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Als Renia Spiegel ihr Tagebuch begann, war sie noch keine fünfzehn Jahre alt und gerade zu ihren Großeltern nach Przemysl übersiedelt. Sie vermisste das väterliche Landgut und die Mutter, die sich mit der jüngeren Schwester Ariana häufig in Warschau aufhielt, um Ariana eine Bühnenkarriere aufzubauen. Auf rund 700 Heftseiten schildert Renia den Alltag im Gymnasium und Erlebnisse mit Freundinnen, bald aber auch das Leben und die Nöte in einer geteilten Stadt nach dem Einmarsch der Deutschen und der Sowjets. Vor allem schüttet sie dem Tagebuch ihr Herz aus und fasst ihre Empfindungen in berührende Gedichte. Ihre erste große Liebe zu dem Mitschüler Zygmunt wühlt sie innerlich auf, während um sie herum die Nazis vorrücken und die Schrecken des Ghettos über sie hereinbrechen.Zygmunt, der Zwangsarbeit und Lagerhaft überlebte, gelang es nicht nur, das Tagebuch vor der Zerstörung zu bewahren, sondern er ruhte nicht, bis er Renias Mutter in New York ausfindig gemacht und es ihr übergeben hatte. Wie durch ein Wunder ist uns so ein einzigartiges Zeitzeugnis erhalten geblieben.
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Seitenzahl: 541
Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhalt
[Cover]
Titel
Vorwort
Vorwort der Übersetzerin
Renias Tagebuch
Zygmunts Notizen
Anmerkungen von Renias Schwester Elizabeth Bellak (Ariana Spiegel)
Nachwort
Bildteil
Bildnachweis
Zur Renia Spiegel Foundation
Editorische Notiz
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Vorwort, Nachwort und Anmerkungen
Kurzbeschreibung
Impressum
Tagebuch 1939–1942
Vorwort
Meine Schwester Renia Spiegel wurde am 18. Juni 1924 in Uhryńkowce in der Wojewodschaft Tarnopol im Südosten Polens geboren. Heute gehört es zur Ukraine, doch bevor der Zweite Weltkrieg unsere Familie, unser Volk und unser Land auseinanderriss, war Uhryńkowce polnisch.
Ich kam sechs Jahre nach Renia am 18. November 1930 zur Welt. Dreiundfünfzig Jahre lang war ich glücklich verheiratet mit meinem aus Wien stammenden Mann George Bellak, drei Jahrzehnte lang arbeitete ich als Lehrerin in New York City und bin glückliche Mutter von zwei Kindern sowie Großmutter von drei wunderbaren Enkeln. Meine Schwester wurde nur achtzehn Jahre alt. 1942 haben die Nazis sie ermordet. Außer ein paar Fotos, einigen Familienerbstücken und den Erinnerungen, die ich fast neunzig Jahre lang in meinem Kopf gehütet habe, ist das vor Ihnen liegende Tagebuch alles, was mir von ihr geblieben ist.
Doch ich konnte mich diesem Tagebuch nicht immer stellen. Lange Zeit versteckte ich mich vor ihm und vor meiner Vergangenheit, bis meine Tochter Alexandra Renata es aus dem Safe, wo es über vierzig Jahre lang unbehelligt gelegen hatte, herausholte. Da sie erkannte, was für ein bedeutendes historisches und literarisches Zeugnis dieses Tagebuch darstellt und dass es Menschen auf der ganzen Welt berühren könnte, hat sie es ins Englische übersetzen lassen und arbeitet unermüdlich an seiner Veröffentlichung in weiteren Ländern. Ihr liegt es am Herzen, den Wert dieser Geschichte bekanntzumachen und aufzuzeigen, dass sie uns auch heute noch etwas angeht. Ich bin ihr dankbar, dass sie mir das Tagebuch – und damit die Erinnerung an meine Schwester – wiedergegeben hat.
Als ich geboren wurde, bastelten meine Eltern einen Storch aus Papier, stellten ihn ins Fenster und erzählten meiner Schwester, dass ich bald kommen würde. Zu diesem Zeitpunkt war meine Familie auf ein Landgut in einem Ort namens Stawki umgezogen, der in der Nähe des Dnjestr und der rumänischen Grenze lag. Renia war dort ebenso glücklich wie in ihrem vorigen Zuhause. Sie liebte das Vogelzwitschern, sie liebte den Wind, sie liebte den Wald. Manchmal denke ich, dass die Erinnerungen an diesen Ort – weit weg auf dem Land und in einem früheren Leben – die Gedichte inspiriert haben, die sie in ihr Tagebuch schrieb. Ihre Poesie, verfasst, während um sie herum Krieg herrschte, ermöglichte ihr gedankliche Sammlung in Stille und Frieden.
Es lag nicht am Krieg, dass wir unser Zuhause in Stawki verlassen mussten. Ich war eine Kinderschauspielerin, »die polnische Shirley Temple«, und meine Mutter zog 1938 mit mir nach Warschau, um mich zu fördern. Sie ließ Renia bei ihren Eltern in ihrem Heimatort Przemyśl, einer Kleinstadt im Südosten Polens, die heute an der Grenze zur Ukraine liegt. Im Januar 1939 begann Renia ihr Tagebuch zu schreiben. In jenem Sommer verbrachte ich meine Ferien bei Renia und unseren Großeltern, und meine Mutter kehrte nach Warschau zurück.
Im September 1939 überfielen die deutsche und die sowjetische Armee Polen, und noch vor Ende des Monats war Polen in zwei Besatzungszonen aufgeteilt: die deutsche Seite im Westen und die sowjetische im Osten. Przemyśl erstreckt sich zu beiden Ufern des San, und so wurde es zu einer durch den Fluss geteilten Stadt. Meine Großeltern wohnten im östlichen, sowjetisch besetzten Teil. Unsere Mutter lebte im westlichen, deutsch besetzten Teil Polens in Warschau. Da wir den San nicht überqueren durften, waren wir plötzlich von ihr abgeschnitten. Und so wurde damals Renia für mich zu einem Mutterersatz. Während der folgenden zwei Jahre sahen wir unsere Mama nur wenige Male, und es kamen auch nur sehr selten Briefe von ihr. Renia vermisste sie furchtbar. Bis heute frage ich mich, ob das Tagebuch ihr nicht auch ein wenig die Mutter ersetzte, die sie sehr liebte und die ihr so sehr fehlte.
Bis Anfang der 1950er Jahre, als ihr Freund Zygmunt meiner Mutter das Tagebuch wiedergab, hatte ich keine Ahnung, dass Renia es geführt hatte. Wie sie siebenhundert Heftseiten vor mir verbergen konnte, ist mir ein Rätsel, aber es war ein Geheimnis, das sie nur mit Zygmunt teilte. Sie gab es ihm kurz vor ihrer Ermordung, und er konnte es jemand anderem zur Aufbewahrung dalassen, bevor er ins Konzentrationslager geschickt wurde. Die Seiten überlebten, so wie er überlebte, und ein Freund – wir wissen bis heute nicht, wer es war – brachte ihm das Heft in die Vereinigten Staaten. Meine Mutter starb 1969, und als ich das Tagebuch in ihrem Nachlass fand, verschloss ich es in einem Safe der Chase Bank-Filiale in der Nähe meiner Wohnung. Ich konnte es nicht lesen. Es wühlte mich zu sehr auf.
Bis jetzt habe ich immer nur Ausschnitte gelesen, und das schlug mir jedes Mal auf den Magen oder brachte mich zum Weinen. Aber ich weiß, wie wichtig diese Aufzeichnungen sind, und deswegen möchte ich sie mit Ihnen teilen. Wir leben in Zeiten, in denen Toleranz selten geworden ist, dabei ist sie etwas so Wichtiges. Krieg ist schwer zu begreifen – besonders wenn man mittendrin steckt –, aber Renia war sehr klug, und es gelang ihr. Ihre Gedanken, ihre Nöte und ihr Tod zeigen uns, warum die Welt Frieden und gegenseitige Achtung braucht. Die Worte und Gedichte meiner Schwester sprechen für sich selbst. Aber am Ende des Tagebuchs habe ich zu bestimmten, mit Sternchen markierten Einträgen und Lebenszeiten, an die ich gemeinsame Erinnerungen mit meiner Schwester habe, Anmerkungen hinzugefügt. Darin ergänze ich geschichtliche Zusammenhänge und was ich von Renias letzten Lebensjahren weiß, und ich berichte, was aus denjenigen in unserer Familie wurde, die den Krieg überlebt haben. Meine Erinnerungen sind nicht mehr so klar wie vor achtzig Jahren, aber ich habe mich bemüht. Manchmal mögen meine und Renias Gedanken bruchstückhaft und nicht stringent erscheinen, aber das liegt in der Natur eines Tagebuchs. Es ist unmittelbar und impulsiv, und manchmal sind Erinnerungen das auch.
Meine Worte sind das Vermächtnis eines Lebens, das meiner Schwester nicht vergönnt war, während Renias Worte Erinnerungen an eine Jugendliche lebendig halten, die der Krieg für immer gefangen hält.
Elizabeth Leszczyńska Bellak, ehemals Ariana Spiegel
Vorwort der Übersetzerin
Renia Spiegel ist noch keine fünfzehn Jahre alt, als sie am 31. Januar 1939 beginnt, Tagebuch zu schreiben. Sie erzählt darin von ihrem Alltag zu Hause und in der Schule, aber vor allem von ihrer ersten großen Liebe Zygmunt, wobei die Einträge immer wieder von ihren meist gereimten Gedichten begleitet werden. Nach dreieinhalb Jahren bricht das Tagebuch ab – Renia Spiegel wird kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag im Ghetto von Przemyśl auf der Straße erschossen.
Fast achtzig Jahre später wird das Tagebuch in mehrere Sprachen übersetzt; die erste fremdsprachige Ausgabe erscheint 2019 in den USA. Deshalb konnte ich, bevor ich mit der deutschen Übersetzung begann, bereits einige Rezensionen über das Buch lesen und stieß dabei immer wieder auf einen Vergleich: Renia sei »die polnische Anne Frank«. Die Mädchen waren ungefähr im selben Alter, beide jüdisch, beide haben – die eine auf Niederländisch in Amsterdam, die andere auf Polnisch in Przemyśl – während des Zweiten Weltkriegs ein Tagebuch geführt, und beide wurden verfolgt und kamen um. Was die äußeren Umstände angeht, besteht also tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit. Doch während der Lektüre von Renias Tagebuch wurde mir schnell klar, dass die Autorinnen – was ihre Persönlichkeit, ihre Emotionalität und ihren Umgang mit den eigenen Gefühlen angeht – nicht unterschiedlicher sein konnten. Ob dieser Eindruck nun tatsächlich ihren verschiedenen Charakteren entspringt oder vielleicht auch anderen Dingen zuzuschreiben ist, darüber kann man nur spekulieren. Sicher ist jedoch, dass Renia, im Gegensatz zu Anne, ihr Tagebuch nie überarbeitet und es in dem Bewusstsein geschrieben hat, dass es nie veröffentlicht werden würde. Renia schreibt darin ihre Gedanken auf, so wie sie ihr gerade in den Sinn kommen, wobei sie immer in einer Art Zwiesprache ist – mal mit ihrem Tagebuch, mal mit der Mutter, Zygmunt oder Gott. Da es sich um ein Zeitdokument handelt, musste ich zwischen genauer Wiedergabe und der Verständlichkeit des Textes immer wieder abwägen. Deshalb ein paar Hinweise zur deutschen Fassung: Um besser zwischen den Personen, an die sich Renia wendet, unterscheiden zu können, ist das Personalpronomen »du« nur dann großgeschrieben, wenn Renia mit ihrem Tagebuch oder mit Gott spricht. Im Originaltext gibt es zahlreiche Einträge, die in einem langen Block abgefasst sind, obwohl sie unterschiedliche Themen behandeln. Zur besseren Lesbarkeit sind in der deutschen Fassung Absätze eingefügt. Auch die Zeichensetzung wurde an manchen Stellen verändert oder ergänzt. Die polnische Sprache neigt stark zu Verkleinerungen, besonders bei Vornamen. Die meisten wurden beibehalten und haben – bis auf eine Ausnahme – immer dieselbe Form, auch wenn die Autorin selbst sie bei ein und derselben Person variiert. Renia hat sich in ihren Eintragungen bei den Daten und Wochentagen manchmal vertan. Die richtigen Daten und Wochentage wurden in eckigen Klammern hinzugefügt. Bei der Übersetzung der Gedichte wurde die Zeichensetzung vereinheitlicht, Rhythmus und Reim standen im Vordergrund.
Da Renia ihr Tagebuch nur für sich selbst geschrieben hat, tauchen manchmal Namen, Orte und Situationen auf, die nur der Autorin bekannt waren, dem Leser jedoch unverständlich bleiben müssen. Doch es ist gerade dieses Fragmentarische und Unverständliche, es sind die stilistisch unbearbeiteten Emotionen und Gefühlsausbrüche, die den Ton und die Qualität des Textes ausmachen. »Ich trage mein Herz doch im Knopfloch«, schreibt Renia in einem ihrer Gedichte. Sie öffnet dieses Herz ihrem Tagebuch, und so können auch wir die Autorin in all ihren Facetten kennenlernen.
Renia konnte ihrem Schicksal nicht entgehen, doch diejenigen, die ihr Tagebuch vor der Zerstörung bewahrt und veröffentlicht haben, retteten das Zeugnis ihrer Gefühle und Gedanken für die Nachwelt. Als ob Renia es vorausgeahnt hätte, schrieb sie kurz vor ihrem Tod an ihr Tagebuch: »Merke Dir diesen Tag, merke ihn Dir gut, denn Du wirst den nächsten Generationen von ihm erzählen. Heute um acht Uhr hat man uns im Ghetto eingeschlossen. Jetzt wohne ich hier, und die Welt ist von mir abgetrennt, so wie ich von ihr abgetrennt bin. Die Tage sind schrecklich und die Nächte nicht besser. Täglich gibt es Opfer, und ich bete zu Dir, großer Gott, erlaube mir, meine Mutti zu küssen. Oh Gott, gib uns Kraft und Stärke. Lass uns leben.«
Joanna Manc
Renias Tagebuch
31. Januar 1939
Warum fange ich gerade heute an, ein Tagebuch zu schreiben? Ist etwas Wichtiges passiert? Habe ich von den Tagebüchern meiner Schulfreundinnen erfahren? Nein! Ich suche nur einen Freund, jemanden, dem ich mein tägliches Freud und Leid erzählen könnte. Jemanden, der das fühlt, was ich fühle, der mir glaubt und meine Geheimnisse niemals verraten würde. Und weil ein Mensch keinesfalls so ein Freund sein kann, habe ich beschlossen, mein Tagebuch zu meinem Vertrauten zu machen. Ab heute, mein liebes Tagebuch, beginnt unsere innige Freundschaft. Wer weiß, wie lange sie andauern wird? Vielleicht sogar bis zum Ende meines und Deines Lebens? Auf jeden Fall werde ich ehrlich und offen sein und Dir alles erzählen. Du wiederum wirst Dir meine Gedanken und Sorgen anhören, sie aber niemals jemandem verraten: Du wirst schweigen wie ein verzaubertes Buch, verschlossen mit einem verzauberten Schlüssel, versteckt in einem verzauberten Schloss. Du wirst mich nie verraten, es sei denn, die kleinen blauen Buchstaben, die die Menschen entziffern können, werden es tun.
Als Erstes muss ich Dich mit mir bekannt machen. Ich gehe in die dritte Klasse des Maria-Konopnicka-Gymnasiums1 und heiße Renia – so nennen mich zumindest meine Freundinnen. Ich habe eine kleine Schwester, Ariana, die ein Filmstar werden möchte (und dieses Vorhaben zum Teil schon verwirklicht hat, weil sie bereits in einigen Filmen mitspielte). Sie ist die ganze Zeit mit Mutti in Warschau.
Früher habe ich auf einem wunderschönen Landgut am Dnjestr gewohnt. Dort ging es mir sehr gut, und ich denke, dass es die glücklichsten Momente meines bisherigen Lebens waren. Auf alten Lindenbäumen wohnten Störche, im Garten glänzten Äpfel, und in meinem kleinen Garten konnte man hübsche, gleichmäßige Beete bewundern. Aber das ist lange vorbei und kommt nicht wieder. Das Landgut, die Störche auf den Linden und die Äpfel und Blumen gibt es nicht mehr. Das Einzige, das mir wohl geblieben ist, das sind die schönen und süßen Erinnerungen daran. Vielleicht noch der lange Dnjestr, der dort fließt, unnahbar und kalt, doch er rauscht nicht mehr für mich. Jetzt bin ich in Przemyśl und wohne bei Oma, aber eigentlich habe ich kein Zuhause und deshalb bin ich manchmal so traurig, dass ich weinen muss. Ich weine, obwohl ich alles habe: Kleider, Süßigkeiten und selbst meine merkwürdigen Träumereien, die mir so wertvoll sind. Mir fehlt nur eins: ein warmes Mutterherz und ein Zuhause, wo wir alle zusammenwohnen würden, so wie in dem weißen Landgut am Dnjestr.
Und jetzt muss ich wieder weinen
weil diese Bilder mir erscheinen
Haus, Linden, Störche, Schmetterlinge
weit … irgendwo … weit
Immer sehe ich sie und höre es klingen
wie die Winde die Bäume in ihren Schlummer singen
Niemand kann mir erzählen
dass draußen nur Nebel und Stille
dass alles so fern und hier nur das Dunkel
Dieses Wiegen werde ich immer hören
ich sehe unser Gut und den Teich
und die Linden, die im Lichte funkeln …
Aber es gibt auch lustige Momente, viele … Damit Du all die »Faxen« und den »Blödsinn« verstehst, muss ich Dich mit meiner Klasse bekannt machen …
Meine direkte Sitznachbarin und zugleich auch meine einzige Freundin ist Nora. Jemand könnte sagen, Nora gefällt ihm nicht, ein anderer könnte von ihr begeistert sein, doch mir gefällt Nora immer gleichermaßen und sie bleibt für mich immer dieselbe süße Nora. Wir beide haben die gleichen Gedanken, Meinungen und Ansichten. Da es aber in unserer Schule üblich ist, in die Lehrer »verschossen zu sein«, sind Nora und ich ganz ehrlich (manche machen es ja, um sich einzuschmeicheln) in die Lateinlehrerin Frau Waleria Brzozowska – geborene Brühl und genannt »Brühli« – verschossen. Brühli ist die Frau eines gutaussehenden Offiziers, der in Lemberg wohnt, wohin sie jeden zweiten Sonntag fährt. Wir versuchten über die Auskunft herauszufinden, wo er wohnt, aber ohne Erfolg, weil wir nicht wissen, wie er heißt. Wir nennen ihn »Zdzisław«. Brühli unterrichtet Latein, und da wir in diesem Fach gut sind, ist das der Beweis, dass wir unsere Walli ehrlich lieben.
Weiter sitzt Belka, also »Belania«, breit und fett wie ein Omelett! Ein Mädchen mit großem Talent für wissenschaftliche Fächer und einem noch größeren, sich unbeliebt zu machen. Sie ist in Frau Olga Skorska verschossen und hat immer einen ziemlich dummen Gesichtsausdruck, wenn sie sie ansieht.
Dann kommt Irka (ira-ae – Zorn). Ich mag sie nicht und das scheint mir im Blut zu liegen. Das heißt: Dieser Hass ist vererbt, weil schon meine Mama ihre Mutter nicht besonders mochte, als die beiden aufs Gymnasium gingen. Als Irka auch noch anfing »mich schlecht zu machen«, mochte ich sie noch weniger. Dazu kommen noch die ungerechten Zeugnisnoten, die sie bekommt und dieses ekelhafte Sich-einschmeicheln, diese Lügen und die Heuchelei. All das schürt meinen Hass auf sie. Man sollte noch hinzufügen, dass Brühli sie zu Hause besucht, was wir ausgekundschaftet haben. Und dass Irkas Mutter Brühli auch besucht, was wir herausfanden, als wir von draußen durch die Parterrefenster in Wallis Wohnung spähten. Unter diesen Fenstern haben Nora und ich schon so manche Stunde ausgeharrt, was auch dazu beiträgt, dass ich Irka nicht ausstehen kann! Doch wenn man in dieselbe Klasse geht, muss man irgendwie miteinander leben. Also ballen Nora und ich die Fäuste und warten auf eine Gelegenheit.
Die Mädchen, die neben Irka sitzen, sind mir völlig egal oder ich mag sie nur ein bisschen. Dafür sitzen in den hinteren Bänken welche, die mir nicht mehr so egal sind: z.B. Luna, die direkt hinter mir sitzt und ständig meinen Rücken bombardiert. Sie selbst hält sich für ein äußerst begabtes und ungewöhnliches Wesen. Bei den Tanzfesten und auch sonst »spielt sie sich auf«, versucht immer etwas zu tun, das ihre Schönheit (welche Schönheit?), ihre außergewöhnlichen Begabungen (die sie nicht besitzt) und ihre Wichtigkeit (die sie sich einbildet) zum Vorschein bringen soll. Dafür gefällt Luna den Jungs, oder zumindest versucht sie ihnen zu gefallen, und da sie klein ist, trägt sie Schuhe mit hohen Absätzen, verlängert ihre Augenbrauen und benutzt Puder. Anfangs hat sie sich den Puder bei Irka Łozińska »geliehen« und machte das angeblich nur so aus »Jux«. Doch jetzt macht sie es nicht mehr aus »Jux«, sondern ganz ernsthaft.
Ich denke, Irka Łozińska ist das schönste Mädchen in unserer Klasse, vielleicht sogar in der ganzen Schule. Selbst ihre dunkle, fast orange Gesichtsfarbe (natürlich vom Puder) stört nicht, auch nicht ihr überheblicher Ton oder die harten Worte, die ihre herrlichen korallenroten Lippen von sich geben. Und wenn sich diese Lippen beim Sprechen öffnen, entblößen sie auch noch ihre wunderschönen schneeweißen Zähne. Doch diese Irka hat einen der größten Makel, die man haben kann, weil sie an Tuberkulose leidet … Ja, manchmal blutet sie aus Mund und Nase. Sie tut mir leid. Sie hat einen Freund, der sie liebt, der aber nicht weiß, dass sein Mädchen diese schreckliche Krankheit hat. Irka sitzt in der letzten Reihe.
Daneben sitzen zwei versteinerte Gestalten: Halina (eine sehr schlimme Person) mit fantastisch frisierten Haaren und Sławka, die immer einen überraschten Gesichtsausdruck hat, nie antwortet und Halina hilft, sich unter der Bank zu verstecken, damit die nicht antworten muss.
Weiter sitzt die mittlerweile dritte Irka, dünn wie eine Bohnenstange und sehr hässlich. Neben ihr Elza, meine frühere Sitznachbarin. Die spielt das Unschuldslamm, doch ich habe herausgefunden, dass das eben nur gespielt ist. Elza ist ganz gut in der Schule, aber sie bekommt immer ein besseres Zeugnis, als ihr zusteht. Die Lateinhausaufgaben schreibt sie angeblich von der dritten Irka ab … doch wen kümmert’s?
Dann ist da noch unsere Klassensprecherin, Krzyśka. Krzyśka kann nichts, redet so, als ob sie mit Sand gefüllte Klöße im Mund hätte, aber sie ist hübsch und verliert sich wie in einem Labyrinth in ihren Zbyszeks, Sławeks, Leszeks, Zdziśes2 usw. Sie ist mit Luna befreundet. Vor ihr produziert sich die erste Eda (es gibt drei). Eda, eine »Dame mit Krallen«, ist verlobt und hat eine sehr schöne Figur und überhaupt, ganz allgemein, von vornherein und obendrein. Die zweite Eda, Belkas frühere Freundin, ist auch in Frau Skorska verschossen, doch sie ist schlecht in Geschichte, und das ist verdächtig. Die dritte Eda war noch vor ein paar Monaten unser Feind. Stell Dir vor, liebes Tagebuch, da kommt so eine fremde »Dahergelaufene« aus irgendeinem Kaff, und schon will sie sich in den Vordergrund spielen, schon hat sie die Absicht, uns in die Geistig-Behinderten-Ecke zu stecken, und hält sich selbst tatsächlich für eine »vielseitig begabte« Persönlichkeit.
Vor ihr sitzen Luśka und Dziunka. Dziunkas Bewegungen könnte man als »nervös-zuckend« bezeichnen. Ich war über ein Jahr mit ihr zerstritten, doch an Brühlis Namenstag haben wir uns wieder vertragen. Für alle in der Klasse ist Dziunka eine berufsmäßige Langweilerin, und die ist sie wirklich. Luśka dagegen ist bescheuert, dumm, geistig beschränkt usw. Man kann ihr alles Mögliche erzählen. Doch das Mädel ist in Ordnung: Auf den Tanzabenden tanzt sie immer den »Andruszowo-Tanz« mit mir. Als sie sich einmal darum riss dranzukommen und lauthals schrie: »Frau Leh’rin, Frau Leh’rin, ich wurde schon so lange nicht mehr abgefragt, und ich mag Mathematik doch so gerne«, da sagte Nora: »Hej Luśka, hör auf verrücktzuspielen.« »Tu ich doch gar nicht«, entgegnete Luśka, aber dann hat sie es kapiert, stotterte und machte Glotzaugen.
Vor ihnen – das heißt vor der ersten Eda, Luśka und Dziunka – ist eine merkwürdige Bank, in der nur »Antiquitäten« sitzen. Also Janka. Von der ganzen Klasse kann sie am besten »die Dumme spielen«. Janka lebt und ernährt sich ausschließlich von vorgesagten Antworten. Wenn sie an die Tafel gerufen wird, steht die ganze Beweisführung auf ihren Fingernägeln, und wenn die Lehrerin misstrauisch wird, leckt sie schnell die Tinte von den Nägeln und markiert das Unschuldslamm. Sie kann auf Knopfdruck weinen, heulen, sogar ohnmächtig werden, so in der Art von Eda Nr. 1, der plötzlich schlecht wird, wenn Pacuła ein Gedicht abfragen will. Überhaupt ist Janka sehr begabt im Vortäuschen.
Neben ihr sitzt Wisia, eine kleine Göre, die trotz ihrer 15 Jahre nicht mal einen Meter misst. Die dritte in dieser Reihe ist Frejka oder Salka. Die hat nervöse Anfälle und kann manchmal vor Aufregung kein Wort herausbringen. Wenn sie läuft, dann ist das so ein komisches Zittern und Sichverbiegen, oft kann sie es in der Schulbank nicht »aushalten«.
Man sollte noch Ninka erwähnen, dieses originelle Mädchen, das wie ein unschuldiges Lamm aussieht, aber postlagernd von verschiedenen »Leuten« Briefe bekommt, sich abends in dunklen Gassen verabredet und einsame Herren besucht, womit sie sich auch noch brüstet. Sie ist ganz nett. Von solchen gibt es viel mehr in unserer Klasse, aber wie ich schon sagte: Die sind mir entweder egal, oder ich will auf keinen Fall, dass sie sich an mich hängen, weil ich ein »anständiges Mädchen« bin.
Seit ein paar Monaten bereiten wir ein Fest vor. Dabei hat es viel Streit und Auseinandersetzungen gegeben. Aber es wird schon am Samstag stattfinden.
2. Februar 1939*
Liebes Tagebuch! Weil ich im Turnen immer nur »gut« bekommen habe, übe ich jetzt zu Hause. Heute habe ich den ersten Handstandüberschlag gemacht, was keine meiner Schulfreundinnen kann. Und so schreite ich jetzt mit einem aufgeschlagenen Knie, doch im Bewusstsein meines Triumphs durch die Gegend.
5. Februar 1939
Liebes Tagebuch, es ist jetzt nach dem Fest, endlich! Wie ich mich freue. Es ist außerordentlich gut gelungen, und allen, aber besonders Brühli, hat es gefallen. Doch danach spürte ich eine Art Bitterkeit. Und zum ich weiß nicht wievielten Mal dachte ich: »Schade, dass Mutti nicht da ist.« Das kam daher, weil Frau Oberhard Brühli bedrängte und sich bei ihr wie verrückt einschmeichelte, was natürlich in nächster Zukunft Irka und ihrer jüngeren Schwester zugutekommen wird. Oh Tagebuch, wenn du wüsstest, wie schlimm das ist, sich etwas zu wünschen, es mit Fleiß und Schweiß anzustreben, um dann festzustellen, dass es dir direkt vor dem Ziel entwischt. Was habe ich eigentlich angestrebt? Ich weiß es nicht. Ich habe von Pacuła die höchste Anerkennung bekommen, woran mir nichts liegt (sie hat mit Nora und mir gesprochen). Brühli war ziemlich herzlich. Und trotzdem wage ich zu sagen, dass ich nicht zufrieden bin. Luna hatte eine Zugabe, so wie ich eine hatte.
Heute habe ich Brühli mit der Oberhard gesehen, höchstwahrscheinlich ist sie zu ihr gegangen. Nachdem ich sie wunderschön gegrüßt habe und wir an ihr vorbei waren, sage ich zu Nora: »Und, was sagst du dazu? Sie war schon wieder bei ihr, oder?« Da sehe ich, dass Nora so komische Grimassen macht, schaue und merke, dass Brühli direkt hinter uns ist. Sie sieht furchtbar schlecht aus, ich weiß nicht, was sie hat. Ich würde ihr gerne helfen, vielleicht einen Rat geben, doch die Kluft zwischen uns ist so groß, so unglaublich groß … Vielleicht sogar größer als die zwischen mir und Mutti, die mir auch helfen und einen Rat geben könnte. Und diese Kluft ist schwerer, oh! viel schwerer zu überwinden.
8. Februar 1939
Liebes Tagebuch! Schon seit ein paar Tagen erzähle ich dir nicht von meinen Erlebnissen, aber eigentlich ist auch nichts Besonderes passiert. Alles geht seinen gewohnten Gang, außer ein paar belanglosen Dingen. Brühli war auf einem Lateinlehrer-Kongress, also hatten wir beim Skorski Latein. Herr Dziedzic hat Irka sehr gelobt (zu Unrecht) und Belka hat sich ein »ungenügend« eingefangen. Ich bin davongekommen, fürchte mich aber vor morgen, weil das manchmal ein furchtbarer Tag ist. Das ist alles, was ich Dir sagen musste.
11. Februar 1939
Heute regnet es … So ein trauriger, grauer Tag. Ich bin aber gar nicht besonders traurig, ich weiß nicht warum. Vielleicht tröstet mich der Gedanke an die Reise nach Kanada, die aber auch nicht unbedingt gut werden muss. Vielleicht deswegen, weil ich eine griechische Vase mache, auf jeden Fall bin ich nicht so traurig wie an den üblichen Regentagen, wenn ich am Fenster stehe und die Tränen der weinenden Fensterscheibe zähle. Es gibt so viele von ihnen: da, eine kleine, und eine zweite, größere, die direkt hinterherfließt, und hier die fünfte, sechste … und auf meiner Wange sind auch zwei. Es ist, als ob sie auf die nasse, matschige Straße fallen und sie schmutzig machen wollten. Als ob sie den Tag hässlich machen wollten, vielleicht noch hässlicher, als er bereits ist. Dabei ist dieser Tag so geheimnisvoll. Wie … wie ein Abfalleimer. Alle meinen, er wäre unwichtig – ein Nichts. Doch so ist es nicht. Ich weiß nicht. Sollen doch die Leute über mich lachen, aber Du wirst mich bestimmt verstehen, mein teurer Freund. Ich habe nämlich den Eindruck, dass manche toten Dinge miteinander reden. (Eigentlich sind sie gar nicht tot, weil sie genauso eine Seele haben wie die Menschen.) Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Wasserleitung lacht, und das bilde ich mir nicht nur ein, es ist wirklich so. Doch die Leute nennen dieses Lachen anders, und es kommt ihnen nie in den Sinn, dass es ein Lachen ist. Oder ein Abfalleimer:
»Oh, diese Nacht! Dunkel und matt!
Oh, wie schlimm, Gott erbarm!
War es nicht besser in der Stadt?
Dort ist es bequem und warm!«
So klagte das wöchentliche
Filmmagazin ganz bitter
»Mich kauften sie erst gestern
und schon lieg ich im Abfall!«
erwiderte die Tageszeitung zerknittert
»Du hast wenigstens manches gesehen
und von der Welt etwas mitbekommen
du lagst gemütlich in einem Laden
ich dagegen war ständig benommen
vom Straßenlärm und hatte ihn so satt!
Wäre ich doch nur ein Magazin
und kein Tagesblatt!«
»Ich dachte mir schon immer, dass ich
mich im Abfall wiederfinde«
sagte das Packpapier
»Ich dagegen«, meinte eine Zeitschrift für Kinder
»war mit herrlichen Farben
und Illustrationen versehen
und für den Abfall gar nicht vorgesehen
Bin weder von der Sorte wie diese Tageszeitung
noch wie das Magazin hier neben mir
oder gar wie dieses … dieses Packpapier
Drum nehmt bitte zur Kenntnis:
Ich hab euch nicht gerade gern
und befehle jetzt allen:
Haltet euch von mir fern!«
Empörung machte sich breit:
»Was für eine Frechheit, welcher Hochmut!«
Und alle Papiere sprangen
aus dem Eimer vor lauter Wut
Morgens wunderten sich dann alle
und einigen ging es auf die Nerven
dass manche Leute den Abfall
einfach auf die Erde werfen
Renia.
Ich küsse Dich, muss jetzt aber pauken.
13. Februar 1939
Kann es einen grässlicheren Tag geben als einen Montag, den 13.? Montag allein ist schon grässlich genug, und dann kommt auch noch eine 13 hinzu. Ein Unglückstag! Heute lief es eindeutig schlecht für mich. Abgesehen von kleinen Desastern, musste ich auch noch zur Schule.
Wir haben Latein und Brühli kommt herein. Ich denke, sie wird uns schriftlich abfragen. Aber nein. Umso besser (denke ich), Gefahr vorüber. Doch es stellt sich heraus, dass wir doch eine Aufgabe bekommen, und die sollen wir auf kleine Zettel, die wir aus unseren Heften reißen, schreiben. Und die ist mir so gelungen, wie an einem Montag, dem 13. eine Aufgabe eben gelingen kann. Das heißt, an einem so grässlichen Tag brachte ich nur Grässliches zustande. Warum? Hmm … ja, warum eigentlich?
So kann nur ein Mensch fragen, der nicht abergläubisch ist. Erstens: Ich habe Unterricht versäumt und konnte deshalb bestimmte Grammatikformen nicht. Zweitens: Ich habe mich die ganze Zeit nur totgelacht. Und drittens: Die Zettel, auf denen ich die Aufgabe geschrieben habe, schienen mir nicht so wichtig zu sein. Also nahm ich alles nicht besonders ernst, weil ich nicht erwartet habe, dass Brühli die Zettel einsammeln würde.
In Geographie gab es dann einen heftigen und hartnäckigen Kampf um Stühle, und obwohl ich nicht an ihm teilgenommen hatte, wurde ich zu der Gruppe der Gestrandeten gezählt, was eine Trennung von Nora zur Folge haben sollte. Ich sollte mich also umsetzen. Aber es heißt ja nicht umsonst, dass ich nicht »blöd« bin.
Also schleiche ich heimlich mit Nora nach hinten zur letzten Bank und tue so, als ob nichts gewesen wäre. Gruca bemerkt es aber und sagt, ich soll mich umsetzen. Ich will nicht und sage, ich sei doch »brav«. Aber Gruca bleibt dabei: »Setz dich um!« Ich darauf: »Ich bin doch ganz ruhig«, und so geht es hin und her. Schließlich sehe ich ein, dass ich damit nicht weiterkomme, also suche ich nach etwas anderem. Gruca sagt: »Bitte schön, dort ist ein freier Platz, geh rüber«, und ich wieder darauf: »Oje, überallhin, nur nicht dort; ich bin doch so empfindlich, was Erkältungen angeht. Neben dem Ofen könnte es mir zu warm werden, und wenn ich schwitze, bekomme ich vielleicht eine Lungenentzündung.« Es wird Zeit, es endlich zu beenden. Also sagt Gruca: »Dann hier, bitte schön.« »Oh, neben der Tür! Wie kann ich neben der Tür sitzen, wenn ich doch so empfindlich bin?« Natürlich hat sich die Klasse totgelacht, alle schrien und brüllten vor Lachen. Schließlich sah ich jedoch ein, dass ich nichts mehr ausrichten konnte, also setzte ich mich so um, wie sie es mir gesagt hat, doch erst nach dem vierten Mal. Nora saß die ganze Zeit unter dem Tisch, während ich auf ihm trommelte. Dann sagte ich zu Gruca, ich würde die Landkarte nicht richtig sehen, und weil ich ständig auf den Tisch klopfte, hörte es sich so an, als ob jemand an der Tür wäre. Ich glaube, es gab noch tausend andere Abenteuer heute, aber gut, dass dieser doppelt und dreifach grässliche Tag endlich vorbei ist.
14. Februar 1939
Heute war Elternsprechtag. Ist nicht gut gelaufen: wegen des gestrigen Tages. Brühli sagte, dass meine Aufgabe furchtbar ausgefallen ist, also habe ich jetzt etwas, um mir Sorgen zu machen.
15. Februar 1939
Heute nichts Besonderes. Przemyśl bereitet sich auf einen Gasangriff vor, und ich bereite mich auf einen Nervenzusammenbruch vor. Alles wegen dieses Montags! Ich wurde in Chemie abgefragt, konnte aber alles! Dieser Dziedzic wollte mir tatsächlich eine Falle stellen.
26. Februar 1939*
Seit ein paar Tagen bin ich beschäftigt: Ariana ist gekommen. Morgen ist Versammlung, also muss ich den Bericht schreiben.
28. März 1939*
Gott, wie traurig ich bin, wie furchtbar traurig … Ich möchte nur weinen, weinen und schluchzen. Kann ich mit Worten ausdrücken, wie schrecklich ich mich fühle? Nein … das kann niemand. Mutti ist weggefahren und wer weiß, wann ich sie wiedersehe. Mit Nora bin ich seit ein paar Tagen zerstritten und muss deshalb »mit Irka gehen« – was auch nicht gerade hilft. Und schließlich die Erinnerungen … die sind immer da, und obwohl sie mir Tränen in die Augen treiben und mein Herz zerspringt, sind sie am süßesten. Es sind Erinnerungen an die schönste Zeit meines Lebens.
Es ist schon Frühling! Dort war es so schön zu dieser Jahreszeit, die Vögel sangen, die Blumen, der Himmel, das Herz und das Glück! Dort hat man jetzt an die Feiertage gedacht. Doch wie anders waren sie als all die hiesigen. Sie waren so behaglich, warm, herzlich und ich liebte sie so sehr. Am Sederabend wartete ich auf Elija, und vielleicht war er mal da, vielleicht gab es ja eine Zeit, als dieser heilige alte Mann tatsächlich gekommen ist, um glückliche Kinder zu sehen. Doch wenn er nur zu den armen Leuten eilt, in unseren gastfreundlich weit geöffneten Türen aber noch nie erschienen ist und sich mir noch nie gezeigt hat, so muss er jetzt kommen, er muss kommen, weil ich gar nichts mehr habe … nichts außer Erinnerungen …
Opa ist krank. Mutti hat große Angst um mich. Oh, ich bin ja so unglücklich! Manchmal esse ich absichtlich nicht, um zu vermeiden, dass …
Er lauert überall
bringt Krankheit und Verfall
Gespenstisch, knochig, bleich
greift seine Hand nach mir
und ich höre sein Flüstern:
»Du bist meine Begier …«
Aus jedem Staubkorn
jedem Biss
hallt sein Rufen in der Düsternis
Er zeigt mit dem Finger auf mich
und seine Stimme murmelt: »Ich will dich …«
2. April 1939*
Die Besinnungstage vor Ostern sind vorbei. Ich habe sie nicht gerade genossen. War mit Nora immer noch zerstritten und Irka hängte sich an mich, also war ich ein wenig mit ihr zusammen. Gegen Ende hatte ich nicht einmal ein gutes Buch. Die Feiertage rücken näher. Ich lerne jetzt Französisch, und wenn es keinen Krieg gibt, werde ich vielleicht nach Frankreich fahren. Ich sollte schon früher hin, aber zuerst hat Hitler Österreich besetzt, dann das Sudetenland, die Tschechoslowakei, Klaipėda, und wer weiß, was er jetzt machen wird. Und so hat er teilweise auch Einfluss auf mein Schicksal.
Ich wollte ein Gedicht für Ariana schreiben. Ich würde mich sehr freuen, wenn es gut wird.
Als das Huhn einmal erkrankte
und schon auf den Beinen schwankte
ging es zu Doktor Aderlass
und sprach: »Herr Doktor, tun Sie was!
Denn bin ich mal ärgerlich
spür’ ich gleich im Herz ’nen Stich
Etwas drückt da, welch Verdruss
(oh, wie ich doch leiden muss!)
Fühle mich plötzlich so schwach
liege ganze Nächte wach
Kann nichts trinken, kann nichts essen
könnten Sie mein’ Blutdruck messen?
Dann hab’ ich auch noch Migräne
und vergieße viele Tränen
Wenn mein Mann früh morgens kräht
spüre ich Nervosität
Und zum Schluss muss ich noch sagen
dass mich Schweißausbrüche plagen.«
Bei so vielen schlimmen Gebrechen
musste Doktor Aderlass
sich mit Kollegen besprechen
Dann sagte er zu dem Huhn:
»Es bleibt nur noch eins zu tun:
Da Sie so schrecklich leiden
sollten Sie aus dem Leben scheiden«
»Aber Herr Doktor!
Das ist sicher ein falscher Befund!
Denn Sie müssen wissen:
Ich bin völlig gesund!«
7. April 1939
Der Vogel sang: Ja … ja …
Die Jahre fliegen dahin, tra, la, la …
So viele Stunden verstreichen
und doch ist es immer das Gleiche
Ich bin so traurig … mir ist zum Weinen zumute … mir geht es so schlecht. Ich habe keinen neuen Mantel, mein jetziger ist schon sehr alt und abgetragen. Ich habe auch keine neuen Schuhe – so wie alle meine Schulfreundinnen –, und obwohl ich versuche mich damit zu trösten, dass ich süße Gedanken und schöne Zukunftsträume habe, so ist mir trotzdem traurig zumute. Ganz Przemyśl hat sich herausgeputzt, jeder glänzt schon von Weitem mit seinen neuen Festtagsschuhen: Das erkennt man an der Unterseite der Schuhsohlen und daran, dass man hier und da hören kann: »Oje, diese Hühneraugen!« Dabei hat jeder einen festlichen Gesichtsausdruck, genau so einen, wie man ihn an einem Feiertag haben sollte. Ich weiß auch nicht, warum mich die Festtagstimmung an die Zeit erinnert, als hier eine Luftschutzübung durchgeführt wurde.
»Herr Sztajner, glauben Sie mir: eine Komödie!«
»Unglaublich! Die haben aus mir, mein Lieber, irgend so einen Kommandanten gemacht. Ich laufe den ganzen Tag herum, weiß aber nicht, was man dabei überhaupt macht!«
»Jaja. Auf die alten Jahre zu einem Komödianten gemacht. So weit ist es gekommen.«
Solche Gespräche hörte man in der ganzen Stadt.
»Und ich sag Euch, Gevatterchen, dass es nach Krieg stinkt.«
»So isses. Wisst Ihr, dass es das Ende der Welt sein wird …? Weil da irgendwas davon geschwätzt wurde, dass sie ein paar Bomben von oben herunterlassen. Aber die sagen, dass es überhaupt keinen Krieg geben wird, nur dass die einen auf die anderen losgehen werden: die von unten und die von oben.«
»Ihr sagt, es wird keinen geben?! Ich aber sage, es wird ihn geben. Ihr, Gevatterchen, wisst es nicht, aber vor einem Krieg kleben die immer solche Plakate und laufen so herum, man weiß nicht, woher sie kommen. Oh, Gevatterchen, es wird Krieg geben, er wird noch kommen.«
K.: »Sirenen?! Alarm! Licht aus! Die Fenster verdunkeln! Kazia, schnell, den Schmortopf! Los, den Schmortopf schlagen!«, schreit der Kommandant.
Nachbar 1: »Aber was erzählt Ihr da, verehrter Nachbar? Es wurde deutlich gesagt, dass man im Falle eines Alarms gegen die Schiene schlagen soll.«
Nachbar 2: »Was zum Henker …?! Sind Sie verrückt geworden?! Im Falle eines Alarms soll man gar nichts tun, nur ruhig Wache stehen.«
K.: »Es ist doch wohl so, dass ich der Kommandant bin und weiß, was zu tun ist! Bitte schön, überall werden die Gongs geschlagen. Kazia! Den Schmortopf und die Schiene her! Man muss gegen beides schlagen.«
Nachbar 1: »Hören Sie, und die Armbinde?«
K.: »Das verbitte ich mir! Sie werden mir keine Anweisungen geben, wie ich vorzugehen habe. Wenn sich die Herren mir weiterhin widersetzen, werde ich mich sofort vom Blockwart meines Amtes entheben lassen. Wobei den Herren eine Geldstrafe droht.«
Nachbarin 1: »Werdet ihr endlich Ruhe geben, oder nicht?! Kaum habe ich die Kinder schlafen gelegt, fangen sie an, das Blech zu traktieren. Was soll das!? Sieht so eure Ordnung aus, dass ihr braven Bürgern keine Ruhe lasst? Sind Sie zum Kommandanten ernannt worden, damit Sie, anstatt für Ruhe zu sorgen, im Haus solchen Lärm veranstalten, die Kinder nicht schlafen lassen und anständige Leute aus den Betten holen?!«
K.: »Aber ich bitte Sie, es war doch Alarm …«
Nachbarin 2: »Was denn für ein Alarm? Es gab keinen Alarm! Frau Pietroszkowa, haben Sie etwas gehört? Meine Kinder sind eben gerade eingeschlafen. Henio ist krank, er hat die Grippe, und der Arzt hat ihm Ruhe verordnet, doch Mitten in der Nacht dieses Geschrei im Haus, unglaublich! Einfach unglaublich! Hat man so etwas schon gesehen?«
Pietroszkowa: »Genau, Sie sagen es! Was für ein Geschrei!«
Nachbar 2: »Sehen Sie, ich hab ja gesagt, dass man nur ruhig Wache stehen soll und warten, bis …«
Zosia (das Dienstmädchen): »Meine Herrin hat Migräne und sagte, wenn es nicht sofort Ruhe gibt, wird sie die Polizei rufen.«
K.: »Ich bin hier der Kommandant, trage die Verantwortung und werde deshalb das tun, was ich für angebracht halte. Irgendwelche Krankheiten interessieren mich nicht. Kazia … hau noch kräftiger auf den Topf!«
Wachtmeister: »Was ist hier los? Gehen Sie bitte zurück in Ihre Wohnungen, der Alarm ist längst vorbei. Was ist das für ein Lärm und Geschrei? Das muss ich mir notieren: Haus an der ulica Nieszczęśliwska 13. Alle Mieter zahlen Strafe für die Ruhestörung.«
Pietroszkowa: »Oh, du bist mir vielleicht ein Kommandant!«
4. Mai 1939
Ich habe Dir schon so lange nichts erzählt. Warum? Das frage ich mich auch. Ich lerne jetzt Französisch bei Professor Jerschina. Ich habe ein Referat über die römische Malerei geschrieben und habe noch vor – eigentlich habe ich schon damit angefangen – einen deutschen Artikel zu schreiben. Gestern, am 3. Mai, war ich beim Umzug dabei,3 und deshalb bin ich jetzt auch krank, weil ich vom Regen ganz durchnässt war.
Seit dem letzten Gespräch mit Dir hat sich vieles verändert. Mutti ist mit Ariana nach Lodz gefahren. Ich war böse auf Brühli, sie hat mich in Griechisch nicht abgefragt und sagte der Schulleiterin, Nora und ich würden den ganzen Tag nur spazieren gehen und herumlungern. Das hat Irka erzählt, aber Irka liebt es, Intrigen zu spinnen. Es gab ein Schulfest, aber ich bin nicht hingegangen. Dafür hat Luna eine Riesenschau abgezogen. Diese blöde Gans bildet sich ein, sie wäre meine Rivalin! Meine Rivalin! Es ist mir ziemlich egal, wie sie Gedichte vorträgt; ja, es ist mir vollkommen egal und zwar deswegen, weil ich vom Vortragen etwas verstehe. Ich will mich ja nicht loben. Doch ich habe den Eindruck, dass sie einmal eine Kabarettkünstlerin sein wird (das sieht man schon an der Frisur und an den Bewegungen). Und da ich vorhabe, in einem anderen Bereich zu arbeiten (wie ich vermute), werden wir wohl kaum aufeinandertreffen. Deshalb ist es dumm zu sagen, Luna wäre meine Rivalin. Ab heute erkläre ich ihr den Krieg – einen Krieg, den man tief im Inneren führt. Das habe ich ihr gestern gesagt und ich werde mich daran halten. Es war nämlich so, dass sie mich nicht in die Reihe lassen wollte, wo mein Platz ist. Schließlich kam die Kommandantin und sagte, ich soll auf ihren, das heißt Lunas, Platz gehen. Da sagt die zu mir: »Ich weiß, dass du recht hattest, aber ich wollte dich ärgern!« Sie wollte mich ärgern! Ha, ha, ha, das ist ja lächerlich. Sie, die in Latein von mir völlig abhängig ist, und überhaupt. Also habe ich ihr geantwortet: »Du wolltest mich ärgern? Dann denke daran, dass ich mir Mühe geben werde, dich auch zu ärgern.« Und daran werde ich mich halten. Werde mich bis zum Schluss daran halten, weil ich es will.
7. Mai 1939
Mai. Wie merkwürdig dieser Mai ist. So traurig … es regnet. Man stelle sich vor, es ist schon Mai, und ich habe kaum einen blühenden Baum gesehen oder den Duft der Felder, die zum Leben erwachen, gerochen. Meiner Felder … Es regnet. Gut, dass es regnet. In der letzten Zeit mag ich Regen, weil ich wenigstens weiß, dass es dort auch so war, wenn es regnete.
Gestern war ich auf einer Feier, und dann sprach ich mit Nora über verschiedene Dinge: über die verschiedenen Ziele, die Menschen im Leben haben, über den Nutzen des Lernens. Ich rede so gern, wenn ich weiß, dass mich jemand versteht …
Am Himmel geht leise der Mond auf
und leuchtet denen, die träumen
unten dröhnen die Straßen
in Eile, um nichts zu versäumen
Man hört das Echo der Schritte
es hallt auf dem Straßenpflaster
es poltern die Räder der Wagen
die grau durch die Städte hasten
So wie die vielen Taxis
und roten Straßenbahnen
die über Schienen gleiten
manchmal auch stehen bleiben
um sich die nächsten Massen
von Menschen einzuverleiben
Dann fahr’n sie bimmelnd weiter
von fremder Kraft angeschoben
währenddessen am Himmel
vom silbernen Schein umwoben
der Mond seine Runde zieht
ohne dass jemand sieht
wie schön sein Silberschweif
Denn unten sind nur das Rauschen
die Straße, die leuchtet und blitzt
Schaufenster und Reklame
von großen Lampen erhitzt
Niemand bewundert den Himmel
den silbernen Mondenschein
unten dröhnt weiter die Straße
und so wird es immer sein
Renia
Ich sehe dieselben Dächer, denselben Schreibwarenladen
die lange graue Straße, die unten wie ein Faden
sich schlängelt entlang der Häuser, vorbei an Regenrinnen
nur die Passanten wechseln und ihre Schatten zerrinnen …
Doch die Straße bleibt immer dieselbe, selbst wenn sie nass vom Regen
es sind auch dieselben Nachbarn, die immer im Garten fegen:
Der Rechtsanwalt mit Brille und seine ganze Familie
Darüber der Apotheker – unten Hausmeisterin Ottilie
Zwei Dienstmädchen im dritten mit dieser netten Alten
Und da, die süßen Kleinen, die ihre Puppen halten!
Sie öffnen ihre Fenster und schauen dann hinaus
und sehen die graue Straße – dieselbe tagein tagaus
Sie schlängelt sich entlang der Häuser und Regenrinnen
nur die Passanten wechseln und ihre Schatten zerrinnen …
18. Juni 1939
Heute ist mein Geburtstag. Ich will an nichts Trauriges denken: dass ich nicht dort bin … still! Ich überlege also: Was habe ich bis heute Nützliches getan?
Stimme: Nichts.
Ich: Ich bin doch gut in der Schule.
S.: Das ist aber nicht dein Verdienst. Und nun?
Ich: Nichts. Ich will unbedingt nach Frankreich.
S.: Willst du berühmt sein?
Ich: Ich wäre gerne berühmt, werde es aber nicht sein. Also will ich glücklich sein, sehr glücklich.
Schon morgen gibt es Zeugnisse, aber das beeindruckt mich nicht, gar nicht … gar nicht … gar nicht … Wieder mag ich den Jerschina unheimlich gern, Brühli dagegen weniger. Nora sag ich nichts davon, ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Morgen werde ich Dir etwas über unseren Ausflug erzählen.
Wenn der Mensch nur Flügel hätte
und jedes Ding eine Seele
wenn die Welt verrückt nur wäre
und es Glut regnete aus der Sonnenkehle
dann würden alle durch die Lüfte tanzen in langen Reihen
»Mehr, wir wollen mehr!«, würden sie schreien
»Gib uns Wind, gib uns Elan!«
Eng und dunkel ist die Welt
sie soll sein wie ein Titan
riesig, wie das Himmelszelt!
Unermesslich soll sie sein
und sich in sich selbst verlieren
gehalten von Groß und Klein
von Händen, die nach ihr gieren
Voller Licht sei ihre Zeit
bis sie in den Abgrund sieht
darin das Jenseits, die Unendlichkeit
Dann verstummt ihr wildes Lied
wenn sie erschöpft und voller Verdruss
schließlich fallen muss
15. August 1939*
Es ist lang her, dass ich mit Dir gesprochen habe, sehr lang. Der Tag, als es Zeugnisse gab, ist längst vorbei, die Ferien gehen langsam zu Ende, und ich habe die ganze Zeit nicht mit Dir gesprochen.
Ich war auf dem Land bei meiner Tante und in Warschau, wo ich Mama gesehen habe, und jetzt bin ich wieder da. Aber Du weißt ja von nichts! Eingeschlossen und zurückgelassen liegst Du da mit meinen Gedanken und weißt nicht, dass es eine heimliche Mobilmachung bei uns gibt, Du weißt nicht, dass Russland einen Pakt mit Deutschland geschlossen hat,4 Du weißt nicht, dass sich die Menschen mit Lebensmitteln eindecken, dass alle wachen und warten … Als ich mich also von Mama verabschiedete, umarmte ich sie ganz fest. Ich wollte mit dieser stummen Umarmung alles sagen, ich wollte ihre Seele mitnehmen und ihr die meine dalassen. Wann hätte ich das sonst tun können???
Diese mütterliche Umarmung
die einzige und die letzte
Sie bleibt mir an allen Tagen
wenn Tränen, Unglück, Sorgen
mich quälen, zerreißen, plagen
Wir werden zusammen sein du und ich
wenn die Sonne die Wolken durchbricht
Heute kann ich nicht logisch denken. Angeblich nennt man das »Spleen«: Etwas taucht wie ein Blitz auf, und dann verschwimmt es irgendwo im Nebel. Zickzacks, Kreise, Streifen, Nebel … rosa-grüner Nebel. Nein. Nichts interessiert mich. Es gibt nur einen Gedanken, der mir im Kopf herumschwirrt, ein einziger und immer derselbe: Mama … Krieg … braune Schuhe … Krieg … Mama.
6. September 1939
Am Donnerstag brach der Krieg aus! Zuerst hat er am 30. oder 31. August zwischen Polen und Deutschland angefangen.5 Jetzt haben sowohl England als auch Frankreich Hitler den Krieg erklärt und haben ihn von drei Seiten in die Mangel genommen. Der ist aber auch nicht gerade untätig. Über Przemyśl fliegen ständig feindliche Flugzeuge, immer wieder ist Alarm. Aber Gott sei Dank wurde noch keine einzige Bombe auf unsere Stadt abgeworfen. Weil andere Städte – wie Krakau, Lemberg, Tschenstochau, Warschau – teilweise schon zerstört wurden. Aber wir kämpfen, wir alle kämpfen, angefangen bei den jungen Mädchen bis zu den Soldaten. Die Gruppe der PWK,6 der ich angehöre, übernimmt auch verschiedene Arbeiten. Ich habe schon Schutzgräben gegen Bomben ausgehoben, Gasmasken genäht, bin als Botin unterwegs, habe Dienst am Bahnhof (serviere den Soldaten Tee), sammle Lebensmittel für die Soldaten, mit einem Wort: Ich kämpfe mit der ganzen polnischen Bevölkerung. Ich kämpfe und werde siegen!
10. September 1939
O Gott, mein Gott! Wir sind schon den dritten Tag unterwegs. Sie haben Przemyśl bombardiert, und wir mussten fliehen. Wir sind zu dritt: Ariana, Großvater und ich. Unterwegs hören wir, dass Przemyśl weiterhin zerstört wird. Oma ist dort geblieben. Gott, bitte beschütze sie. Nachts verließen wir mit unseren Bündeln zu Fuß die brennende und zum Teil zerstörte Stadt.
Wir verließen die Stadt
wie Vertriebene
allein in stummer dunkler Nacht
Der Stadt letzter Gruß
war die Verwüstung
ihre Echos erzählten von der Schlacht
Die Umarmung der fernen Mutter
der guten Menschen Segen
sie sollen uns ein Trost sein
auf diesen dunklen Wegen
Wir werden
das Grauen durchwandern
bis endlich der Tag anbricht
Vertrieben sind wir und einsam
ohne ein Hoffnungslicht
18. September 1939
Wir sitzen auf einem Gutshof fest. Beinahe eine Woche sind wir schon hier und können nicht nach Zaleszczyki gelangen. Lemberg ist belagert. In der Stadt fehlt es an Nahrung. Manchmal stehe ich schon bei Tagesanbruch auf und stelle mich in einer langen Schlange für Brot an. Außerdem sitzen wir den ganzen Tag im Luftschutzbunker, das heißt im Keller, und hören das grauenvolle Pfeifen der Kugeln und das Bombengetöse. Gott, rette uns. Nicht weit von hier haben ein paar Bomben mehrere Mietshäuser zerstört. Nach drei Tagen wurden noch lebende Menschen unter einem Haufen von Trümmern hervorgeholt. Manche schlafen auch nachts in den Bunkern, und diejenigen, die sich trauen, zu Hause zu bleiben, sind gezwungen, ihren Schlaf öfters zu unterbrechen, um dann nach unten in die Keller zu rennen. So ein Dasein ist schrecklich; von diesem Kellerleben sind wir alle gelb und bleich, auch wegen des Wassermangels und weil uns ein bequemes Bett und Schlaf fehlen. Aber viel schlimmer sind die furchtbaren Gedanken. Sie kreisen wie Geier im Kopf herum und sind schwarz wie die Nacht.
Oma ist in Przemyśl geblieben, Papa in Zaleszczyki, Mama, meine geliebte Mutti, in Warschau. Das belagerte Warschau schlägt sich tapfer, immer wieder wehrt es die feindlichen Angriffe ab. Wir Polen kämpfen ritterlich im offenen Feld, so, dass uns der Feind und Gott sehen können. Und nicht so wie die Deutschen, die Häuser der Zivilisten bombardieren, Kirchen in Staub verwandeln, kleine Kinder mit Bonbons vergiften (verseucht mit Typhus- und Cholerabakterien) und ihnen Luftballons voller Senfgas schenken. Auch wir wehren uns, so wie Warschau, Lemberg und Przemyśl. Aber in Warschau ist Mama, der Mensch, den ich am innigsten liebe, der mir am nächsten ist, meine Allerliebste. Die Arme …, ich weiß: Wenn sie sieht, wie sich dort in den Luftschutzbunkern die Kinder an ihre Mütter schmiegen, dann fühlt sie genauso wie wir, wenn wir das sehen. Mein Gott! Allmächtiger und Einziger. Beschütze und bewahre meine Mutter, schicke ihr die Gewissheit, dass wir leben. Barmherziger Gott, bitte mach, dass es auf der Welt keinen Krieg mehr gibt und dass alle Menschen gut werden und glücklich sind. Amen.
22. September 1939
Mein liebes Tagebuch! Heute habe ich einen merkwürdigen Tag erlebt. Lemberg hat sich ergeben. Aber nicht den Deutschen, sondern Russland. Auf der Straße wurden die polnischen Soldaten entwaffnet. Manche warfen mit Tränen in den Augen die Bajonette auf die Erde und schauten zu, wie die Russen ihre Gewehre zerbrachen. Zivilisten nahmen die Pferdesättel und die Decken mit. Ich bin voller Schmerz, so voller Schmerz … Ein kleiner Rest wehrt sich noch. Trotz der Befehle kämpfen die Verteidiger von Lemberg heldenhaft, um für ihr Heimatland zu sterben.
Die Stadt ist gefallen
doch an ihren Rändern
kämpft heldenhaft und ohne Befehl
eine Handvoll Soldaten
Sie wollen sich nicht ergeben
sie verteidigen Lemberg mit ihren Leben
28. September 1939
Die Russen sind in die Stadt einmarschiert.7 Es fehlt weiterhin an Lebensmitteln, Kleidung, Schuhen, überhaupt an allem. Vor jedem offenen Geschäft stehen Schlangen. Besonders die Russen kaufen hier gerne verschiedene Dinge. Sie sind erpicht auf Uhren, Stoffe, Schuhe usw. Diese Rote Armee ist merkwürdig. Man kann einen Offizier von einem einfachen Soldaten nicht unterscheiden. Alle tragen die gleiche grau-braune Uniform, sprechen in einer unverständlichen Sprache mit mir, nennen sich gegenseitig Genosse. Allerdings sind die Gesichter der Offiziere etwas intelligenter. Ganz Polen ist von den deutschen und russischen Truppen überrollt. Die einzige Insel, die sich noch verteidigt, ist Warschau. Die Regierung ist ins Ausland geflüchtet … und ich habe so sehr an uns geglaubt. Wo ist Mama? Was ist mit ihr passiert? Gott! Du hast meine Gebete erhört – es gibt keinen Krieg mehr (zumindest sehe ich ihn nicht). Erhöre jetzt den ersten Teil meines Gebets und schütze meine Mutter vor dem Bösen. Wo immer sie auch ist und was auch immer mit ihr passiert, wache über sie, so wie Du über uns wachst, und hilf ihr in jeder Not! Amen.
27. Oktober 1939
Ich bin schon seit Langem wieder in Przemyśl und gehe zur Schule. Der Alltag ist wieder zurückgekehrt, doch wie anders, wie traurig er ist. Mama ist nicht da. Es gibt kein Lebenszeichen von ihr. Ich hatte einen so furchtbaren Traum, in dem sie starb. Doch ich weiß, dass das unmöglich ist. In der letzten Zeit weine ich ständig, weil ich so böse Vorahnungen habe. Wenn ich nur wüsste, dass ich sie in zwei Monaten oder in einem Jahr sehen kann. Hauptsache, ich würde sie sehen. Nein, das darf nicht sein, lieber soll ich sterben. Gott, gib mir einen leichten Tod.
28. Oktober 1939
Wie merkwürdig ist doch das Schulleben. Gestern war eine Versammlung, vorgestern ein Umzug. Wenn Jubel zu Ehren Stalins ertönt, schweigen die Polinnen, sie jubeln nicht mit. Dafür schreiben sie geheime Aufrufe wie: »Noch ist Polen nicht verloren.« Aber unter uns gesagt: Es ist schon seit Langem verloren. Jetzt ist hier die Westukraine, und es herrscht »Kommunismus«: Alle sind gleich, und das schmerzt sie. Es schmerzt sie, dass sie nicht mehr »Du miese Judensau« sagen können. Sie sagen es trotzdem, aber inoffiziell.
Das sind hübsche Jungs, diese Russen (nicht alle), einer wollte mich unbedingt heiraten. »Gehen wir auf mein Zimmer, Fräulein, lass uns leben« usw. usw. Frankreich und England prügeln sich mit den Deutschen, und auch hier sieht es so aus, als ob etwas passieren würde, doch was geht mich das an? Hauptsache, Mama kommt und ist bei uns, dann kann ich jedes Glück und Unglück ertragen. Bei uns ist ein »Tantchen« gestorben, so eins mit silbergrauen Haaren, ein mageres, runzeliges Mütterchen:
Sie lebte still vor sich hin
und ging so unbemerkt wie ein Schatten
an einem trüben Herbsttag
wird man sie nun bestatten
Das alte Mütterchen
zittrig und voller Falten
der Hauch ihres greisen Atems
er wird für immer erkalten
Sie lebte ihr Leben so heiter
doch jetzt geht es ohne sie weiter
Das Mütterchen mit dem silbernen Haar
sie ging von uns für immer
ein Schatten – so unscheinbar
1. November 1939
Heute bin ich sehr wütend. Wütend, so sagt man. Aber in Wirklichkeit bin ich traurig, sehr, sehr traurig. Ein Jugendclub wurde eröffnet. Viele Mädchen und Jungen gehen in diesen Club, und es ist lustig dort (für wen auch immer).
Ich bin nicht mehr in Brühli verliebt und ich habe es auch schon Nora gesagt, die mir dasselbe gestanden hat. Laut dem Entwicklungsstadium eines Mädchens müsste ich mich jetzt in einen Jüngling »verlieben«. Jurek gefällt mir. Aber Jurek weiß nichts davon, er ahnt es nicht einmal. Davon weißt Du, Du und ich, und …
Am ersten Tag im Club war es lustig (das heißt, ich hatte Spaß), doch heute fühlte ich mich dort wie bestellt und nicht abgeholt. Sie spielten das Flirt-Spiel (wie dumm das doch ist), und ich bekam nicht eine Karte. Selbst Dir gegenüber ist mir das peinlich. Dieser Julek (nicht Jurek) scheint mich zu mögen, aber warum? Vielleicht deshalb, weil ich so ganz anders als meine Schulfreundinnen bin? Ich sage nicht, dass das gut ist, vielleicht sogar schlecht, doch ich bin ganz anders … Ich kann nicht schmeichlerisch lachen. Wenn ich lache, dann ganz ehrlich und offen. Ich kann mich in der Gesellschaft von Jungs nicht »benehmen«. Deshalb bereue ich, dass das Vergangene vorbei ist, diese rosigen … blauen … sorgenfreien Jahre. Als Mutti bei mir war, als ich mein eigenes Zuhause hatte, als es still war in der Welt, als alles blau, hell, heiter war, und als es auch in meinem Herzen so aussah.
Ich lebte inmitten von fröhlichen Wiesen
von sonnengeküsstem Getreide
Ich lächelte den Sternen zu
dem rosigen Morgen, der Heide
Mein Leben war auch so rosig
hell wie die Sonnentage
und ich war ihr glückliches Echo
ohne Sorge und Klage
Mein Lachen war ein silbernes Glöckchen
das in den Lüften schwebte
das allen wohlgesonnen war
und alles liebte, was lebte
Ich kannte keinen Herzensschmerz
dachte, so wird es bleiben
doch auch wenn ich heute noch jung bin
muss ich mit Tränen schreiben:
Es ist noch gar nicht so lange her
doch es kommt nicht wieder … nimmermehr …
6. November 1939*
Ich bin krank, habe eine Halsentzündung. Aber ich atme jetzt leichter, denn ich weiß, dass Mama lebt, dass sie in Warschau ist. Sie wird schon sehr bald zu mir kommen. Oh, ich warte … warte so sehr … Ticio8 hat eine Postkarte geschickt. Dort in Horodenka9 haben sie alles in Hülle und Fülle. Papa wird eine Stelle als Landwirt bekommen. Vielleicht wird er dann etwas Proviant hierherbringen.
Wir haben drei Tage frei. Es ist der Jahrestag der Revolution. In den Schulen wird es Morgenversammlungen und Jugendumzüge geben. Wie schade, dass ich nicht daran teilnehmen kann. Ich bin krank …
9. Dezember 1939
Bald sind Ferien. Papa hat eine Stelle in einer Zuckerfabrik bekommen, vielleicht fahre ich hin. Mama ist in Warschau und hat nicht vor, hierherzukommen. Vielleicht bekomme ich ein Stipendium … hoffentlich …
Ich liebe ihn, er ist wundervoll, er ist so, wie ich ihn mir erträumt habe, ich liebe ihn – aber eigentlich weiß ich nicht, ob das Liebe ist. Er weiß nichts von mir und ich nur von ihm, dass er beim Grenzschutz ist. Und noch eins weiß ich, so etwas »Backfischhaftes«: dass ich furchtbar gern seinen Mund küssen würde, seine Augen, Schläfen, so wie man es in Romanen liest.
Irka ist leidenschaftlich, sie geht zu Marysia, dort gibt es viele Betten und jedes Paar geht in ein separates Zimmer und … das gibt viel zu denken. Und im Handarbeitsunterricht sagte Belka einen sehr seltsamen Satz (Belka weiß viel): »Ihr werdet schon sehen, wie breitbeinig Irka läuft …« Uhh … das ist ja widerlich. Nein, ich bin nicht leidenschaftlich, ich möchte einen reizenden Ehemann haben, so einen wie ihn … Ich würde gern auf der Krim in einer hübschen Villa wohnen, einen Sohn mit goldblondem Haar haben, glücklich sein und alles lieben …
Ich muss noch die Übersetzung eines deutschen Gedichts machen. Oh, wie mir jetzt die Schule zum Halse heraushängt!
Millionen Hände arbeiten stets
voll Eifer unterm Himmelszelt
Und jede Hand die einen Hammer hält
ist wie der Atlas dieser Welt
Es klappert, rattert und es klopft
ein eiserner Klang wie beim Schmied
Es knirscht und knallt wie ein Donnerschlag
der Arbeit ewiges Lied
So viele Walzen müssen sich drehn
so viele Schrauben müssen entstehn
Es muss sich mühen ein Jedermann
damit die Welt auch leben kann
Tausende Schläfen müssen schwitzen
in Köpfen die Ideen aufblitzen
damit die Flamme dieser Welt
uns immer unseren Weg erhellt
10. Dezember 1939
»Wir arbeiten!« So heißt unsere kleine Zeitung. »Arbeit ist Macht!«, »Vorwärts durch Arbeit« und noch viele andere Losungen habe ich gehört. Ich habe lange darüber nachgedacht: Was ist Arbeit? Sooft ich überlegte, hatte ich verschiedene Bilder vor Augen. Da zieht eine graue Arbeitsarmee: Ich sehe Arbeiter, gesenkte Schülerköpfe, Flieger in surrenden Flugzeugen, Matrosen irgendwo auf den Meeren. Das alles ist eine gewaltige Arbeitsarmee und die Arbeit ist in vollem Gange – auf dem Meer, an Land und in den Lüften. Ja, aber was ist Arbeit?
Alles bebt und knattert in der Luft
das ist die Arbeit, die Arbeit, die uns ruft
Sie dröhnt und trommelt und schreit: »Allez, allez«
und sucht Soldaten für ihre Arbeitsarmee
Sie will sie alle: auf dem Land und auf den Meeren
die aus dem Bergwerk und jene, die Ozeane durchqueren
Sie sollen den Hammer und das Ruder ergreifen
um das Leben immer wieder neu zu begreifen
Und so erobern sie die Welt im Vertrauen:
Nur mit Arbeit können wir etwas erbauen
15. Dezember 1939
Weder wurde im Radio verkündet, dass es in einem gewissen Gymnasium in Przemyśl eine Explosion gegeben hat, noch stand es in den Zeitungen, und auch die Zeitungsverkäufer schrien nicht: »Die Konopnicka-Schule wurde vom Wasserdampf in die Luft gejagt!« Keiner wusste irgendetwas, und doch war da »Etwas«. Dieses »Etwas« passierte während des Chemie- oder Physikunterrichts, natürlich noch vor dem Krieg.
Es war so: Wir hatten in Physik einen Gast, jede von uns zitterte wie Espenlaub, und wir benutzten alle Hilfsmittel wie: »Stille Post«, Anschubsen, Treten, Räuspern und was uns sonst noch einfiel. Endlich ging es mit dem Unterricht los. Es lief hervorragend! Etwas rauchte! Auf den Tisch wurden eine Unmenge Fläschchen, Kolben, Schälchen, Reagenzgläser, Röhrchen, Ständer, Bunsenbrenner und weitere Geräte gestellt. Das alles sah ziemlich mächtig, effektvoll und sehr »wissenschaftlich« aus. Und als das alles zurechtgelegt und miteinander verbunden wurde, war es einfach nur wunderschön. Noch heute höre ich ganz deutlich diese Stimme: »… aber bitte lassen Sie die Wasserdampföffnung frei, das ist sehr wichtig.« Aber ja, natürlich! Selbstverständlich! Unbedingt! Und alles lief wundervoll, außergewöhnlich, die Reaktionen waren ganz und gar vorbildlich bis … oh Schreck! Zeus’ Donner war ein leises Raunen, und das Rasseln der Schwerter bei Troja ein zartes Rascheln im Vergleich mit dem, was folgte. Die Fläschchen, Reagenzgläser, Schälchen, Gefäße sprangen zunächst in die Luft, und dann landeten sie auf unseren unglückseligen Tischen, Heften und Büchern. Natürlich war der verehrte Gast empört und überhaupt … Aber das soll ein Geheimnis bleiben, weil die Tageszeitung und das Radio darüber schwiegen. Da ich das aber schon »ausgeplaudert« habe, bitte ich euch um Diskretion und »es sollte unter uns bleiben«.
26. Dezember 1939
Und schon ist das Halbjahr zu Ende. Wie der Blitz, so schnell ging es vorbei. Zuerst wurde ich zur Leiterin des Theaterzirkels gewählt, dann sollte es einen Tanzabend mit Jungen geben, dann wurden in der Stadt eine Menge Razzien durchgeführt, dann wurden vier Sexualmorde verübt, und jetzt kann ich schon morgen Nacht nach Horodenka zu Papa fahren. Morgen muss ich noch zu einer Versammlung und werde zur Probe zu den »Słowaken«10 gehen. Vielleicht wird es sogar ein gemeinsames Fest geben, zu schade, dass ich nicht dabei sein werde, weil ich in der letzten Zeit irgendwie so etwas fühle … Ich habe dämliche Gedanken, die mir auch noch Spaß machen. Das sind einfach dumme Gedanken über das Leben, das Kaufen von Puderdosen, das Knipsen von Fotos. Alles, einfach alles erscheint mir dämlich. Morgen ist Versammlung. Ich muss ein satirisches Lied über unsere Klasse 4a vorbereiten, eine Umarbeitung von »Leide, leide, meine Seele«.11
I
Leide, meine Seele, und du wirst erlöst sein
leidest du nicht, spürst du der Verdammnis Höllenpein
Bei uns in der Vierten
gibt’s so viele Mädchen
sie frieren trotz Ofen
besonders das Käthchen
Leide, meine Seele, …
II
Sitzen mal am Ofen
die spitzbübischen »Asse«
rufen gleich die Mädels:
»Raus aus unsrer Klasse!«
Leide, meine Seele, …