»Tanzen, Singen, Freiheit«. Memoiren - Josephine Baker - E-Book

»Tanzen, Singen, Freiheit«. Memoiren E-Book

Josephine Baker

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Beschreibung

Die große Autobiographie der größten Tänzerin ihrer Zeit Josephine Baker schaffte es aus einfachsten Verhältnissen ganz nach oben und inspirierte mit ihrer Energie Generationen von Frauen – bis heute. Hier erzählt sie ihre Lebensgeschichte in ihrem ganz eigenen Stil – von der Kindheit in den amerikanischen Südstaaten, ihrem Aufstieg als Tänzerin und Sängerin, dem glamourösen Leben in Paris bis zu ihrem heldenhaften Einsatz gegen das NS-Regime im Zweiten Weltkrieg. Mit einem Vorwort ihres Adoptivsohns Jean-Claude Bouillon-Baker und einem Essay von Mona Horncastle. »Ich lüge nicht, ich mache das Beste aus meinem Leben.« Josephine Baker

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Seitenzahl: 360

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Josephine Baker

»Tanzen, Singen, Freiheit«

Memoiren

Reclam

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

RECLAM Nr. 962357

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: © SZ Photo / Scherl / Bridgeman Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962357-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011522-0

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Vorwort

Einführung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Holland

Dänemark, Schweden und Norwegen

Rumänien

Tschechoslowakei

Österreich

Ungarn

Spanien

Deutschland

Argentinien

Uruguay

Chile und Brasilien

Kapitel 4

Kapitel 5

Antwort auf eine Umfrage: Was denken Sie von der Zukunft der Frau?

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Das Revival der Josephine Baker

[7]Vorwort

Jean-Claude Bouillon-Baker

Das Jahr 2021 klang mit einem Höhepunkt aus. Die Toleranz erleuchtete den Himmel über Paris, hüllte ihn ein in die Würde des Menschen. Die Fahnen der Treue und des Engagements wurden entrollt.

 

Welcher Zeitgenosse hätte noch vor kurzem gedacht, dass »Der Paradiesvogel«, »Die schöne Wilde«, »Die Schwarze Venus«, das »Idol der Ironie und des Goldes« je ins Panthéon einziehen würde? Am 30. November 2021, einem Dienstag, sagten Paris und Frankreich ihr nicht »Adieu«, wie 46 Jahre zuvor auf den Stufen der Madeleine, die damals geschmückt war für ein nationales Staatsbegräbnis – sondern begrüßten sie an jener neuen, ewigen Ruhestätte, die sie nun beziehen würde. Die französische Nation ehrte sie und stellte sie damit den großen Wohltätern der Allgemeinheit gleich. Gewiss hätte sie, bescheiden und in aller Entschiedenheit, diese für gewöhnliche Sterbliche viel zu schwere Krone abgelehnt. Und dennoch ist es kein Traum. Von nun an wird das ehemalige Kind der Straße seine letzte Ruhestätte mit dem Schriftsteller Maurice Genevoix teilen.

Während dieses langen und zugleich kurzen Zeitraums wuchs ihr Bild unaufhörlich in den Herzen aller Frauen und Männer: Inzwischen haben zwei Generationen neugieriger Geister die inspirierende Schönheit dieser außergewöhnlichen Frau kennen- und schätzen gelernt. Der klare, gerade Pfad ihres Lebens hat sich ihnen enthüllt, ohne die Zweideutigkeit einer Kurve, ohne verschwiegene Seitenwege, ohne eine einzige Abweichung im Gewirr der vielen möglichen Entscheidungen. Es ist der Weg, den jene gehen, die Dinge tun, ohne zuerst an sich zu denken.

[8]Nun kannst du dich in die brüderlichen Arme Aimé Césaires schmiegen, der die Négritude besang … und in jene des verschmitzten Alexandre Dumas, eines von der Nachwelt reingewaschenen Mischlings, der gewiss gern ein Heldinnenepos für dich gesungen hätte, wenn er dich denn gekannt haben würde. Du liegst neben dem heroischen Toussaint Louverture, der die Sklaverei in seinem Heimatland Haiti abschaffte und von dem du uns in aufwühlenden Liedern erzählt hast. Alle vier seid ihr hier eingezogen, nach tausendundeiner Irrfahrt und den Umwegen einer durch eure Hautfarbe bestimmten Sklaverei, gegen die ihr aufbegehrtet. Seite an Seite ruhst du neben den großen Genies der Worte, Victor Hugo, Émile Zola, den universellen Fürsprechern der Armen, den Verächtern der Ungerechtigkeit. Obwohl du in Schulen und den Stätten des Wissens nur kurz verweiltest, bist du diesen großen Geistern durch deinen Instinkt und die Taten deines gesamten Lebens ebenbürtig. Andere vielbewunderte Frauen haben dich bei der Hand genommen und begleiten deinen Trauerzug … Marie Curie, Simone Veil, Geneviève de Gaulle-Anthonioz! Schaut her! Dein Schicksal hat sich bis an die äußerste Grenze zwischen den Herzen der Lebenden und dem Geist der Toten erfüllt. Jetzt löst du dich und dringst in diese Mauern vor, mit jenem Abdruck deiner Existenz, der sich in all deinen Schritten offenbarte: Beherztheit.

Dieses Buch ist ein Wunder. Hier »hören« wir Tumpie (ihr Spitzname aus der Kindheit, so nannten sie alle ihre Lieben und Nächsten), Josie, jene noch unerfahrene und bisweilen in Sackgassen geratende Heranwachsende in den Theatern, die Schwarzen vorbehalten waren, Josephine, die auf beiden Seiten des Atlantiks als selbstbewusste und revolutionäre Tänzerin von sich reden macht … Josephine Baker, die göttliche Ikone. All die leise raunenden Stimmen dieser einen Frau begeistern sich über die Schönheiten aller Länder, die sie bereist und kennenlernt, deren Erinnerungen sie wie einen Schatz in ihren vielen zufälligen Häusern hütet und die sie schließlich nach und nach in ihrem wahr gewordenen Traum aus Stein im Périgord neu [9]zusammensetzt. Die Ungleichheit der Menschen, ihre vielen unterschiedlichen Hautfarben, die polyphonen Zuschauer überall auf der Welt bewegen sie; und während ihrer Kindheit und der üppigen, prächtigen jungen Jahre ist sie immer umgeben von großen und kleinen Tieren, ungeachtet ihrer Rasse oder Anmut. Diese Stimme, herübergerettet aus der Vergangenheit und den damaligen Sitten, fließt gleichsam über vor kristallener, reiner Güte und impulsiver Großzügigkeit. Aus ihr spricht die Kraft eines von Armut und Ungerechtigkeit gezeichneten und gestärkten Herzens. Aber sie offenbart vor sich selbst und anderen noch in den dunklen, entscheidenden Tagen ihre unbedingte Treue und Einsatzbereitschaft. Auch in den Stahlstürmen des Zweiten Weltkrieges erhält sie sich ihre unerschütterliche Zuversicht, ihre Tatkraft und den festen Glauben, bis hinein in die Nachkriegszeit, in der sie ein letztes Mal heiratet (das Brautgeschenk besteht bereits aus zwölf Lebensversprechen) und von der Bühne abtritt, um zu jener Mutter zu werden, die das Schicksal mir zugedachte.

Dank der stets liebevollen, Anteil nehmenden, poetischen und zu einem nahezu makellosen Stil verfeinerten Feder Marcel Sauvages (ist es nicht eine wunderbare Ironie des Schicksals, dass er damals bei ihrem ersten Auftritt in »La Belle Sauvage de Paris« unter den Zuschauern war?) gleicht dieses Buch von Anfang bis Ende einem Lichtstrahl. Paris liebt Josephine, und sie liebt Frankreich; es wurde eine triumphale, eine prächtige Hochzeitsfeier … Die goldenen Zwanzigerjahre waren das Zwischenspiel bis zur Machtergreifung der Volksfront (Front populaire), einem Zusammenschluss der Linken unter Léon Blum. Sie tanzt auf dem Wirbelsturm der Vergnügungen, der Feste, der libertären Kunstausstellungen. Und sie ist das schwarze Herz dieses unablässigen Flimmerns und Funkelns.

Dann brach der Krieg aus. Welchen Weg sollte sie jetzt einschlagen? Sie hielt ihren Eid in Ehren und hatte Sinn für Geheimnisse … Ihre Bereitschaft, sich ohne Wenn und Aber in die Dienste der Spionageabwehr zu stellen, ist der unwiderlegbare Beweis dafür, dass sie nun endgültig zur Französin geworden [10]war. Sie schwebte unzählige Male in Lebensgefahr und stieg wie der Phönix, dem sie ebenfalls gleicht, aus der Asche empor, um ihrem letzten Triumph entgegenzufliegen.

Ihr Leben war geprägt von einer bedingungslosen Hingabe und Zärtlichkeit für jene, die ihr nahestanden und sie umkreisten, den magnetischen Sonnenstern, beunruhigend und nahe, vertraut und doch rätselhaft. Selbst widerwillige Briefeschreiber erlagen ihrer ruhigen, gleichsam natürlichen Beschwörungskraft, die sie bis zu ihrem letzten Atemzug verströmte. An diesem Tag wollte keiner tatsächlich glauben, dass sie verstorben war, und ein englischer Historiker schrieb folgenden kurzen Eintrag in das Kondolenzbuch im Fürstentum Monaco: »Sie war bewundernswert, mystisch, magisch, unvorhersehbar, idealistisch, verrückt, großzügig und warmherzig.« Bewundernswert war sie, von äußerster Freundlichkeit, eine tanzende, schalkhafte Tanagra-Figur, eine junge Frau mit Flügeln … Mystisch in reinster Form, wild, alle guten Götter in einer Person vereint. Magisch: entkleidet, bekleidet auf der Bühne, dem Bildschirm, im Leben, eine Zauberin, die die Gabe besaß, ihre Bewunderer niemals altern zu lassen … Unvorhersehbar, mit stets wachem Instinkt und tiefer Überzeugung im Herzen. Idealistisch: Die Feen der Utopie hatten sich über ihre Wiege gebeugt, und sie glaubte unerschütterlich an die Möglichkeit eines brüderlichen Zusammenlebens. Unendlich großzügig. Warmherzig, überströmend vor Liebe und Zärtlichkeit für alles, was auf Erden lebt.

Das Leben dieser zur Französin Gewordenen ist wie ein Lied der Treue und unbedingten Hingabe von Leib und Seele … Es drückt Dankbarkeit aus gegenüber ihrer wahren Heimat. Sie sagt uns, dass wir das Stückchen Erde, auf dem wir uns verwurzeln, lieben sollen … dass Männer und Frauen auf allen Breitengraden einander lieben sollen, für das, was sie im Innersten sind: einander ebenbürtige Menschen. Als ein herausragendes Beispiel für dreifache Widerstandskraft – als Frau, die in Armut aufwuchs und schwarz ist – widerlegt sie ganz allein jeglichen [11]Determinismus, der überwältigt, einsperrt, den Willen zur Veränderung mit altem Leid hemmt.

Nun, da sich die Pforten des Panthéon hinter dieser strahlenden Kämpferin geschlossen haben und sie gleich einem Leuchtturm gemeinsam mit anderen in die Vergangenheit und die Zukunft strahlt, hebt dieses Buch den Vorhang und lässt uns die einzigartige Stimme einer der außergewöhnlichsten Frauen des 20. Jahrhunderts hören.

[13]Einführung

Mademoiselle Josephine Baker brach in lautes Lachen aus, als ich ihr bei unserem ersten Treffen – Ende des Jahres 1926 – den Vorschlag machte, ihre Memoiren zu schreiben.

Sie war gerade zwanzig Jahre alt geworden und bewohnte zwei große Zimmer in einer ruhigen Familienpension in der Nähe des Parc Monceau.

Zwölf Uhr mittags.

Josephine Baker schlief noch.

»Ach, das macht nichts«, sagte sie und hüpfte von einem kleinen Sofa. »Gut, dass Sie mich geweckt haben. Setzen Sie sich doch.«

Das alles auf Englisch, denn Mademoiselle Baker konnte noch kein Französisch, von ein paar Worten abgesehen, beispielsweise »Bonjour«, »Bonbon«, »pauvre oiseau«, »phonographe«, »coco« »Champs-Élysées«.

Sie trug einen rosafarbenen Morgenmantel und Pantöffelchen in derselben Farbe: Sie war hochgewachsen, schmal, biegsam, und sie lachte.

Sie sah aus wie ein kleines wildes Mädchen, schalkhaft und charmant, und wenn sie lachte, blitzten ihre 32 weißen, soliden Zähne; das geölte Haar trug sie hastig an den Schädel geklebt, die Nägel waren silberfarben lackiert.

»Memoiren … Aber ich erinnere mich noch gar nicht an meine Erinnerungen. Warten Sie mal …«

Ich wartete fünf Minuten auf den Dolmetscher, der sich verspätet hatte. Neben einer Büste von Ludwig XIV. saßen Sittiche in einem Käfig. Auf einem Empiremöbel lag eine Stoffpuppe, die sich selbst mit dem Fuß einen Nasenstüber versetzte. Etwas entfernt, auf einem kleinen Tisch, stand ein spielbereites [14]Grammophon, darunter klemmte ein Bündel zerknüllter Hundert-Francs-Scheine.

»Paul Colin«, sagte sie, »hat mich gebeten, ein Vorwort für sein Album Dans le tumulte noir zu schreiben. Das war lustig! Ich habe einen Stift genommen und Husch! Husch! schon war die zwei Seiten lange Geschichte auf dem weißen Papier fertig, aber das mach ich nicht noch mal, o nein!«

»Warum nicht?«

»Sie wissen ja nicht, wie das ist. Schreiben! Oh là là! Ich tanze, ich liebe nur den Tanz, ich werde mein ganzes Leben lang tanzen!«

Die schwarze Tänzerin schmiegte sich in einen Ledersessel, zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern, schloss die Augen, schleuderte eines ihrer Pantöffelchen in die Luft und fing an zu lachen.

»Nein, wirklich, das ist ganz unmöglich. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen meine Erinnerungen erzählen, und Sie schreiben meine Memoiren, wäre das was?«

»Ja, das wäre was.«

»Na gut, also ich wurde an den Ufern des Mississippi geboren! O weh! Schauen Sie bloß, meine armen Vögel …«

Es klopfte an der Tür. Das Telefon klingelte. Die Sittiche stopften Ludwig XIV. Kerne in die Nase.

*

Es ist so eine Sache mit Josephine Baker.

Sie hat ganz allmählich, auf erstaunliche Weise, die Varieté- und Theaterbühnen erobert, mit Tanz, Gesang, den Gesten, Haltungen und Verwechslungsspielen im grellen Scheinwerferlicht.

Die vorliegenden Memoiren wurden in der Absicht geschrieben, diese Entwicklungen zu bezeugen, sie entstanden allerdings in mehreren Teilen und in großen zeitlichen Abständen.

Zunächst die Anfangszeit Josephine Bakers, als Star in der Revue Nègre; damals sang sie noch nicht, sondern tanzte in [15]einem schlichten Bananenschurz. Dann, rund 20 oder 23 Jahre später, als das amerikanische girl, inzwischen eine weltberühmte Chansonsängerin, Schauspielerin und Französin, das Ave Maria von Schubert sang oder Maria Stuart darstellte, in einem prächtigen Vertugado, einem Reifrock, unter dessen langer Schleppe sich leicht 50 kleine Schwarze hätten verstecken können, und sich, am oberen Absatz einer bombastischen Treppe, auf hinreißende Weise den Hals durchschneiden ließ.

Aber immer hübsch der Reihe nach.

Ende Oktober 1925 war ich an Bord eines Frachtschiffes der Compagnie Tripcovitch von Triest aus auf dem Weg nach Genua und befand mich vor der Küste bei Nizza. An Bord sprach lediglich der Funkoffizier Französisch. Er deklamierte unentwegt Verse des Dichters Gabriele D’Annunzio. Daneben sammelte er Reispudersorten aus allen Ecken der Welt, Parfümflakons und Seidenstrümpfe.

Es war abends. Das stille Meer glänzte im Mondlicht wie Lack, und wir tranken im Kartenraum spanischen Chartreuse, der es in sich hatte. Zwischen zwei Zügen an seiner Zigarette wandte sich der junge Funkoffizier mir zu:

»Zurzeit spielen sie in Paris eine Revue nègre, ein Riesenerfolg«, sagte er zu mir. »Die Entdeckung heißt Josephine Baker.«

Einige Zeit später, zurück in Marseille, las ich zufällig in einem Muschelrestaurant am Vieux-Port eine Ausgabe der Candide.

Der Artikel eines gewissen Pierre de Régnier erregte meine Aufmerksamkeit:

AUF DEN CHAMPS-ELYSÉES: LA REVUE NÈGRE

Man hat schon viel darüber gehört. Manche Leute haben die Vorstellung zwei- oder sogar sechsmal besucht. Andere stehen nach zwei Szenen plötzlich auf, verlassen türknallend den Saal und schreien, es sei ein Skandal, ein Wahnsinn, ein Verfall der Sitten und reiner Götzendienst.

La Revue beginnt um 22.15 Uhr.

Ganz Paris befindet sich im dunklen Saal.

[16]In der Dunkelheit, vor dem perlgrauen Vorhang, betreten die Musiker des Schwarzen Orchesters einer nach dem anderen mit ihren Instrumenten die Bühne.

Dann hebt sich der Vorhang.

Ein Hafen bei Nacht, in weiter Ferne, irgendwo … beleuchtete Fracht, Mond, Waren am Kai … und Frauen in Hemdchen oder Kleidern, wenn Sie so wollen, mit karierten Kopftüchern, kommen auf die Bühne, eine nach der anderen, und singen ein kurzes Lied. Das sind die girls, die bis auf eine fast alle nahezu weiß aussehen.

Sie tanzen Charleston.

In diesem Augenblick betritt eine sonderbare Figur in aller Eile die Bühne, sie geht rasch und mit angewinkelten Knien, trägt eine zerlumpte Hose und sieht aus wie eine Mischung aus boxendem Känguru, Sen-Sen-Kaugummi und Radfahrer.

Josephine Baker.

Ist es ein Mann? Oder eine Frau? Ihre Lippen sind breit und schwarz geschminkt, ihre Haut ist bananenfarben, das kurzgeschnittene Haar klebt am Kopf wie eine Perücke aus Kaviar. Sie quäkt mit schriller Stimme, bewegt sich unaufhörlich, und ihr Körper windet sich schlangengleich oder vielmehr wie ein zum Leben erwachtes Saxophon: Die Musik scheint aus ihrem Körper zu kommen. Sie schneidet Grimassen, schlängelt sich, schielt, bläst die Wangen auf, verrenkt sich, macht einen Spagat und krabbelt schließlich steifbeinig auf allen vieren davon, den Hintern höher gestreckt als den Kopf wie eine junge Giraffe.

Sie ist schrecklich. Sie ist hinreißend. Ob sie schwarz ist oder weiß, ob sie Haare oder einen schwarzbemalten Schädel hat, niemand weiß es. Niemand kann es in der Eile sagen. So schnell, wie sie gegangen ist, kehrt sie wieder zurück, schnell wie das Tempo eines Onestepps. Das ist keine Frau, keine Tänzerin, sie ist etwas Extravagantes und Flüchtiges, wie die Musik, gewissermaßen das Ektoplasma aller Töne, die wir vernommen haben …

[17]Und jetzt das Finale.

Ein Nachtlokal.

… Ein barbarischer Tanz, getanzt von den girls und Josephine Baker. Er ist von seltener Unanständigkeit, der Triumph der Lüsternheit, die Rückkehr zu den Sitten der Urzeit: Eine Liebeserklärung ohne Worte, mit über den Kopf erhobenen Händen und einer einfachen Vorwärtsbewegung des Bauches, einem Wackeln des Hinterteils. Josephine ist vollkommen nackt bis auf einen winzigen Federkranz um die Hüften und einen zweiten um den Hals. Die Federn zittern im Rhythmus des Taktes, und ihr Zittern steigert sich geschickt mit jeder gespielten Note.

Josephine wirbelt in ihrem Federkostüm umher, die girls kreischen, und der Vorhang fällt mit einem letzten Wirbel des Schlagzeugs und einem abschließenden Beckenschlag.

Dieser Bericht erregte mich sehr.

Barockes Dekor, gelb, blau, rosa, orange, extravagante Kostüme, exotische Verrenkungen, Freiheit, Phantasie, Grimassen, barbarische, synkopische Musik, ein akrobatischer Rhythmus: unbekannte oder verkannte Kunst.

Und das war es wirklich.

La Revue nègre war, in mancher Hinsicht, eine ebensolche Offenbarung wie das Russische Ballett. Über diese Revue wurde genauso heftig diskutiert, sie wurde ebenso enthusiastisch gefeiert oder vehement abgelehnt. Aber schließlich setzte sie sich durch.

Josephine Baker, schwarze Poesie.

Ich habe La Revue nègre nicht gesehen, erinnere mich aber noch genau an die stehenden Ovationen, mit denen die Tänzerin begrüßt wurde, als sie zum ersten Mal die Bühne der Folies Bergère betrat.

*

[18]»Komische Nacktheit aus Bronze.«

Ein goldener Körper mit nackten Brüsten, hingegeben, verloren, außer sich in Zuckungen der Begierde und Freuden der Liebe.

Lange Beine, willig, rasend, bebende Hüften, zarte, sehr lange Finger, verkrampft und dann wieder streichelnd. Ein außerordentlich ausdrucksvolles, bewegliches Gesicht, strahlende Augen, fleischige, klar umrissene Lippen.

Die Josephine Baker zu jener Zeit, abwechselnd biegsam oder verhängnisvoll, weich oder straff, erzeugte, dem Willen des Saxophons oder des Banjos folgend, mit ihrem Körper phantastische Bilder von höchster Präzision. Ihr Tanz, vom Charleston aus South Carolina bis hin zu den einfachsten mimischen Darstellungen, setzt in karikaturistischer, aber bezwingender Weise den Instinkt gegen die Zivilisation. Man sagt, ein bisschen Groll mische sich ebenfalls mit hinein, vielleicht aus einem Bedürfnis nach Vergeltung und dem gerechten Stolz einer reinen Animalität, die sie jedoch rasch hinter Grimassen und Spott zu verbergen weiß.

Instinkt, Sinnestaumel. Eine junge, strahlend gesunde Frau offenbart sich uns, lockt uns, verweigert sich und entwischt uns schließlich unter der Schminke des alten Europa. Eine lebhafte, fröhliche Frau hat sich von der Zerbrechlichkeit, der gezierten Anmut ihres Geschlechtes befreit. Keine Artigkeiten, keine Kinkerlitzchen. Sie ist ganz sie selbst, ist sich ihrer selbst sicher, im vollen Bewusstsein ihrer gesamten Möglichkeiten.

*

Pierre Mac Orlan zufolge repräsentierte die Mistinguett, damals eine berühmte Schauspielerin und Sängerin, eine für das Varietétheater typische, hochgradig stilisierte Spielweise, Ausdruck eines unendlich tragischen Unbewussten. Josephine hingegen, der Urstoff – von einer Rasse, einem Kontinent zum anderen springend –, habe uns zum ersten Mal ein Unbewusstes gezeigt, [19]welches die »Linien verschiebt«, unsere Art der Wahrnehmung durcheinanderwirbelt und uns an eine primitive Ordnung erinnert.

Womöglich verkörpert sie eine Gegenbewegung.

Sie lacht der Arterienverkalkung frech ins Gesicht.

Gewiss, sie ist keineswegs ein Beispiel für jene »Schönheit im Sprung« (bei der der Tänzer den Boden idealerweise so wenig wie möglich berührt), wie André Levinson es bezeichnete, der diese in seiner Interpretation Paul Valérys, des Philosophen des Tanzes, als geometrisch, den Konventionen folgend, wissend, klassisch beschrieb, als »das Gegenteil eines Traumes, das Ausschalten des Zufalls«.

Josephine verkörpert für uns jene fremdartige Poesie, wie wir sie aus Abenteuerromanen unserer Jugend kennen.

Und doch bleibt sie bei aller Bewegtheit und Ungezwungenheit die liebenswerteste, bescheidenste, die freisinnigste und zugleich schüchternste aller Frauen.

Kokett und mit goldenem Herzen.

*

Im Jahr 1926 besuchte ich also immer gegen sechzehn Uhr Miss Baker, wenn sie sich von ihrem Hausmädchen wecken ließ.

Miss Baker erzählte, lachte, spielte. Ich machte mir Notizen. Anfangs kam ich in Begleitung eines Dolmetschers, bis Miss Baker das Französische so gut beherrschte, dass sie sich einigermaßen darin verständigen konnte, was wirklich sehr amüsant war – und mitunter auch etwas schwierig. Ich musste Miss Baker zahlreiche Besuche abstatten, denn sie erinnert sich nicht gern. Sie lebt – hier zeigt ihr Finger auf den Boden, und der Boden ist die Gegenwart – im Hier und Jetzt.

Unsere letzten Zusammenkünfte für den ersten Teil dieser Memoiren fanden nach Mitternacht statt, in einem kleinen Cabaret, das Josephine in der Rue Fontaine auf dem Montmartre [20]besitzt; währenddessen spielten die Damen der Gesellschaft über Champagnerflaschen hinweg Tennis mit Schlägern und Bällen aus Papier, im Hintergrund lärmte ein Orchester mit nicht voneinander zu unterscheidenden Blechinstrumenten.

Dort wurde ich auch, aus purem Zufall, für ein paar Tage zum Sekretär von Josephine, ihrem Cabaret und der Revue Josephine Bakers, bei deren Produktion George Sim mitwirkte, der bereits den späteren Schriftsteller Simenon erahnen ließ.

Zwischen zwei Tänzen gab Josephine ihrem Zicklein Toutoute das Fläschchen.

*

Vier Jahre vergingen. Josephine ging auf Reisen. Als sie von ihrer Tournee zurückkehrte, kam mir der Einfall, ihre Memoiren weiterzuschreiben und von ihren Abenteuern in Europa und Amerika zu berichten.

»Hello … Bonjour, dear. Wie nett, dass Sie mich in meiner bescheidenen Hütte besuchen. Ruhen Sie sich einen Augenblick lang aus, und dann stelle ich Ihnen meine Schätzchen vor, meine Hühner, die Kaninchen und den Tiger.«

1930 in Vésinet, ein Sonntag im September.

Sie trägt ein schlichtes weißes Kleid. Ein großes Kind, tiefgebräunt von der Feriensonne. Sie bietet mir einen Platz an … »Aber ja doch, ruhen Sie sich aus.« Sie selbst hält es allerdings nicht lange auf einem Stuhl.

Diese »bescheidene Hütte«, in der sie sich während der Probepausen im Casino de Paris (sie ist der Star der neuen Revue Paris qui remue) aufhält und in die sie gern Freunde einlädt, ist eine imposante Villa im Renaissance-Stil, umgeben von einem großzügigen Landschaftspark mit Rasen und Bäumen, Hühnerställen, einem Tennisplatz und urwüchsigen Wäldern voller Brombeerbüsche.

Ein Bach mit klarem Wasser schlängelt sich durch die Wasserbecken und fließt leise murmelnd über Kaskaden, plätschert [21]unter der kleinen, rustikalen Brücke hindurch. Man fühlte sich beinahe in einen japanischen Garten versetzt.

Was Josephine jedoch am meisten an »Beau-Chêne« – so heißt das Anwesen – schätzt, sind die großen Obstwiesen, die Gewächshäuser mit den exotischen Pflanzen, der Gemüsegarten. Dort sieht sie zehnmal täglich nach, ob die Früchte und Gemüsesorten auch gut gedeihen, und sammelt Schnecken für die Entenfamilie.

»Schauen Sie nur, Marcel, dieses arme Kaninchen hat gestern elf Junge bekommen.«

Ich habe jedoch vor allem Augen für Miss Baker: ihr leidenschaftliches, geistvolles, zärtliches Gesicht, ihre entzückten Augen, die honigfarbene Haut und die langen, ausdrucksvollen Finger.

Sie erzählt … Hält inne …

»Nein, nicht hier, gehen wir ins Haus.«

In der Eingangshalle steht eine Rüstung mit Federbuschhelm aus dem 15. Jahrhundert, ein eiserner Mann, der Wache hält.

Ich bin jede Woche dorthin gefahren, um alles aufzuschreiben.

Damals fand gerade die berühmte Pariser Kolonialausstellung statt. Josephine, der Star, sang an jedem Abend, umtost von Beifallsstürmen, J’ai deux amours, ein Chanson, das Vincent Scotto um zwei Uhr morgens in einer Toreinfahrt für sie komponiert hatte.

Für mich beschwor Josephine in jenen ruhigen Stunden in Vésinet Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Deutschland, Italien, Amerika herauf.

*

Josephine Baker verkörpert etwas Außergewöhnliches, und ihr Erfolg stellt etwas ebenso Außergewöhnliches dar – diese besondere intuitive Lebendigkeit und Intelligenz, mit der sie sich immer auf wunderbare Weise anzupassen wusste, ohne sich je zu unterwerfen.

[22]Sie ist keine Frau, die sich an Formeln und Etikette hält.

Sie hat einen Ausflug ins Operettenfach gewagt und dort Triumphe gefeiert.

Ich erinnere mich nicht, schreibt Michel Duran, dass ich je Gelegenheit gehabt hätte, auf der Bühne einen Menschen mit derart vielen und hinreißenden Talenten zu sehen wie diese schöne, farbige Amerikanerin.

Ihre Stimme gewinnt in der mittleren Tonlage an Kraft, notiert Henry Bazart, und erreicht mühelos höhere Lagen, wobei sie ungewöhnliche Texturen und reinsten Klang erzielt … Ihre Bühnenpräsenz ist atemberaubend. Mit unvergleichlicher Virtuosität wechselt sie vom zarten ins burleske Fach.

Damals drehte Josephine außerdem einen Film und hatte damit, trotz des etwas schwachen Drehbuchs, ebenfalls Erfolg. Alexandre Arnoux schreibt in Les Nouvelles littéraires sehr einfühlsam über sie:

Erfolg und Ruhm haben die ursprüngliche Deftigkeit dieser populären Kunstform ein wenig überzuckert. Dennoch hat die heutige Josephine dem jungen Mädchen, das aus Harlem nach Europa kam, viel zu verdanken: Der Geschmack derselben scharfen Gewürze brennt unter der Haut des geschulten Stars, gemildert durch zivilisiertere Kniffe. Denn trotz aller Unterrichtsstunden und Zugeständnisse bleibt sie, eher denn eine ausgebildete, disziplinierte Schauspielerin, eine Darstellerin, die schockiert, die unterhält, eine Naturgewalt, die mit einem Mal auf den Bühnenbrettern gelandet ist; vor allem aber ist sie, selbst wenn nicht viele es wissen und sie selbst darauf pfeift, eine geborene Tragödiendarstellerin, eine jener Frauen, die beständig die Texte, die sie sprechen, übertreffen; die Bühne dient ihnen als ein Sprungbrett, auf dem sie kraft [23]ihres Spiels die gewöhnlichen Grenzen der Schauspielkunst überwinden und eine universelle Saite in uns Zuschauern zum Klingen bringen, unser Bedürfnis, uns ein ewig gültiges Panoptikum bestimmter Typen vorzustellen und es mit einigen wenigen Gesichtern zu verkörpern.

*

Die Jahre verstreichen. Es ist 1939. Der Krieg! Wir sehen uns beinahe täglich. Josephine, die Patin der Frontsoldaten, hat mehr als 4000 Patenkinder. Sie benötigt Hilfe. Jedem schickt sie regelmäßig ein Paket, ein Foto, ein freundliches Wort. Zwei Sekretäre reichen nicht aus, um die Arbeit zu bewältigen.

Allabendlich steigt sie nach ihrem Auftritt in ein Taxi und fährt vom Theater zum Gare du Nord, wo sie auf eigene Kosten ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge organisiert hat. Von Tag zu Tag werden es mehr. Sie kümmert sich um die Babys, versorgt die Kinder, verteilt Fläschchen, Butterbrote, spendet Lächeln und Trost. Sie bemüht sich, die armen Frauen, die alten Leute zu trösten. Sie verteilt Essen, hilft ihnen, sich neu zu orientieren … Und sie untersagt es der Presse, darüber zu berichten.

Bei Tagesanbruch trifft sie im weit entfernten Vésinet ein. Bevor sie zu Bett geht, zwingt sie sich trotz ihrer Müdigkeit zu einem langen Gebet. Sie schläft einige Stunden und setzt sich, nachdem sie ein Bad genommen hat, an den Schreibtisch in ihrem Zimmer. Sie schreibt an ihre Soldaten.

Anschließend werden Pakete gepackt: Zigaretten, Schokolade, Strümpfe, Konservendosen und kleine Süßigkeiten.

Außerdem ist Jacques Abtey an sie herangetreten, Leiter des Deuxième Bureau, französischer Nachrichtendienst. Sie arbeitet nun als Freiwillige in der Spionageabwehr.

Die katastrophalen Umstände trennen uns. Ich bin in Bordeaux und dann in Marseille, wo ich mich nach dem Waffenstillstand nach Nordafrika einschiffe. Josephine geht nach Spanien, [24]erreicht Madrid, reist von dort aus weiter nach Lissabon, Gibraltar, Tanger, Marrakesch.

Dort wird sie monatelang, einsam und durch Krankheit geschwächt, einen entschlossenen und gefährlichen geheimen Kampf gegen die deutsche Spionage führen, die sich in diesem internationalen Gebiet rasch verbreitet.

Im Jahr 1942 gerate ich aufgrund der Berichterstattung eines Chefredakteurs in Tunis ins Kreuzfeuer der Vichy-Regierung, nicht zuletzt, weil ich, neben weiteren, mittlerweile unerlaubten Dingen, der Memoirenschreiber von Josephine Baker gewesen bin.

Von Josephine erhalte ich keine Neuigkeiten mehr …

Eines Abends trifft ein Telegramm aus Marokko ein. Josephine liegt entkräftet in einer Klinik in Casablanca. Sie wird dort mehrere Operationen über sich ergehen lassen müssen. Sie ist schwerkrank. Sie beklagt sich nicht. Nicht den Mut verlieren, schreibt sie. Ich umarme Sie.

Gelegentlich trifft eine Postkarte von ihr ein.

»Gerettet!«, heißt es auf der letzten. Und Josephine, kaum wiederzuerkennen nach der langen Leidenszeit auf dem schmalen weißen Krankenhausbett, kehrt ins Leben zurück. Zwei Wochen vor der Landung der Alliierten in Nordafrika ist sie wieder auf den Beinen, einsatzbereit und lächelnd auf ihrem Posten; heimlich und gegen den Rat der Ärzte verlässt sie die Klinik, um die Soldaten zu empfangen.

General de Gaulle weiß um ihre Verdienste. Bald wird er ihr das Lothringerkreuz überreichen, das Emblem der nationalen Befreiung, und sich später in einem Brief, der als Vorwort im Buch des Kommandanten Abtey über Josephine Bakers geheime Tätigkeit für den französischen Nachrichtendienst erscheint, bewundernd über sie äußern.1

Josephine Baker, Leutnant auf Zeit.

[25]Leutnant Josephine singt in Sizilien J’ai deux amours vor den französischen Soldaten, am Tag vor dem Angriff.

Leutnant Josephine singt in Ägypten …

Sie ist, zusammen mit Germaine Sablon, die einzige Künstlerin, die die Erste Armee in offizieller Mission durch Nordafrika und bis in den Nahen Osten schickt.

Es folgt der Abschied von den Waffen.

Der Paradiesvogel kehrte wieder nach Frankreich zurück.

Ich selbst befand mich zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus in Algier und kam ebenfalls »unters Messer«, bereits zum achten Mal seit 1915, während mein Sohn, »Nonépines« kleiner Freund, irgendwo in den Alpen im Widerstand kämpfte.

*

Seit Josephine Bakers Rückkehr nach Frankreich scheint sich ihr Leben alle fünf Jahre von Grund auf zu verändern. Jede Etappe bringt eine Überraschung, einen neuen Aspekt dieser Künstlerin zum Vorschein, erweitert ihre Persönlichkeit und führt dazu, dass sie sich neuer Möglichkeiten bewusst wird.

1925: Der Jazz erlebt seine Glanzzeit. Die schwarze Venus ist eine Offenbarung. Tänzerin, Kuriosität, Wirbelsturm, Skandal.

1930: Josephine Baker ist kein vorübergehendes Phänomen mehr, sondern Star im Casino de Paris und von da an auch ein europäischer Star. Ihre Stimme, ihr Zwitschern, bewegt zahllose Zuschauer.

1935: Vom Tanz zum Gesang, vom Gesang zum Theater und auf die Leinwand. Ihr mitreißender Schwung, ihr Lachen, ihre Sehnsüchte kommen den Operetten Jacques Offenbachs zugute, sie filmt mit Marc Allégret. Sie ist Schauspielerin, und ihre zweifache Eloquenz von Körper und Herz machen sie zu einer vollendeten Künstlerin.

1940: Für sie zählt nichts anderes mehr, als jenem Land zu dienen, dass ihr zur zweiten Heimat geworden ist. Sie ist Mitglied der Armee. In ihren Augen ist dieser Krieg ein Kreuzzug [26]gegen eine rassistische Politik. Im Hintergrund spielt Josephine eine unerwartete und beträchtliche Rolle.

1945: Die vielfältigen, einzigartigen Erfahrungen verleihen ihrer Stimme eine neue Tragweite und Klarheit, akzentuiert und verstärkt durch schmerzliche persönliche und gemeinschaftliche Erfahrungen. Die Gesten sind von wunderbarer Sicherheit, einfach, unaufgeregt, allein auf das Exemplarische, Beispielhafte ausgerichtet, eine Mission ohne Eitelkeit, die sie in einem seltsamen Zwiegespräch mit sich selbst führt. So wird sie endlich zur Tragödin der Varietébühnen, glänzt vor diesem unerwarteten Hintergrund mit unübertroffener Größe und Brillanz und bezaubert einmal mehr jene, die aufmerksam die Entwicklung ihrer Karriere verfolgt haben.

Dennoch, wiederholt Josephine, die ihre gesamten Talente weiterentwickelt hat, revoltiert etwas in mir ständig. Und sie beklagt die Maschinerie der großen, aufwendigen Revuen.

*

Im Jahr 1937 hieß Josephine Baker Madame Jean Lion.

1947 lautet ihr Name Madame Jo Bouillon.

Seit 13 Jahren war sie nicht mehr in ihrer Heimat. Sie begibt sich mit ihrem Mann auf die Reise. Aber leider sind die Amerikaner zu Hause nicht so liberal, wie sie sich außer Landes geben. Der französische Leutnant Josephine Baker, ausgezeichnet mit der Medaille des Widerstands, die schwarze Venus, deren unvergleichliche Schönheit nur noch von ihrer Hingabe und Güte übertroffen wird, muss in einem besonderen Waggon reisen – nicht zusammen mit Weißen, das ist verboten. Im Waldorf Astoria in New York verweigert man ihr ein Zimmer. Dort gibt es für Farbige keine Unterkunft.

Wir verstehen, dass Josephine sich für Frankreich entschieden hat, weil es eine Entscheidung für die Freiheit war. Man kann sich zugleich darüber freuen und deswegen traurig sein. Aber der Star mit dem großen Herzen hegt keinen Groll. Sie will alles [27]vergessen, was schmerzlich ist, alles, was keine Lebensfreude, keinen Gesang und keinen Tanz bedeutet, trotz allem.

»Erinnern Sie sich noch an mein Vorwort zu Le Tumulte Noir, dem Album mit Lithographien von Paul Colin? … Fangen Sie doch damit an.«

Die farbigen Menschen machten gerade Furore in New York …

Mr Ziegfeld von den Ziegfeld Follies sagte: »… Seit La Revue nègre wird es am alten Broadway immer dunkler.«

Und in Paris wiederholte man: »Es wird immer dunkler …«

Bald ist es hier so finster, dass man ein zweites Streichholz anzünden muss, um zu sehen, ob das erste noch brennt.

Außerdem dürfen wir den Charleston nicht vergessen, den verrückten Tanz. Meine Freunde hatten mich gebeten, sie zu besuchen. Als ich ankam, sah ich Leute vor ihrer Tür und Hunde, die bellten. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber nach einigem Nachdenken verspürte ich doch den Wunsch, hineinzugehen. Deswegen war ich ja schließlich hergekommen.

Als Erstes sah ich die Katze, die am Kronleuchter hing, den umgestürzten Vogelkäfig, sämtliche Teller in Scherben, und die beiden Anwesenden, meine Freunde, sahen sich an, als wäre ein Gewitter über sie hereingebrochen. Natürlich wusste ich bei diesem Anblick wieder nicht, was tun: Sollte ich bleiben oder gehen? Aber da ich von Natur aus neugierig war und sie mich eingeladen hatten, blieb ich. Als die beiden, ein Mann und eine Frau, mich bemerkten, hörten sie auf zu tanzen, und die Frau fragte mich:

»Was ist denn nun richtig, Josephine? Geht es so oder so?«

Und der Mann antwortete:

»Nein, so geht es nicht, ich sag’s euch: Es geht so, nicht wahr, Josephine?«

Ich wusste wirklich nicht, was ich antworten sollte. Ich bat die beiden, sich ein wenig zu beruhigen, und dann wollte ich darüber nachdenken. Aber währenddessen sprachen sie [28]unentwegt und gleichzeitig aufeinander ein: Ich weiß nicht, was er erzählt, er versteht nicht, was sie erzählt, sie …

Schließlich hörten sie auf und sagten beide zu mir: »Wir tanzen Charleston …«

Damit in der Familie wieder Frieden herrschte, sagte ich ihnen, dass sie alle beide recht hatten.

*

Heute, an einem der ersten Märztage 1949, warte ich in ihrer Garderobe auf Josephine de Beauharnais, die Ehefrau Napoleons.

Sie spielt Josephine de Beauharnais in der Revue oder vielleicht eher dem Musical der Folies Bergère Féeries et Folies, ein ebenso kühnes wie bezauberndes Projekt der Herren Paul Duval und Michel Gyarmathy.

In diesem Märchenstück stellt Josephine zugleich auch Maria Stuart dar. Die Königin des Spektakels …

Jean Barreyre, unser sachkundigster Theaterkritiker, schreibt dazu:

Sie ist eine Kaiserin. Sie besitzt die Haltung einer Prinzessin, gepaart mit der Anmut eines Kolibris: Ihre Stimme bringt unser Herz zum Klingen. Sie ist schön und beherrscht das gesamte Ensemble dank ihrer hochgewachsenen Gestalt, ihrem Talent, ihrem freundlichen Lächeln. Man applaudiert, und sie bedankt sich mit ihren silbern geschminkten Augen, freudig, scheint beinahe zu Tränen gerührt. Sie ist der Inbegriff des Varietéstars, niemand kann ihr das Wasser reichen, und sie verfügt über alle Eigenschaften, die für diese zentrale Rolle nötig sind.

*

[29]»Wie wär’s, wenn wir mit den Memoiren weitermachen würden, José?«

»Okay, aber ich will nur noch von amüsanten Dingen reden, auch was meine Erinnerungen an den Krieg betrifft, wissen Sie, selbst da gab’s so viele lustige Dinge, am Rande des Entsetzens … Ah! Einen Augenblick … Ich darf Ihnen Madame Lyne de Souza vorstellen, sie ist auch eine Königin und hat mir genau hier den Kopf abschlagen lassen, aber ich mag sie trotzdem gern.«

Josephine, warmherzig und einfach, liebt alle, die mit ihr zusammenarbeiten. Unter ihren Kollegen, ganz gleich, wie wichtig sie sind, gibt es keinen, dem sie nicht eine gute Freundin wäre, aufmerksam und manchmal wie eine gute Fee. Aber sobald man auf ihre Großzügigkeit zu sprechen kommt, schneidet sie einem das Wort ab. Am Ende des Krieges hatte sie sich um Hunderte Millionen Francs verschuldet, um anderen zu helfen, und musste sogar ihren Schmuck verpfänden. Das geht nur mich was an, sagt sie. Es war meine Pflicht …

»Also, schreiben Sie? … Gut. Setzen Sie sich dahin, in den Sessel. Erlauben Sie, Madame … So! Also, an diesem Tag bin ich ins Meer gestürzt.«

*

Auf diese Art entstandene Memoiren, dafür entschuldige ich mich, können keine fortlaufende Erzählung wiedergeben. Folglich stellt das Buch eher eine Art Reportage dar, eine Reihe von Unterhaltungen, die in zufälligen Abständen und über zwanzig Jahre hinweg stattgefunden haben. Sie bilden eine Anzahl von Anhaltspunkten, Eindrücken und Szenen ab, die aber genau deswegen ein ziemlich exaktes Bild dieses Stars zeichnen – gestern verteufelt, heute gefeiert und immer zutiefst bewegend –, den Paris in Ehren hält.

Marcel Sauvage

[31]Kapitel 1

St. Louis ist eine große Stadt, dort ist es kalt, und es leben dort 800 000 Einwohner … Männer und Frauen, Arbeiter, viele Schwarze, es ist die Stadt der 100 000 Schwarzen. Der Mississippi, immer gelb vor Schlamm, fließt durch die Stadtmitte und ist unter den vielen Frachtschiffen und dem schwarzen Rauch der flachen Dampfer, die Baumwolle zum Meer transportieren, kaum zu sehen. Verglichen mit dem Mississippi ist die Seine ein Winzling. Eine riesige Brücke, mehrere Stockwerke hoch, führt über ihn hinweg. St. Louis ist voller Eisenbahnen und Fabriken, und der Rauch aus den Schloten steht über den Häusern, wenn es kalt ist.

Dort wird alles verkauft, Holz, Getreide, Mehl, Maschinen, Baumwolle, Mais.

Wissen Sie, St. Louis wurde von den Franzosen gegründet, das können Sie in den Büchern nachschauen. In dieser Stadt bin ich geboren, in der Bernard Street, am 3. Juni 1906, im Bundesstaat Missouri (Vereinigte Staaten), very beautiful and funny, schön und sehr lustig.

Schreiben Sie auch, dass man früher in St. Louis viel mit Pelzen aller Art handelte.

Also meine Familie: eine Urgroßmutter, eine Großmutter, meine Mutter und meine beiden Schwestern. Mein Vater war nicht da, er hat irgendwo weit entfernt gearbeitet.

Mein Vater und meine Mutter haben sich in der Schule kennengelernt, und alle waren dagegen, dass sie heirateten. Also haben sie trotzdem geheiratet und waren arm, weil ihnen niemand geholfen hat. Man hat sie sogar verstoßen. Mein Vater und meine Mutter haben sich getrennt, sie haben gearbeitet, und jeder hat sein eigenes Leben geführt. Meine Mutter lebte zusammen mit [32]ihrer Mutter, die sehr arm war. Ich war noch ein kleines Kind, aber daran erinnere ich mich sehr gut: Wir waren alle entsetzlich arm.

Meine Urgroßmutter lebt nicht mehr, meine Großmutter ist auch gestorben. Mein Vater und meine beiden Schwestern arbeiten. Und ich arbeite noch mehr. Heute, dear, verstehen Sie … bin ich der Mann in der Familie.

Mit fünf Jahren kam ich in die Schule. Lange hielt ich es dort nicht aus, ich schlug mich mit allen Lehrerinnen und Mitschülern herum. Ich kann es eben nicht leiden, wenn man mich dazu verpflichtet, dies zu tun, das zu machen. Meine Freiheit war mir immer lieber. Außerdem wollten sie in der Schule nicht, dass ich Grimassen schneide. Dabei ist das Gesicht doch nicht zum Schlafen gemacht. Warum schneidet niemand mehr Gesichter? Aus Angst? Ich finde, Grimassen schneiden ist ein Sport. Eine Sportart, die genauso interessant und wichtig ist wie andere auch.

Endlich, nach vielen Kämpfen, Strafen und nachdem ich mehrmals die Schule gewechselt hatte, ist dann doch eine gute Schülerin aus mir geworden, denn das Lernen machte mir Spaß. Ich habe mich ruhig verhalten und gelernt.

Geschichte war mein Lieblingsfach, das begeistert mich bis heute. Ich wollte unbedingt wissen, was die Menschen aller Hautfarben gemacht haben, seit die Welt besteht. Mit jeder neuen Seite im Geschichtsbuch änderte sich ihre Kleidung. Das hat mir in den Büchern immer am besten gefallen.

Damals schwärmte ich für Könige und Königinnen. Ich träumte nachts von ihnen. Ich wollte unbedingt einmal einen leibhaftigen König und eine leibhaftige Königin sehen. Manchmal weinte ich, weil ich doch selbst so gern eine Königin geworden wäre. Könige in spitzen Schuhen spazierten durch meine Träume. Sie hatten Mäntel an, so lang wie Straßen und ganz aus Gold, und die Königinnen waren alle blond und schritten von gewaltigen Treppen herab. Stufe folgte auf Stufe, es gab unendlich viele Stufen, und so kamen weder die Könige noch die Königinnen jemals bis zu mir.

[33]Ich lernte, dass es auch böse Könige gegeben hat. Zuerst habe ich mich darüber sehr gewundert. König und böse sein, das sollte es doch nicht geben. Ich hätte alle bösen Könige umbringen können. Später habe ich mir dann selbst versprochen, dass ich, wenn ich groß bin, alle, die böse zu den Armen sind, ob König oder nicht, einmal richtig verhaue.

*

Warum ich Tänzerin wurde? Weil ich aus einer kalten Stadt komme, weil ich als Kind immer sehr gefroren habe, weil ich immer im Theater tanzen wollte.

In St. Louis bei meiner Mutter hatte ich in unserem Keller ein kleines Theater eingerichtet. Ich war noch nicht mal zehn Jahre alt. Der Vorhang bestand aus vielen kleinen aneinandergestückelten Stoffresten. Ich hatte Kerzenstummel auf Konservendosen von »Pfirsichen aus Neuseeland« gestellt. Eine auf jeder dritten Stufe beleuchtete die Treppe beim Heruntersteigen. Ein Dutzend Mädchen und Jungen aus der Nachbarschaft waren mein Publikum, sie saßen auf Kisten und einer alten Bank herum.

Ich spielte. Ich hatte meiner Mutter Schuhe mit hohen Absätzen stibitzt und dazu ein Kleid, das mir viel zu groß war und in dem ich fast verschwand. Ich sah aus wie ein Sträfling in einem Sack oder wie jemand in einem Taucheranzug.

In meinem Theater musste man Eintritt zahlen … eine Sicherheitsnadel.

Es gab jeden Abend eine Aufführung.

Eines Abends fing mein Kostüm an den Kerzen Feuer. Das Publikum nahm Reißaus. Ich blieb allein im Keller zurück, in den Flammen, und hatte gerade noch Zeit genug, mein Kostüm auszuziehen.

*

[34]Tiere habe ich immer geliebt: Katzen, Hunde, Affen, Papageien, Kühe, Ziegen. Alle Tiere, sogar Schlangen. Ich schleppte alle möglichen herrenlosen oder entlaufenen Tiere nach Hause. Meine Mutter mochte Tiere auch sehr gern, aber es waren ihr einfach zu viele, und sie wollte keine mehr aufnehmen. Sie setzte sie vor die Türe. Ich folgte ihnen; weil meine Mutter genug von den Hunden und Katzen in unserer Wohnung hatte, schlief ich ziemlich oft mit meinen Tieren im Keller, nachdem ich mein bisschen Essen mit ihnen geteilt hatte. Nur Ratten kann ich nicht ausstehen, die sind Heuchler. Ich kenne sie, sie kommen alle mit einem schäbigen Schwanz zur Welt. Ich weiß genau, wie sie auf dem Bauch herumkriechen, wie sie plötzlich stehenbleiben, horchen, abhauen und wieder zurückkommen.

*

Mit acht Jahren habe ich die Schule verlassen und angefangen zu arbeiten.

Wir hatten alle solchen Hunger und froren so sehr, dass Mamas Geld, die als Einzige welches verdiente, nicht für alle reichte.

Acht Jahre … das muss im Jahr 1914 gewesen sein.

Meine Tante kannte viele Leute im Viertel, sie war auch nicht so traurig wie Mama. Sie stellte mich überall vor und brachte mich zu amerikanischen Damen, damit ich auf ihre Kinder aufpasste. Oh! Ja, ich war ganz zufrieden … Kleine weiße Kinder, die sind so zart, so sanftmütig und so zerbrechlich.

Ich passte auch auf kleine Hunde auf, erledigte Besorgungen, half in der Küche. Das gefiel mir ganz gut. Ich liebe Tiere über alles.

Zu dieser Zeit passierte eine schreckliche Geschichte. Bisher habe ich sie noch niemandem erzählt, das tut mir zu weh.

Hören Sie zu, Monsieur Sauvage.

Bei einer dieser amerikanischen Damen, wo ich auf die kleinen Hunde aufpasste, Besorgungen erledigte und im Haushalt [35]half, brachte man eines Tages ein Huhn in die Küche. Ein kleines, lebendiges Huhn, schneeweiß, in einem Holzkäfig, der unter dem Küchentisch stand … Wir wurden Freunde, das Huhn und ich. Ich nannte es Jacki. Es hatte ein kleines rundes Auge, voller Gold, das sich über mich lustig zu machen schien, aber ich glaube, das Huhn mochte mich auch gern. Es blieb wochenlang in der Küche. Ich kümmerte mich so gut um Jacki, dass ein hübsches junges Hähnchen aus ihm wurde, mit einem warmen, zartroten Kamm, und am Morgen fing er allmählich an, richtig viel Krach zu machen.

Eines Tages kam die Dame in die Küche, wog Jacki in der Hand und befahl mir, ihn zu töten.

Wissen Sie, wie das ist, ein Huhn zu töten – eines, das man liebt, ebenso wie die anderen? … Man nimmt es zwischen die Knie mit dem Kopf nach unten und ratsch, ein Messerschnitt durch die Kehle … Und es schreit. Es wehrt sich … Das Blut spritzt, strömt. Und es wehrt sich, es wird immer kraftloser, aber man darf nicht loslassen.

Ach! Diese Erinnerung hat meine ganze Kindheit besudelt!

Denn ich kämpfte vergebens, hielt Jacki im Arm, flehte sie an, weigerte mich, weinte. Die amerikanische Dame war sehr hartherzig, sie hat mir gedroht, mich einfach wegzuschicken, ohne mich zu bezahlen … Und zu Hause waren ja Mama, die drei kleinen Geschwister und meine Großmutter. Und meine Tante, mit der nicht gut Kirschen essen war …

Na ja, also schließlich hab ich’s gemacht, als ich allein in der Küche war … Ich habe Jacki getötet. Ich habe dabei den Kopf abgewendet und nicht mehr hingesehen, als er zwischen meinen Knien zuckte und flatterte. Ich holte nicht mal Luft, damit ich das warme, beinahe schwarze Blut nicht riechen musste, das in eine Schüssel lief, Tropfen für Tropfen.

Aber ich bin direkt danach weggegangen, bin einfach abgehauen. Ich hatte das Gefühl, ich könnte in meinen Händen spüren, wie das kleine Huhn flatternd um sein Leben kämpfte.

[36]Ich bin zurück nach Hause. Und weil ich kein Geld mitbrachte und mich weigerte, je wieder zu dieser oder zu irgendeiner anderen Dame zurückzugehen, glaube ich, dass ich schlimme Prügel bezogen habe …

*

Im Augenblick habe ich sieben Hunde, drei Katzen, einen Affen, einen Papagei, zwei Sittiche, drei weiße Mäuse, einen Goldfisch und eine Schlange, sie liegt wie eine Unterschrift auf dem Boden. Tiere interessieren mich, und ich liebe sie, weil sie so einfach und kompliziert sind wie kleine Kinder.

Finden Sie nicht, dass ihre Gesten schöner sind als unsere?