blutige Straßenschlachten zwischen Hitlers SA-Abteilungen und den Kommunisten statt, weil die Nationalsozialisten sich schon früh, in den zwanziger Jahren, in diesem Viertel eingenistet hatten. Die Braunhemden der SA hatten, planmäßig im Bezirk verteilt, Kneipen zu Sturmlokalen erklärt.

Am 15. März 1933 führten die Wilmersdorfer Nationalsozialisten die erste richtige Bücherverbrennung seit dem Mittelalter durch.3 Ziel war die Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz, drei große Wohnblocks, die der Schriftstellerverband und die Theater-Kooperative gemeinsam für dreihundert ihrer Mitglieder gebaut hatten. Zu den Bewohnern gehörten Autoren späterer Erfolgsbücher, wie Arthur Koestler. Andere, wie etwa Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger sowie der Maler und Graphiker George Grosz, wohnten in der Nähe.

Wie die militanten Kommunisten des Viertels hatten sich die Wilmersdorfer Intellektuellen an die improvisierten Schlägereien und Schießereien der Braunhemden auf den Straßen gewöhnt. Der Überfall vom 15. März war etwas anderes. Er war offiziell, regierungsamtlich. Er wurde von Polizeibeamten ausgeführt, verstärkt durch Feuerwehrleute und SA-Männer. Nachdem sie die Kolonie umstellt hatten, damit niemand entkommen konnte, durchsuchten sie die Wohnungen nach »marxistischer« Literatur und nahmen »Verdächtige« fest, deren Namen auf ihren Listen standen. Einige wurden geschlagen.

»Ich werd durch sieben schwer bewaffnete Jungen misshandelt und mit blutendem Gesicht die Treppe hinuntergestoßen«, erinnerte sich ein Autor. »Unten werde ich auf einen Polizeiwagen hinaufgestoßen. Das ist ja eine Literatenversammlung! Vor mir sitzt der Schriftsteller Manès Sperber. Einer der Posten höhnte: ›Hast wohl Neesebluten jehabt, wa?‹«

Die Täter hatten Schwierigkeiten zu entscheiden, welche Bücher »marxistisch« waren. Sie nahmen alle Bände, die ihnen verdächtig schienen, und trugen sie in Waschkörben zu einem großen Feuer mitten auf dem Platz. Ein paar SA-Leute schleuderten die Bücher in die Flammen. Der Pöbel tanzte um das Feuer und brüllte Zustimmung. Hitler war erst seit sechs Wochen an der Macht, aber in Berlin war der Wahnwitz seit Jahren an der Tagesordnung.

Als später die Erinnerungen verblassten, wurden sie auch vereinfacht. Nur wenige Menschen wussten noch, wie unerbittlich die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von einem einzigen Menschen, von Adolf Hitler, bestimmt war, angefangen damit, dass er die Weltwirtschaftskrise für seine politischen Ziele nutzte, bis hin zur Spaltung der Welt in Ost und West, die in den späten vierziger Jahren begann und ebenfalls wesentlich sein Werk war.

Nicht viele Menschen unterschieden im Rückblick zwischen dem Kriegsherrn Hitler, der zeitweise den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen drohte, und dem ulkigen Irren, den Charlie Chaplin in dem Klassiker Der große Diktator gespielt hatte – als es außerhalb Deutschlands noch möglich war, sich über den »Führer« lustig zu machen. Natürlich war Hitler beides; er entwickelte sich langsam von dem lächerlichen Comic-Typen, den nur ein paar fanatische Mitmarschierer ernst nahmen, zum Schrecken der ganzen Welt.

Stella erlebte in ihrer Jugend, von den zwanziger Jahren bis in die frühen vierziger Jahre, die unsichere und stürmische Freiheit der Weimarer Republik, dann die bedrückende Diktatur, dann den Völkermord. Endlich erlebte sie auch die Entstehung einer demokratischen Gesellschaft mit, die sich, genährt vom Nachkriegs-Wirtschaftswunder, schnell entwickelte.

Als sie heranwuchs, war das Gemetzel des Grabenkriegs von 1914–18 noch allgemein frisch im Gedächtnis, wie die Großen des deutschen Journalismus zu ihrer Verblüffung entdeckten. Ganz in Stellas Nähe, in Wilmersdorf, Wittelsbacher Straße 5, wohnte ein mittelloser neunundzwanzigjähriger Sportredakteur, der seinen Namen von Erich Paul Remark in Erich Maria Remarque geändert hatte. Er befürchtete, dass es nur Zeitvergeudung sei, seinen autobiografischen Roman eines verängstigten jugendlichen Infanteristen im »Krieg zur Beendigung aller Kriege« zu Papier zu bringen. Er nannte seine Erinnerungen Im Westen nichts Neues.

Der sonst so treffsichere Verleger Samuel Fischer lehnte das Manuskript angewidert ab mit einer Bemerkung, die ihn verfolgen sollte: »Wer will denn so was lesen?«, fragte er.

Millionen lasen es. Remarque überredete die Herausgeber seiner Zeitung, sein Werk in Fortsetzungen zu veröffentlichen, und es wurde ein phänomenaler Erfolg. Der Verkauf der Buchausgabe wurde nur von dem der Bibel übertroffen, und das nicht wegen der paar erotischen Stellen, für die sich Stella interessierte.

Der Erste Weltkrieg steckte den Leuten in den Knochen, und der verrückte, frustrierte »Absolvent des Blutvergießens«, der Gefreite Hitler, hatte es im Gegensatz zum Verleger Fischer längst gespürt. Jahrelang hämmerte er mit pathetischen Tiraden auf das wehrlose Vaterland ein, mit Erinnerungen an das »Schanddiktat von Versailles«, den rächenden Friedensvertrag, der nicht nur des Kaisers Heer, sondern auch die Wirtschaft verstümmelt hätte.

Stellas Vater war nicht der einzige deutsche Jude, der immer wieder auf seine Verdienste als Kriegsteilnehmer hinwies, um seine Loyalität zu dokumentieren und vielleicht – hoffentlich – sogar dem Antisemitismus entgegenzuwirken. Goldschlags Veteranenverein setzte landesweit Anzeigen in die Zeitungen, in denen »deutsche Mütter« an die 12 000 Juden erinnert wurden, die für ihr geliebtes Land gefallen waren. Ein jüdisches Jagdflieger-Ass schmückte die Titelblätter von Zeitschriften, und gemäß der wahnwitzigen Logik der Nationalsozialisten wurde jüdischen Trägern des EK I noch fast bis zum Ende eine Art Respekt erwiesen. Sie wurden nicht sofort in Auschwitz vergast, sondern für eine Weile »zurückgestellt«; sie kamen ins Lager Theresienstadt, wo die Insassen nur verhungerten, und manche wurden erst in den letzten Kriegsmonaten nach Auschwitz deportiert.

Stellas Vater wurde zwar von Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels, wie andere »verräterische« Unverbesserliche der Intelligenzija, aus seiner Stellung im öffentlichen Leben vertrieben, aber nicht automatisch in eines der neuen Konzentrationslager gebracht, wie Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter und andere aktive Oppositionelle. Er verlor nur sein Einkommen und verarmte. Trotzdem dachte er nicht einen Augenblick daran, das Land zu verlassen. Wie mein eigener Vater. Wir interessierten uns nicht für Politik, und wir waren schließlich Deutsche.

3. Ein Berliner Junge

Ich wusste früh, dass ich nicht in eine geruhsame Zeit hineingeboren war. Meine Kindheitserinnerungen beginnen mit Schüssen. Wir lebten damals in einer teuren Wohnung in der Bismarckstraße in Charlottenburg; sie war riesig und höhlenartig wie ein alter Bahnhof. Es war das Jahr 1928; ich war fünf Jahre alt und lag mit Mandelentzündung im Bett.

Es wurde in unserer Straße geschossen, einer jener breiten, baumbestandenen Prachtstraßen, für die Berlin bekannt war, und die Gewalttätigkeit überraschte mich nicht. In den zwanziger Jahren, bevor Hitler jede Art von Opposition unterdrückte, trugen Kommunisten und Nationalsozialisten ihre Kämpfe auf den Straßen aus; »Rote und Braune« kämpften mit Knüppeln und Messern; es hagelte quadratische Berliner Pflastersteine, und oft wurde auch geschossen. Damals hielt jeder diese Straßenschlachten für so normal wie heute Verkehrsstaus.

Normal oder nicht, das Krachen der Schüsse auf der Bismarckstraße erschreckte mich sehr. Ich hatte Gesprächen über den Krieg gelauscht, und nach Krieg klang das hier. Ich hätte nicht sagen können, worum es draußen ging, aber ich wusste, dass ich oder meine Familie nichts damit zu tun hatten. Jedenfalls glaubten wir das zu der Zeit. Ich war nie jemandem begegnet, der an diesen Scharmützeln beteiligt war. Sie wurden von den Arbeitern der »Unterschicht« ausgefochten. Ich zog mir meine Daunendecke über die Ohren. Auf der Straße kehrte bald wieder Ruhe ein. So war es immer. Die Schießerei war nicht mehr als eine ärgerliche Unterbrechung meiner bemerkenswert ruhigen Kindheit.

Ich war ein Einzelkind. Ein sehr deutsches Kind. Mein Geburtstag, der 2. Oktober, war auch der Geburtstag von Hitlers Vorgänger, Reichspräsident Paul von Hindenburg, dem ehemaligen Feldmarschall und Sieger von Tannenberg (einer noch immer gefeierten Schlacht des Ersten Weltkriegs). Wir verehrten ihn alle. Am 2. Oktober wurden überall Flaggen aufgezogen. Als ich noch klein war, glaubte ich, sie wären mir zugedacht.

Meine Eltern waren nicht arm wie die Goldschlags, aber auch nicht reich wie meine Großeltern mütterlicherseits, die Haupteigner des Textilunternehmens der Familie. Es ging uns sehr gut. Für mich war ein Kindermädchen im Haus; meine Mutter hatte eine Köchin und eine Putzfrau. Meine Kleider wurden sehr sorgfältig ausgewählt; im Winter trug ich einen breitkrempigen weißen Hut und einen weichen weißen Pelzmantel, was damals nicht als unmännlich galt. Meine kleine, aber durchsetzungsfähige und temperamentvolle Mutter Helen, genannt Leni, war ihrer Zeit immer voraus und hatte sogar eine Schönheitsoperation machen lassen – es war eine dubiose Kunst, die noch in den Kinderschuhen steckte. Der Chirurg hatte ihre Nase und ihre Brüste verkleinert, die sie für unfein groß befunden hatte. Meinem Vater verschlug es die Sprache, als er die Rechnung sah.

Meine Mutter hatte eine ausgeprägte Neigung zu Späßen und Streichen, und ich spielte mit Begeisterung ihren Partner dabei. Für eine Hochzeit staffierte sie mich als Pagen aus einer Mozart-Oper aus. Ich war eine kleine Symphonie in Schneeweiß: mit gepuderter Perücke, Frack mit Schwalbenschwanz, langen Strümpfen und Schnallenschuhen. Und ein großer Erfolg bei den Hochzeitsgästen. Ich schwelgte darin.

Zur Hochzeit meiner Cousine Martha übertraf sich meine Mutter mit ihrem Sinn für Bühnenwirksamkeit selbst. Martha, nur wenige Jahre jünger als sie selbst, war ihre Lieblingsnichte. Ihr Vater, mein Onkel, war zweiter Geschäftsführer im Unternehmen meines Großvaters. Marthas Hochzeit mit einem leitenden Angestellten der Firma war die Familiengala meiner Kindheit.

Überraschung: Meine Mutter und ich waren nicht da. Dies wurde mit Befremden vermerkt; jeder wusste, dass Leni und Martha Busenfreundinnen waren. Je länger wir ausblieben, desto mehr flüsterten die Gäste untereinander. Meine Mutter hatte es schon immer verstanden, den geeigneten Zeitpunkt zu wählen, und wusste, wie man sich einen großen Auftritt verschaffte. In dem Augenblick, als die Zeremonie ohne uns beginnen sollte, schleiften Arbeiter eine große Holzkiste herein und brachen sie auf. Unter allgemeinem Beifall sprangen meine Mutter und ich heraus. Es war eine ihrer erfolgreichsten Inszenierungen.

Nicht alle waren frivol. Leni Stein – so ihr Künstlername, mit Mädchennamen hieß sie Silberstein – war eine erfolgreiche berufstätige Frau, als noch keine Frau in ihren Kreisen solchen Ehrgeiz hegte. Sie hatte ihr eigenes Einkommen und war finanziell unabhängig – unglaublich! Mit einem recht hübschen Mezzosopran gesegnet, unternahm sie Tourneen durch die Provinz und wurde mit freundlichen Kritiken bedacht, wenn sie die Lieder Schuberts, Schumanns und der anderen Meister sang, die auch Gerhard Goldschlags Vorbilder waren.

Meine Mutter zuckelte gern so durch die Landschaft, meistens in ihrem kleinen cremefarbenen Opel mit schwarzem Dach, den sie von ihren eigenen Einnahmen gekauft hatte. Das war revolutionär: Nur wenige Leute besaßen ein Auto, und selbst fahren konnten Frauen selten. Meine Mutter nahm mich oft zur Gesellschaft mit auf Reisen, aber einen der Ausflüge, der ungefähr eine Woche dauerte, unternahm sie mir zuliebe. Ich sollte den Geburtsort meines Vaters kennenlernen, auch wenn dieser zu viel zu tun hatte, um selbst mitzukommen.

Niemand wäre übrigens auf die Idee gekommen, mich in die Heimat meiner Vorfahren mütterlicherseits zu führen. Sie waren in Myslowitz (poln. Mysłowice) in Oberschlesien vergessen, in dem Kohlerevier, das später polnisch werden sollte. Die Verwandten meines Großvaters galten zwar aus irgendeinem Grunde nicht direkt als Ostjuden und damit zweitklassige Menschen, aber Myslowitz hatte einen undeutschen Klang. Es war nicht das geeignete Mekka für eine Pilgerfahrt.

Der Geburtsort meines Vaters Erich, Edenkoben an der Südlichen Weinstraße in der Rheinpfalz, war unzweifelhaft deutsch – zivilisiert, voller Leben, weniger als eine Stunde von Straßburg entfernt. Straßburg war uns unter dem »Schanddiktat« von Versailles weggenommen worden, bei dem sie uns sogar unsere Kolonien geraubt hatten, Länder wie Deutsch-Ostafrika mit seinen fabelhaften Briefmarken, die bei Sammlern wie mir sehr begehrt waren.

Mein Onkel Franz Weidenreich, Doktor der Medizin und der Physiologie, war Professor der Anthropologie an der Universität Straßburg gewesen. Er war die bei weitem berühmteste Persönlichkeit, die Edenkoben oder meine Familie je hervorgebracht hatten, und in allen Nachschlagewerken aufgeführt. Dieser freundliche, aber unnahbare Mann (mit einem eiförmigen Kopf wie die meisten Männer in der Familie meines Vaters) lebte schon seit mehreren Jahren nicht mehr in der Gegend, als meine Mutter und ich Edenkoben mit seinen winzigen Weingärten hinter den Häusern erreichten. Wir fuhren in dem cremefarbenen Opel, was bei den Einheimischen Aufregung verursachte. Sie hatten noch nicht viele cremefarbene Opels gesehen, weder mit noch ohne Dame am Volant.

Mein Onkel Franz war nicht da, weil ihn die Rockefeller Foundation ins chinesische Hinterland geschickt hatte, wo er zehn Jahre blieb und weltberühmt wurde, als er den Schädel des Pekingmenschen und anderer Vorfahren ausbuddelte. Für die näher verwandten Ahnen hatte er sich auch schon interessiert. Man hatte mir einen Stammbaum gezeigt, der bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückreichte, in die kleinen Marktflecken Südwestdeutschlands. Damals hatte der Familienname Weil gelautet. Er wurde wohl verändert, weil oft Familien nach ihrem Gewerbe benannt wurden, und einer der frühesten bekannten Vorfahren war Korbflechter gewesen. Er stellte Körbe aus Weidenruten her und hatte vermutlich einen großen Vorrat davon: daher der Name Weidenreich.

Es war alles hochachtbar deutsch, was ich mit Vergnügen wahrnahm, sogar noch mehr als bei den Errungenschaften meiner Verwandtschaft mit dem Familiennamen Brahn. Mein Onkel Max Brahn hatte Schopenhauer herausgegeben und kommentiert, im Ersten Weltkrieg Kampfpiloten ausgebildet und war in seinem letzten Beruf als Fachmann für Arbeitsfragen bei einer Behörde, die ihn noch zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung für unersetzlich hielt, zum Oberregierungsrat aufgestiegen. Wir waren alle stolz auf seinen Ausnahmestatus – wer konnte deutscher sein als Onkel Max? Trotzdem fand ich, dass streikende Bergleute es mit Fossilien im ländlichen China nicht aufnehmen konnten.

Nach dem Krieg stellte ich einen Antrag auf Änderung meines ehrlichen deutschen Namens in Wyden, weil er in den USA in der Aussprache dauernd entstellt und verstümmelt wurde und es mir zu mühsam schien, eine solche Last mit mir herumzuschleppen. Wenn ich wieder vor dieser Frage stünde, würde ich es nicht tun. Ich war damals zu ängstlich, zu konformistisch.

Mein Vater Erich Weidenreich war der Unterhaltungskünstler der Familie. Er war ein rosiger, kahler, lächelnder Mensch, dessen ungezwungener Charme und Esprit ihn den Coup seines Lebens hatten landen lassen: die Tochter des Chefs zu heiraten, meine Mutter. Es war ein Triumph der sozialen Durchlässigkeit, denn der Vater meines Vaters hatte es nur zum Oberaufseher des jüdischen Friedhofs in Weißensee gebracht. Diesen Posten hatte ihm die Berliner jüdische Gemeinde überlassen, nachdem er mit einem Herrenbekleidungsgeschäft in Köln Pleite gemacht hatte.

Es war ein Makel auf dem Familienregister geschäftlicher Erfolge, zu denen vor allem der Edenkobener Kurzwarenladen gehört hatte, dessen ehemaligen Standort man meiner Mutter und mir bei unserem Besuch zeigte. Aber Großvater Max (eigentlich Maximilian) machte das wett, indem er sich beim Militär einen Namen machte. Bei seinem üblichen Jähzorn trat er sicher barsch genug auf, und in seiner babyblauen Uniform der Königlich-Bayerischen Armee mit dem Leutnantssäbel sah er prächtig aus wie ein Eroberer, sodass ich auch auf ihn stolz war.

Mein Vater rebellierte gegen die väterlichen Grundsätze, wurde ein Komiker und hielt sich von bewaffneten Konflikten und allem, was dazugehörte, fern. Wegen eines leichten Asthmas gelang es ihm, im Ersten Weltkrieg kein Held zu werden, ein Mangel, der ihn nie beunruhigte. Er blieb in Staaken zurück, einem ruhigen Militärflugplatz in den Wäldern außerhalb Berlins, wo er im Dienste des Kaisers in der Offiziersmesse Zauberkunststücke vorführte.

Erich war in dem kleinen gelben Backsteinhäuschen des Oberaufsehers auf dem riesigen Friedhof aufgewachsen, wo es unter den mächtigen Bäumen immer dunkel war. In dieser trüben Atmosphäre hielt es ihn nicht. Schon als Junge begann er mit Vorstellungen in den Weißenseer Arbeiterkneipen; er zeigte Kartenkunststücke, erzählte Witze in verschiedenen deutschen Dialekten und sang endlose Couplets, satirische Liedchen über aktuelle Ereignisse und Entwicklungen, die er in späteren Jahren mir beibrachte. Mein Vater war immer von lachenden Menschen umgeben. Noch ein halbes Jahrhundert später konnte er eine Leinenserviette so falten und knoten, dass sie wie eine Maus aussah, die er dann unter dem begeisterten Quietschen meiner Söhne seinen Arm von der Hand zur Schulter hinaufhuschen ließ.

Fröhlichkeit und Charme machten meinen Vater zu einem unerhört beliebten Vertreter. Er reiste für das vornehme Textilunternehmen meines Großvaters mütterlicherseits durch ganz Deutschland und wurde von den Kunden wie der Märchenprinz seiner Branche willkommen geheißen. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der Erichs liebenswürdiger Anziehungskraft nicht erlegen wäre. Meine Mutter hatte ihm schon gar nicht widerstehen können, und ihr Vater auch nicht; er machte ihn zu seinem Partner in dem Unternehmen, das zu seiner besten Zeit 350 Leute beschäftigte.