Tänzerin der Nacht - Christine Feehan - E-Book

Tänzerin der Nacht E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Die übersinnlichen Helden sind zurück

Sie sind die Schattengänger – eine Gruppe herausragender Kämpfer mit übersinnlichen Begabungen, geschaffen, um geheime Missionen für die Regierung auszuführen. Raoul Fontenot wird ausgesandt, um die gefährlich begabte Iris Johnson zu finden, denn sie ist der Schlüssel in einem dunklen Rätsel. Und auch zwischen den beiden beginnt es gefährlich zu knistern …

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DAS BUCH

Als der Schattengänger Raoul Fontenot in seine Heimat zurückkehrt, um in den Sümpfen von New Orleans nach der vermissten Sängerin Joy zu suchen, trifft er dort auf Iris „Flame“ Johnson, eine junge Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten, die sich mit demselben Ziel in der Gegend aufhält. Wie magisch voneinander angezogen, machen sie sich gemeinsam auf, das mysteriöse Verschwinden der Sängerin aufzuklären. Doch schon bald beschleicht sie eine entsetzliche Ahnung: Ist Dr. Whitney noch am Leben und beobachtet seine „Experimente“ aus dem Verborgenen?

 

DER BUND DER SCHATTENGÄNGER Erster Roman: Jägerin der Dunkelheit Zweiter Roman: Spiel der Dämmerung Dritter Roman: Tänzerin der Nacht Vierter Roman: Schattenschwestern

DIE AUTORIN

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Mit über sieben Millionen Büchern weltweit zählt sie zu den erfolgreichsten Autorinnen der USA.

Weitere Romane von Christine Feehan bei Heyne:

 

Dämmerung des Herzens, Zauber der Wellen, Gezeiten der Sehnsucht, Magie des Windes und Gesang des Meeres (DRAKE SISTER-Serie)

 

Mehr über Autorin und Werk unter: www.christinefeehan.com

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Titel der amerikanischen Originalausgabe NIGHT GAME Deutsche Übersetzung von Ursula Gnade

Deutsche Erstausgabe 11/2009 Redaktion: Uta Dahnke

Copyright © 2005 by Christine Feehan

Copyright © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-07165-3V002

www.heyne.de

Für Cheryl Lynn Wilson, eine meiner liebsten Freundinnen, weil Gator ihren Namen auf einen bestimmten Teil seiner Anatomie eintätowiert trägt und das Tattoo ganz deutlich ihren Besitzanspruch verkündet!

DAS BEKENNTNIS DER SCHATTENGÄNGER

Wir sind die Schattengänger, wir leben in den Schatten.

Das Meer, die Erde und die Luft sind unsere Heimat.

Nie lassen wir einen gefallenen Kameraden zurück.

Wir sind einander in Ehre und Loyalität verbunden.

Für unsere Feinde sind wir unsichtbar, und wir vernichten sie, wo wir sie finden.

Wir glauben an Gerechtigkeit und beschützen unser Land und jene, die sich selbst nicht schützen können.

Ungesehen, ungehört und unbekannt bleiben wir Schattengänger.

Ehre liegt in den Schatten, und Schatten sind wir.

 

Wir bewegen uns absolut lautlos, im Dschungel ebenso wie in der Wüste.

Unhörbar und unsichtbar bewegen wir uns mitten unter unseren Feinden.

Wir kämpfen ohne den geringsten Laut, noch bevor sie unsere Existenz überhaupt erahnen.

Wir sammeln Informationen und warten mit unendlicher Geduld auf den passenden Augenblick, um Gerechtigkeit walten zu lassen.

Wir sind gnädig und gnadenlos zugleich.

Wir sind unnachgiebig und unerbittlich in unserem Tun.

Wir sind die Schattengänger, und die Nacht gehört uns.

DIE EINZELNEN BESTANDTEILE DES SCHATTENGÄNGERSYMBOLS

STEHT FÜR SchattenSTEHT FÜR Schutz vor den Mächten des BösenSTEHT FÜR Psi, den griechischen Buchstaben, der in der Parapsychologie für außersinnliche Wahrnehmungen oder andere übersinnliche Fähigkeiten benutzt wirdSTEHT FÜR Eigenschaften eines Ritters – Loyalität, Großzügigkeit, Mut und EhreSTEHT FÜR Ritter der Schatten schützen vor den Mächten des Bösen unter Einsatz von übersinnlichen Kräften, Mut und EhreNox noctis est nostri

1

RAOUL »GATOR« FONTENOT war gerade dabei, sein Hemd in seinen Seesack zu stopfen, als jemand an die Tür klopfte. Die Männer seiner paranormalen Einheit waren nicht so höflich; sie neigten dazu, rund um die Uhr unangemeldet hereinzuplatzen, ob bei Tag oder bei Nacht. Er kannte sie schon lange, und in all der Zeit hatte nie jemand von ihnen an seine Tür geklopft. Und so zaghaft schon gar nicht.

Er hielt eine ausgeblichene Jeans unter seinem Kinn und versuchte, sie planlos zusammenzufalten, während er die Tür aufriss. Dr. Lily Whitney-Miller war die letzte Person, die er erwartet hatte. Seine Truppe – die Schattengänger, wie die Einheit mit den übersinnlichen Veranlagungen oft genannt wurde – hatte ihr Leben Lily zu verdanken. Sie hatte die Männer aus ihren Laborkäfigen gerettet und sie davor bewahrt, der Reihe nach ermordet zu werden. Lily gehörte die Villa mit den achtzig Zimmern, in der sich die Männer häufig aufhielten, aber sie begab sich normalerweise nie in ihren Flügel des Hauses. Sie zog es vor, das Wort an sie als eine geschlossene Einheit zu richten, und das tat sie in den förmlicheren Konferenzräumen.

»Lily! So eine Überraschung.« Er warf einen Blick über seine Schulter auf die Unordnung, die in seinem Schlafzimmer herrschte. »Habe ich eine Sitzung verpasst?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie wirkte ruhig und gefasst. Zurückhaltend. Ganz die gewohnte Lily, aber sie hielt sich betont aufrecht, viel zu steif. Da stimmte etwas nicht. Noch schlimmer war, dass sie seine Blicke mied, denn Lily sah ihrem Gegenüber sonst immer direkt in die Augen.

»Gator, ich muss ungestört mit dir reden.«

Raoul war dazu ausgebildet, auf die kleinste Nuance in einer Stimme zu achten, und aus Lilys Stimme hörte er ein Zögern heraus. Das hatte er bei ihr noch nie gehört. Er schaute an ihr vorbei und rechnete damit, Captain Ryland Miller, ihren Mann, hinter ihr stehen zu sehen. Seine dunklen Augenbrauen schossen in die Höhe, als er sah, dass sie allein gekommen war. »Wo ist Rye?«

Dr. Peter Whitney, Lilys Vater, hatte die Männer, die alle aus verschiedenen Abteilungen der Sondereinheiten kamen, dazu überredet, sich als Freiwillige für ein Experiment zur Steigerung übersinnlicher Fähigkeiten zu melden. Der Arzt hatte ihre natürlichen Filter entfernt und sie damit extrem anfällig für den Ansturm der Gefühle, Geräusche und Gedanken der Menschen in ihrer Umgebung gemacht. Lily war diejenige, die ihnen geholfen hatte, Schutzschilde zu errichten, damit sie in der wirklichen Welt besser zurechtkamen, wenn sie ohne ihre Anker waren. In all diesen Monaten hatte Gator sie nie ohne Ryland gesehen. Er wusste, dass Lily sich wegen der Dinge, die ihr Vater getan hatte, schuldig fühlte und dass ihr in Gegenwart der Männer unbehaglich zumute war, doch in Wirklichkeit war sie ebenso sehr ein Opfer wie die Männer – und nicht einmal eines, das sich freiwillig gemeldet hatte.

Er trat widerstrebend zur Seite, um sie in sein Zimmer zu lassen. »Tut mir leid, dass es hier so unordentlich ist, ma soeur.« Er ließ die Tür weit offen stehen.

Lily drehte sich mitten im Zimmer zu ihm um; ihre Finger waren eng ineinander geschlungen. »Wie ich sehe, stehst du kurz vor dem Aufbruch.«

»Ich habe Grandmère versprochen, ich käme so bald wie möglich.«

»Dann ist deine Freundin also immer noch als vermisst gemeldet? Das ist ja furchtbar.«

»Ja. Ian hat sich bereit erklärt, mitzukommen und mir bei der Suche zu helfen. Ich weiß nicht, wie nützlich wir sein werden, aber wir tun, was wir können.«

»Glaubst du wirklich nicht, dass dieses Mädchen eine Ausreißerin ist? Die Polizei glaubt das nämlich«, rief ihm Lily ins Gedächtnis zurück. Sie war diejenige gewesen, die ihre Kontakte benutzt hatte, um Gator sämtliche Informationen zu beschaffen. »Ich persönlich habe mir jeden Bericht vorgenommen, den sie über sie hatten. Joy Chiasson, einundzwanzig, ein hübsches Mädchen, hat in den Blues Clubs der Gegend gesungen. Die Polizei glaubt, sie wollte raus aus Louisiana und ist abgehauen. Vielleicht mit einem neuen Mann.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne diese Familie, Lily. Grandmère kennt sie auch. Ich glaube nicht einen Moment lang, dass sie fortgelaufen ist. Vor zwei Jahren ist eine andere Frau verschwunden. Aus einer anderen Gemeinde, und von einer Verbindung ist nichts bekannt. Auch damals glaubte die Polizei, sie sei aus eigenem Antrieb fortgegangen.«

»Aber du glaubst es nicht?«

»Nein. Ich glaube, dass zwischen den beiden Frauen eine Verbindung besteht. Ihre Stimmen. Sie haben beide gesungen. Die eine in Clubs, die andere in der Kirche und im Theater, aber ich glaube, dass die Verbindung in ihren Stimmen besteht.«

Lily zog ihre Stirn in Falten. »Falls du etwas brauchst, helfen wir dir gern von hier aus. Ruf einfach an, und alles, was wir haben, steht dir zur Verfügung.«

Sie wich seinem Blick immer noch aus und hatte die Finger so eng ineinander geschlungen, dass ihre Knöchel weiß waren. Gator wartete schweigend und zwang sie damit, als Erste zu sprechen. Was auch immer sie zu sagen hatte – er hatte das sichere Gefühl, es würde nicht nach seinem Geschmack sein.

Lily räusperte sich. »Ich habe mich gefragt, ob es dir wohl etwas ausmachen würde, wenn du ohnehin schon im Bayou bist, die Augen nach einem der Mädchen offen zu halten, an denen mein Vater experimentiert hat. Ich habe den Computer Hochrechnungen anstellen lassen, und die Wahrscheinlichkeit, dass sich Iris ›Flame‹ Johnson im Moment in dieser Gegend aufhält, ist sehr groß. Es könnte eine unserer ganz wenigen Gelegenheiten sein, sie ausfindig zu machen.«

»Der Bayou hat eine ziemlich große Ausdehnung, Lily. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihr rein zufällig über den Weg laufe. Wie kommst du auf den Gedanken, sie könnte plötzlich vor mir stehen?«

»Nun, vielleicht ist der Bayou doch nicht so groß, jedenfalls nicht, wenn man in den Clubs nach Anhaltspunkten für Joys Verschwinden sucht. Seltsamerweise singt nämlich auch Flame. Sie tritt in den Clubs der Städte auf, durch die sie kommt.«

»Und warum sollte sie ausgerechnet in New Orleans sein?«

»Der Brand des Sanatoriums im Bayou ist durch alle Zeitungen gegangen, und ich glaube, das wird sie dorthin locken. Ich glaube, sie ist, genauso wie wir, auf der Suche nach den anderen Mädchen, an denen mein Vater experimentiert hat.«

Gator ließ sich Zeit mit seiner Antwort und musterte ihr Gesicht. Vor allem spielte er sich den Klang ihrer Stimme in Gedanken noch einmal vor, die winzigen Vibrationen, die nur er hören konnte und die ihm sagten, dass sie nervös war und nur einen Teil ihrer Informationen an ihn weitergab – oder dass sie log. Lily hatte keinen Grund, ihn zu belügen. »Was bringt dich auf den Gedanken, sie könnte auf der Suche nach den anderen Mädchen sein?«

Kurze Zeit herrschte Schweigen. Lily stieß ihren angehaltenen Atem langsam aus. »Mein Vater hat ein Computerprogramm geschrieben und alles eingegeben, was er über ihre Persönlichkeitsstruktur und über die Charakterzüge wusste, die ihre Entscheidungen bestimmen. Das Programm hat errechnet, die Wahrscheinlichkeit, dass sie Jagd auf die Mädchen macht, läge bei dreiundachtzig Prozent. Und als ich den Zeitungsartikel in das Programm eingegeben habe, hat es auch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit errechnet, dass sie den Verdacht schöpfen wird, der Brand hätte etwas mit Dahlia und der Whitney-Stiftung zu tun.«

»Ich habe einige der Berichte gelesen«, gab er zu. »Darin war von den Morden die Rede, und man wusste offensichtlich, dass es eine Art Killerkommando war. Du hast also recht, sie könnte dort auftauchen, um nähere Informationen einzuholen.«

»Ich bin mir ganz sicher.«

»Welches der vermissten Mädchen ist diese Iris?« Raoul kannte die Antwort bereits. Lange vor seinen Experimenten mit den erwachsenen Männern hatte Dr. Whitney sich aus Waisenhäusern ferner Länder Mädchen beschafft und an ihnen Experimente zur Steigerung übersinnlicher Veranlagungen durchgeführt. Als sich die ersten Schwierigkeiten gezeigt hatten, hatte er sie mit Ausnahme von Lily alle abgeschoben. Lily hatte er behalten und als seine eigene Tochter großgezogen. Iris war ein aufsässiger kleiner Trotzkopf gewesen und so frech wie Oskar, mit roten Haaren und rebellischen Augen. Die Pflegerinnen hatten ihr den Spitznamen »Flame« gegeben, und sowie sie erfuhr, dass Dr. Whitney den Namen verbot, hatte Iris ihn benutzt, um ihn wütend zu machen. Damals war sie vier Jahre alt gewesen.

Raoul hatte die Videos von dem kleinen Mädchen weitaus öfter als alle anderen angesehen. Sie besaß einige Fähigkeiten, von denen die anderen nichts wussten, aber er wusste davon, denn er besaß dieselben Fähigkeiten. Schon als Kind war sie klug genug – oder wütend genug – gewesen, um ihre Gaben vor Whitney zu verbergen. Ihr Spitzname war treffend: Flame, ein kleines Streichholz, das unter bestimmten Voraussetzungen aufflammen und teuflisch destruktiv sein konnte. Whitney wusste nicht, wie viel Glück er gehabt hatte.

»Iris hat tiefrotes Haar, fast schon weinrot, und sie hat ein sehr feines Gehör. Sie kann Geräusche auf äußerst ungewöhnliche Weise manipulieren.«

»Und sie ist ein Anker.« Das würde bedeuten, dass sie nicht so anfällig war wie manche der anderen Mädchen. Sie konnte ohne einen Schutzschild in der Außenwelt zurechtkommen.

Lily nickte. »Ja, dafür halte ich sie. Ich weiß, dass der Versuch, sie zu finden, die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen wäre, aber man kann ja nie wissen. Sie müsste jetzt zwischen zweiundzwanzig und fünfundzwanzig sein. Mein Vater hat alles peinlich genau festgehalten, und doch hat er sich nie die Mühe gemacht, unsere Geburtsdaten anzugeben. Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Ich habe eine Alterssimulation auf dem Computer durchgeführt. So sähe sie jetzt angeblich aus.« Sie reichte ihm das Foto.

Sein Herz blieb fast stehen und schlug dann rasend schnell. Flame war eine echte Schönheit. Nicht nur umwerfend, sondern so erlesen schön wie keine andere Frau, die er jemals gesehen hatte. Sogar auf der Fotografie sah ihre Haut so zart aus, dass er sich dabei ertappte, wie er die Kuppe seines Daumens über ihr Gesicht gleiten ließ. Er achtete darauf, dass sein Gesichtsausdruck entspannt, charmant und unbesorgt blieb – die Maske, die er sonst auch trug. »Dir ist doch sicher klar, Lily, dass die Chancen, sie zu finden, minimal sind.«

Sie nickte, und ihr Blick wich seinem schleunigst wieder aus. Das war nicht der wirkliche Grund für ihren unangekündigten Besuch. Gator wartete. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, sagte aber nichts.

»Spuck es aus, Lily. Spielchen haben mir noch nie besonders gelegen. Sag mir, weshalb du hergekommen bist.«

Sie schob sich an ihm vorbei und lugte in den Flur hinaus, bevor sie die Tür sorgfältig schloss. »Es ist vertraulich. «

»Du weißt, dass wir eine Einheit sind. Ich halte nichts vor Ryland oder vor meinen Männern geheim, oder jedenfalls nicht, wenn es sie oder das, was wir tun, betrifft.«

»Das ist es ja gerade, Gator. Ich weiß nicht, ob es sich auf das auswirkt, was ihr tut. Ich habe ein paar Dinge entdeckt und bin noch dabei, sie zu überprüfen. Du musst begreifen, dass sich diese Experimente über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren erstreckt haben. Es gibt etliche Dutzend Computer und interne und externe Festplatten und Zipdrives, bei denen ich noch nicht mal angelangt bin, und dazu kommen noch die handschriftlichen Notizen. Ich habe mit den Mädchen begonnen, weil wir sie finden wollten, aber die Beobachtungen meines Vaters sind vorwiegend auf Papier und alten archivierten Disketten festgehalten. Fast jeder Verweis ist durch Zahlen gekennzeichnet. Ich muss erst herausfinden, worauf sich die jeweilige Zahl bezieht, um zu sehen, was er getan hat, bevor ich mit meinen Nachforschungen weiterkomme. Das ist eine Arbeit, die viel Zeit verschlingt, und einfach ist sie auch nicht.«

Lily machte keine Ausflüchte. Das war ganz und gar untypisch für sie. Hatte sie die Wahrheit über ihn herausgefunden? Er hatte sich das eine Video von Iris »Flame« Johnson so oft angesehen, dass er damit ihre Neugier geweckt haben könnte. Vielleicht hatte sie beobachtet, wie er das Band anhielt und das Standbild eingehend betrachtete – das, auf dem zu sehen war, wie sich die Wände ein klein wenig ausdehnten und sich gleich darauf wieder zusammenzogen. Das, auf dem sich der Fußboden kaum merklich verschob, wenn die kleine Flame den Arzt mit zusammengekniffenen Augen ansah. Sie hatte Dr. Whitney verabscheut und ihre Wut nur mit Mühe gezügelt.

»Was hast du entdeckt, Lily?«

»Ich glaube, mein Vater hat bei den Mädchen auch Gene weiterentwickelt – ebenso wie bei manchen der Männer. « Die Worte kamen überstürzt heraus. Diesmal sah sie ihm mitten in die Augen, als wollte sie versuchen, seine Reaktion zu erkennen.

Er zählte stumm bis zehn und sagte erst dann: »Was bringt dich auf den Gedanken?«

»Neben den Zahlen, die als Verweise dienen, stehen zwei Buchstaben, hinter die ich lange nicht gekommen bin. GM. Ich habe eine Million Möglichkeiten durchgespielt, bis ich im Labor ein kleines verstecktes Schränkchen gefunden habe. Es war abgeschlossen, und das Schloss war mit einem Zahlencode versehen. Das Schränkchen enthielt etliche Notizbücher über Iris. Ihre Gene sind eindeutig verändert worden. GM steht für Genmanipulation. Diese Buchstaben waren in den Akten durchgehend zu finden, und ich habe sie auch auf etlichen anderen Akten gesehen. Ich glaube, bei den meisten der Akten verweisen die Buchstaben auf genetische Weiterentwicklung.«

»Die Mädchen. Du hast von den Mädchen gesprochen, aber du hast nicht wir gesagt. Es klang nicht so, als würdest du dich einbeziehen.«

Lily schüttelte den Kopf. »In meinen Akten sind nirgendwo Verweise, die mit GM gekennzeichnet sind. Glaube mir, ich habe es gründlich überprüft.«

»Und was ist deiner Meinung nach der Grund dafür, Lily?« Er achtete darauf, dass seine Stimme ausdruckslos und vollkommen ruhig und ausgeglichen klang.

»Er hat Viren verwendet, um die Gene in die Zellen einzuschleusen. « Ihre Stimme stockte für einen Sekundenbruchteil, doch im nächsten Moment reckte sie das Kinn in die Luft und fuhr fort. »Ich glaube nicht, dass er bei mir auch nur das geringste Risiko eingehen wollte, und er konnte mich als Kontrollobjekt benutzen.«

»Was sollte ich sonst noch über den Inhalt der Akte wissen?«

»Flame hatte Krebs. Die Symptome haben sich fast genauso dargestellt wie bei Leukämie. Druckstellen und Blutergüsse, generelle Ermattung, eine anomale Neigung zu starken Blutungen, Schmerzen in Knochen und Gelenken. All das. Er hat einen leichten Rückgang herbeigeführt, aber …« Sie ließ ihren Satz unbeendet in der Luft hängen.

»Aber er hat nicht aufgehört. Er hat ihre Zellen weiterhin manipuliert.«

Lily nickte bedrückt. »Ja. Er hat seine Experimente an ihr fortgesetzt. Eines der Probleme, wenn man ein Virus dafür verwendet, die Zellen zu beeinflussen, besteht darin, dass der Körper Antikörper produziert, um das Virus zu bekämpfen. Beim zweiten oder dritten Mal bringt es nichts mehr, dieses Virus zu verwenden.«

»Also hat er sich ein anderes Virus einfallen lassen.«

»Mehrere verschiedene. Offenbar wollte er seine Technik für den späteren Gebrauch perfektionieren. Ich glaube, wir Mädchen waren alle seine ersten Versuche …«

»Du meinst, seine entbehrlichen Ratten«, fiel ihr Gator schroff ins Wort. Er ballte seine Finger zur Faust. »Ihr wart alle entbehrlich. Keiner wollte euch haben. Und sie konnte er nicht leiden, stimmt’s? Sie hat ihm einen Haufen Ärger gemacht, weil sie so eigensinnig war, genau wie Dahlia – Dahlia, die später in einem Sanatorium und nicht bei Adoptiveltern aufgewachsen ist.«

»Das ist wahr, Gator, aber zum Glück hat Dahlia, obwohl sie genmanipuliert ist, nie Krebs gehabt. Und ich konnte auch keine Verweise auf Krebs in den Akten eines der anderen Mädchen finden, an denen er experimentiert hat.«

Lily presste ihre Fingerspitzen direkt über ihre Augen. »Ich habe Flames Akte noch nicht vollständig durchgearbeitet, aber der Krebs ist mehrfach erneut ausgebrochen, und jedes Mal hat er das Virus entsprechend abgewandelt und das Gendoping fortgesetzt, nachdem er erreicht hatte, dass sich der Krebs partiell zurückbildete. Ihre Gene sind enorm weiterentwickelt.«

»Und du hast den Verdacht, meine sind es auch.«

Sie biss sich auf die Unterlippe, doch sie nickte auch diesmal. »Sind sie das, Gator? Kannst du schneller laufen und höher springen? Keiner von euch hat es mir gegenüber jemals erwähnt – noch nicht einmal Ryland.«

Er wich der Frage aus. »Willst du uns warnen, jeder, der genmanipuliert sein könnte, sei für Krebs anfällig?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Ich glaube, er hat an einer Lösung gearbeitet, um zu verhindern, dass das Gendoping die falschen Zellen stimuliert. Ich glaube, er hat Flame dafür benutzt, seine Technik zu perfektionieren, damit er sicher sein konnte, dass ihr weniger Probleme haben würdet, du und die anderen.«

»Ein reizender Schuft, nicht wahr?« Gator stopfte die Jeans so brutal in seinen Seesack, als ramme er ein Messer hinein. »Er hat sie benutzt wie eine verfluchte Laborratte.«

»Das ist noch nicht alles, Gator, es kommt noch schlimmer. Ich hoffe bei Gott, dass ich mich irre. Ich kann es kaum fassen, dass der Mann, den ich als meinen Vater angesehen habe, ein derartiges Ungeheuer gewesen sein könnte, aber ich glaube nicht, dass er Flame heilen wollte. Ich glaube, er wusste, dass sie wieder krank werden würde, und er hat sich ausgerechnet, ihre Adoptiveltern würden sie zu ihm zurückbringen.«

»Aber das haben sie nicht getan.«

»Nicht, dass ich wüsste. Aber die Gefahr, dass der Krebs wieder auftritt, erscheint naheliegend. Eine regelmäßige Leukämiebehandlung würde zwar helfen, aber sie würde Flame nicht heilen. Der Krebs wird durch eine ganz bestimmte wild wuchernde Zelle hervorgerufen.«

»Und das wusste er.«

Lily nickte widerstrebend. »Er hat es zweifellos gewusst. Als er das erste Mal damit experimentiert hat, den Krebs in den Griff zu kriegen, hat er ein Virus verwendet, um DNA einzufügen, die bewirkte, dass sich die Krebszellen selbst zerstörten, indem sie ein Protein produzierten, das für sie selbst tödlich war. Beim zweiten Mal hat er zu einer Methode gegriffen, durch die er die Krebszellen zwang, ein Protein zu produzieren, was dazu führte, dass ihr Immunsystem sie mit konzentrierter Kraft angriff und sie erfolgreich zerstörte. Das war wirklich ein brillanter Gedanke, und er war seiner Zeit weit voraus.« In Lilys Stimme schwang eine Spur von Bewunderung mit, die sie nicht vor ihm verbergen konnte.

Wut flammte in ihm auf, eine ganz gemeine und gefährliche Wut, ein Zähne fletschender Dämon, der eine aggressive Reaktion hervorrief. Gator wandte Lily seinen Rücken zu und atmete mühsam ein. Er bemerkte, wie sich die Wände ausdehnten und zusammenzogen, obwohl die Bewegung kaum wahrnehmbar war. »Wenn er so verflucht brillant und erfolgreich dabei war, Krebszellen zu zerstören, Lily, warum hat er der Welt seine Erkenntnisse dann nicht mitgeteilt? Warum hat er seine Erfahrungsberichte in einem geheimen Labor unter Verschluss gehalten?«

»Jedes Krankenhaus, jede Universität und jede private Einrichtung, die sich, wie die Whitney-Stiftung, mit menschlichen Experimenten befasst, muss eine Ethik-Kommission einsetzen, um sicherzustellen, dass die Forschung den Bestimmungen des Gesundheitsministeriums zum Schutze menschlicher Versuchsobjekte entspricht. Und jedes Experiment, bei dem es um das Einschleusen von Genen geht, muss im Voraus von einem institutionellen Ausschuss für biologische Sicherheit genehmigt werden.«

Er drehte sich um und sah ihr fest in die Augen. »Das heißt also, wenn man unerwünschte Waisenkinder ins Land bringt, sie mehr oder weniger kauft und sie als menschliche Laborratten benutzt, um mit genetischer Verbesserung, der Steigerung übersinnlicher Fähigkeiten und Krebs zu experimentieren, dann gelten die anerkannten Bestimmungen nicht? Er wäre als das Monster abgestempelt worden, das er war, und man hätte ihn ins Gefängnis gesteckt! Er hat dieses Kind gefoltert. Und jetzt läuft diese Frau irgendwo dort draußen frei herum, stimmt’s, Lily? Sie ist dort draußen, und du willst, dass sie gefunden wird, weil wir beide, du und ich, wissen, dass sie sehr, sehr gefährlich ist und dass sie tierisch sauer auf die Whitney-Stiftung ist, nicht wahr?«

»Ich will, dass sie gefunden wird, weil sie Hilfe braucht und weil sie eine von uns ist«, korrigierte ihn Lily mit hoch erhobenem Kinn. Als er ihr weiterhin fest in die Augen sah, senkte sich ihr Blick auf ihre Hände.

»Spuck es aus, Lily.«

»Er hat auch eine Möglichkeit gefunden, das Wachstum von Tumoren mittels Gentechnik zu stimulieren, und dann hat er bewirkt, dass die Krebszellen ihre eigene Blutzufuhr abschnitten, damit die Tumoren sich zurückbildeten und abstarben. Forschungen dieser Art sind von unschätzbarem Wert.«

»An ihr? Flame? Er hat bei ihr absichtlich Krebs hervorgerufen? Er war ein hundsgemeiner Schurke, Lily, oder etwa nicht? Ein erbärmliches Monster, das es anscheinend ungeheuer angemacht hat, Kinder zu foltern. Wie alt war sie, als er ihr das angetan hat? Wie lange hatte er sie zu dem Zeitpunkt schon? Warum hast du uns all das nicht gesagt?«

»Du hilfst mir nicht damit, dass du so über ihn redest, Gator. Es ist schon lange her. Und ich finde all das über meinen Vater heraus. Über meinen Vater. Einen Mann, den ich geliebt und respektiert habe. Ich kann nichts dafür, dass ich trotz allem seine Brillanz erkenne. Du hast recht, es war eine Ungeheuerlichkeit, solche Experimente an Kindern durchzuführen, an menschlichen Wesen überhaupt, aber er hat es getan, und das ändert nichts an dem Umstand, dass er in der Lage war, medizinische Wunder zu vollbringen. Er war allen anderen auf seinem Gebiet um Lichtjahre voraus. Ich will, dass sie gefunden wird, Gator, weil sie uns braucht. Und weil sie medizinische Hilfe braucht. Ihr Körper ist eine tickende Zeitbombe und wird sich früher oder später gegen sie richten. Sie muss hierher zurückkommen und sich von mir helfen lassen.«

Im ersten Moment flackerte Argwohn in seinen Augen auf, doch er verbarg ihn schnell wieder hinter seiner Maske. »Sie gibt ein grandioses Studienobjekt ab, nicht wahr? Sie muss ein wandelndes medizinisches Wunder sein.«

»Das ist nicht der Grund, weshalb ich sie hier haben will, Gator. Sie muss an einen Ort gebracht werden, an dem wir ihr helfen können.«

»Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, dass sie glauben wird, du wolltest sie hier haben, um weitere Experimente an ihr durchzuführen? Es ist mir verhasst, derjenige zu sein, der dich darauf hinweist, Lily, aber deine Liebe zur Wissenschaft ist mit der deines Vaters vergleichbar. Du gibst ihr den Vorrang vor moralischen Erwägungen, und du bewunderst ein Monster, das Kinder gefoltert hat. Wenn ich das an dir erkennen kann, dann wird sie es erst recht tun.«

»Du kannst über mich sagen, was du willst, Gator. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Forschung brauchen, und, ja, ich bewundere ihn für seine Brillanz, obwohl ich die Dinge, die er getan hat, verurteile. Ich gebe der Wissenschaft nicht den Vorrang vor moralischen Erwägungen, aber machst du dir überhaupt eine Vorstellung davon, wie weit er seiner Zeit voraus war?«

»Das hast du bereits mehr als einmal gesagt. Wen willst du damit beeindrucken, Lily?«

»Die DNA-Struktur wurde erstmals 1977 entschlüsselt. Erst 1997 wurde das erste Genom entschlüsselt. Siehst du denn nicht, was das bedeutet? Er muss allen anderen um Jahre voraus gewesen sein. In Anbetracht der Dinge, die er getan hat, sollten wir in der Lage sein, bessere Gentherapien auszutüfteln und möglicherweise dahinterzukommen, welche Viren man als Vektoren benutzen kann, ohne das Risiko einzugehen, Krebs in instabilen Zellen auszulösen.«

»Lily …« Gator fuhr sich aufgebracht mit einer Hand durchs Haar. »Du wirst mich nicht dazu bringen, ihn als eine Art Retter der Welt anzusehen. Er hat vorsätzlich bewirkt, dass ein Kind Krebs bekommt, und das nicht nur einmal, sondern mehrfach.«

»Du hörst mir nicht zu, Gator. Begreifst du denn nicht, wie nützlich seine Forschungsergebnisse sein könnten, selbst wenn die Versuche, die er angestellt hat, noch so ungeheuerlich waren? All das ist vor Jahren passiert. An dem, was er getan hat, können wir nichts ändern, aber wir können seine brillanten Leistungen anerkennen und das, was er herausgefunden hat, nutzen. Das ist die einzige Möglichkeit, den grauenhaften Dingen, die er uns angetan hat, etwas Gutes abzugewinnen.«

Er atmete tief durch, um seine Wut zu unterdrücken, die dicht unter der Oberfläche brodelte. Lily wusste nicht, wozu er fähig war. Das wusste keiner. Noch nicht einmal Whitney. Und er hatte den Verdacht, dass Flame zu derselben Massenvernichtung fähig war wie er. »Für das, was er ihr angetan hat, soll ihn der Teufel holen, Lily. Für das, was er euch allen angetan hat. Uns allen. Ich werde mein Bestes tun, um sie zu finden, aber ich bezweifle, dass sie allzu kooperativ sein wird. Ich wäre es unter diesen Umständen nicht. Vermutlich solltest du mir ganz genau erklären, was Genverbesserung und Gendoping ist. Und streng dich an, es mir mit Begriffen zu erklären, die ich verstehen kann.«

Er konnte Lily nicht anschauen. Er wagte nicht, sie anzublicken. Er wollte sich nicht gezwungen sehen, Flame Johnson zu töten. Er wollte Flame nicht ins Gesicht sehen, wissen, was ein Monster ihr angetan hatte, und ihr eine Waffe an den Kopf halten müssen, aber es konnte sein, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde. Lily ließ ihm keine Wahl, und in diesem Moment war er fast so wütend auf sie wie auf ihren Vater. Sie hatte nicht das Recht, das von ihm zu verlangen. Sie wussten beide, dass es nicht einfach sein würde, Flame in den »Schoß der Familie« zurückzubringen. Dafür sollte der Teufel die Whitneys holen, alle beide.

»Im Grunde genommen setzt die Gentherapie Gene dazu ein, Krankheiten zu behandeln oder vorbeugend gegen sie zu wirken. Ein Gen kann in eine defekte Zelle eingefügt werden, um sie zu reparieren. Derzeit erproben Forscher verschiedene Annäherungen an die Gentherapie. Sie können ein defektes Gen, das eine Krankheit hervorruft, durch ein gesundes Gen ersetzen. Sie können ein mutiertes Gen mit Fehlfunktionen rausschmeißen, und sie können ein neues Gen in den Körper einschleusen, um eine Krankheit zu bekämpfen.«

Gator stopfte zwei weitere Hemden in seinen Seesack. »Theoretisch ist die Gentherapie also eine gute Sache.«

»Bei jedem Experiment wird es Fehlschläge geben, Gator; daraus lernen die Wissenschaftler.«

»Sag das mal Flame.«

»Das wird nicht nötig sein. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, was sie durchgemacht hat? Ich bin schließlich diejenige, die ihre Akten komplett liest. Ihr bekommt die verwässerte Version vorgesetzt.« Zum ersten Mal schien Lily wütend zu sein, und ihre Augen hatten sich vor Zorn verfinstert. »Ich dachte, du seist für mich der beste Ansprechpartner. Du bist immer so ruhig, und du denkst nach, statt voreilige Schlüsse zu ziehen. Wenn du mit Steinen nach mir wirfst, ist Flame damit nicht geholfen.«

»Du glaubst, ich werfe mit Steinen nach dir? Ich höre das alles zum ersten Mal. Ich schlage mich damit herum, nicht nur verstehen zu wollen, was er Flame angetan hat, sondern auch, wie sich das auf unser aller Leben auswirkt. Wie hast du denn reagiert, Lily, als dir erstmals klar geworden ist, was er getan hat? Hast du dir augenblicklich gesagt, was für ein brillanter Wissenschaftler er war, oder hast du dich gefragt, wie sich das wohl auf dich und Ryland und auf eure Kinder auswirken wird, denn genau darüber mache ich mir Gedanken, verdammt noch mal. Hast du dir Flame als kleines Kind ausgemalt, das so krank war und sich so elend gefühlt hat, dass es nicht laufen konnte, aber niemanden hatte, der es getröstet hat? Ich habe es mir nämlich ausgemalt. Es tut mir leid, dass dir meine Sichtweise nicht gefällt, aber diesen Schurken hätte man umbringen sollen.«

Lily zuckte zusammen. »Jemand hat es getan, Gator.«

Er rieb sich die Stirn, denn plötzlich ließen Kopfschmerzen seine Schläfen pochen. »Tut mir leid, Lily, das war absolut unangebracht. Erzähle mir etwas mehr über genetische Verbesserung und warum die Gentherapie eine tolle Sache ist. Ich schwöre dir, dass ich versuchen werde, unvoreingenommen zuzuhören.« Er verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. »Und versuche bitte, dich verständlich auszudrücken. Es ist zwecklos, wenn ich nicht verstehe, was du sagst.«

Lily erwiderte sein Lächeln, denn sie war ihm dankbar dafür, dass er es wenigstens versuchen wollte. »Ich werde mein Bestes tun. Die Forschung auf dem Gebiet der Gentherapie hat ihren ursprünglichen Bereich von der Korrektur defekter Gene auf die Verbesserung normaler Gene ausgeweitet. Das ist der Punkt, an dem es etwas kompliziert wird.«

»Noch kann ich dir folgen«, sagte Gator.

»Ein Trägermolekül oder ein Vektor wird benutzt, um das gewünschte Gen – oder die Gene – in die Zielzellen eines Patienten einzuschleusen. Ein Virus wird als Vektor verwendet, weil Viren eine Möglichkeit entwickelt haben, ihre Gene auf pathogene Weise einzukapseln und sie in menschliche Zellen zu transportieren. Kannst du mir noch folgen?«

»Bisher schon. Ich glaube, durch den Umgang mit dir schnappe ich mit der Zeit immer mehr von deinen wissenschaftlichen Fachausdrücken auf.«

»Neben der Übertragung durch Viren gibt es auch noch etliche nichtvirale Möglichkeiten des Gentransports. Die simpelste Methode besteht in der direkten Einschleusung von therapeutischer DNA in Zielzellen. Aber dieses Verfahren ist in seiner Anwendung beschränkt, weil es nur bei bestimmten Geweben benutzt werden kann und große Mengen DNA erfordert.

Ein anderer nichtviraler Ansatz erfordert die Herstellung einer künstlichen Lipidsphäre mit einem wässrigen Kern. Dieses Liposom, das die therapeutische DNA trägt, ist fähig, die DNA durch die Membran der Zielzelle zu transportieren.«

»Verdammt noch mal, Lily, mit dieser Erklärung hast du dich gerade mal wieder mutterseelenallein in die Ozonschicht begeben.«

»Tut mir leid. Dieses Verfahren würde, sagen wir mal, deine Beine nicht positiv weiterentwickeln. Um das zu tun, müsste man eine gewaltige Anzahl von Zellen erreichen. Aber …« Lily zog die Stirn in Falten. Irgendetwas an der Art, wie ihr Gesicht erstarrte und ihre Stimme leiser wurde, ließ Gator aufhorchen. »Im menschlichen Körper gibt es sechsundvierzig Chromosomen. Mein Vater scheint an einem siebenundvierzigsten Chromosom gearbeitet zu haben. An einem Chromosom, das neben den üblichen sechsundvierzig eine autonome Existenz führen sollte – es sollte weder ihre Funktionen beeinträchtigen noch Mutationen hervorbringen. Es scheint dafür bestimmt gewesen zu sein, eine beträchtliche Anzahl an genetischen Codes zu transportieren. Im Idealfall würde das Immunsystem des Körpers dieses Chromosom nicht attackieren. Die grundsätzliche Schwierigkeit besteht natürlich darin, wie man ein so großes Molekül in den Nukleus einer Zielzelle transportiert. Falls er es geschafft hat, würde das viele der Probleme in Sachen Gentherapie lösen, aber es würde andere, wesentlich erschreckendere Gefahren in sich bergen. « Eine ihrer Hände legte sich schützend auf ihren Bauch. »Den Daten zufolge, die wir bisher haben, scheint Genmanipulation keine Auswirkungen auf die nächste Generation zu haben, aber falls er ein neues Chromosom eingefügt hat, ist nichts, aber auch rein gar nichts, auszuschließen. «

»Du musst mit Ryland darüber reden.« Gator bemerkte unwillkürlich, dass ihre Hände zitterten.

»Ich weiß bisher noch nichts mit Sicherheit, und ich hätte in diesem Stadium nicht darüber gesprochen, wenn du nicht gerade auf dem Weg nach New Orleans wärst. Das ist wahrscheinlich unsere beste Gelegenheit, Iris Johnson zu finden.« Sie legte ihren Kopf zurück, blickte in sein Gesicht auf und sah ihm mitten in die Augen. »Als mir klar geworden ist, dass sich Flame in New Orleans aufhalten könnte, habe ich mir mit größter Aufmerksamkeit noch einmal die Berichte vorgenommen, die wir über sie haben. Es ging vorwiegend um ihre Gesundheit und um die genetischen Weiterentwicklungen, nicht um ihre übersinnlichen Fähigkeiten. Durch die Verbesserungen war sie zu ganz außergewöhnlichen Dingen fähig, aber über ihr Potenzial als Waffe war so gut wie nichts zu finden. Sie kann Geräusche manipulieren, Gator. Sie kann ihre Stimme für eine große Bandbreite von Geräuschen einsetzen, darunter auch die tieferen Frequenzbereiche, von denen wir inzwischen wissen, dass sie ausgezeichnet als Waffen einsetzbar sind. In Anbetracht des Umstandes, dass ich die Forschungsergebnisse von Jahren über sie gefunden habe und dass sie sowohl krank als auch gefährlich sein könnte, ganz zu schweigen davon, dass sie für die medizinische Forschung von unschätzbarem Wert ist, muss sie unbedingt gefunden werden.«

Gator achtete darauf, sich nichts ansehen zu lassen. Allmählich kam er sich wieder vor wie eine Laborratte. Er hatte großes Mitleid mit Flame. Sie musste ein jämmerliches Leben geführt haben, ausschließlich zum Zweck eines Experiments in einem Käfig gehalten. Mehr als alles andere verabscheute er, dass Lily sich schon ganz so wie ihr Adoptivvater anhörte. Losgelöst. Unpersönlich. Mehr Wissenschaftlerin als Mensch. »Woher weißt du, dass sie Geräusche manipulieren kann?«

»Ich achte auf die kleinsten Einzelheiten, ebenso wie du es tust. Verkauf mich nicht für dumm.« Sie presste ihre Fingerspitzen noch fester direkt über beide Augen und versuchte offenbar, schlimme Kopfschmerzen zu lindern. »Ich bin wütend. Du bist wütend. Das kann ich akzeptieren, aber wir sitzen im selben Boot. Warum machst du solche Schwierigkeiten?«

»Warum sprichst du nicht mit allen darüber?«, fragte Gator. »Wir haben die Dinge bisher immer auf eine ganz bestimmte Weise in Angriff genommen, Lily. Wir sind immer ein Team gewesen. Du entzweist dieses Team vorsätzlich. Warum?«

»Weil ich gerade einen Schnellkurs darin absolviert habe, wie Geräusche als Waffe eingesetzt werden können, und das, was ich gelernt habe, hat mir, offen gesagt, höllische Angst eingejagt. Dahlia gebietet über Kräfte, die sie zu einer sehr beängstigenden Person machen, und wenn sich meine Verdachtsmomente in Bezug auf Flame bestätigen, ist sie mit ihrer Persönlichkeitsstruktur noch gefährlicher. Flame könnte eine gewaltige Bedrohung für uns alle darstellen.«

Gator musterte Lilys Gesichtsausdruck. »Du weißt, dass sie tierisch sauer ist, stimmt’s? Du weißt mehr, als du mir verrätst. Ich mag keine Spielchen. Ich mochte sie noch nie. Entweder du sagst mir, was du weißt, und lässt mich selbst entscheiden, ob ich mitmachen will oder nicht, oder du kannst jede Hilfe von meiner Seite glatt vergessen.«

»Ich weiß nichts mit Sicherheit, Gator, ich habe nur den einen oder anderen Verdacht. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Wenn du mich rundheraus fragen würdest, welchen Verdacht ich in Bezug auf Flame habe, dann müsste ich dir sagen, dass ich glaube, es hat für sie weder ein Kinderheim noch Adoptiveltern gegeben. Und zwar nie. Ich glaube, die Geschichte im Computer ist frei erfunden.« Sie ließ sich auf seine Bettkante sinken, als könnten ihre Beine sie nicht länger tragen. »Ich glaube, dass sie irgendwo festgehalten wurde und dass die Experimente fortgesetzt worden sind, weit über ihre Kindheit hinaus, vielleicht sogar bis kurz vor ihrer Volljährigkeit. Ich glaube, sie war eingesperrt und ist entkommen.«

Gator trat aggressiv einen Schritt vor und ragte drohend über Lily auf. »Und du verteidigst diesen Schurken immer noch? Was zum Teufel ist los mit dir?«

»Ich habe ihn nie verteidigt. Niemals.« Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, und in ihren Augen standen Tränen. »Ich verlasse mich nicht mehr auf das, was ich lese. Ich kann dir nicht einmal genau sagen, was mich argwöhnisch macht, aber ich habe das grässliche Gefühl, die Lebensläufe der Mädchen sind alle geschönt oder frei erfunden. Oder zumindest die Angaben über Flame.«

Gator zwang sich, seine Wut zu zügeln. Lily wirkte plötzlich so auf ihn, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen. »Warum bist du damit nicht zu Ryland gegangen? «

»Wir haben versucht, ein Baby zu bekommen.« Lily brach in Tränen aus und schlug sich die Hände vors Gesicht. Ihre schmalen Schultern bebten, als sie weinte. »Wir versuchen es schon seit Monaten. Ich war so aufgeregt, und jetzt graut mir. Ich bin nicht genmanipuliert, aber er ist es. Ich weiß, dass er es ist. Und wie viel mehr kann er hinnehmen, bevor er mich so ansieht, wie du mich gerade erst vor ein paar Minuten angesehen hast?«

»Lily …«

»Ich bin wie er, wie mein Vater. Mein Verstand arbeitet auf dieselbe Weise wie seiner, und ich bin so veranlagt wie er. Ich bin von dem Drang besessen, Antworten zu finden. Und bis zum Äußersten zu gehen. Wenn sich am Ende jeder Verdacht, den ich habe, bewahrheitet, und wenn alles rauskommt, wird Ryland mich verlassen. Er wird mir nicht mehr ins Gesicht sehen können.«

»Das ist nicht wahr.«

»Oh doch, das ist es. Ich verabscheue meinen Vater. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, habe ich das Gefühl, ihn zu sehen. Wenn ich von den Dingen lese, die er getan hat, ist meine erste Reaktion nicht etwa die, dass er ein Monster war. Ich kann nichts dafür, aber ich empfinde stattdessen Ehrfurcht davor, dass sein Verstand in der Lage war, so viel weiter vorauszuschauen als unsere begabtesten Forscher. Was sagt das über mich, Gator? Wie kann ich Ryland in die Augen sehen, wenn ich weiß, dass ich so reagiere? Ich habe gerade hier gestanden und mich mit dir darüber gestritten, was für ein brillanter Mann mein Vater war, nachdem ich zugegeben hatte, dass er bei einem Kind vorsätzlich Krebs hervorgerufen hat. Wenn er ein Ungeheuer ist, was bin ich dann?«

»Bist du schwanger, Lily?« Gator war ein scharfsichtiger Beobachter, und ihm war nicht entgangen, wie Lily die Hände auf ihren Bauch presste.

Eine frische Flut von Tränen beantwortete seine Frage. Mitgefühl und plötzliches Verständnis führten dazu, dass sich ihm fast der Magen umdrehte, vor Angst um sie und seinen Freund. »Du musst mit Ryland reden.« Seine Stimme klang jetzt viel sanfter.

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe noch nicht alle Fakten zusammengetragen, Gator. Es gibt so unglaublich viele Daten zu sichten. Als ich endlich begriffen habe, worauf ich gestoßen bin, habe ich angefangen, so viele Stunden wie möglich daran zu arbeiten, Informationen zusammenzutragen, damit wir uns ein klareres Bild machen können.« Sie wischte sich die Augen trocken. »Und dieses Bild sieht von Mal zu Mal schlimmer aus. Ich weiß nicht einmal mehr, ob etwas Wahres daran ist. Ich bin müde und entmutigt und überanstrengt. Wie kann ich einem von euch sagen, was mein Vater getan hat, wenn ich es selbst nicht mit Sicherheit weiß?«

»All das musst du Ryland sagen«, wiederholte Gator. Er setzte sich neben Lily und nahm ihre Hand. »Er wird es verstehen.«

Sie seufzte. »Ich verstehe es doch selbst nicht. Wie also könnte ich erwarten, dass er es versteht? Wenn alles, die ganzen Geschichten, der reinste Schwindel ist – und der Brief von meinem Vater, in dem er mich bittet, die Mädchen zu finden und ihnen zu helfen, womöglich gar eine Fälschung –, was geht dann überhaupt hier vor? Weshalb hätte er sich die Mühe machen sollen, mir einen solchen Brief zu schreiben? Ich gebe ein Vermögen für den Versuch aus, die anderen Mädchen zu finden, an denen er experimentiert hat.« Sie beugte sich zu Gator vor, sichtlich bemüht, ihre Gefühle in den Griff zu kriegen und wieder in die Rolle der Wissenschaftlerin zu schlüpfen, in der sie sich viel wohler fühlte. »Weißt du, dass der Computer darauf programmiert ist, jedes Mal, wenn sich jemand mit dem Pseudonym ›Babyblues‹ auf einer bestimmten Bluessite einloggt, ein Signal zu senden? Wie erklärst du dir das, Gator?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Ich schon, aber die Sache gefällt mir überhaupt nicht. Ich glaube, ›Babyblues‹ ist in Wirklichkeit Flame. Ich glaube, sie liebt den Blues, und jemand war klug genug, ihr Pseudonym herauszufinden, nachdem sie geflohen war. Alles weist auf den Versuch hin, immer dann, wenn sie online ist und sich darüber informiert, was sich in der Bluesgemeinde tut, ihren Aufenthaltsort festzustellen. Und dieser Gedanke jagt mir teuflische Angst ein. Wer hat den Computer darauf programmiert, dieses Signal zu senden? Wenn es mein Vater war, warum hat er dann den Brief an mich geschrieben, in dem steht, die Mädchen seien alle zur Adoption freigegeben worden, und er wollte, dass ich sie finde? Und wie kommt es, dass es mir trotz all der Mittel, die mir zur Verfügung stehen, noch nicht gelungen ist, sie aufzuspüren?«

»Was glaubst du, wo sie sind? Er kann doch nicht kreuz und quer über die gesamten Vereinigten Staaten verstreut Sanatorien eingerichtet haben, in denen diese Frauen untergebracht sind, oder etwa doch?«

»Allmählich traue ich ihm alles zu. Und allmählich glaube ich auch, dass manche dieser Dinge von der Regierung gebilligt wurden. Natürlich nicht vorbehaltlos, aber er muss Hilfe gehabt haben. Er hatte Geld, Gator, mehr Geld, als sogar ich mir vorstellen kann. Und er hatte eine vorzügliche Unbedenklichkeitsbescheinigung. Ich habe keine Ahnung, wie viel die staatlichen Stellen wussten, aber sie müssen die Waffen gewollt haben, die er bereitstellen konnte. Wenn Flame all das kann, was ich ihr zutraue, dann wäre sie von unschätzbarem Wert. Sogar als Experiment. Es ist möglich, dass sie ihre Flucht bewusst zugelassen haben, weil sie davon ausgegangen sind, dass sie irgendwann krank wird und zurückkommen muss.«

»Wie Dahlia und das Sanatorium. Sie musste zurückkehren, weil sie draußen nicht zurechtkam. Es war ihr einziger Zufluchtsort.« Gator entwickelte starke Beschützerinstinkte im Hinblick auf Flame. »Dann geht Flame also in die weite Welt hinaus und tut, was auch immer sie tut, aber sie wissen, dass sie früher oder später zurückkehren muss, weil ihr Körper sie im Stich lassen wird.«

Lily nickte. »Genau das vermute ich. Um ganz ehrlich zu sein, Gator, ich bin Wissenschaftlerin, und ich stelle keine Vermutungen an. Ich ziehe es vor, mich mit unumstößlichen Tatsachen abzugeben, mit Dingen, die ich beweisen kann. Aber im Moment habe ich nicht genügend Informationen, um etwas zu beweisen. Ich habe nur so ein Gefühl. Manchmal weiß ich Dinge. Und ich weiß, dass sie dort draußen ist, dass sie in Schwierigkeiten steckt und dass sie uns aufspüren wird, falls sie es nicht bereits getan hat, vor allem dann, wenn sie glaubt, sie wird sterben. «

»Ist es so schlimm?«

»Noch schlimmer. Die Dinge, die sie mit ihrer Stimme anrichten kann, sind einfach unglaublich. Und wenn sie unten auf der Straße stünde, könnte sie unter bestimmten Bedingungen unser Gespräch hören. Der Schlüssel läge darin, bestimmte Laute herauszufiltern und sich nicht von all den Geräuschen, von denen sie umgeben ist, überschwemmen zu lassen.«

Gator zuckte mit keiner Wimper, auch nicht, als sie mit scharfem Blick sein Gesicht beobachtete.

»Nun ja«, fuhr sie fort, ohne auf den Umstand einzugehen, dass er nicht reagiert hatte, »vielleicht nicht gerade in diesem Haus. Die Mauern sind schalldicht isoliert. Und vielleicht hat mein Vater das Haus deshalb so bauen lassen. Zu seinem eigenen Schutz und nicht zu meinem.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, stand auf und lief unruhig in Gators Zimmer auf und ab. »Hast du die jüngsten Forschungsberichte über Geräusche als Waffe verfolgt?«

Er hatte sich darüber auf dem Laufenden gehalten, aber er dachte gar nicht daran, es zuzugeben. Schattengänger rückten selten freiwillig mit Informationen heraus, und schon gar nicht dann, wenn es um ihre eigenen Fähigkeiten ging. Er schwieg weiterhin.

Lily warf ihm einen schnellen Blick zu. Sie erwartete eindeutig, dass er etwas dazu sagen würde. Als er es nicht tat, seufzte sie. »Flame kann Geräusche als Sonar benutzen. Sie kann buchstäblich im Dunkeln ›sehen‹, wie eine Fledermaus oder ein Delfin. Als Waffe kann Infraschall schwächen, indem er Übelkeit, Krämpfe in den Eingeweiden, Veränderungen im Herzrhythmus, Störungen der Lungenfunktion, Schwindelgefühle etc. hervorruft.«

»Das heißt also mit anderen Worten, sie kann einen Menschen töten.« Er sagte das, ohne Lily anzusehen. Er wusste aus eigener Erfahrung, was Niederfrequenzgeräusche anrichten konnten, und es machte ihn krank.

»Sie könnte zweifellos einen Menschen töten. Dazu kommt noch, dass Infraschall in seiner Verbreitung ungerichtet ist; daher wirkt er ohne erkennbare, lokalisierbare Quelle. Sie könnte diese ›Waffe‹ einsetzen, ohne ihren Standort zu verraten.« Lily sah ihm wieder fest in die Augen. »Die Dinge, die sie tun kann, weisen noch einen anderen interessanten Aspekt auf, Gator, abgesehen davon, dass sie mit Tieren sprechen kann. Es ist nämlich denkbar, dass sie durch den Einsatz von Hochfrequenzen einen Massenexodus von, sagen wir mal, Fledermäusen aus einer Höhle oder Ratten aus einem leer stehenden Gebäudekomplex hervorrufen könnte. Sie könnte sogar Insekten wie Moskitos anlocken oder abstoßen.«

Lily war sich durchaus bewusst, dass sie von Dingen sprach, die auch er tun konnte, und sie hielt die Augen nach einer Reaktion offen. Sein Gesicht blieb eine ausdruckslose Maske. »Kannst du Ultraschall verwenden, um Probleme bei Menschen zu entdecken, Gator? Kannst du durch den Einsatz von Hochfrequenzen Organe ›sehen‹? «

»Ich glaube, dahinter steckt der Gedanke, helfen zu können, falls jemand in meiner Einheit verletzt werden sollte. Dann hätten wir ein wandelndes Ultraschallgerät. «

»Das war absolut keine Antwort auf meine Frage. Falls du sie finden solltest, könnte es sein, dass Flame sehr krank ist. Es ist möglich, dass sie keinen Arzt in ihre Nähe lassen würde, aber dich würde sie vielleicht an sich heranlassen. Wärst du in der Lage, Krebs zu entdecken?«

»Ich habe es nie ausprobiert.«

»Wenn sie versuchen sollte, dich zu töten, Gator, wärst du fähig, dich gegen sie zu verteidigen, oder würdest du zulassen, dass sich dir deine Gefühle in den Weg stellen?«, fragte sie schonungslos.

»Meinst du nicht, diese Frage kommt etwas zu spät?« Sie besaß den Anstand, zu erröten. »Tut mir leid. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden können. Du machst dich gerade wieder auf den Weg in den Bayou, und ich glaube, es sieht ganz danach aus, als hielte sie sich in der Gegend auf. Sieh dich in den Blues Clubs um. Sie wird ihnen nicht widerstehen können. Ihre Singstimme muss reines Dynamit sein – wie deine. Und du wirst ohnehin dort sein, um Informationen über Joy einzuholen. «

»Du hast mich nie singen hören.«

»Ich brauche es nicht zu hören. Ich weiß, dass du die Fähigkeit besitzt. Ich habe keine Ahnung, woran wir bei Flame sein werden, und es tut mir leid, dass ich dir das aufhalse, aber ich habe alle Hände voll zu tun mit dem Versuch, die verfahrene Situation, in der wir uns alle befinden, zu bereinigen. Irgendetwas stimmt hier nicht, aber ich komme nicht dahinter, was es ist.«

»Sprich mit Ryland, Lily. Es ist dein Kardinalfehler, dich nicht darauf zu verlassen, dass er dir helfen wird.«

2

Vier Wochen später

GATOR STIESS DIE Zapfpistole in den Tank des Jeeps und streckte seine müden Gliedmaßen, während er darauf wartete, dass der Tank sich füllte. Es war eine weitere lange Nacht, und auch wenn er es nicht als einen Fehlschlag ansah, sich die ganze Nacht großartigen Blues anzuhören, so hatte er doch eine weitere erfolglose Suchaktion hinter sich gebracht. Auf seiner Jagd nach Joy Chiasson hatte er weitere Fragen gestellt und absolut keine Antworten bekommen. Niemand schien etwas zu wissen. Jeder erinnerte sich an ihre wunderbare Stimme, aber niemand wusste etwas über ihren Verbleib. Joy war vollständig von der Bildfläche verschwunden, und nicht eine einzige Person schien etwas darüber zu wissen.

Was das Aufspüren von Iris Johnson anging, so hatte er nicht einmal jemanden entdeckt, der auch nur die leiseste Ähnlichkeit mit ihr gehabt hätte. Auf der Jagd nach Informationen über Joys Verschwinden musste er jeden Club im Umkreis von fünf Quadratmeilen abgeklappert haben, und doch hatte er über keine der beiden Frauen auch nur das Geringste in der Hand. Er hatte Urlaub genommen, geradeso wie Ian. Sie waren schon seit fast vier Wochen im Bayou und konnten nicht ewig bleiben. Wenn er nicht bald etwas über Joy herausfand, würde er abreisen müssen, und es würde seiner Großmutter das Herz brechen. Sie war so sicher gewesen, dass er das Rätsel von Joys Verschwinden lösen und sie unbeschadet nach Hause bringen würde. Er begann zu glauben, dazu käme es wohl nicht mehr.

Sein unruhiger Blick glitt ständig umher. Mit allem rechnen. Immer und ewig mit allem rechnen. Er würde sich nie von dem Verlangen befreien können, auf der Hut zu sein. Er hatte die Zapfsäule im tiefsten Schatten und mit dem schnellsten Straßenzugang gewählt, und es war ihm nicht einmal bewusst gewesen. Mit einem kleinen Seufzer blickte er zu den Sternen auf. Er liebte die Nacht. Zu keiner anderen Zeit fühlte er sich wirklich behaglich, und heute Nacht konnte er ein bisschen Wohlbehagen dringend gebrauchen.

Er hatte sich bisher nicht allzu viele Gedanken über eine eigene Frau oder eine Familie gemacht. Er war kein Mann von der Sorte, die einen Hausstand gründete, aber Lilys Enthüllungen über genetische Verbesserungen hatten ihn unerwartet schwer getroffen. Aus irgendwelchen Gründen konnte er diesen Gedanken nicht abschütteln. Am Anfang hatte er es toll gefunden, als er gemerkt hatte, dass er mit geringer Mühe oder sogar mühelos auf ein Dach springen konnte, echt cool, eine außergewöhnliche und eindeutig positive Begleiterscheinung des Experiments zur Steigerung seiner übersinnlichen Fähigkeiten. Das Wort Virus war ihm nie in den Sinn gekommen, das Wort Krebs ebenso wenig. Die körperlichen Auswirkungen, die Dinge, die er plötzlich tun konnte, hatte er nie wirklich hinterfragt, und abgesehen von ihrem möglichen Nutzen als Waffen hatte er nie mit den anderen über seine gesteigerten körperlichen Fähigkeiten gesprochen. Vielleicht wollte es keiner von ihnen wirklich wissen, aber jetzt schien es ihm von allergrößter Wichtigkeit zu sein.

Er hatte nicht unterschrieben, dass er sich zu genetischen Verbesserungen bereit erklärte. Zur Steigerung seiner übersinnlichen Fähigkeiten, ja, das schon. In seiner Kindheit war ihm aufgefallen, dass er gewisse kleine Begabungen im paranormalen Bereich besaß. Tiere reagierten auf ihn. Manchmal drängte sich ihm eine Ahnung davon auf, was sie fühlten. Er hatte ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis, und sein Verstand erkannte klare Strukturen, sowie er sie sah. Außerdem besaß er ein außergewöhnlich feines Gehör. Alles nur Kleinigkeiten, nichts weiter, aber er wusste, dass er Dinge tun konnte, die andere nicht konnten. Da er nicht anders sein wollte, behielt er diese Dinge für sich, wie es auch die anderen Schattengänger getan hatten.

Er war beim Militär ausgebildet worden, er war begabt im Umgang mit Sprengstoff, und er baute nicht nur rasch und effektiv Bomben, sondern konnte sie ebenso schnell und sorgfältig unbrauchbar machen. Er war von den Sondereinheiten rekrutiert worden, und sowie er das erste Mal von Dr. Whitneys Experiment mit übersinnlichen Veranlagungen und der paranormalen Spezialeinheit gehört hatte, war er Feuer und Flamme gewesen.

Die Vorstellung von einer einzigartigen Gruppe von Soldaten, die in der Lage waren, sich auf feindliches Gebiet zu schleichen und nach gezielten Kurzangriffen unerkannt wieder zu verschwinden, reizte ihn enorm. Er hatte zu viele Menschen – gute Freunde – sterben sehen, und er sah darin eine Möglichkeit, viele unnötige Tode zu vermeiden.

Was bedeuteten genetische Verbesserungen für die ohnehin schon ungewisse Zukunft der Schattengänger? Würden sie Familien gründen können, und wenn ja, würden sie die Eigenschaften an ihre Kinder weitergeben? Was auf Erden hatte er sich dabei gedacht, sich auf eine solche Dummheit einzulassen? Er stöhnte laut. Ihm hätte aufgehen sollen, dass Whitney sie als menschliche Laborratten benutzen würde. Gator hatte nichts von Whitneys früheren Experimenten mit den kleinen Mädchen gewusst, als er sich verpflichtet hatte, aber auch das war keine Entschuldigung. Er hätte klüger sein sollen. Es konnte sein, dass er seine gesamte Zukunft weggeworfen hatte.

Gator lehnte sich an den Jeep und fuhr mit einer Hand durch sein dichtes schwarzes Haar. Er war im Bayou aufgewachsen, und diese Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es nicht immer gut war, anders zu sein. Seine Eltern waren bei einer Überschwemmung ums Leben gekommen, ein tragischer Unfall, der nicht vorhersehbar gewesen war, und seine Großmutter hatte die Aufgabe übernommen, die vier Jungen aufzuziehen. Der unbändige Raoul mit seiner glühenden Loyalität und seinem Stolz war der Älteste gewesen und hatte sich um die anderen gekümmert. Diese Verantwortung hatte er auf sein militärisches Leben übertragen. Und jetzt war er hier und suchte nach einer Frau, die wahrscheinlich tot war, und einer anderen, die nicht gefunden werden wollte.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine flüchtige Bewegung wahr und schaltete sofort auf Alarmbereitschaft. Eine Frau glitt aus den Schatten heraus. Sie musste in dem Geschäft gewesen sein, das der Tankstelle angeschlossen war. Was seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte, war in erster Linie ihre Art, sich zu bewegen. Sie schwebte lautlos, und die eng anliegende schwarze Hose schmiegte sich an ihre Hüften und an ihre Beine. Sie trug Handschuhe und eine Lederjacke. Ihr Haar war dicht und vollkommen glatt und endete kurz über ihren Schultern. Sie glitt zu ihrem Motorrad, einem heißen Flitzer, der wie ein geölter Blitz davonschießen würde, wenn er mit seiner Vermutung richtig lag – auf Geschwindigkeit und Wendigkeit und nichts anderes angelegt.

Wie die Frau. Diese Überlegung stellte sich unaufgefordert ein und fand irgendwo in seiner Leistengegend ein Echo.

Als sie sich über das Motorrad beugte, kam ein Wagen auf die Tankstelle zugerast und fing sie für einen Moment im grellen Licht seiner Scheinwerfer ein. Sie hielt den Kopf gesenkt und machte sich auf der anderen Seite des Motorrads an etwas zu schaffen, was er nicht sehen konnte. Dabei rutschten ihre Jacke und ihre Bluse hoch und legten eine schmale Taille und darunter den Schwung ihrer Hüften frei – und die Tätowierung.

Raoul verschlug es den Atem. Es war ein Flammenbogen, der sich direkt über dem Beckenknochen spannte und auf beiden Seiten aus ihrer tief sitzenden Hose schaute. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Konnte es so einfach sein? War es möglich, dass er seine Nächte damit verbracht hatte, einen Club nach dem anderen aufzusuchen, weil nicht ganz auszuschließen war, dass sie in einem von ihnen singen würde, und dass er sie jetzt an einer Tankstelle entdeckte? Wie absurd wäre das? Fast hätte er es nicht geglaubt, aber etwas an ihren Bewegungen, eine gewisse Verstohlenheit, eine Behändigkeit und die Lautlosigkeit eines Raubtieres, vermittelte ihm den Eindruck, er hätte es mit einem Schattengänger zu tun. Und erst die Art und Weise, wie sie aus den Schatten aufgetaucht war …

Raoul fuhr sich aufgewühlt mit den Fingern durchs Haar. Er hatte zugelassen, dass seine Phantasie mit ihm durchging. Frauen hatten heute alle möglichen Tätowierungen. Wenn es bei ihr ein Flammenbogen über den Hüften war, dann hatte das noch lange nichts zu bedeuten. Er war wirklich nicht mehr ganz bei Trost, aber er konnte seinen Blick nicht von ihr losreißen. Ihre Hose hatte überall Taschen aufgenäht, ideal für Werkzeug. Nun gut, manche Leute trugen diese Mode, aber bei ihr war der Sitz so perfekt, als sei die eng anliegende Cargohose eigens für sie maßgeschneidert worden.

Sie richtete sich langsam auf und setzte eine Schutzbrille und einen Helm auf. Sie drehte sich lässig um, eine unauffällige Bewegung, die kaum wahrnehmbar war, da sie im Schatten stand, doch er fühlte, wie ihr Blick über ihn glitt, und er stoppte den Benzinfluss und zeigte großes Interesse daran, die Zapfpistole wieder ordentlich in die Zapfsäule einzuhängen. Er fühlte ihren forschenden Blick. Sein Nacken juckte. Er hielt den Atem an, bis sie das Motorrad anließ.

Als er sich umdrehte, tat er es mit derselben Lässigkeit wie sie. Als sich das Motorrad in Bewegung setzte, fiel für einen kurzen Moment der Schein der Straßenlaterne auf ihr Gesicht. Weinrote Haarsträhnen schauten unter dem Helm heraus. Raoul stieß langsam den angehaltenen Atem aus. Er war sich ganz sicher, dass er Iris »Flame« Johnson vor sich sah.

Das Rücklicht des Motorrads ließ ihn schlagartig aktiv werden. Er schloss schleunigst den Tankdeckel, bevor er sich auf den Fahrersitz warf. Das Motorrad war bereits abgebogen, aber er hatte beobachtet, in welche Straße es gefahren war.

Er hielt Abstand und fuhr zeitweilig zwei Straßen parallel zu ihr, um zu verhindern, dass sie einen Blick auf den Jeep erhaschte. Er fuhr ohne Licht und verließ sich darauf, dass ihn sein Gehör vor einem Unfall bewahren würde. Er hatte den offensichtlichen Vorteil, die Gegend zu kennen. Sie wusste, wohin sie fuhr, aber sie kannte nicht die schmalen Gassen und die Abkürzungen, die er kannte. Wenn sie zwischendurch langsamer fuhr, bog er augenblicklich in eine Seitenstraße ab. Er folgte ihr durch das Geschäftsviertel und durch die Wohngebiete, bis sie in die besonders teuren Villenviertel gelangten, in denen viele Häuser von hohen Zäunen mit elektrischen Toren umgeben waren.

Die Frau parkte ihr Motorrad tief in den Schatten eines Parks. Die Sträucher und Bäume verbargen sie vor seinen Augen. Fast hätte er ihre Spur verloren. Nichts war zu hören, weder das Rascheln von Bewegungen noch das Bellen von Hunden oder auch nur ein einziger Schritt. Gator konnte sie nirgends entdecken, aber er fühlte sie. Er überließ sich ganz seinen Schattengänger-Instinkten und vertraute darauf, dass seine hoch entwickelten Sinneswahrnehmungen ihn führen würden, denn bis auf ein vages Gefühl hatte er absolut keinen Anhaltspunkt.

Lautlos bewegte er sich an der Backsteinmauer mit schmiedeeisernem Tor entlang, hinter der die nächste Villa stand. Zwei große Mastiffs standen dicht am Tor und starrten auf die Straße hinaus. Ohne jede bewusste Überlegung flüsterte er ihnen etwas zu, um sie zu beruhigen, damit sie niemanden auf seine Anwesenheit aufmerksam machten. Er war schon zwei Schritte weiter, als ihm aufging, dass sie dasselbe getan hatte. Die Hunde hielten offensichtlich Wache, und doch hatte keiner von beiden Alarm geschlagen. Beide winselten leise und blickten eifrig in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte.