Stille, Ekstase, Glück - Armin Heining - E-Book

Stille, Ekstase, Glück E-Book

Armin Heining

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Beschreibung

Ein Jugendlicher in der Provinz Altbayerns: hin- und hergerissen zwischen religiöser Schicksalsergebenheit und der Entdeckung seiner Sexualität. Als der Einberufungsbescheid naht, scheint es nur eine Möglichkeit zu geben. Aber hat Armin die richtige Entscheidung getroffen mit dem Eintritt ins Kloster? Kann der Zölibat wirklich seine Leidenschaft im Zaum halten? Als er während des Theologiestudiums Tür an Tür mit einem umschwärmten Mitbruder wohnt, wird seine Gewissenhaftigkeit auf eine ungeahnte Bewährungsprobe gestellt. Die Ereignisse eines heißen Sommertages setzen eine Folge dramatischer Ereignisse in Gang, die Armins Leben auf unvorhergesehene Art und Weise verändern werden. Wer steht dem jungen Mönch in den finsteren Momenten innerer Zerrissenheit bei? Wer versteht Armin aus tiefstem Herzen und kann ihm einen neuen Weg weisen? Wird die katholische Kirche seinen tiefen Fall aufhalten können? Heiliger oder Gosse, Orden oder Orgasmus, Kloster oder sexuelle Ekstase - Armin Heining erzählt in seiner ungeschönten Autobiographie packend von seinen prägenden Jugendjahren: Dem verzweifelten Ringen um ein authentisches Leben zwischen Sexualität und Spiritualität, der Hoffnung auf Heilung seelischer Verwirrungen sowie der erleuchtenden und beglückenden Erkenntnis, dass auch der verschlungenste Weg einem Plan folgt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für alle Menschen auf ihrem Weg zur Selbstwerdung

Armin Heining

Stille, Ekstase, Glück

Wie ich als Mönch meditieren lernte und spirituelles Tantra entdeckte

© 2020 Armin Heining

Umschlagbild: Adobe Stock - Stadtpfarrkirche St. Jakob in Cham/Oberpfalz

Umschlag Bearbeitung: Marko Bussmann

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-05031-0

Hardcover:

978-3-347-05032-7

e-Book:

978-3-347-05033-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Zum Autor

Armin Heining, geboren 1960, wuchs in Cham/Oberpfalz auf. Nach dem Abitur trat er in das Benediktinerkloster von Metten/ Niederbayern ein und studierte Katholische Theologie in Würzburg.

Nach Jahren tiefer innerer Auseinandersetzung und therapeutischen Prozessen verließ er 1990 im Einvernehmen die Abtei.

Seinem Herzen folgend gründete er 1992 in Nürnberg GAY-TANTRA und lebt heute als Großstadtmönch in Berlin. Von dort bereist der Autor und Regisseur zahlreicher wegweisender Lehr- und Ratgeberfilme die Welt. Als internationaler Coach lehrt er auf zwei Kontinenten seine Philosophie der Glückseligkeit: »Meditation ist die intimste Weise, mit sich – und die tantrische Vereinigung die intimste Weise, mit einem Menschen zu sein«.

www.armin-heining.com

[email protected]

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Begeisterung

Kapitel 2: Flussabwärts

Kapitel 3: Es ruft von hinten

Kapitel 4: Erleuchtung

Kapitel 5: Im Abgrund

Kapitel 6: Der neue Tag

Kapitel 7: EINS sein

Epilog

Einleitung

»Wow! Welch eine Dichte, was für einen Erfahrungsschatz du angehäuft hast.«

So begeistert habe ich den amerikanischen Yogi während meiner Workshops noch nie erlebt. Bisher kannte ich nur den würdevollen Mann mit dem zerfurchten Gesicht und den wilden Locken, der sich in stiller Zurückhaltung übte. Und nun dieser Überschwang.

»Wie gibst du deine Erkenntnisse weiter? Was gibst du den Menschen an die Hand?«

Ist das nicht offensichtlich? Schließlich ist er selbst ein Teilnehmer meines Workshops.

»Nun ja, ich gebe meine Kurse und wünsche mir natürlich, dass die Teilnehmer auf diesem Weg etwas mitnehmen, selbst ihren Weg erkennen.« Ich zögere. »Und da sind ja meine vielen Lehr- und Ratgeberfilme, die ich im Laufe der Zeit veröffentlichen durfte nebst zahlreichen Interviews mit Hintergrundinformationen.«

Die Antwort stellt nicht zufrieden.

»Kann man darin blättern, vorwärts und rückwärts, sich etwas anstreichen und Eselsohren hineinfalten, sich an raschelnden Buchseiten erfreuen, es immer wieder zur Hand nehmen und weiter verschenken?«

»Nein, wohl nicht«, antworte ich zögernd. Die Eindringlichkeit mit der Santosh zu mir spricht, die Weite der Wüstenlandschaft, die zu vollkommen neuen Denkmöglichkeiten einlädt: Auf einmal öffnen sich im Inneren ganz neue Welten.

»Immerhin führe ich schon seit vielen Jahren ein Tagebuch, in dem ich meine Gefühlswelten, Ideen und Eindrücke festhalte und schöpferisch gestalte. Natürlich schreibe ich auch meine Träume auf. Die enthalten oftmals ganz wertvolle Botschaften!«

»Aber es ist ja nicht nur das, was du notiert hast – Träume, die dich umtrieben, seien sie auch noch so bedeutungsvoll«, gibt Santosh zu bedenken.

»Da war ja mehr. Du hast dir doch nichts erspart.«

Er hat natürlich recht. Wenn ich gerade an jene Jahre zurück denke, als ich mich so furchtbar schwer getan habe mit meinem Leben, zwischen meinem fünfundzwanzigsten und siebenundzwanzigstem Lebensjahr: Das habe ich alles dokumentiert in meinem Tagebuch in der verzweifelten Hoffnung, mich irgendwie von dem enormen seelischen Druck zu befreien. Was ich aufschreibe, belastet meine Seele und Gedanken nicht mehr. Das Papier trägt dann die Last meiner Sorgen. So die ambitionierte Idee dahinter.

»Und es ist dir ja dann auch gelungen, zurück in deine Kraft zu gelangen. Du konntest beliebig oft nachlesen, wie weit du zu einem früheren Zeitpunkt schon gewesen warst. Oder was du auch schon mal gewusst hast. Weißt du …« Er macht eine kleine Pause und schaut in den Sternenhimmel.

»Es ist ein bisschen so, als holtest du dir deine Glücksmomente zurück in die Gegenwart, wenn du dich mit ihnen beschäftigst. Und irgendwann ist es selbstverständlich, die Welt anders wahrzunehmen. Zum Beispiel nicht mehr eine Zurückweisung zu erfahren, sondern im selben Moment eine Chance zu ergreifen. Nicht an eine Endstation zu glauben, sondern an die Möglichkeit eines neuen Weges, der nun vor dir liegt, weil der alte zu Ende ist. Die Situation rund um die Diakonweihe ist ein schönes Beispiel für das, was ich meine. Für diesen neuen ›Denk-Mut‹, will ich es mal nennen. Der bescherte dir ja eine ganz neue Sicht auf dein Leben. Und nun stell dir selber die Frage: Hättest du es auf deinem Weg so weit gebracht ohne Tagebücher, ohne die Bücher, die deine gesammelten Erfahrungen enthalten, auf die du zurückgreifen kannst?«

Der eindringliche Blick, die wohlwollenden Worte ergreifen mich tief in meinem Herzen. Ist da nicht etwas Wahres dran? Er hat nicht Unrecht. Gespannt warte ich auf seine nächsten Worte.

»Solltest du diese Bibliothek also nicht auch anderen zugänglich machen, die vielleicht ähnlich wie du in jenen Jahren, glauben, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben? Mehr wollen in ihrem Leben als ein mittelmäßiges ›Weiter so‹? Nicht mehr daran glauben, ihre Träume verwirklichen zu können?«

»Meinst du wirklich?« Noch habe ich leise Zweifel, auch wenn die Idee einer Veröffentlichung nicht uninteressant ist. Denn vielleicht hilft die Beschreibung meines Lebensweges wirklich anderen Menschen dabei, ihren eigenen Weg deutlicher zu erkennen, ihren inneren Kompass zu richten.

»Ja, selbstverständlich, meine ich das.«

Jetzt lacht Santosh sogar. Als gäbe es für ihn nichts Selbstverständlicheres als mir – spätabends in der kalifornischen Wüste – das nächste große Projekt ans Herz zu legen.

»Darin liegt doch gerade die Spannung, das Erzählenswerte und auch das Lehrreiche: Wie auch die verschlungenen Pfade letztendlich ans Ziel führen. Selbst dann, wenn auch der letzte Hoffnungsschimmer erloschen scheint. Selbst in vermeintlich finsterster Nacht. Der neue Tag bricht an und mit ihm erhellt das Licht eines neuen Tages deinen Pfad. Und macht Mut. Und schenkt dir die Kraft weiter zu gehen.«

»Ja!«

Aus tiefstem Herzen kann ich ihm zustimmen. Muss ich ihm zustimmen. So ist es bei mir gewesen. Gleichzeitig will ich auch die Schattenseite nicht ausklammern

»Aber es dauert natürlich. Und wie oft habe ich mich im Stillen gefragt: ›Wann hört es endlich auf zu dauern?‹«

»Natürlich dauert es. Alles braucht seine Zeit im Leben, Armin. Was mich aber so ermutigt an deiner Geschichte: Sie zeigt, dass es lohnt, den langen Weg zu gehen, mit all seinen Verzweigungen, vermeintlichen Sackgassen und immer wiederkehrenden Serpentinen. Auch wenn es dauert und anstrengend ist und sich Geschichte zu wiederholen scheint: Auch im Kreise geht es voran!«

Wie oft habe ich in den vergangenen Monaten an dieses nächtliche Gespräch am fröhlich flackernden Lagerfeuer denken müssen, wenn das Schreiben des Buches nur im Kriechtempo voranging, die Vielzahl verworfener Manuskripte meine Geduld arg strapazierte. Jahr um Jahr habe ich darauf gewartet, dass die richtige Eingebung uns endlich weiter voranbrächte: lebhaft und lebendig zu erzählen, was mir widerfahren ist, welche überraschenden Wendungen meinem Leben immer wieder neue Ausrichtung und ungeahnten Schwung gaben.

Ganz herzlich danke ich meiner treuen Begleiterin, Diella C. Nsende, die mit mir alle Versionen durchlitten hat und deren schöpferische Kraft zur erzählerischen Dynamik enorm beigetragen hat.

Gemeinsam ist es uns gelungen, die bestmögliche Version meiner Lebensgeschichte herauszuarbeiten, dichtest möglich an meiner Wahrheit.

Beinahe alle Namen habe ich geändert, um die Rechte der Persönlichkeiten zu wahren und respektvoll mit den Erinnerungen der an den damaligen Ereignissen beteiligten Menschen umzugehen.

Die beiden wichtigsten Mentoren auf dem Weg zu mir selbst haben zugestimmt, ihre Namen zu nennen: Lejonidas August – Theologe, Psychologe und Psychotherapeut, Begleiter von Menschen in der meditativen Praxis der christlichen Kontemplation und des Herzensgebetes, Autor, sowie Margot Anand – Psychologin, Begründerin von SkyDancing Tantra, Trainerin, Bestsellerautorin.

Ich hoffe, dass alle erwähnten Beteiligten sich sehr wertgeschätzt fühlen. Ich bin dankbar, dass sie mein Leben kreuzten und einige immer noch an meiner Seite sind.

Gerda Alexander hat mir durch ihr 1976 erschienenes Buch: Eutonie – Ein Weg der körperlichen Selbsterfahrung. München, Kösel, wertvolle Unterstützung gegeben, mich meinem Körper von innen heraus zu nähern.

Das von Emmanuel Jungclaussen 1984 veröffentlichten Buch: Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Freiburg: Herder, ist mir ein wichtiger Wegbegleiter geworden.

Dietrich Bonhoeffers Gedicht »Von guten Mächten« habe ich zitiert nach der Vertonung von Siegfried Fietz.

Gitta Mallasz ist mir begegnet in ihrem 1984 veröffentlichten Buch: Die Antwort der Engel. Zürich: Daimon.

Alle Bibelstellen beziehen sich auf die Elberfelder Bibel.

Das erste Tantra Buch, das ich in den Händen hielt, ist von Nick Douglas und Penny Slinger, 1986 veröffentlicht: Das große Buch des Tantra. Sexuelle Geheimnisse und Alchemie der Ekstase. Basel: Sphinx.

In meiner Erzählung geht es insgesamt nicht um Dich und mich, um Rang und Namen, Ämter und Personen, sondern um den größeren Plan, der hinter all unseren – wie auch immer gearteten – Begegnungen aufscheint. Möge sich dieser Plan Dir und mir, uns allen, immer tiefer enthüllen.

Kapitel 1: Begeisterung

Noch nie habe ich mich jemandem so geöffnet wie Ulrich, Frater Ulrich eigentlich. Aber unsere vertrauten Gespräche – in seiner bescheidenen Zelle oder während unserer ausgedehnten Spaziergänge – lassen mich vergessen, dass ich es mit einem Klosterbruder zu tun habe.

Irgendwie fliegen mir die Worte nur so zu, und es scheint das Natürlichste auf der Welt, mich einfach auszusprechen. Schlichtweg aussprechen zu wollen, was mich aufhält, blockiert, festhält, zum Stillstand und in die Erstarrung zwingt. Vielleicht komme ich ja mit meiner Situation besser zurecht, wenn ich endlich beschreibe, wie es in meinem Leben wirklich zugeht.

»Eher vertraue ich mich dem Gemeindepfarrer Ellinger an als meinem Vater«, sage ich vehement.

Unvorstellbar, ihm von Arnulf zu erzählen und dem wiederkehrenden Albtraum, der mich schon so viele Jahre heimsucht. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie mein strenger Vater reagieren würde, wenn er alles wüsste.

»Pfarrer Ellinger hört mir zu, wertet nicht. Er ist einfach modern und offen«, schließe ich nachdenklich. »Und er nimmt mich an, wie ich bin. Ich muss mich nicht rechtfertigen«, füge ich schnell einen ganz wichtigen Aspekt noch hinzu.

»Sollte ein wahrer Priester nicht so sein?« Frater Ulrich blickt mich ernst an.

»Absolut. Die einfühlsame und sanfte Art, in der ich Priester um mich herum erlebe, war mir schon immer sympathisch. Das hat mich, glaube ich, schon früh beeindruckt. Sicher ist auch das ein Grund, warum ich gerne selbst Priester wäre. Im Allgemeinen wird ihnen Respekt entgegengebracht; während des Gottesdienstes stehen sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch sonst werden Kaplan und Pfarrer von den Menschen in unserer Stadt wertgeschätzt. Ihnen haftet einfach etwas Besonderes an, finde ich.«

»Ich verstehe vollkommen, was du sagen willst: Geistliche ragen aus der Gesellschaft hervor und scheinen besonderes Ansehen zu genießen – qua Amt«, sagt Ulrich.

»Wie du habe ich mich oftmals in der Kirche eher erwünscht gefühlt als in meinem eigenen Elternhaus.« Er spricht mir aus der Seele.

»Meine Mutter führt zu Hause energisch das Wort, mein Vater bleibt still im Hintergrund. Da gab’s oft Spannungen.«

»Bei mir zu Hause steht eher Hochspannung auf der Tagesordnung«, kontere ich.

»So schlimm?«

»So schlimm!«, bestätige ich energisch und erzähle frei von der Leber weg: »Mein Vater ist furchtbar jähzornig und autoritär, auch wenn er sich nach außen hin freundlich gibt.«

Tief atme ich durch. »Bekannten hilft er bei der Steuererklärung und ist auch sonst bei Problemen für sie da. Weil er beim Finanzamt arbeitet, kennt er sich mit Steuern und Behörden aus. Aber zu Hause ist er uns gegenüber meistens schlecht gelaunt.«

Ulrich wirkt betroffen.

»Ja, ich habe das Gefühl, dass mein Vater den Druck und Zwang, den er in seiner eigenen Kindheit erlebte, einfach an mich weitergibt. Ich muss zu Hause funktionieren, auch wenn es meinem Empfinden widerspricht.«

»Magst du ein Beispiel erzählen?«

»Jeden Samstag ruft er vor dem Mittagessen: ›Armin! Schuhe putzen!‹«

Ich imitiere Vaters strengen Ton.

»Auch noch heute?«

»Auch noch heute. Auch wenn ich jetzt sechzehn bin und gerade etwas anderes mache.«

Über dieses samstägliche Ritual mit einem Außenstehen zu sprechen, macht mir nicht nur die Absurdität dessen bewusst, sondern erinnert mich auch an die Ausweglosigkeit, die ich empfinde: »Mich zu weigern, ist zwecklos. Mein Vater duldet keinen Widerspruch.«

»Oh, das kenne ich von meiner Mutter«, nickt Ulrich. »Kompromisse sind ihr vollkommen fremd. Ihr Wille ist Gesetz.«

»Früher war das aber noch schlimmer als heute. Auf der Treppe vor unserer Haustür wartete er ungeduldig auf mich. Ich musste im Eiltempo alle Schuhe der Familie aus der Küche nach draußen bringen und ordentlich vor der Tür aufstellen. Mit unseren Schmutzbürsten befreiten wir jeden einzelnen Schuh akribisch vom Straßenstaub. Auch während des Putzens ließ er mich keinen Moment aus den Augen und kommentierte alles. ›Zieh keine Schnute!‹, fuhr er mich barsch an, wenn ich lustlos wirkte. Und wenn ich nicht schnell genug vorankam, schrie er: ›Geh weiter, stell dich nicht so an!‹«

Ermuntert durch die Parallelen in unseren Familiengeschichten werde ich offener.

»Folgte ich immer noch nicht, wie er wollte, warf er die Schmutzbürste nach mir. Im zweiten Arbeitsschritt mussten wir die Schuhe sorgfältig einfetten, um sie im Anschluss auf Hochglanz zu polieren. ›Das kannst alleine machen!‹, hieß es dann. Und so saß ich immer wieder samstags vor unserer Haustür und wienerte Schuhe, während meine Spielkameraden fröhlich herumtollten.«

»Das ist natürlich demütigend. Gerade auch noch vor deinen Freunden.«

Ja, genau so fühlen sich diese Samstage an: demütigend. Obwohl wir uns kaum kennen, spricht Ulrich mir aus der Seele.

»Das Schlimmste kommt zum Schluss. Abschließend nahm mein Vater alle geputzten Schuhe gründlich unter die Lupe. Davor fürchtete ich mich am meisten: Waren sie nicht blitzblank, setzte es Prügel – vor allen anderen. Dann schämte ich mich und musste weinen. Und weil ich weinte, sperrte er mich ins Bad ein.«

»Oh weh. Was für eine schlimme Erfahrung!«

Ulrichs offenkundige Betroffenheit führt mir noch deutlicher vor Augen, wie wenig Verständnis ich zu Hause bekomme.

»Und ich kann mir vorstellen, dass es auch keinen Zweck hat, mit deinem Vater zu sprechen, nicht wahr? Wer sich autoritär gibt, glaubt natürlich auch, immer im Recht zu sein. Ist doch so, oder?«

Ich nicke stumm. Mit bemerkenswertem Scharfsinn bringt er meine Familienverhältnisse auf den Punkt.

»Leider geht es in vielen Familien so zu: Eltern sehen manches anders als ihre Kinder und dieser Standpunkt wird um jeden Preis verteidigt. Aufbegehren ist zwecklos.«

Schildert er gerade eigene Erfahrungen? Sie kommen meinen jedenfalls sehr nah.

»Manchmal fühle ich mich nur ausgebrannt. Und vollkommen allein, auf verlorenem Posten.«

»Ich weiß, wovon du sprichst. Aber was ist mit deinem älteren Bruder? Steht er dir zur Seite?«

»Kann ich nicht behaupten. Ich bin trotz Geschwistern einsam. Meine Schwester ist zehn Jahre jünger. Mein Bruder ist drei Jahre älter und versucht, auf seine Weise zurechtzukommen. Er hat ganz andere Interessen als ich. Er verbringt lieber Zeit mit unserer Schwester oder seiner Freundin als mit mir. Außerdem ist er wesentlich besser in der Schule als ich. Wirklich viele Gemeinsamkeiten haben wir nicht.«

»Hat deine Mutter denn Verständnis? Wie verstehst du dich mit ihr?«

Gute Frage. Meine Mutter ist ein ganz eigener Fall, denke ich.

»Besser als mit meinem Vater, irgendwie.« Ich zögere: »Weil sie mich schon mehr oder weniger aufbaut, wenn ich mich zurückgesetzt fühle, kraftlos bin.«

Ich nehme einen tiefen Atemzug.

»Aber wenn sie an Migräne leidet, ist ihre Unterstützung vorbei. Dann braucht sie absolute Ruhe und will nur noch für sich sein. Und ich bin buchstäblich mutterseelenallein und ohne Halt, als gäbe es sie gar nicht.«

»Das ist natürlich belastend.« Frater Ulrich nickt.

Weil er mir ein guter Zuhörer ist, drängt es mich, weiter zu erzählen.

»Und meine Mutter ist doch tatsächlich einmal mit dem Kochlöffel hinter mir hergekommen!«

»Was, wirklich?«

Ungläubig sieht er mich an.

»Ob du’s glaubst oder nicht: Eines Tages spielte ich mit meinen Freunden nach der Schule an einem Bach in der Nähe unseres Hauses. Plötzlich gab es nichts Wichtigeres als an der Mauer hochzukraxeln, die neben der Böschung aufragte. Natürlich vergaßen wir, wie spät es geworden war. Nur meine Mutter hatte die Uhr stets im Blick. Aus heiterem Himmel stand sie mit einem Kochlöffel in der Hand oben an der Mauer und schrie: ›Das Mittagessen ist seit Stunden fertig! Ich warte auf dich und du treibst dich herum! Ich habe Angst und zermartere mich vor Sorgen – und was machst du?!‹ Natürlich war es mir peinlich, vor meinen Freunden so gescholten zu werden. Ich wollte mich entschuldigen. Aber sie hörte überhaupt nicht zu, sondern schwang den Kochlöffel, als ob sie mich schlagen wollte. Dann trieb sie mich – mit drohendem Löffel – den ganzen Weg nach Hause vor sich her, als wäre ich ein Stück Vieh auf dem Weg zurück in den Stall. Später, als sie sich auf das Sofa legte, stellte sich heraus, dass sie wieder unter heftiger Migräne litt. Eigentlich hatte sie sich ausruhen wollen; aber stattdessen musste sie hinter mir herrennen, weil ich wieder nur an mich gedacht hätte. Sie hätte mehr Rücksicht von mir erwartet, ließ sie mich wissen.«

»Oh, das kenne ich. Das klingt ganz nach dem strengen Regiment meiner Mutter. Ich habe auch viel unter ihrem launischen Verhalten leiden müssen. Mit Kritik und Tadel war sie immer sehr schnell zur Stelle. Ihre Anerkennung oder ein Lob schien ich mir nie verdient zu haben.«

Sein Blick schweift gedankenverloren in die Ferne.

»Genau!«, rufe ich laut.

»Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern überhaupt etwas von mir halten. Jedenfalls habe ich nicht den Eindruck, ihnen zu genügen. Meiner Mutter bereite ich zu häufig Kummer und von meinem Vater befürchte ich immer, dass er mir mein sonniges Wesen am liebsten austreiben würde.«

Bei dem Gedanken von meinem Vater nicht so geliebt zu werden wie ich bin, treten mir Tränen in die Augen.

»Hältst du es für möglich, dass deine Eltern trotzdem das Gute in dir sehen?«, fragt er leise.

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, stelle ich nüchtern fest.

Erst das Läuten der Glocke reißt mich aus jenem Schweigen mit Ulrich, das unsere Gespräche immer wieder begleitet. Mittlerweile komme ich immer besser mit der Tatsache zurecht, tagsüber sieben Mal von der Glocke zu unserem Gottesdienst und Gebet gerufen zu werden.

›Zu unserem Gottesdienst.‹ Als sei ich schon einer von ihnen. Dabei bin ich hier im niederbayerischen Kloster Metten nur zu Besuch. Sechs Tage auf Probe – und dann mal sehen.

»Warum besuchst du eigentlich in deinen Weihnachtsferien unser Kloster?«, lautete folgerichtig eine von Ulrichs ersten Fragen.

»Weil ich mir schon sehr lange gewünscht habe, besonders die Zeit um Weihnachten abseits der häuslichen Langeweile zu erleben«, entfährt es mir überraschend ehrlich.

»Insgeheim möchte ich überhaupt noch mehr Zeit in der Anwesenheit Gottes verbringen, im Gebet die Zwiesprache mit ihm suchen. Um die Weihnachtszeit bis zum 6. Januar wünsche ich mir jetzt mehr stille Andacht und Abkehr von der Welt. Meine Eltern haben für die Familie andere Pläne. Es passt eben nicht.«

»Hm.« Ulrich nickt nachdenklich.

»Das kann ich nachvollziehen. Wenn niemand da ist, der deinen Wunsch nach der Nähe Gottes teilt, macht das einsam.«

Ich hätt’s nicht besser formulieren können.

»Stimmt genau. Nur versteht das in meiner Familie niemand. Wenigstens habe ich mit meinem Beichtvater Glück: Ihm kann ich mich bedenkenlos anvertrauen; er weiß immer einen klugen Rat und …«

»… und er hat dich auf Klöster aufmerksam gemacht«, bringt Ulrich meine Erzählung auf einen knappen Punkt.

»Hat er. Weil ich ihm erzählt habe, dass ich auf der Suche nach Gemeinschaft bin, in der ich mit meiner Sehnsucht nicht alleine bin. Kirchenbesuche sind mir zu wenig, zu kurz, zu flüchtig, bleiben nur an der Oberfläche.«

»Wieso hast du dich für uns entschieden? Es gibt einige andere Klöster im Umkreis: Schweicklberg, Niederalteich, Plankstetten, Beuron, Weltenburg.«

»Ich bin ein praktischer Mensch, Metten ist am nächsten«, entgegne ich trocken.

Wir sehen uns an und müssen beide lachen.

»Aber du merkst ja, dass dein praktischer Verstand nicht die verkehrteste Entscheidung für dich getroffen hat: der Benediktinerorden ist dem Gebet verpflichtet, aber auch der Welt zugewandt – im Gegensatz zu den strengen, kontemplativen Ordensgemeinschaften.«

»Diese Ausgewogenheit mag ich. Sie klingt ja auch in eurem Motto, also dem Motto der Benediktiner an: ›Ora et labora‹.«

»Unser Dienst ist es Gott zu loben. Die Arbeit der Mönche ist das Gebet, selbst wenn wir essen, ist das Gottesdienst.«

Mit einer Ehrfurcht, die ich selten an mir erlebt habe, antworte ich: »Ihr seid nicht zu radikal, das Pendel schwingt in keine Richtung zu weit. Dieses rechte Maß, diese innere Ausgewogenheit suche ich auch für mich selbst.«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, antwortet Ulrich mit einem freundlichen Lächeln. »Du bist noch jung, das wird schon.«

Ich bin zu jung – erst sechzehn Jahre – um eine endgültige Entscheidung jetzt gleich treffen zu dürfen. Erst muss ich das Abitur haben, dann darf ich um Aufnahme in diese Gemeinschaft bitten. Aber schon jetzt spüre ich den starken Einfluss des ›Klosters auf Zeit‹.

Zu Hause in Cham stehe ich zwar für meine Verhältnisse auch zeitig auf, um vor der Schule noch die Frühmesse zu besuchen, was mir sehr wichtig ist. Aber hier beginnt der Tag bereits um vier Uhr vierzig. Das ist gewöhnungsbedürftig. Richtig wach bin ich noch nicht, wenn ich gemeinsam mit den Mönchen das erste Gebet spreche.

Überhaupt die Gebete – morgens, mittags, abends nebst Dankgesängen nach Mittag- und Abendessen. Jeweils verschiedene Gesangbücher: dickes Gesangbuch morgens und abends, ein schmales zum Mittag. Die Sprache wechselt: Mittagsgebet auf Deutsch, die anderen in lateinischer Sprache. Das ist verwirrend. Aber ich weiß Ulrich an meiner Seite, der mir geduldig Auskunft gibt.

Kurz nach meiner Ankunft musste ich gleich ins kalte Wasser springen, weil das Abendgebet bevorstand und ich von nichts eine Ahnung hatte. Denn der Klosterritus hat wenig mit dem Gottesdienst in meiner Stadtpfarrkirche gemein.

»Meinst du denn, dass ich mich zurechtfinde? Ich will ja auch nichts falsch machen.« Nicht, dass ich die Abläufe durcheinanderbringe oder so.

»Folge mir einfach und mach mir alles nach. Du wirst am äußersten Platz im Chorgestühl stehen. Zuerst singen wir vier lateinische Psalmen«, antwortete Ulrich beruhigend.

Wenn er wüsste: auch noch Latein! Das Schulfach, das mir am meisten zuwider ist.

Ulrich schlug das Antiphonale auf, einen dicken, ledergebundenen Wälzer, und zeigte mir anhand der farbigen Lesezeichen die unterschiedlichen Gesänge.

»Dann setzen wir uns und hören aus der Heiligen Schrift. Danach singen wir das Magnificat wieder im Stehen. Es ist der feierliche Höhepunkt des kirchlichen Abendgebets, der täglich wiederkehrende Lobgesang Mariens.«

Die entsprechende Seite war mit einem lilafarbenen Band gekennzeichnet.

Punkt achtzehn Uhr war es dann so weit. Erstmals stand ich mit den Mönchen im Halbrund des Chorraumes hinter dem Hochaltar der barocken Abteikirche. Im Gegensatz zu den kalten Gewölbegängen im gleichen Stockwerk ist die Apsis stets geheizt und wohlig warm. Das dunkle Chorgestühl mit seinen aufwendigen Schnitzereien bildet einen Halbkreis mit Blick auf das kunstvolle geschnitzte Lesepult des Kantors. Über den klappbaren Sitzen ist ein kleiner Vorsprung für das Steißbein; eine spürbare Entlastung für den Körper während des langen Stehens. Frater Ulrich wies mir den für mich reservierten Sitzplatz ganz außen in der Stuhlreihe zu.

Auf den ersten Schlag der Glocke setzte das zarte Spiel der Orgel ein. Hervorgehoben an der Stirnseite erklang Abt Bertholds hohe Stimme: »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«

Mit einem lang gezogenen »Amen« antworteten alle Mönche. Auf Latein sang ich mit ihnen das kirchliche Abendgebet. Ich beobachtete den Mönch neben mir ganz genau, um mir abzuschauen, wann ich mich verneigen oder mich aufrichten sollte, wann ich sitzen, stehen oder knien musste.

Den größten Eindruck auf mich macht aber das außerordentliche Zeremoniell, das den Auszug der Mönche aus dem Chorraum zum Speisesaal begleitet: Wenn sie über die Schwelle des Chorraumes treten, wird die große, spitz zulaufende Kapuze, die zum Mönchsgewand der Benediktiner gehört, weit über den Kopf gezogen. Tief verhüllt schreiten sie in einer Prozession durch den barocken Kreuzgang zum Refektorium. Ich hinter ihnen, zivil gekleidet, bin von diesem Bild der Weltabgewandtheit sehr beeindruckt. Erst beim Eintreten in den Speisesaal fällt die Kapuze wieder.

Wenn ich den hell erleuchteten Raum betrete, stelle ich mich ebenso wie die anderen Mönche hinter meinen Platz. Während die Mönche ihre gefalteten Hände unter dem schwarzen Gewand verbergen, senke ich wie sie den Kopf und lausche dem Tischgebet des Abtes. Mit einem lauten »Amen« dürfen wir uns setzen.

Symbolisch für die Abgeschiedenheit im Kloster streifen die Mönche die Kapuzen noch einmal über. Der Blick bleibt demütig gesenkt, während das Wort aus der Heiligen Schrift vorgetragen wird.

Erst wenn die Servitoren die Suppe auftragen und die Tischlesung beginnt, nehmen sie die Kapuze wieder ab.

Alle schweigen andächtig und blicken auf den Teller. Nur der Mönch, der mit der Tischlesung betraut ist, erhebt seine Stimme. Während wir essen, liest er zuerst aus der Bibel, später aus einem Reiseroman.

An diesen Bräuchen hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert: Zur immer gleichen Stunde in der immer gleichen Weise passiert jeden Tag das Gleiche. Und im Jahre 1976 bin ich auf einmal mittendrin, darf mitwirken und die Tradition fortleben lassen. Seit an Seit mit geweihten Mönchen, als gehörte ich zu ihrem Konvent. Hier einen Platz zu haben, willkommen zu sein, ergreift mich tief in meinem Herzen.

»Wie ist dein Eindruck? Kannst du dir vorstellen, hier zu leben – oder überhaupt in einem Kloster?«

Ulrich und ich haben soeben einen Klosterrundgang über das erstaunlich weitläufige Gelände beendet. Mit den Werkstätten und Betrieben, der eigenen Stromgewinnung ist es so gut ausgestattet wie ein kleines Dorf.

Und das Hauptgebäude ist natürlich sowieso beeindruckend in seiner barocken Pracht: viel Gold, viele Engel, viele Verzierungen und überlebensgroße Statuen wie in der berühmten Barockbibliothek – das macht schon was her.

Im Kloster finden sogar öffentliche Veranstaltungen statt – das habe ich gar nicht gewusst, bis Ulrich mir den Festsaal zeigt: »Hier gibt es regelmäßig Konzertabende. Wegen der hervorragenden Akustik ist er als Veranstaltungsort sehr beliebt. Auch über die Grenzen Niederbayerns hinaus.«

Und sie schauen fern! Mit zehn rot gepolsterten Fernsehsesseln, ordentlich in zwei Reihen angeordnet, hätte ich in einem Kloster nun wirklich nicht gerechnet. Das Kloster Metten verblüfft mich immer wieder.

Aber ist es ein Ort, an dem ich leben dürfte?

»Mir gefällt vor allem die straffe Tageseinteilung«, antworte ich ausweichend.

Ulrich schaut mich überrascht von der Seite an.

»Ernsthaft? Daran stören sich die meisten Besucher. Sie hätten zu wenig persönlichen Freiraum, beklagen sie.«

Er schnaubt verächtlich.

»Naja, deswegen sind wir aber nicht hier«, bekräftige ich.

»Wir?«

»Was?«

»Du hast gerade gesagt: ›Deswegen sind wir nicht hier.‹ Siehst du dich doch schon als Klosterbruder?«

Ich lache verlegen. Der Versprecher ist mir gar nicht aufgefallen.

»Kann sein. Mir gefällt’s hier. Und ich mag diese klare Ordnung jeden Tag. Für gewöhnlich falle ich in den Ferien in ein Loch, werde launisch und unzugänglich, weil mir die Struktur fehlt. Hier geben mir die regelmäßigen Gebetszeiten Halt. Und die Gemeinschaft, die immer füreinander da ist. Das fühlt sich an wie ein schönes Leben.«

»Es ist ein gutes, sinnvolles Leben, wenn wir es gottesfürchtig führen«, entgegnet Ulrich mit einem Ernst, der mir bisher noch nicht an ihm aufgefallen ist.

»Und wenn es dir tatsächlich so gut gefällt, ist es vielleicht auch für dich das Richtige.«

Ich senke betreten den Kopf. Gerne würde ich dazu gehören.

Aber darf ich darauf hoffen, hier akzeptiert zu werden? Ich meine, es ist die katholische Kirche mit ihren strengen Glaubensgrundsätzen, die entscheidet, wer sich in einem Konvent lebenslang an sie binden darf. Nicht Ulrich, der vielleicht einige Sympathien für mich hegt. Noch. Wer weiß, wie er reagiert, wenn er die ganze Wahrheit kennt.

Das Läuten der Konventglocke zum Abendgebet enthebt mich einer Antwort. So fällt meine Schweigsamkeit nicht weiter auf. Ich gehe sozusagen in der klösterlichen Stille auf, die sich wie eine schwere Decke über die Klostergänge legt und jedes Geräusch im Keim zu ersticken scheint. In meinem Tagebuch habe ich sie als tote Stille beschrieben. Ein gewöhnungsbedürftiges Phänomen, wenn man die permanente Geräuschkulisse einer umtriebigen Familie gewöhnt ist.

Aber jenseits der Stille ist auch hinter Klostermauern überraschend viel los. Vielleicht hängt das mit der Jugend vieler Mönche zusammen. Bisher habe ich das Mönchssein eher mit dem Greisenalter – ab sechzig Lebensjahren – in Verbindung gebracht. Nun stelle ich fest, dass hier ganz viele junge Männer leben. Natürlich spricht dies für Metten: Hier sind ganz viele beinahe Gleichaltrige um mich.

Unternehmungslustige Gleichaltrige. Zwischen Abendgebet und Nachtruhe trifft man sich gerne im Erzieherbüro des dem Kloster angeschlossenen Internats. Auf persönliche Einladung Pater Jeremias bin ich schon zwei Mal dabei gewesen. Dass ein so beliebter Präfekt mich zu einem seiner fröhlichen Abende einlädt, sagt mir, ich werde akzeptiert.

Gleichwohl ist mir der Trubel schnell zu viel, zu laut, zu viele Personen, die ich nicht gut kenne, zu groß die Anstrengung, sich zu fokussieren. In den letzten Tagen möchte ich doch lieber für mich sein; meine Tagebuchaufzeichnungen vervollständigen oder alleine beten. In diesem Fall führt mich mein Weg dann in die Kapelle des Internats, außerhalb der Klausur, des abgetrennten Klosterbereichs. Es sind Weihnachtsferien, also kann ich sicher sein, dass niemand die kleine Kirche nutzt.

Ich setze mich in eine Bank und lasse die erbauliche Atmosphäre auf mich wirken: den intensiven Geruch des Weihrauchs, das ewige Licht vor dem Tabernakel, das beruhigende Halbdunkel.

»Lieber Gott, jetzt weiß ich nicht, ob ich hier bleiben soll oder lieber weggehen mit den anderen. Ich spüre, wie es in mir brennt, wie eine offene Wunde. Und ich weiß nicht, was ich gegen den Schmerz, gegen diesen großen inneren Schmerz machen soll. Was bedeutet mir mehr? Will ich lieber alleine mit mir jetzt in der Stille sein, weil du mir alles gibst? Oder liegt mir Gemeinschaft mehr am Herzen? Wo ist mein Platz? Wohin gehöre ich?«

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Ulrich mich besorgt nach dem Frühstück.

Wie aufmerksam er ist. Er bemerkt anderntags sofort, dass ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen habe und am liebsten unsichtbar bliebe.

»Geht schon«, murmele ich.

»Komm, lass uns einen Spaziergang machen. Die kühle Luft wird dir guttun.«

Widerstrebend schließe ich mich ihm an, stelle aber draußen schnell fest, dass er recht hat. Die frische Brise klärt den Geist. Und lädt mutig zum offenen Wort ein.

»Ich habe manchmal einfach Schwierigkeiten, mich neuen Situationen anzupassen«, beginne ich zögernd. Als Ulrich nichts erwidert, rede ich einfach weiter. Sein Schweigen wirkt ermunternd.

»Das ist schon immer so gewesen, dass ich mit einer gewissen Reizüberflutung nicht zurechtkomme. Ich rede nicht gerne darüber, weil ich glaube, mich lächerlich zu machen. Was ist das schon für die meisten? Ein paar Menschen mehr oder weniger? Was macht das schon für einen Unterschied? Für mich einen großen. Das war schon seit meiner Kindheit so. Während eines Skiausflugs hatte ich eine Art Zusammenbruch, weil mir die Menschen auf der Piste, meine andauernden Abfahrten zu viel waren, mich überwältigten. Da war plötzlich so ein stechender Schmerz in der Herzgegend und ein Brennen in der Brust, als hätte sich eine Wunde geöffnet. Am meisten hat mich jedoch verletzt, dass es meinen Eltern egal war. Sie haben den Vorfall zur Kenntnis genommen, aber nichts hinterfragt, keine medizinische Untersuchung veranlasst, nichts. Meine Gefühle sind bis heute kein Thema, mit dem sie etwas anzufangen wissen.«

»Eine schlimme Geschichte.«

Wie es ihm immer wieder gelingt, sein Mitgefühl in so schlichten Worten auszudrücken und mich dennoch immer zu erreichen – das tut wirklich gut.

»Weißt du, dass ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen habe?«, vertraue ich ihm leise an.

»Wirklich? Dann sprich dich nur aus. Vielleicht hilft’s dir in der Zukunft.«

Wenn das so einfach wäre. Aber vielleicht ist es ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

»Jedenfalls habe ich selber herausgefunden, dass ich nur dann nicht an meinen seelischen Schmerzen verzweifele, wenn es nur mich und Gott zu geben scheint. Nichts weiter. Nur dann bin ich von diesem unerträglichen inneren Brennen erlöst.«

»Dann ist das Gebet, der Besuch des Gottesdienstes wirklich Balsam für deine Seele …«

»… ja, wie ein Pflaster auf meiner inneren Wunde«, setze ich begeistert den von ihm begonnenen Satz fort. So verstanden zu werden ist auch schon ein Geschenk des Himmels.

»Der Klosteraufenthalt muss dann ja eigentlich ein Biotop für dich sein, in dem du regelrecht aufblühst – wenn du hin und wieder Pater Jeremias’ Einladung ausschlägst.«

Ulrich lacht leise.

»Oh. Habe ich ihn verärgert?« Das wollte ich nicht.

»Nein, schon in Ordnung, er trägt dir nichts nach. Er hat’s nur nett gemeint. Wir wollen alle, dass du dich wohlfühlst. Jeremias kann ja nicht wissen, dass du lieber für dich bist.« Ich seufze erleichtert. Dann muss ich mir wenigstens darüber keine Gedanken machen.

»Erzähl ihm bitte auch nichts von diesem Gespräch. Ich möchte, dass unter uns bleibt, was ich mir von der Seele reden musste. Das ist mir wirklich wichtig«, sage ich so flehentlich, dass es mir beinahe unangenehm ist. Aber ich bin es nicht gewohnt, jemandem so tiefe Geheimnisse anzuvertrauen, den ich erst seit wenigen Tagen kenne. Ich will nicht schwach wirken.

»Keine Sorge, Armin. Ich bin keine Petze.«

Ein Seufzer tiefer Erleichterung kommt aus meiner Brust. Ulrich findet immer die richtigen, unterstützenden Worte. Welch eine Last ist von meinen Schultern genommen. Ich fühle mich wie befreit, nehme auch meine Umgebung gleich ganz anders wahr.

Sogar die schwere klösterliche Stille drückt nicht mehr wie bisher auf meine Stimmung. Jene Ängste, die ich loslassen konnte, sind zuerst einmal fort und lauern mir nicht mehr in der Grabesstille der Klostergänge auf. Als habe sich in meinem Geist eine lang geschlossene Tür geöffnet, spüre ich nun, wie diese unerschütterliche Ruhe in mich eindringt und einen besonders weiten und lichten Raum schafft für die Begegnung mit Gott. Jetzt bin ich bereit, einzuschwingen in die gregorianischen Gesänge und den Weihnachtsjubel der Psalmengebete. In den Lobgesängen und biblischen Geschichten erkenne ich einen Spiegel für meine eigenen Gefühle: geklärt, froh und für meine Verhältnisse hoch gestimmt.

Sich in die Stille zurückzuziehen, im Schweigen zu verharren wird kurz vor Ende meines Besuchs eine zentrale Bedeutung zugemessen. Sogar die alltäglichen Arbeiten werden auf ein Minimum reduziert, um sich auf das Hochfest der Heiligen Drei Könige einstimmen zu können. Mit dem Eintritt in das tiefe Schweigen entledigen wir uns der schnöden Gedanken und kleiden uns in das Gewand, in dem wir uns voller Demut auf die Nähe Gottes vorbereiten.

Um neun Uhr am Vormittag beginnt das feierliche Pontifikalamt. Mir war bis dahin nicht bewusst, dass Abt Berthold, der im Rang eines Bischofs der Klostergemeinschaft vorsteht, auch mit den Insignien eines Bischofs ausgestattet ist: die Mitra auf dem Kopf, der Hirtenstab in der Hand und das Kreuz über seiner Brust. Unter aufbrausendem Orgelspiel zieht er vom hinteren Eingang des Kirchenschiffs in die Kirche ein. Ihm voraus die Mönche und Priester. Ich nehme in der vordersten Bank Platz, um die zeremoniellen Handlungen aus nächster Nähe verfolgen zu können. Die erhabene Stimmung hebt mich nicht nur empor und rührt mich zu Tränen, sie lässt mich auch glauben, hier könnte es einen Platz für mich geben. Dies könnte die Gemeinschaft sein, zu der ich gehören will.