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In der Hitze Algeriens ist Safia einem Mann versprochen, den sie noch nie zuvor getroffen hat. Alles in ihr sträubt sich, dem Pakt zu folgen und ihre Freiheit aufzugeben. Doch Petru, einer der uralten Karpatianer, ist ihre einzige Chance, sich gegen die bösen Dämonen zur Wehr zu setzen, die ihre Heimatstadt bedrohen. Er wiederum weiß schon lange, dass sie zusammengehören. Denn sie ist die Wiedergeburt seiner Seelenverwandten, die vor 2000 Jahren durch sein Verschulden ermordet wurde. Bevor die zwei der Anziehung zueinander nachgeben können, müssen sie jedoch Petrus gefährlichem Erzfeind gegenübertreten. Denn von Sieg oder Niederlage hängt das Leben von Safias gesamter Familie ab ...
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Seitenzahl: 634
Veröffentlichungsjahr: 2025
In der Hitze Algeriens ist Safia einem Mann versprochen, den sie noch nie zuvor getroffen hat. Alles in ihr sträubt sich, dem Pakt zu folgen und ihre Freiheit aufzugeben. Doch Petru, einer der uralten Karpatianer, ist ihre einzige Chance, sich gegen die bösen Dämonen zur Wehr zu setzen, die ihre Heimatstadt bedrohen. Er wiederum weiß schon lange, dass sie zusammengehören. Denn sie ist die Wiedergeburt seiner Seelenverwandten, die vor 2000 Jahren durch sein Verschulden ermordet wurde. Bevor die zwei der Anziehung zueinander nachgeben können, müssen sie jedoch Petrus gefährlichem Erzfeind gegenübertreten. Denn von Sieg oder Niederlage hängt das Leben von Safias gesamter Familie ab …
Christine Feehan lebt gemeinsam mit ihrem Mann und ihren elf Kindern in Kalifornien. Sie schreibt seit ihrer frühesten Kindheit. Ihre Romane stürmen regelmäßig die amerikanischen Bestsellerlisten, und sie wurde in den USA bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Auch in Deutschland erfreut sich die Autorin einer stetig wachsenden Fangemeinde.
C H R I S T I N E F E E H A N
ROMAN
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch vonAndreas Decker
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2023 by Christine Feehan
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Dark Memory«
Originalverlag: Berkley Books
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.
This edition published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Einband-/Umschlagmotiv: © Leonid Andronov/iStock / Getty Images Plus; kdshutterman / iStock / Getty Images Plus; mycola / iStock / Getty Images Plus; paul_june / iStock / Getty Images Plus
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-6141-3
luebbe.de
lesejury.de
Für Rachel Powell, mit Liebe.Jeder hat seine Dämonen, die er besiegen muss, aber niemand schafft das besser als du.Ganz egal, was in deinem Leben geschieht, du stehst auch unter den vorstellbar schlimmsten Umständen mit erhobenem Haupt da und kämpfst weiter.
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn ich einen Roman schreibe, nehmen mich die Recherchen manchmal regelrecht gefangen. In diesem Fall fand ich die Imazighen faszinierend. Je mehr ich über sie erfuhr, desto mehr wollte ich wissen. Dabei hatte ich das große Glück, einem Mann namens Anaruz Elhabib zu begegnen, einem Übersetzer, der einfach nur großartig war. Er hat nicht nur für mich übersetzt, sondern mir auch alle Fragen über Kultur, Geschichte und alles andere beantwortet, mit dem ich ihn gelöchert habe. Er hat sich mehr als nur Mühe gemacht, mir behilflich zu sein, als ich ihm Fragen stellte, die ihm meiner Meinung nach nur seltsam vorgekommen sein müssen.
Anaruz Elhabib repräsentierte alles, was ich über das Volk der Imazighen durch meine Studien in Erfahrung gebracht hatte. Er war freundlich, großzügig und geduldig. Ich wollte das Volk angemessen darstellen, auch in einem fiktiven Band meiner Karpatianer-Serie. Ich hoffe, das ist mir gelungen und dass er diesen Roman als respektvoll gegenüber seinem Volk betrachtet. Für jegliche Fehler, die ich gemacht habe, bin ich verantwortlich.
Ich möchte ihm für seine Geduld und sein Verständnis danken, so wie für die Zeit, die er sich nahm, um mir so viele Dinge über Sprache und Bräuche zu erklären. Falls jemand eine Übersetzung aus dieser Sprache benötigt, er ist schnell, effizient und äußerst zuvorkommend.
Ich hoffe, euch gefällt die Geschichte. Ich liebe die Familie, den Schauplatz und vor allem das Paar.
Liebe GrüßeChristine
Die Brise vom Mittelmeer trug die ersten Zeichen des kommenden Sturms heran. Safia Meziane stand auf dem Kamm des Hügels und blickte über das türkisfarbene Wasser, das langsam in Bewegung geriet, weil der Wind mit verstohlenen Fingern an der glasartigen Oberfläche zupfte. Der Knoten in ihrem Magen wurde noch fester, als sie zusah, wie das Meer zusehends unruhiger wurde. Für gewöhnlich liebte sie Stürme, aber heute quälte sie die Unruhe, war sie sich sicher, dass das Wetter etwas bedeutend Unheilvolleres als Blitz und Donner brachte.
»Diesen Anblick werde ich niemals müde«, sagte Amastan Meziane, den Blick hinaus auf das Meer gerichtet. »Als junger Mann stand ich mit meinem Vater genau an dieser Stelle und fühlte mich vom Glück begünstigt, an diesem Ort leben zu können.«
»So wie ich auch«, gestand Safia und sah ihren Großvater an.
Safias Familie waren Imazighen. Außenstehende bezeichneten sie manchmal als Berber. Der Familie gehörte ein sehr erfolgreicher Bauernhof in den Hügeln oberhalb von Dellys. Sie hatten einen außergewöhnlichen Blick auf das Meer und den Hafen dieser Stadt. Auf dem Landwirtschaftsbetrieb wurden die verschiedensten Tiere gehalten, hauptsächlich Schafe und Ziegen. Die gewonnene Wolle wurde für die Kleidung und die Teppiche gesponnen und gefärbt, die sie auf dem Markt verkauften oder von der Familie, in die Safias älteste Schwester eingeheiratet hatte, durch die Sahara zu auswärtigen Märkten gebracht wurden. Andere Familienmitglieder stellten Schmuck oder Töpferwaren her. Alle trugen zu dem Erfolg des Haushalts, des Bauernhofs und des Stammes bei.
Ihr Großvater Amastan war der anerkannte Führer der Familie. Genau wie er hatte sich Safia stets glücklich geschätzt, in diese Familie geboren worden zu sein. Dort zu leben, wo sie lebte. Auf dem Familienhof groß zu werden. Sie hatte zwei ältere Schwestern, die sie abgöttisch liebten, und drei ältere Brüder, die sie wie einen kostbaren Schatz behandelten, genau wie ihre Eltern und Großeltern. Alle schufteten auf dem Hof. Als ihre älteste Schwester Illi geheiratet und mit ihrem Mann Kab gegangen war, hatte sich niemand über die nun zusätzlich anfallende Arbeit geärgert. Sie freuten sich für Illi, aber Safia vermisste sie schrecklich und freute sich auf den Augenblick, an dem sie von ihren Reisen zurückkehrte.
Amastan seufzte. »Unsere Familie hat über Jahrhunderte gute Phasen erlebt, Safia. Wir können uns nicht beklagen. Wir haben immer gewusst, dass dieser Augenblick kommen wird.«
Er fühlte es auch. Sie bildete es sich nicht ein. Diese Sturmböen trugen das Böse mit sich. Still und leise hatte es ihren Hof infiziert. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst, aber ihr Bestes getan, es als unbegründete Einbildung abzutun. Die Zahl der Schädlinge hatte sich plötzlich vervielfacht. Vor drei Wochen hatte sie die Spuren eines unbekannten Raubtiers entdeckt. Vor einer Woche hatten mehrere wilde Tiere in der Nähe der Klippen eine Ziege ausgeweidet. Was für welche es auch immer waren, sie schienen immer im Boden zu verschwinden, wenn sie versucht hatte, den Spuren zu folgen. Es war jedenfalls mehr als eines gewesen, aber sie konnte die genaue Zahl einfach nicht herausfinden.
»Ich liebe es, wie Dellys aussieht, Jeddi, Tag oder Nacht. Wie sich die schönen modernen Bauten einfügen, die nahe der alten Ruinen errichtet wurden, und die seewärtigen Ruinen auf dem Hügel. Ich liebe die Sonnenauf- und untergänge, das Meer mit seinen Farben und ständig wechselnden Stimmungen, die Märkte und die Menschen. Dellys ist so modern, und dennoch liegen unsere Kultur und unsere Geschichte direkt vor unseren Augen, wo sie jeder sehen kann. Und auf den Hügeln stehen die Artefakte unserer Geschichte. Wir sind genauso. Unsere Familie. Sie ist wie Dellys. Nach außen hin modern. Jeder, der uns sieht, würde uns für progressiv halten.« Sie liebte ihr Leben. Und vor allem liebte sie den großen Stamm, den sie ihre Familie nannte.
Safia sah ihren Großvater nicht an; ihr Blick blieb auf die Schönheit der See gerichtet. Die Frauen ihrer Familie waren im Gegensatz zu denen vieler anderer Stämme hervorragend gebildet. Sie sprachen Tamazight und Arabisch, darüber hinaus hatten sie Französisch und Englisch gelernt. Safia hatte außerdem eine uralte Sprache lernen müssen, die sonst niemand hatte meistern müssen. Ihre Großmutter und Mutter konnten sie sprechen, und Aura, eine ihrer Freundinnen, war Expertin in dieser Sprache, also hatte sie das Glück, sich zusammen mit ihr darin üben zu können. Sie hatte nie infrage gestellt, warum sie eine so alte Sprache hatte lernen müssen, die in diesen modernen Zeiten sonst niemand benutzte. Wenn ihr Großvater oder ihre Großmutter etwas anordneten, wurde das für gewöhnlich gehorsam getan.
Ihr Großvater vertrat nicht nur die Ansicht, dass sie ihren Horizont erweitern sollten; er bestand auch darauf, dass seine Töchter und Enkelinnen den Umgang mit Waffen erlernten und im waffenlosen Kampf genauso gut wie die Männer der Familie waren. Die Frauen kümmerten sich um den Haushalt, aber sie arbeiteten auch auf dem Hof. Sie lernten alles Nötige zu tun und wurden stets als geschätzte Mitglieder der Sippe behandelt. Gab es Probleme zu lösen, wurden ihre Stimmen gehört. Es war alles sehr zukunftsweisend und unterschied sich häufig von den Traditionen der anderen Stämme.
Ihr Großvater arrangierte Ehen auf die althergebrachte Weise. Sein Wort war Gesetz. Er forderte viel von den Männern, die sie heirateten. Safia wollte sich nicht vorstellen, was geschehen würde, sollte er jemals herausfinden, dass man seine Töchter oder Enkelinnen schlecht behandelte. Außenseitern erschien Amastan sehr streng, aber er war ein Mann der leisen Töne und fair. Niemand wollte ihn jemals gegen sich aufbringen. Und wenn es doch einmal geschah, hatte er die ganze Familie hinter sich; nicht dass er das gebraucht hätte. Er war eine Kraft, mit der man rechnen musste.
»Wir müssen rein, Safia. Ich habe deinem Vater gesagt, er soll die Familie zusammenrufen. Wir können das nicht länger vor uns herschieben. Du wirst die Karten lesen, und ich beratschlage mich heute Nacht mit den Ahnen. Wir müssen genau wissen, womit wir es zu tun haben und wie viel Zeit uns bleibt, um uns darauf vorzubereiten.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter, als wüsste er, dass sie eine Ermunterung brauchte.
Ihr Herz sank. All die Jahre hatte sie sich eingeredet, dass die Geschichten, mit denen sie aufgewachsen war, einfach nur seit Jahrhunderten überlieferte Mythen waren. Sie waren nicht real. Dämonen und Vampire gehörten genauso wenig in die moderne Welt wie die Legenden, die in ihrem Teil der Welt aufgekommen waren.
»Ich habe versucht, nicht daran zu glauben, Jeddi«, gestand sie. »Seit meinen ersten Schritten habe ich gelernt, diese Dinge zu bekämpfen, und ich habe täglich die Karten gelesen, aber ich habe es trotzdem nicht geglaubt.«
»Du hast daran geglaubt, Safia, sonst hättest du dich nicht so hart dafür geschunden. Du bist sehr diszipliniert, mehr als es deine Mutter und Großmutter jemals waren. Du hast auf dem Hof oder im Haus gearbeitet, auch hast du dich niemals vor deinen Waffenübungen gedrückt. Du hast daran geglaubt. Du hast nur wie wir alle gehofft, dass das Böse nicht zu unseren Lebzeiten aufersteht.«
Sie musterte ihren geliebten Großvater. Zum ersten Mal wurde sie sich der tiefen Sorgenfalten bewusst, die sich in sein Gesicht gegraben hatten. In dem verblichenen Blau seiner Augen lag Unbehagen. Das allein machte die vielen Male, in denen sich ihr Instinkt gemeldet hatte, und den Knoten in ihrem Magen sehr real.
»Als du geboren wurdest«, fuhr er fort, »wussten wir Bescheid. Deine Großmutter, deine Mutter und dein Vater. Ich wusste es. Ich habe Kontakt zu den Ahnen aufgenommen, nur um sicher zu sein. Niemand von uns wollte, dass es die Wahrheit ist, aber in dem Augenblick, in dem du zur Welt gekommen bist, konnten wir alle sehen, dass du anders bist. Du wurdest mit besonderen Gaben geboren.« In seiner Stimme lag Trauer. »Du wurdest mit grünen Augen geboren.«
Das war richtig, sie war die Einzige in der Familie mit grünen Augen, aber warum sollte das einen Unterschied machen? Doch sie stellte seine Worte nicht infrage. »Ich habe mich darauf vorbereitet«, flüsterte sie. »Aber selbst jetzt, wo ich das Böse im Wind spüre, fühlt es nicht real an. Obwohl ich genau weiß, dass die Unfälle auf dem Hof tatsächlich Angriffe auf unsere Familie waren. Ich weiß das, aber mein Verstand will die Wirklichkeit nicht anerkennen.«
Sie drehte sich um und blickte auf Dellys, das sich in der Ferne ausbreitete. »All diese unbekannten, unschuldigen Menschen, die dort leben. Die Restaurants. Die Geschäfte. Der Markt. Ich liebe den Markt. Niemand ist sich der kommenden Gefahr bewusst. Es ist ja nicht so, dass Soldaten auftauchen und sie angreifen, dass sie den Feind sehen könnten. Würden wir sie warnen, niemand würde uns glauben. Ich wüsste nicht einmal, was wir ihnen sagen sollten.«
»Du weißt noch nicht, womit du es zu tun hast«, bemerkte Amastan mit sanfter Stimme. »Ich habe es dir schon oft gesagt, Safia, bereite dich vor, aber mach dir keine Sorgen über Dinge, über die du keine Kontrolle hast – das vielleicht oder auch nicht passieren wird. Davon hast du nichts. Wenn du keine Ahnung hast, wer oder was dein Feind ist, und du darüber grübelst, machst du ihn viel stärker und mächtiger, als er ist.«
Sie wusste, dass ihr Großvater recht hatte. Sie vertraute ihm. In ihrer ganzen Jugend hatte sie nicht erlebt, dass er einen falschen Rat gegeben hätte. Er dachte immer erst nach, bevor er sprach, und sie hatte gelernt, sich seine Worte zu Herzen zu nehmen.
Noch einmal blickte sie auf den Hafen. Der Hafen von Dellys war klein, lag in der Nähe der Mündung des Sebaou, östlich von Algier. Viele der Männer, die in Dellys lebten, waren Fischer, Seeleute oder Steuermänner. Die Fischer lieferten ihren frischen Fang täglich an die örtlichen Restaurants. Mit all den Booten und Lichtern war der Hafen wunderschön, wirkte so fortschrittlich. Alles sah aus wie aus diesem Jahrhundert. Der flüchtige Blick auf seine Schönheit ließ nicht ahnen, dass es ihn schon seit prähistorischen Zeiten gab.
»Wir müssen gehen«, wiederholte Amastan. »Die anderen werden auf uns warten. Hoffentlich hat Amara ein genießbares Essen für uns zubereitet.«
Amara war mit Safias ältestem Bruder Izem verheiratet. Sie mochte Amara. Wer nicht? Sie verstand nicht, wie diese Paarung funktionierte, aber das tat sie perfekt. Amara bewegte sich wie ein Tornado durch das Haus und den Hof, eine Katastrophe jagte die nächste. Doch bei allem war ihr Lachen ansteckend. Sie war aufgeweckt und fröhlich, stets bereit, mit anzupacken und zu helfen, willig, jeden Bereich in der Landwirtschaft zu lernen. Sie wollte Izem ganz klar eine gute Ehefrau sein, aber ihre Jugend und ihr Überschwang waren gepaart mit ihrer völligen Unerfahrenheit und unbeholfenen Energie – und manchmal war das das Rezept für eine Katastrophe.
Zugleich war sie eine erstaunliche Juwelierin. So ungeschickt sie sich auf dem Hof anstellte und über die eigenen kleinen Füße stolperte, hätte man eigentlich glauben sollen, dass sie unmöglich die feinen Halsketten und Ohrringe fertigen konnte, die sie herstellte. Ihre Kunstwerke waren exquisit und sehr begehrt. Deshalb war sie eine Bereicherung für die Familie, aber vor allem machte sie Izem glücklich.
Obwohl die beiden völlig gegensätzlich zu sein schienen, war Izem äußerst zufrieden mit Amara. Er war ein sehr ernsthafter Mann. Er ähnelte Amastan sowohl in seinem Aussehen als auch in seiner Persönlichkeit. Sein Name, der »Löwe« bedeutete, sagte genau, wer er war und wofür er stand. Er würde einmal das Oberhaupt seiner Familie werden. Er war ein Mann, auf den man sich verlassen konnte, und vielleicht war genau das der Grund, warum diese Ehe so gut funktionierte. Amara brauchte die Sicherheit, die Izem vermittelte, und er brauchte den Spaß und die Fröhlichkeit, die sie ihm gab.
Safia liebte es, ihren ältesten Bruder und seine Frau zusammen zu sehen. Zugleich hatte sie ein wenig Angst davor, welchen Ehemann ihr Großvater für sie wählen würde. Es hatte schon mehrere Bemühungen gegeben, die er jedes Mal mit der Begründung abgelehnt hatte, sie sei bereits einem anderen Mann versprochen. Er hatte ihr nie erklärt, was er damit meinte. Sie hatte bislang keinen Mann kennengelernt, dem sie zur Ehe versprochen war. Ihr Vater schien das Dekret ihres Großvaters zu akzeptieren, ebenso wie ihre Brüder. Niemand stellte ihren Großvater jemals infrage, und aus irgendeinem Grund konnte sie sich ebenfalls nicht dazu durchringen, nicht einmal bei einem so wichtigen Thema. Izem und Amara so glücklich zu sehen, gab ihr das Gefühl, dass sie eine Chance hatte, mit einem Mann, einem Fremden, glücklich zu werden, den ihr Großvater für die richtige Wahl für sie hielt.
Sie gingen Seite an Seite über das Feld und in Richtung Haus. »Dein Bein schmerzt«, bemerkte Amastan. »Du wurdest heute verletzt.«
Sie hinkte nicht. Sie hatte darauf geachtet, keine Anzeichen von Schmerz zu zeigen. Sofort fühlte sie sich beschämt. Wie sollte sie ihre Familie beschützen, wenn Amastan ihr Unbehagen so leicht wahrnahm? Ihre Feinde würden das genauso leicht erkennen und im Kampf ausnutzen können. All die Jahre der Ausbildung, und sie konnte nicht einmal eine einfache Verletzung verbergen?
»Ich bin nicht bereit, Jeddi«, flüsterte sie. »Wenn ich nicht einmal eine einfache Verletzung vor dir verbergen kann, wie soll ich dann den Hof verteidigen? Oder unsere Familie? Wie kann ich die Menschen in der Stadt verteidigen?«
»Yelli, ich habe den Riss in deiner Hose sowie den Schmutz und die Blutflecken gesehen«, sagte er sanft. »Du hast nichts durch dein Verhalten oder deine Mimik verraten. Der Zustand deiner Kleidung sagt mir, dass etwas passiert ist.«
»Ich hatte heute einen kleinen Unfall, als ich die Schafe von der hinteren Weide trieb. Sie waren viel zu nahe an der Klippe und sehr unruhig.« In derselben Gegend hatte es diese seltsamen Spuren gegeben. Sie hatte danach gesucht.
Sie schaute nicht zu ihm hoch, aber sie spürte seinen durchdringenden Blick, der sich durch ihren beiläufigen Tonfall nicht irritieren ließ und die Wahrheit erkannte.
»Safia?« Er blieb abrupt vor dem Haus stehen.
Es war keine Frage, es war ein Befehl. Widerstrebend stoppte sie ebenfalls und zwang sich, zu ihm hochzusehen, hielt dabei ihre Handschuhe vor den Körper, als könnte das dünne Leder sie vor seiner strengen Musterung schützen. Seine Augen wanderten über sie, musterten sie Zentimeter für Zentimeter.
»Das war kein Unfall, genauso wenig wie das, was mir oder einem der anderen geschehen ist, Safia. Wir können das nicht länger verleugnen. Wie schwer wurdest du verletzt?«
Sie presste die Lippen aufeinander und erlebte noch einmal den schrecklichen Moment, als der Klippenrand nachgab und sie stürzte. Sie hatte nach Felsen und dürren Baumwurzeln gekrallt, als sie über die Kante rutschte. Es war ihr wie eine Ewigkeit erschienen, bis sich ihre Finger in die Erde und die Wurzeln gegraben und ihre Fingerspitzen einen unsicheren Halt gefunden hatten.
Sie klammerte sich daran fest, ihre Beine baumelten, ihr Herz pochte, ihr Kopf lehnte sich an ein zähes Seil aus knorrigen Holzfasern.
Aus allen Richtungen krochen Insekten aus der feuchten Erde auf sie zu. Bissige Käfer schwärmten um ihre Hände und ihr Gesicht. Ein Falke hatte einen Schrei ausgestoßen und sich aus dem Himmel direkt auf sie gestürzt. In diesem Augenblick war ihr klar geworden, womit sie es zu tun hatte, und Ruhe war eingekehrt. Sie zwang sich zu atmen und griff auf ihre Ausbildung zurück, um nicht in Panik zu geraten.
Das Böse war auf den Hof ihrer Familie gekommen. Sie konnte es nicht länger leugnen, so sehr sie es auch wollte. Seit drei Wochen wusste sie, dass die kleinen »Unfälle«, die sich ereigneten, Angriffe auf ihre Familie waren. Sie fühlte sich schuldig, dass sie nicht in der Lage gewesen war, die Tiere oder ihre Familienmitglieder vor der eskalierenden Gewalt zu schützen. Nur hatte sie keine Ahnung, wie sie sie aufhalten sollte, denn sie wusste nicht, wie sie etwas bekämpfen sollte, das sie nicht sehen konnte. Jetzt, in diesem Augenblick, attackierte das Böse sie, als wüsste es, dass sie die hauptsächliche Verteidigerin war.
»Ich war mehr verängstigt als alles andere. Ein paar Schrammen und blaue Flecken.« Sie hatte die Zehen zwischen die Felsen gegraben, um Halt zu finden, und mit dem Geist nach dem Falken gegriffen. Sie hatte Gaben – unglaubliche Gaben, mit denen sie geboren worden war. Bis zu diesem Augenblick hatte sie es einfach nur cool gefunden, die Fähigkeit zu besitzen, mit Tieren in Kontakt zu treten, aber der Falke ließ im letzten Moment von ihr ab und zog auf ihr Kommando hin scharf hoch.
»Abschürfungen«, korrigierte ihr Großvater.
Sie nickte. »Als ich die Klippe hinaufkletterte, ragten ein paar zackige Felsen heraus. Es war eigentlich mehr der Schrecken, als ich spürte, wie der Boden unter mir nachgab und ich mir dann eingestehen musste, dass all diese kleinen Unfälle eigentlich gar keine Unfälle waren.«
Ihr Großvater sah sie unverwandt an.
Sie seufzte. »Ich bin wund und erschüttert, aber es ist wirklich nichts gebrochen oder verstaucht, also bin ich glimpflich davongekommen.«
Ihr Großvater schwieg viel zu lange, dachte über ihre Enthüllung nach. In der letzten Zeit hatte es zu viele kleine Unfälle gegeben. Sie beide waren sich in den letzten Wochen bewusst geworden, dass etwas nicht stimmte. Auch ihr Vater war misstrauisch geworden. Selbst ihre Brüder verhielten sich merkwürdig still und hatten besorgte Blicke untereinander getauscht.
»Bist du sicher, dass alle Tiere für die Nacht drinnen sind?«, fragte Amastan.
Safia nickte. »Usem und Farah haben die Schafe hereingebracht.«
Ihr Bruder Usem und seine Frau Farah waren schnell darin, Schafe zu treiben. Sie war sich sicher, dass Usem seine eigene Gabe im Umgang mit Tieren hatte. Sie schienen immer auf ihn zu reagieren, vor allem die Schafe. Usem war der Drittälteste und arbeitete wie Izem schwer, war aber viel eher dazu geneigt, sich die Zeit zu nehmen, seinen Geschwistern Streiche zu spielen und zu lachen. Farah war ruhig und sanft, ihr Blick folgte Usem liebevoll. Sie war eine sehr gute Köchin und tat ihr Bestes, Amara beim Lernen zu helfen. Sie behandelte ihre Schwägerin wie eine jüngere Schwester und hatte sie mit offenen Armen empfangen.
»Badis und Layla haben sich um die Ziegen gekümmert und sie in den Unterstand gebracht«, fuhr sie fort. Sie drehte sich um und ließ die Blicke über ihr Land schweifen.
Layla war fast so groß wie Safias Bruder Badis. Layla war selbstbewusst und schön. Es gab nur wenig, was sie nicht konnte. Im Kampf war sie genauso gut wie als Haushälterin und Teppichknüpferin. Auch sie war gütig und zeigte Amara gegenüber unendlich viel Geduld. Badis und Layla passten wunderbar zusammen und waren nie weit voneinander entfernt, besonders jetzt, da Layla schwanger war.
Ihr Großvater lachte unerwartet. »Dann müssen deine Schwester Lunja und Zdan die Hühner mit ihren Kindern zusammengetrieben haben.«
Trotz des Ernstes der Lage konnte auch Safia sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre beiden Neffen und ihre Nichte liebten die Hühner. Sie verbrachten einen Großteil ihres Tages damit, ihnen hinterherzujagen, Namen zu geben, Eier einzusammeln, neue Nester zu finden – was auch immer sie tun konnten, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Die Hühner hatten meist freien Auslauf auf dem Hof, sie wurden nur nachts reingebracht, wenn Raubtiere sie angreifen und fressen konnten. Die Kinder waren sehr begeistert von ihrer Arbeit.
Zdan, Lunjas Ehemann, war ein Hüne von Mann, der größte in der ganzen Familie. Auf einen Außenstehenden wirkte er zweifellos einschüchternd. Aber es fiel schwer, ihn als Furcht einflößend zu empfinden, wenn seine Kinder sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an seine Arme und Beine klammerten oder auf seinen Schultern ritten. Lunja sah ihn an, als ginge mit ihm jeden Morgen die Sonne auf, und wahrscheinlich war das für sie auch so.
»Ich liebe meine Familie so sehr, Jeddi«, flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Großvater. »Ich habe solche Angst, dass ich sie nicht beschützen kann. Mein Verstand will nicht wirklich anerkennen, was passiert, weil ich befürchte, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen bin. Wenn einem von euch etwas zustoßen sollte, weil ich nicht hart genug trainiert habe …« Sie verstummte.
In all den Jahren hatte sie ihre Ausbildung als Spaß betrachtet. Sie war extrem schwierig und anstrengend gewesen, aber Safia hatte schnelle Reflexe, die sich mit zunehmendem Alter noch steigerten. Jeder Muskel und jede Zelle in ihrem Körper sang, wenn sie rannte oder kletterte oder Waffen in die Hand nahm oder sich im Nahkampf behauptete.
»Du bist bereit, Safia«, versicherte ihr Amastan. »Du musst Vertrauen in dich selbst und in deine Ausbildung haben. Du wurdest auserwählt. Du hast zwei ältere Schwestern, aber die Gabe wurde keiner von ihnen gegeben. Sie wurde dir verliehen. Du wurdest mit diesen Talenten geboren, Safia. Als du mit deinen Brüdern und deinem Vater trainiert hast oder mit deiner Mutter und deiner Großmutter oder Aura, war niemand schneller oder intuitiver als du. Das musst du wissen.«
Sie atmete tief ein und aus, bevor sie nickte. »Ich hätte nur nie geglaubt, dass es so weit kommen würde.«
»Das wollte keiner von uns, nicht zu unseren Lebzeiten, aber es ist nun einmal so, und wir werden alles tun, was nötig ist, um unsere Feinde zu besiegen, so wie es unser Stamm seit über zweitausend Jahren getan hat.« Er öffnete die Tür und winkte sie ins Haus.
Sofort reagierte Safias Magen auf den köstlichen Duft, der das Haus erfüllte. Amara war in der Küche fleißig gewesen, und ihre Bemühungen erfüllten das Haus mit einladenden Aromen. Es roch nach einem Tajine-Gericht, einem köstlichen Eintopf, den Safia nach einem langen Arbeitstag auf dem Feld besonders gern aß. Plötzlich war sie sehr, sehr hungrig. Sie wusste, dass Amara sich große Mühe gegeben hatte, das Essen in dem Lehmgefäß genau richtig zuzubereiten.
Jede Speise in einer Tajine wurde langsam gekocht – in der Regel mit Lamm oder Geflügel. Gemüse, Nüsse und manchmal sogar Trockenfrüchte konnten hinzugefügt werden. Je nachdem, ob es sich um eine Gemüse-, Geflügel- oder Lamm-Tajine handelte, wurden Gewürze wie Ingwer, Zimt und Kurkuma sowie eine ganze Reihe anderer verwendet. Amara hatte Probleme mit den Gewürzen, manchmal warf sie alle möglichen Zutaten und Kräuter in den Eintopf oder versuchte, ihn erst süß und dann herzhaft zu machen. Aber sie hatte nie aufgegeben und war fest entschlossen, das Handwerk des Kochens zu meistern.
Zu dem Eintopf hatte Amara frisches Brot gebacken, und zumindest darin war sie sehr gut. Zum Nachtisch gab es Couscous – die Lieblingsspeise ihres Großvaters. Amara tat sich auch damit oft schwer. Safia wusste, wie wichtig es ihr war, das Essen richtig hinzubekommen. Amastan verlor nie ein Wort darüber, wenn das Dessert teigig oder zu süß ausfiel. Obwohl Amara über sich selbst lachen konnte, stand für Safia nie infrage, dass sie enttäuscht war, wenn das Essen nicht gelang. Safia hoffte, dass Amara bei dieser Arbeit noch den Dreh finden würde.
Die Familienmitglieder wuschen sich und versammelten sich zum gemeinsamen Essen. Nach dem Gebet wurde viel gelacht, als der heiße Eintopf in Tonschalen serviert wurde, die ihre Vorfahren hergestellt hatten. Dies war Safias liebste Zeit des Tages. Sie wusste, dass das nicht bei allen Familien so war, aber in diesem Haus wurde man dazu ermuntert, miteinander zu reden, zu lachen und den Tag zu teilen.
Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie klug Amastan handelte, indem er Familienmitglieder dazu ermutigte, ihre Meinung zum Hof, den Gärten, dem Vieh und sogar zu den Kindern zu äußern. Ihre Brüder hatten sich das benachbarte Land um das ursprüngliche Ackerland gesichert, das über Generationen hinweg weitergegeben worden war, und damit zu dem florierenden Familienunternehmen beigetragen. Der Viehbestand war gesund, der Boden ertragreich, und jedes Mitglied der Familie war unermüdlich tätig, um schöne Teppiche, Töpferwaren, Schmuck und Kleidung zu fertigen und zu verkaufen. Viele ihrer Produkte wurden von ihrer ältesten Schwester Illi und deren Mann Kab durch die Sahara zu den Märkten im Nahen Osten gebracht. Kabs Familie war eine der wenigen, die sich in der Sahara auskannten und wussten, wo man Wasser finden konnte.
Alle in Kabs Familie waren Kunsthandwerker. Illi war bei ihnen willkommen gewesen, nicht nur, weil sie Kabs Interesse erregt hatte, sondern weil sie die alten Methoden zur Herstellung von Töpferwaren kannte, und ihre Arbeiten waren begehrt. Ihre Großmutter hatte sie die Geschichte und die Entwürfe gelehrt, die Jahrhunderte zurückreichten. Illi beherrschte diese Fertigkeiten nicht nur, sondern konnte sie auch an neue Generationen weitergeben.
Safia wurde wieder einmal klar, wie schwierig die Aufgabe ihres Großvaters als Oberhaupt des Stammes und der Familie wirklich war. Es musste eine große Herausforderung sein, andere in die Familie aufzunehmen, wo sie doch so viele Geheimnisse hatten. Sie schaute sich am Tisch um und erkannte, wie sorgfältig Amastan diejenigen ausgewählt hatte, die in den inneren Kreis aufgenommen worden waren.
Die Neuen mussten loyal und bereit sein, Geheimnisse zu bewahren. Sie mussten jeden Tag trainieren, um sowohl wie moderne als auch wie Krieger der Vergangenheit kämpfen zu können. Jeder, der Teil der Familie wurde, musste sich mit seiner Persönlichkeit in eine bereits eng zusammengeschweißte Einheit einfügen und lernen, ihre sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen zu akzeptieren. Das war keine leichte Aufgabe. Jede der auserwählten Bräute hatte dies getan, genau wie Zdan, Lunjas Ehemann.
Für einen Mann war es ungewöhnlich, sich der Familie seiner Frau anzuschließen, statt sie in seine Familie zu holen. Zdans Familie war sehr klein geworden. Seine beiden Schwestern hatten geheiratet und das Haus verlassen. Seine Eltern waren tot. Eine Tante war ihm geblieben, und er hatte angeboten, sie bei sich aufzunehmen, aber sie hatte sich entschieden geweigert. Er schaute täglich nach ihr. Sie war sehr festgefahren in ihren Gewohnheiten. Safia wusste, dass Zdans Tante Amastan nie als Familienoberhaupt hingenommen hätte. Er war ihr nicht traditionell genug.
Safia entging nicht, wie besorgt Amara aussah, als alle mit der Tajine begannen. Zweimal wanderte ihr Blick zu Izem, und er neigte sich ihr zu und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Safia führte langsam einen Löffel mit Eintopf zum Mund in der Erwartung, dass er bestimmt kaum besser schmeckte als das letzte Mal, als Amara ihn zubereitet hatte, aber an diesem Abend war er weitaus delikater. Die Mischung der Gewürze war nahezu perfekt.
Safia sah sie über den Tisch hinweg an und konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen. Sie wollte keine große Sache daraus machen, dass die Tajine so gut war, denn das könnte Amara in Verlegenheit bringen und auf die vielen Gelegenheiten hinweisen, bei denen sie versagt hatte.
»Charif«, sagte Amastan mit einem vorgetäuschten Stirnrunzeln. »Bist du mit deiner ersten Portion schon fertig? Lass noch etwas für die Älteren übrig.«
Charif blickte verwirrt zu seinem Vater auf, den Löffel schon halb im Mund. Zdan zerzauste ihm das Haar und beugte sich hinunter, um mit überlauter Stimme zu flüstern. »Ich habe einen viel längeren Arm, Charif. Ich besorge dir noch eine Portion.«
So zu tun, als würde man sich um den Eintopf streiten, war der perfekte Weg, Amara zu vermitteln, dass sie alles richtig gemacht hatte und alle ihre Bemühungen dankbar verspeisten. Safia beobachtete wieder den Austausch zwischen Amara und Izem. Diesmal standen Amara Tränen in den Augen, die sie hastig wegblinzelte, und Izems Gesicht zeigte Stolz. Er lächelte sie liebevoll an. Der Blick, den ihr ältester Bruder seiner jungen Frau zuwarf, reichte aus, dass Safia sich einen Augenblick lang wünschte, nicht so allein zu sein, besonders jetzt, wo sie etwas Bösem gegenüberstanden und ihre Familie sich darauf verließ, dass sie die Verteidigung übernahm.
Sie spürte den Blick ihres Vaters, und sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, von dem sie hoffte, dass es beruhigend war. Als ihre Mutter noch gelebt hatte, hatte Gwafa Meziane immer Lachfalten um seine strahlend blauen Augen und ein Lächeln für seine sechs Kinder gehabt. Er hatte seine Frau unentwegt geneckt, sie war seine ständige Begleiterin und Ratgeberin gewesen. Er arbeitete schwerer als jeder andere in dem Betrieb. Seinen Kindern gegenüber war er liebevoll, aber wenn es darum ging, sie im Umgang mit Waffen und in der Selbstverteidigung zu unterrichten, war er genauso hart und fordernd wie Amastan, ihre Großmutter oder ihre Mutter, sogar wie ihre Freundin Aura.
Seit dem Tod von Safias Mutter waren Gwafas Lachfalten verschwunden, und sein Lächeln war verblasst. Einige der »Unfälle« auf dem Hof schienen ihm und Amastan gegolten zu haben, aber die meisten hatten eindeutig auf Safia gezielt. Er war still geworden, und er und Amastan hatten es sich angewöhnt, bis spät in die Nacht zu reden. Sie lag dann in ihrem Bett und starrte an die Decke oder lief in ihrem Zimmer auf und ab und überlegte, ob sie sich an ihre beste Freundin Aura wenden sollte, während ihr Vater und ihr Großvater im Nebenzimmer flüsterten.
Mit ihrer Familie konnte sie nicht über ihre Ängste sprechen, nicht, wo sich alle auf sie verließen und Führung von ihr erwarteten. Es spielte keine Rolle, dass sie die Jüngste der sechs Geschwister war. Sie war mit der Gabe geboren worden. Amastan hatte es so bestimmt. Ihre Großmutter und ihre Eltern hatten sich dem gefügt. Das bedeutete, dass die Last auf ihren Schultern ruhte, egal ob sie glaubte, sie erfüllen zu können oder nicht.
»Wir haben noch viel zu besprechen, bevor die Nacht hereinbricht«, verkündete Amastan, nachdem das Geschirr abgeräumt worden war. »Alle müssen sich versammeln.«
Furcht erfüllte Safia, als sie sich in den weiten, offenen Raum begaben, wo sie vor dem offenen Feuer auf den von ihren Ahnen gewebten Teppichen sitzen konnten. Dort gab es immer eine Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart. Safia empfand es als tröstlich, mit ihrer Familie in diesem Raum zu sein und auf den Teppichen zu sitzen, umgeben von anderen Erinnerungsstücken derer, die vor ihr gegangen waren. Sie spürte ihre Anwesenheit stärker als je zuvor, als wären sie anwesend, um ihr Mut zu machen.
Amastan wartete, bis es sich alle bequem gemacht hatten und ihn erwartungsvoll anblickten. An so vielen Abenden war dies die Zeit zum Geschichtenerzählen gewesen. Es war für alle ihre Lieblingszeit, wenn sie sich versammelten, um Geschichten zu hören, die seit Generationen überliefert worden waren. Die Kinder saßen auf dem Schoß und hörten mit großen Augen zu. Safia erinnerte sich daran, wie sie sich auf dem ihrer Mutter niedergelassen und sich eng an die Seite ihres Vaters gekuschelt hatte, als Amastan ihnen Geschichten von tapferen Männern und Frauen erzählte, die ihr Land gegen Eindringlinge verteidigten.
Sie waren Imazighen, freie und sehr friedliche Menschen, aber falls nötig verteidigten sie sich mit aller Härte. Sie waren stolz darauf, wer sie waren, und würden der Welt mit ihrem letzten Atemzug verkünden, dass sie Imazighen waren.
»Ihr alle habt die Geschichte unseres Landes studiert und wisst, dass hier viele Kriege stattgefunden haben. Einer der bedeutendsten für unsere Familie begann mit den ständigen politisch motivierten Kriegen, als eine Gruppe nach der anderen in Algerien einfiel. Zwischen 17 und 24 nach Christi Geburt kamen die Römer. Sie bauten eine Straße quer durch die Nomadenroute. Wo einst wildes Gras für das Vieh wuchs, wurden Zäune errichtet, um die Herden der Nomaden vom Weizen fernzuhalten, den die Römer für ihre Versorgung benötigten.«
Safia wusste ein wenig über die Geschichte dieses Krieges, aber es hatte so viele Invasoren gegeben.
»Eine ganze Lebensweise wurde gestört. Die Römer versuchten, den Stämmen ihr Land zu nehmen und es unter den Siedlern aufzuteilen«, fuhr Amastan fort. »Die freien Menschen lehnten sich auf. Die Kämpfe wurden ziemlich heftig, und die, die dort lebten, weigerten sich, sich den Fremden zu beugen. Als Imazighen akzeptieren wir das Diktat eines anderen nicht.«
Amastan hielt einen Moment inne und sah seine Familie an. »Hätten die Stämme nur gegen Menschen gekämpft, wäre die Schlacht sehr schnell gewonnen worden, aber das war nicht der Fall. Unsere Vorfahren haben nicht nur gegen Sterbliche gekämpft. Die Unterwelt wählte diese Zeit, um unsere Welt zu betreten, und hetzte Nachbarn gegen Nachbarn auf, indem sie eine Armee von Vampiren und Dämonen schickte, die sich unter die Invasoren aus Rom mischte.«
Ein eisiger Schauer kroch Safia über den Rücken. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne sank, dünne Nebelschwaden trieben vom Meer heran. Die grauen Finger sahen aus wie längst tote Knochen und zeigten direkt auf ihren Hof.
»Unsere männlichen Vorfahren haben uns mit ihrer Gegenwart und Weisheit beschenkt. Durch die Ältesten geben sie Rat und Wissen weiter. Durch die weibliche Seite wurden uns seit Jahrhunderten die Weisheit und die Anleitung der Tarotkarten weitergereicht. Die Gabe des Kartenlegens ist nur einer Frau der Familie gegeben. Sie hat nicht nur die Macht und Verantwortung der Karten, sondern muss uns auch führen, wenn die Dämonen wieder angreifen, damit wir sie töten können. Ohne sie wird das unmöglich sein.«
Alle Blicke richteten sich auf Safia. Sie hörte Amara keuchen und dann hastig verstummen. Als sie aufsah, konnte sie erkennen, dass Amara die Hand vor den Mund geschlagen hatte und sich an Izem schmiegte.
Auch Amastans durchdringender Blick ruhte auf ihr. »Amara.« Seine Stimme war sanft. »Du wusstest das fast seit dem Tag, an dem du Izem geheiratet hast.«
Sie nickte. »Das ist wahr, Jeddi, aber es war nicht real für mich. In letzter Zeit habe ich die Gegenwart des Bösen gespürt, aber ich habe mein Bestes getan, es zu ignorieren. Ich habe oft mit Izem gesprochen und ihn gedrängt, mit dir und Emmi zu sprechen, um für Safia einen Ehemann zu finden. Es schien nicht richtig, dass wir glücklich sind und sie niemanden hat. Sie liebt Kinder, und sie arbeitet härter als jeder andere von uns. Es erschien mir auch nicht real, gegen etwas zu kämpfen, das wir nicht sehen können, oder dass die Familie sie in den Kampf gegen unbekannte böse Mächte schickt. Darum wollte ich einfach jemand ganz Besonderen für sie. Jetzt fühlt es sich so an, als würden wir sie alle im Stich lassen. Verzeih mir, Jeddi, aber ich verstehe das nicht.«
Amastans Gesichtsausdruck blieb sanft. Safia liebte ihn noch mehr für die Art und Weise, wie er jedem Familienmitglied immer erlaubt hatte, Fragen zu stellen und Meinungen zu teilen. Für Amara war das ein schwieriges Konzept gewesen, und Safia wusste, dass es ihr sehr schwergefallen sein musste, ihre Bedenken zu äußern, vor allem vor der ganzen Familie und Safia.
»Es ist ganz natürlich, dass du das nicht richtig verstehen kannst, Amara. Du bist nicht von Kindheit an mit dem Wissen aufgewachsen, das diejenigen haben, die in diese Familie hineingeboren wurden. Vielleicht wurde es unserer Familie mitgegeben, diese Vorstellungen so einfach zu akzeptieren. Ich habe den Ahnen diese Frage nie gestellt, aber es ist eine gute Frage. Ich bewundere dich dafür, dass du dich so sehr um Safia sorgst, aber ich versichere dir, dass sie schon vergeben ist.«
Es war Safias Schwester Lunja, die ihrem Großvater die nächste Frage stellte. »Jeddi, ich habe dich mehr als einmal sagen hören, dass sie versprochen ist, und du würdest das nicht sagen, wenn es nicht der Wahrheit entspräche, aber wir befinden uns jetzt in einer schwierigen Situation, und sie wird jede Hilfe brauchen, die sie bekommen kann. Wenn dem so ist, wo ist er dann?«
»Er wird kommen, Lunja. Du musst Vertrauen haben. Er ist ein großer Krieger.«
Es war Izem, ihr ältester Bruder, der das zur Sprache brachte, was Safia größtes Kopfzerbrechen bereitete. »Ist das klug, Jeddi? Einen Unbekannten in einen komplizierten Kampf zu verwickeln und Safia mit einer Beziehung vertraut zu machen, die Zeit braucht, um sich zu entwickeln? Sie ist es gewohnt, allein mit uns zurechtzukommen. Wenn dieser Mann beschließt, die Führung zu übernehmen und seine eigene Strategie verfolgt, könnte sie das aus dem Gleichgewicht bringen.«
Normalerweise hätte Safia selbst einige Fragen gehabt, aber es war schön, dass Familienmitglieder die Nöte für sie ansprachen. Ihr Herzschlag blieb ruhig, unter Kontrolle, für sie ein Sieg. Sie hatte mühsam dafür trainiert, dass ihr Herz und ihre Lunge so reagierten, wie es die Umstände gerade verlangten. Der Unfall am Nachmittag, der sie über die Klippe hatte stürzen lassen, hatte ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten für kurze Zeit erschüttert. Sie hatte die Kontrolle verloren und ihren Verstand ins Chaos gestürzt. Sie musste fähig sein, immer klar denken zu können, egal was um sie herum geschah.
»Du sprichst eine berechtigte Sorge an, Izem. Gwafa und ich haben uns oft darum Gedanken gemacht. Wir haben Safia so gut vorbereitet, wie wir konnten. Sie kennt viele der Bräuche seines Volkes und spricht seine Sprache.«
Safia stockte der Atem. Fassungsloses Schweigen erfüllte den Raum. Sie legte die Hand an den Hals, um sich zu beherrschen. Einen Moment lang konnte sie den eigenen Körper nicht spüren.
»Er spricht unsere Sprache nicht? Er hat andere Sitten?«, wiederholte Izem. »Willst du damit sagen, dass der Mann, den du für unsere Schwester ausgesucht hast, kein Angehöriger unseres Volkes ist? Er ist kein Imazighen?« Er blickte zu seinem Vater und dann wieder zu seinem Großvater. »Du willst, dass Safia unsere Familie verlässt? Unseren Stamm?« Noch während er sprach, schüttelte er den Kopf und lehnte ab, was sein Großvater andeutete.
Er war nicht der Einzige. Auch ihre Brüder und ihre Schwester zeigten ebenfalls eine starke Missbilligung der für sie getroffenen Wahl. Es war äußerst selten, dass jemand in diesem Ausmaß mit Amastan nicht einverstanden war, und niemals über eine arrangierte Ehe.
Safia hatte nie in Betracht gezogen, dass ihre Familie sie wegschicken würde. Erst recht, da sie ausgebildet worden war, um sie zu beschützen. Sie war die Hüterin der Tarotkarten, die der Familie gehörten. Sie hatte ihre gesamte Kindheit, ihre Jugend und ihr frühes Erwachsenenalter damit verbracht, den Kampf zu lernen und ihre Fertigkeiten zu vervollkommnen. Sie war an ihre Familie gebunden. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Großvater eine Heirat mit einem Außenstehenden arrangieren würde. Es fühlte sich wie ein Verrat an.
»Jeddi.« Es kam als ersticktes Flüstern heraus. Sie drehte sich zu ihrem Vater um, wusste aber, dass es ihr nicht gelang, das schockierte Entsetzen auf ihrem Gesicht zu verbergen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Vater und ihr Großvater sie all die Jahre betrogen hatten. Sie hatten gewusst, dass man sie wegschicken würde, und doch hatte man von ihr die langen, zermürbenden Stunden der Waffenübung verlangt. Sie hatten sie gezwungen, ihr Schicksal als Beschützerin ihrer Familie zu akzeptieren, und sie hatte es bereitwillig getan.
Das fühlte sich wie purer Verrat an. Illoyalität. Es fühlte sich nicht nur so an; es war Verrat. Ihre Eltern und Großeltern hatten sie behandelt, als wäre sie etwas Besonderes, und doch würde man sie mit einem völlig Fremden fortschicken, jemandem, der nicht einmal zu ihrem Stamm gehörte, nicht zu ihrem Volk. Schlimmer noch, man würde es tun, nachdem sie ihr Leben riskiert hatte, um sie zu retten.
Sogar Illis Ehe wurde genau im Auge behalten, um sicherzustellen, dass man sie mit Freundlichkeit, Akzeptanz und Liebe behandelte. Ihr Ehemann war Imazighen. Sobald Safia mit diesem Fremden verheiratet war, hatte ihre Familie kein Mitspracherecht mehr, wie er sie behandelte. Wenn er sie ihnen wegnahm, würden sie nie erfahren, ob er sie schlug oder gar ermordete.
Dennoch waren da die Jahre der Liebe und Güte, die ihr Vater und Großvater ihr entgegengebracht hatten. Konnten sie sie wirklich auf so schreckliche Weise verraten haben? Amastan hatte klar und deutlich gesagt, dass sie außerhalb ihres Volkes heiraten sollte. Sie musste hier raus, irgendwo an einen anderen Ort, wo sie nachdenken konnte. Sie konnte nicht mehr richtig atmen. Sie musste hier raus. Sie stützte sich mit einer Hand ab und schaffte es, auf die Beine zu kommen. Die vielen Jahre des Trainings ließen sie ruhig und beherrscht wirken. »Ich kann jetzt nicht hierbleiben. Ich muss gehen.«
Als Safia sich erhob, stand auch Izem auf und wirkte plötzlich überlebensgroß. Amastan betrachtete sie beide, ohne dass sich sein Ausdruck änderte.
»Du kannst nicht gehen, Safia. Ich muss mich heute Abend mit den Ahnen beraten, und du musst in der Höhle bleiben und meinen Körper bewachen.«
Izem stieß wütend die Luft aus, aber er schwieg. Safia wandte sich ihrem Großvater zu und hob das Kinn. Wenn das eine Prüfung war, um zu sehen, ob sie zu ihrer Familie halten würde, hatte sie nicht die Absicht, zu versagen.
»Ich kenne meine Pflichten, Großvater«, sagte sie. »Ich habe die feste Absicht, meine Familie vor allen zu beschützen, die ihr schaden wollen. Ich bitte um eine Nacht, um die Neuigkeiten zu verarbeiten, die du mir mitgeteilt hast. Ich hatte keine Ahnung, dass du für mich eine Ehe mit einem Mann arrangiert hast, der kein Imazighen ist, und dass ich nicht länger bei meiner Familie sein kann, sobald er mich beansprucht. Ich brauche einfach ein wenig Zeit für mich.«
»Ich habe diesen Mann nicht für dich ausgesucht. Ich habe keine Ehe arrangiert«, sagte Amastan. »Und dein Vater auch nicht.«
Safia griff Halt suchend nach dem Arm ihres Bruders. Das Knistern des Feuers war zu laut im Raum. Ihre Brüder, ihre Schwester und deren Ehepartner tauschten verwunderte Blicke aus.
Izem legte den Arm um Safias Schultern. »Wer sonst als du würde es wagen, meine Schwester einem Mann zu versprechen?«
Das war eine berechtigte Frage. Amastan war der einzige unangefochtene Anführer ihrer Familie. Er war bei allen anderen Familien in der Gegend sehr geachtet. Er galt als furchtlos, ebenso wie ihr Vater, doch beide schienen sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Das machte keinen Sinn. Safia hatte mehr Angst als je zuvor. Es kostete sie enorme Überwindung, ihren Herzschlag konstant zu halten. Sie musste die Luft kontrollieren, die in ihre Lunge strömte. Wer war dieser geheimnisvolle Mann? Wie war es möglich, dass er so viel Macht über ihren Großvater und ihren Vater hatte?
Amastan deutete auf den Teppich und forderte seine beiden Enkelkinder unmissverständlich auf, sich zu setzen. »Dieses Versprechen reicht bis in die Zeit des Krieges vor zweitausend Jahren zurück. Ohne das Eingreifen der Männer und Frauen, die als Karpatianer bekannt sind, ein sehr altes Volk, hätte niemand das Gemetzel überlebt. Sie haben die Hauptlast des Krieges getragen, und viele von ihnen sind umgekommen. Es gibt nur noch sehr wenige von ihnen, und diese Verluste waren ein schwerer Schlag für ihr ganzes Volk.«
Izem drückte Safias Schulter sanft, und sie sanken wieder auf den Teppich. Sie lehnte sich an ihren Bruder, wie es auch seine Frau tat. Auf der anderen Seite legte ihr Vater eine Hand auf ihren Arm, als wollte er sie trösten. Der Knoten in Safias Magen zog sich noch fester zusammen. Sie konnte den Trost ihres Vaters noch nicht richtig annehmen. Sie war bereit, sich die Erklärung anzuhören, aber sie hatte das Gefühl, dass man sie schon Jahre zuvor hätte warnen müssen, nicht jetzt, wo der Krieg kurz bevorstand. Dennoch wich sie nicht zurück und ließ sich auch nicht anmerken, dass sie wütend auf ihren Vater war. Sie war es ihrem Großvater und ihrem Vater schuldig, die Erklärung zu hören, bevor sie ein Urteil fällte. Ihre Brüder und Schwestern fühlten offensichtlich genauso. Sie waren alle sehr still, ihre Aufmerksamkeit war auf Amastan gerichtet.
»Ich kann euch nur sagen, was von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde und was sich bestätigt hat, als ich unsere Ahnen befragt habe. Einer der Krieger kämpfte heldenhaft. Er hat alle Verwandten in der Schlacht verloren. Anscheinend, und ich weiß nicht, wie das funktioniert, war die Tochter eines unserer Ahnen für ihn bestimmt. Man kam zu dem Schluss, dass diese Ungeheuer wieder zurückkehren würden, aber niemand kannte den genauen Zeitpunkt. So wie ich es verstanden habe, wussten alle Beteiligten, dass sie den Feind ohne die Hilfe dieses Kriegers nicht besiegen würden, falls diese Armee wieder auferstand. Er musste sich zur Rückkehr bereiterklären.«
Safia und Izem tauschten einen langen Blick, bevor sie sich an ihren Großvater wandte. Sie glaubte an das Böse. Sie konnte sogar flexibel sein und an Vampire glauben. Aber ein zweitausend Jahre alter Mann, der wegen einer Braut zurückkam? »Sie enthielten ihm seine Frau vor und ließen ihn zweitausend Jahre warten? Er ist zweitausend Jahre alt? Ich verstehe nicht, was du da sagst. Wie kann ich ihm versprochen sein, Jeddi?«
»Dieses Volk ist fast unsterblich. Seine Mitglieder können getötet werden, aber das ist extrem schwierig, und sie leben jahrhundertelang. Ihr Leben ist nicht angenehm, erst recht, wenn sie keine Partnerin haben. Ich weiß nicht viel mehr, als dass sie erfahrene Krieger sind und diese Dämonen und anderes Böse auf der ganzen Welt jagen.«
»Wenn ihm diese Frau vor zweitausend Jahren versprochen wurde, warum kommt er dann wegen Safia?«, fragte Badis. »Woher weiß er überhaupt von ihr? Oder dass hier das Böse auferstanden ist?«
»Darauf habe ich keine Antwort. Ich weiß, dass er auf dem Weg ist, denn ich spüre, wie er näher kommt.« Er erwiderte erneut Gwafas Blick. »Ich werde mich heute Nacht mit den Ahnen beraten. Ich möchte, dass Safia ihre Karten befragt. Wir müssen das Versprechen unserer Vorfahren ehren und ihm als Preis eine Braut geben, wenn er unser Volk gegen den Feind verteidigt. Unser Volk, unsere Familie, sie haben immer ihr Wort gehalten. Gleichzeitig müssen wir feststellen, ob dieser Mann Safia würdig ist.«
»Wenn wir ihm Safia nicht geben«, schränkte Layla ein, »kämpft er vielleicht nicht an unserer Seite, und der Krieg geht verloren. Willst du das damit sagen?«
Amastan nickte. »Ich kann nur von dem ausgehen, was ich aus den Geschichten weiß, und von den Bruchstücken, die mir die Ahnen vermittelt haben. Ich könnte mich teilweise oder auch ganz irren. Leider weiß ich, dass das Böse aufersteht. Es ist nahe, und es greift unsere Familie an. Und vor allem greift das Böse Safia an. Ich weiß nicht, ob sie das Ziel ist, weil sie in diesem Kampf unsere Anführerin sein wird oder weil sie für diesen Krieger wichtig ist. Es ist möglich, dass das Böse ihn durch sie treffen will.«
»Er kennt mich nicht«, meinte Safia. »Ich wurde nicht vor zweitausend Jahren geboren. Er vielleicht, aber ich nicht. Das ergibt immer noch keinen Sinn.« Das tat es auch nicht, aber sie fühlte sich sehr unwohl. Sie hatte schreckliche Albträume von einer furchtbaren Schlacht gehabt – von der sie befürchtet hatte, dass sie ihre Zukunft war. Jetzt fürchtete sie, in die Vergangenheit geblickt zu haben. Die Träume, die sie wachhielten, fingen mittlerweile an, zu den seltsamsten Zeiten in ihren Geist zu drängen, und sie erschienen ihr allzu real, als würde es sich um Erinnerungen und nicht um Wahnvorstellungen handeln, die ihr Verstand erschaffen hatte.
Amastan stimmte ihr eindeutig zu. »Ich werde heute Nacht die Ahnen befragen. Es muss heute Nacht sein, Safia. Du weißt, wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich spüre, dass das Böse sich uns nähert. Und ich weiß, dass dieser Mann sehr nahe ist und schnell reist.«
Sie hatte gewusst, dass ihr Großvater es für nötig halten würde, ihre Ahnen zu konsultieren, aber sie hatte gehofft, dass er ihr einen Aufschub gewähren würde. Sie hatte das ungute Gefühl, dass die Dinge in den Höhlen, in denen er die Nacht verbringen würde, nicht gut laufen würden. Es würde ihre Aufgabe sein, ihn vor allem Unheil zu bewahren. Jetzt war sie beunruhigter als je zuvor. Sie würde sich an ihre Jugendfreundin Aura wenden, ein junges Mädchen, das mit ihr zusammen aufgewachsen war, ihre engste Freundin und Gefährtin, mehr eine Schwester als eine Gefährtin. Aura war so beständig und loyal wie Amastan und doch so schwer fassbar wie das Wasser im Meer. Niemand wusste, wo sie wohnte, es sei denn, Safias Mutter oder Großmutter hatten es gewusst, aber sie hatten es nie gesagt. Solange Safia denken konnte, war Aura zu ihnen nach Hause gekommen, war fast wie ein Geschwisterchen aufgewachsen, eine ständige Begleiterin. Aber sie tauchte immer nur nachts auf.
Als sie heranwuchsen, half Aura ihr bei ihren Studien. Sie kannte sich besonders gut mit Sprachen aus, vor allem mit der alten Sprache, die Safias Brüder und Schwestern nicht hatten lernen müssen. Es war eine lustige, geheime Sprache, die Aura und Safia seit ihrer Kindheit geteilt hatten. Jetzt fühlte es sich an, als hätte etwas Tröstliches und Lustiges eine unheilvolle Bedeutung bekommen, als würde alles Vertraute irgendwie ins Rutschen geraten, so wie Sand, und ihr entgleiten.
Aura konnte großartig kämpfen und war schneller gewesen als Safias Mutter und Großmutter, obwohl beide erstaunliche Reflexe gehabt hatten, sogar besser gewesen waren als ihr Vater und Großvater. Als Kind war das Erlernen dieser Fertigkeiten wie ein Vergnügen erschienen, eine Kunstform, wie Tanzen, und dann war es eine Frage des Stolzes geworden, immer schneller und stärker zu werden.
Die vier Frauen hatten oft fast die ganze Nacht hindurch trainiert. Am Morgen war Aura weg, und Safias Familie gönnte ihnen ein paar Stunden Schlaf, bevor man sie weckte, um auf dem Hof zu helfen. Safia hatte diese Zeit in ihrem Leben geliebt. Sie war eine tiefe Verbindung zu den Frauen ihrer Familie eingegangen und liebte Aura, verließ sich auf sie. Jetzt wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte.
War es möglich, dass Aura ein Mitglied dieses alten Volks war? War das der Grund, warum sie nie mit ihrer Familie gesehen wurde? Safia war Auras Mutter ein- oder zweimal begegnet. Sie hatte immer distanziert und traurig gewirkt. Sie war Safia krank erschienen, als hätte sie diese Welt bereits hinter sich gelassen. Aura hatte Safia deswegen immer leidgetan, aber sie hatte es nie ausgesprochen, weil Aura sich nie über ihre Mutter äußerte.
Wenn Aura kein Mensch war, warum hatte Safias Mutter es ihr nicht einfach gesagt? Offensichtlich wussten ihr Vater und ihr Großvater nicht Bescheid. Sie wollte nicht im Dunkeln bleiben. Sie würde sie fragen. Sie würden mehrere Stunden lang Zeit haben, und hoffentlich würde Aura ihre Fragen beantworten. Sie wollte eine Menge Fragen stellen.
»Das ergibt alles keinen Sinn«, stimmte Usem Safias Einschätzung zu. Ihr sonst so gutmütiger Bruder sah schrecklich wütend aus.
»Als Illi geboren wurde, dachten wir, die Tarotkarten würden aufgrund der natürlichen Ordnung der Dinge an sie gehen«, nahm Gwafa den Faden auf. »Sie war die Erstgeborene und weiblich. Deine Großmutter und deine Mutter hatten sich darauf vorbereitet, dass sie auserwählt war, um zur Verteidigerin unseres Volkes ausgebildet zu werden. Ein Kind wird in diese Position hineingeboren. Auserwählt vor der Geburt. Die Karten werden normalerweise an das erstgeborene Mädchen weitergegeben. Sie hat die Sicht. Als uns klar wurde, dass Illi nicht die Auserwählte war, waren unsere Herzen schwer. Das war der erste Hinweis darauf, dass das Böse in dieser Zeit auferstehen würde. Deshalb haben wir euch alle dazu gedrängt, von klein auf zu lernen, wie man sich verteidigt.«
Der Kummer in der Stimme ihres Vaters machte die Situation noch realer.
»Woher wusstet ihr das?«, fragte Safia. »Als Illi geboren wurde, woher wusstet ihr alle sofort, dass sie nicht die Auserwählte ist?«
Wieder tauschten Gwafa und Amastan einen langen Blick. Amastan runzelte die Stirn. »Für deine Mutter und deine Großmutter war es offensichtlich. Wir sind Männer, und diese Gabe wird von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Deine Mutter wusste sofort, dass Illi nicht die Richtige war. Und sie wurde mit blauen Augen geboren.«
»Es war … beunruhigend«, sagte Gwafa. »Die Jungen kamen zur Welt, drei hintereinander, bevor wir Lunja bekamen. Erneut rechneten alle damit, dass die Gabe an sie weitergegeben werden würde. Wir waren bei ihrer Geburt sehr angespannt. Als deine Mutter verkündete, dass Lunja nicht auserwählt war, war die Erleichterung groß, dass sie vor allem Unbill sicher sein würde, und doch bestärkte es uns nur in der Überzeugung, dass das Böse in unserer Zeit auferstehen würde und wir darauf vorbereitet sein müssten, es zu bekämpfen. Wie konnten wir zwei Mädchen haben, ohne dass eines von ihnen auserwählt war, die Karten zu lesen?«
Amastan richtete seinen liebevollen Blick auf Safia. »Du wurdest zwei Jahre später geboren. Von dem Moment an, als du zur Welt kamst, war es offensichtlich, dass du unsere kleine Kriegerin bist. Weder deine Mutter noch deine Großmutter hatten auch nur den geringsten Zweifel. Ich wusste es, ohne auch nur einen Blick in deine wunderschönen jadegrünen Augen werfen zu müssen. Etwas war anders an dir, ein Licht, das dir anhaftete, und selbst als Säugling hast du mich direkt angesehen, wenn ich mit dir sprach, als würdest du jedes meiner Worte verstehen.«
»Wir haben uns darauf konzentriert, dich auszubilden«, fügte Gwafa hinzu. »Morgens, mittags und abends. Deine Mutter, deine Großmutter, die kleine Aura – jede Person, die wir kannten und deren Fähigkeiten von Nutzen waren, hat bei deiner Ausbildung geholfen. Erst als der erste Mann an deinen Großvater herantrat und sich um dich bemühte, erinnerten wir uns an die alten Geschichten von dem Versprechen, das dem Krieger gegeben wurde.«
»Ich bin sofort zur Höhle unserer Ahnen gegangen, um sie zu befragen«, sagte Amastan. »Ich wusste, dass wir keine Fehler machen durften. Es war schwierig, die genauen Antworten zu erhalten, die ich suchte. Du wurdest versprochen. Ist er ein guter Mann? Das habe ich die Ahnen gefragt. Sie antworteten, er sei der vom Mond gesandte Krieger, unübertroffen in seinen Fähigkeiten, diese Dämonen und Vampire zu bekämpfen. Er würde kommen und andere mitbringen. Falls nicht, wäre alle Hoffnung verloren, und jeder Mann, jede Frau und jedes Kind würden sterben.« Er räusperte sich. »Sie benutzten die Worte aus dem Lied zu Ehren des Mondritters: Ayur uzend aghzen addigh imagh.«
Der Mond schickt das Ungeheuer, um an unserer Seite zu kämpfen. Langes Schweigen trat ein.
Safia atmete langsam aus. Sie konnte sehen, dass ihr Großvater in einer Zwickmühle gesteckt hatte. Sie verstand. Ihre Familie musste gerettet werden. Dieser Mann – dieses Ungeheuer – war dafür unverzichtbar. Er musste ein überragender Krieger sein. Aber was für ein Mann war er? Vielleicht war er nicht einmal ein Mann.
»Aber du hast mir nicht gesagt, was mich erwartet«, betonte Safia und versuchte, den Schmerz und das Gefühl, verraten worden zu sein, zu unterdrücken. Alles, was sie sagten, machte Sinn. Sie hatten nichts von dem uralten Mann gewusst, der vor langer Zeit Anspruch auf sie erhoben hatte. Safia brauchte Zeit, das alles zu verarbeiten, bevor sie einen Mann traf, der sie ihrer Familie und allem, was ihr vertraut war, wegnahm. Wie sollte sie ihn in dem Wissen, dass sie alle geliebten Menschen vermutlich nie wiedersehen würde, umarmen können?
»Wir hielten es für besser, mehr zu erfahren, bevor wir mit dir sprechen«, sagte Gwafa. »Wir haben keine andere Wahl, als das Wort unserer Ahnen zu ehren, aber du bist meine geliebte Tochter, und ich denke nicht daran, dich blindlings einem Mann zu übergeben, über dessen Charakter ich nichts weiß.«
Amastan nickte. »Wir haben versucht, mehr über dieses Volk herauszufinden und vor allem über den Krieger, dem du versprochen bist.«
Safia studierte erst die Gesichtszüge ihres Großvaters und dann die ihres Vaters. Ihr wurde klar, was sie geplant hatten, und sie musste die Tränen zurückhalten angesichts der Ungeheuerlichkeit ihres beabsichtigten Opfers. Sie hatte die Loyalität ihrer Familie ihr gegenüber infrage gestellt, und die ganze Zeit über hatte sie diesen Krieger in ihrem Namen herausfordern wollen, einen Mann, von dem es hieß, er sei im Kampf so geschickt, dass sie ohne ihn den Krieg nicht gewinnen konnten. Doch sobald man sie ihm übergeben hatte, waren sie bereit gewesen, seinen Anspruch zu bekämpfen, wenn sie feststellten, dass er ihr kein guter Ehemann sein würde.
Sie schüttelte den Kopf. »Das könnt ihr nicht machen. Wenn er so gut ist, wie man behauptet, würdet ihr euer Leben wegwerfen.«
»Ich halte nichts davon, sich um Dinge zu sorgen, über die man keine Kontrolle hat«, verkündete Amastan wie schon so oft in der Vergangenheit. »Es ist besser, so viele Informationen wie möglich zu sammeln und vorbereitet zu sein.«
»Sie würden nicht allein für dich kämpfen, Safia«, versicherte Izem. »Ich würde bekannt machen, dass er nicht ohne Herausforderung mit dir weggehen könnte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du hast eine Frau. Wenn ich ihm versprochen bin und er an unserer Seite kämpft und unseren Feind besiegt, werde ich das Ehrenwort unseres Volkes einlösen.« Schon das Versprechen war furchterregend, aber die Vorstellung, dass ein so wilder Mann kämpfen und ihre Brüder oder ihren Vater oder ihren Großvater töten und sie trotzdem mitnehmen würde, war ihr unerträglich.
»Wir werden ihn kennenlernen, bevor wir ein Urteil über ihn fällen«, erklärte Amastan. »Safia muss heute die Karten lesen, und dann gehen wir zu den Höhlen, um weitere Antworten zu erhalten.«