Tatort Schulhof - Petra Reichling - E-Book
SONDERANGEBOT

Tatort Schulhof E-Book

Petra Reichling

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kontrollverlust – wenn Schüler zu Tätern werden
Diebstähle, Mobbing, Gewalt – bis hin zu Vergewaltigungen: Von Kriminalität ist fast jede Schule betroffen, unabhängig von der Schulform oder dem sozialen Hintergrund der Kinder. Die Kriminalkommissarin Petra Reichling enthüllt anhand schockierender Fallgeschichten, was beinahe täglich auf unseren Schulhöfen passiert. Sie analysiert, woher die Gewalt kommt und warum sie zunimmt. Und sie stellt klare Forderungen an Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen und die Politik: Die Opfer nicht allein lassen und mit aller Konsequenz gegen die Täter vorgehen.
Ein bestürzender Befund – eine aufrüttelnde Botschaft!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 292

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kontrollverlust – wenn Schüler zu Tätern werden

Diebstähle, Mobbing, Gewalt – bis hin zu Vergewaltigungen: Von Kriminalität ist fast jede Schule betroffen, unabhängig von der Schulform oder dem sozialen Hintergrund der Kinder. Die Kriminalkommissarin Petra Reichling enthüllt anhand schockierender Fallgeschichten, was beinahe täglich auf unseren Schulhöfen passiert. Sie analysiert, woher die Gewalt kommt und warum sie zunimmt. Und sie stellt klare Forderungen an Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen und die Politik: Die Opfer nicht allein lassen und mit aller Konsequenz gegen die Täter vorgehen.

Ein bestürzender Befund – eine aufrüttelnde Botschaft!

PETRA REICHLING

MIT LEO LINDER

TATORT

SCHULHOF

Warum Schulen kein geschützter Raum

mehr für unsere Kinder sind

Eine Kommissarin schlägt Alarm

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Beratung: Stefan Linde Redaktion: Dr. Angelika Winnen Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Satz: Leingärtner, Nabburg e-ISBN: 978-3-641-22457-8V002www.heyne.de

Inhalt

Einleitung   »Messer an der Schule sind doch normal«

Sex & Crime und (Cyber)Mobbing – Alltag an unseren Schulen

Die Klassenhorde – von Bossen, Untertanen und anderen

Wunsch und Wirklichkeit – die Schulleiterkonferenz

»Das bisschen Haschisch …«

Mobbing und mehr – das tägliche Elend an unseren Schulen

Für immer nackt – Spielarten des Cybermobbings

Liebe in gefühllosen Zeiten

Unklare Verhältnisse

Sex als Zahlungsmittel

Vorschlag zur Reform des Sexualkundeunterrichts

Schulleitungen und Lehrkräfte – verunsicherte Garanten

Keine Angst vor Mitgefühl – Opfer brauchen Vertrauen

Gegen die Mentalität des Wegsehens – Vertrauenslehrkräfte sind wichtige Garanten

Juristische Kalamitäten im Schulalltag – und wie man sie löst

Lehrkräfte unter Beschuss

Die Krise der Autorität beginnt im Elternhaus

Der Verlust von sozialen Regeln und seine Folgen

Die schwierige Verantwortung der Eltern

Im Bespucktwerden waren wir Vorreiter – die Krise der Autorität

Respekt! Wie man verhindert, dass Kinder zu Tätern oder Opfern werden

»Ich rede mit dir, wie man mit einer Frau redet«

Anzeigen und Strafen – die beste Lösung?

Der Respekt vor dem Opfer verlangt nach einer Anzeige

Was Jugendliche auf der Polizei erwartet

Strafe muss sein

Justiz mit Beißhemmung

Wir wollen doch alle, dass es aufhört!

Wir müssen kooperieren! Ein Appell an die Schulen

Wir brauchen Unterstützung! Ein Appell an die Politik

Nachtrag   Was tun? Handlungsempfehlungen für Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern

Wie kann man sich auf angemessenes Verhalten bei Straftaten vorbereiten?

Wie erfährt man Genaueres über die Straftat?

Wer hilft Eltern weiter?

Welche Straftaten müssen, welche sollten von der Schule angezeigt werden?

Wer hilft Lehrkräften und Schulleitungen weiter?

Weitere nützliche Anlaufstellen

Danksagung

Einleitung   »Messer an der Schule sind doch normal«

Ich hatte Anfang des Jahres gerade mit dem Manuskript zu diesem Buch begonnen, als mir eine Meldung der »New York Times« in die Hände fiel: »Schießerei an einer Schule in Kentucky. Amerikaweit ist es das elfte Schulmassaker in diesem Jahr. Wir schreiben den 23. Januar …« Dann die Einzelheiten: Ein 15-jähriger Schüler hatte morgens um 8 Uhr das Gebäude seiner Highschool betreten und um sich geschossen. In der Eingangshalle herrschte Hochbetrieb, 14 Menschen wurden von Kugeln getroffen. Auf seiner Flucht verletzte er fünf weitere. Zwei von ihnen starben kurze Zeit später … Im Verlauf der Meldung erfuhr ich weiterhin: Ein Viertel aller Schießereien in den USA mit mehr als drei Opfern ereignet sich auf dem Gelände von Bildungseinrichtungen, Tendenz steigend. Inzwischen haben viele Schulen Notfallpläne für den Fall eines bewaffneten Angriffs aufgestellt, etliche führen Notfallübungen durch. Erwogen wird die dauerhafte Stationierung bewaffneten Personals an Schulen.

Keinen Monat später erschütterte das Schulmassaker in Parkland, bei dem 17 Menschen starben, die USA, und Präsident Trumps Vorschlag, die Lehrkräfte zu bewaffnen, schlug hohe Wellen.

So weit, dachte ich, sind wir noch nicht. Diese Welle der Gewalt hat uns noch nicht erreicht. Amokläufe an Schulen kommen zwar auch in Deutschland vor, aber nicht im Wochenrhythmus. Fernsehbilder von erschossenen Schülerinnen und Schülern, von getöteten Lehrpersonen sind immer noch die erschütternde Ausnahme. Aber ist eine ähnliche Entwicklung hierzulande undenkbar? Immerhin hat die Verrohung an unseren Schulen ein alarmierendes Stadium erreicht. Und ich spreche nicht von Disziplinlosigkeit, von Kindern und Jugendlichen, die lernunwillig sind und den Unterricht stören – daran hat man sich längst gewöhnt, damit muss man an Schulen leben. Mittlerweile gibt es andere Sorgen.

Große Pause an einer Grundschule. Auf dem Schulhof wird einem 11-Jährigen von einem Klassenkameraden ein Messer an die Kehle gesetzt. Der bedrohte Junge hat vor Kurzem erst die Schule gewechselt, weil er von Mitschülern schikaniert worden war, jetzt bekommt er zu hören: »Ich schneide dir die Kehle durch.« Der Angreifer hat vielleicht gar nicht die Absicht, ihn zu verletzen, wahrscheinlich will er sein Opfer nur gefügig machen, aber in diesem Moment bräuchte ihn nur jemand anzurempeln, und schon würde Blut fließen. Juristisch gesehen könnte diese Attacke jedenfalls in den Bereich des versuchten Tötungsdelikts fallen. Als sich die Mutter des bedrohten Jungen nach dem Vorfall an die Mutter des Angreifers wendet, erfährt sie eine eiskalte Abfuhr: »Messer in der Schule sind doch normal.«

Tatsächlich?

»Schon vor zehn Jahren ist mir aufgefallen, dass sich immer mehr Jungen mit Messern bewaffnen«, bestätigte mir ein Lehrer, Studienrat an einem renommierten Gymnasium. »An Schulen dürften ziemlich viele Messer im Umlauf sein.«

Wenige Wochen später erreichte mich im Dienst die Nachricht: An einer Gesamtschule in Lünen wurde ein Schüler durch einen Messerstich in den Hals getötet. Der Getötete ist 14 Jahre alt. Der Täter ein Jahr älter. Als Grund gab er nach seiner Verhaftung an, er habe sich durch provozierende Blicke herausgefordert gefühlt, die der 14-Jährige seiner Mutter zugeworfen haben soll. »Der Täter war vorher nur wegen Sachbeschädigung bei der Polizei bekannt«, stand anderntags in der Zeitung. Dann wurde aus einem Brief der Schulleitung an die Eltern dieser Schule zitiert: »Leider mussten wir feststellen, dass in letzter Zeit Schüler vermehrt Waffen mit in die Schule gebracht haben.« Von Messern, Schreckschusspistolen und Pfefferspray war die Rede.

Ein gewöhnlicher, alltäglicher Fall ist das – zum Glück – nicht. Trotzdem kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren: Auch an unseren Schulen wird das Klima rauer, aggressiver, gnadenloser. Etwas Beunruhigendes ist im Gange. Gehässigkeit und Gewalt breiten sich wie ein ansteckendes Virus aus. Oder täuscht man sich? War es früher gar nicht viel anders?

Der aus zahlreichen französischen Gangsterfilmen bekannte frankoitalienische Schauspieler Lino Ventura sagte in einem Dokumentarfilm über sein Leben über seine Jugend als Einwandererkind im Paris der 1920er-Jahre: »Kinder können unvorstellbar grausam sein. Sie fallen erbarmungslos über Schwächere und Außenseiter her. Ich habe es selbst erlebt, als ich mit sieben Jahren mit meiner Mutter nach Paris kam, zwei Italiener, die die Sprache nicht beherrschten. Meine Schulzeit war extrem kurz – nach zwei Jahren war ich schon wieder auf der Straße und habe Geld verdient, als Zeitungsausträger oder Fahrradbote.« Der kleine Lino Ventura hatte vor der Grausamkeit seiner Klassenkameraden kapituliert und war einfach nicht mehr zur Schule gegangen.

Nein, eine Oase der Mitmenschlichkeit war die Schule wohl nie, und Mobbing ist keine Erfindung unserer Tage, es hatte früher andere Namen, handfestere; man sprach von Hänseln, von Drangsalieren und Quälen. Rüpeleien und Schlägereien kamen dazu. Jeder dürfte das aus seiner eigenen Jugend kennen, und dennoch …

Früher wurde auch gerauft, aber wenn einer am Boden lag, wenn Sieger und Verlierer feststanden, war Feierabend – denn darum ging es bei der klassischen Rauferei: Sieger und Verlierer zu ermitteln. Heutzutage wird nachgetreten, und zwar gegen den Kopf, ins Gesicht, und das Opfer kann von Glück sagen, wenn der Angreifer nicht noch zum Messer, zur Zaunlatte, zur Bierflasche greift. Heute geht es oft genug um Vernichtung, und ich konnte meinem Sohn vor einigen Jahren schon nicht mehr guten Gewissens sagen: Es ist okay, wenn ihr euch mal prügelt.

Dazu kommt die Digitalisierung. Alles wird mit Handy oder Smartphone aufgenommen. Mit solchen Aufnahmen hat man ein hervorragendes Druckmittel in der Hand, das weit über die früher üblichen Beschimpfungen oder Drohungen hinausgeht. Es ist eben demütigender, wenn nicht nur der kleine Kreis der Zuschauer, sondern alle Welt mitansehen kann, wie ich zusammengeschlagen werde. Und das Filmen folgt den Regeln der dramatischen Steigerung, das heißt: Die Eskalation ist vorgesehen. Sie ist eine dramaturgische Notwendigkeit. Sie setzt außer Kraft, was an Hemmungen noch da ist, weil die Show weitergehen muss.

Im Bereich der Sexualität ist es ähnlich. Kinder und Jugendliche sind im Internet mit knallharter Pornografie konfrontiert. Es gibt Webseiten, die Vergewaltigung als die einzige erfüllende Form der Sexualität propagieren. Wovon wir zu unserer Zeit gnädig verschont geblieben sind, das ist heute jederzeit verfügbar; Schmutz und Schrecken kommen in nacktem, brutalem Realismus daher, und unsere Jugendlichen kriegen dieses schauerliche Zerrbild der Wirklichkeit ungefiltert und in aufreizender Deutlichkeit mit. Schon so ließe sich erklären, wieso Kinder und Jugendliche heute Dinge machen, an die meine Generation im Leben nicht gedacht hätte, die weit jenseits unserer Vorstellungskraft lagen.

Nach den fast zehn Jahren, in denen ich beim Düsseldorfer Kriminalkommissariat 12 für Sexualdelikte zuständig war und im Zuge meiner Ermittlungen auch mit den Verhältnissen an Schulen vertraut wurde, muss ich sagen: Es gibt eine Tendenz, sie ist nicht zu übersehen. Die Qualität der Straftaten an Schulen hat sich geändert. Die Hemmungslosigkeit ist größer geworden. Die Gewaltbereitschaft ist gewachsen. Die Geringschätzung für das Leben und den Besitz anderer hat zugenommen. Früher habe ich mit der Antwort gezögert, wenn ich gefragt wurde, ob es schlimmer geworden ist. Heute sage ich, ohne zu zögern, Ja.

Statistisch lässt sich diese Entwicklung weder bestätigen noch widerlegen. Das liegt daran, dass Kriminalität an Schulen lange Zeit nicht gesondert erfasst wurde. Inzwischen wird es bei der Polizei hier und da gemacht, aber es bleibt die Unsicherheit, wie Schule als Tatort einzugrenzen wäre – gehören Straftaten dazu, die sich im schulischen Bereich anbahnen und außerhalb ausgeführt werden, auf dem Schulweg zum Beispiel oder in der Wohnung eines Schülers? Bemerkt die ermittelnde Person überhaupt den Zusammenhang mit Vorgängen in der Schule? Und wenn ja, erscheint er ihr relevant? Das sind Unsicherheitsfaktoren, die keine zuverlässige Erfassung erlauben. Im Übrigen spielen auch in Kriminalstatistiken politische Interessen hinein, die ihre Aussagekraft schmälern.

Ich will mich deshalb in diesem Buch nicht mit Zahlen und Daten aufhalten, sondern erzählen, Fallbeispiele bringen, nach Ursachen und Folgen fragen und gesellschaftliche Entwicklungen beleuchten, kurz gesagt, aus der langjährigen Erfahrung einer Kriminalhauptkommissarin in einer deutschen Großstadt berichten. Und aus dieser Sicht gibt es nichts zu beschönigen.

Auch wenn in der Vergangenheit nicht alles besser war – die Zeiten sind härter geworden. Nicht nur schwieriger, sondern tatsächlich härter, nämlich rücksichtsloser, gnadenloser. Und wie in den USA bekommen das auch in Deutschland die Schulen zu spüren, unter anderem in Form von strafrechtlich relevanten Delikten. Wobei keine Schulform davon ausgenommen ist. Ich werde ja häufig danach gefragt, von der Presse oder von Schulleitungen, die sich die leise Hoffnung machen, Kriminalität im schulischen Bereich beschränke sich auf Grund-, Haupt- und Förderschulen. Ich muss sie dann enttäuschen. Meine Erfahrung ist: Straftaten kommen an allen Schultypen vor, auch an Gymnasien, sogar an Waldorfschulen, und manche sind bereits an der Tagesordnung, der Handel und Besitz von Drogen beispielsweise, aber auch Vandalismus, körperliche Gewalt, sexuelle Nötigung und Cybermobbing.

Dass sich dies alles nicht allein im Klassenraum abspielt, versteht sich von selbst. Ich werde den Begriff der Schule deshalb sehr weit fassen und alle Straftaten einbeziehen, die von Schülern und Schülerinnen ausgehen und sich gegen Lehrkräfte oder Mitschüler richten, egal ob auf dem Schulgelände oder außerhalb – im digitalen Zeitalter ist eine räumliche Zuordnung sowieso fast sinnlos geworden.

Klar ist auch, dass das Verhalten von Eltern zunehmend Einfluss auf das Klima an unseren Schulen gewinnt, dass die Rolle der Justiz beleuchtet werden muss, dass man gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen nicht außer Acht lassen kann. Die Digitalisierung ist ja nur ein Faktor unter vielen. Ein grundsätzliches Misstrauen der Politik gegenüber einer starken Staatsmacht ein anderer. Auch die Öffnung unserer Grenzen für Flüchtlinge und Einwanderer in großer Zahl hat das Problem verschärft, um nur eine weitere Ursache zu nennen. Dieser Aspekt wird bei manchem auf inneren Widerstand stoßen – darf, soll, muss man das erwähnen? Ja. Denn es ist nichts damit gewonnen, die Augen zu verschließen oder bloß verklausuliert darüber zu reden. Die Wirklichkeit zu leugnen würde bedeuten, vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, und Gefahren abzuwenden liegt ja nicht allein im Interesse der Polizei.

Ich werde also Erfahrungen, die wir in unserer Arbeit fast täglich machen, und Tatbestände, mit denen wir fast täglich zu tun haben, nicht um des lieben gesellschaftlichen Friedens willen verschweigen. Ich werde sie, um desselben Friedens willen, aussprechen und strikt bei dem bleiben, was wir in jedem Ermittlungsverfahren, bei jeder Zeugenaussage unter Wahrheit verstehen – nämlich alles, was einer wahrgenommen hat, was sich vor seinen eigenen Augen und Ohren abgespielt hat. Die persönliche Tatsachenschilderung ist immer noch der beste Ausgangspunkt für jede weiterführende Erkenntnis.

Ich verstehe mich als Opferschützerin. Meine Motivation bei meiner täglichen Arbeit und auch für dieses Buch, das hoffentlich mit seinen Berichten, Fragen und Vorschlägen einen kleinen Beitrag zur Verbesserung der Situation leistet, indem es zumindest zur Diskussion auffordert, ist ganz schlicht: Das Leiden der Opfer muss aufhören! Ich habe zu diesem Zweck bewusst auch zum Teil drastische Beispiele aus meiner langjährigen Praxis verwendet, dabei aber immer aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen auf die Nennung von Namen und Orten verzichtet und auch sonst individualisierende Merkmale wenn möglich verändert. Das Alter der Betroffenen entspricht dem zum jeweiligen Tatzeitpunkt.

Sex & Crime und (Cyber)Mobbing – Alltag an unseren Schulen

Die Klassenhorde – von Bossen, Untertanen und anderen

Nehmen wir den bereits erwähnten Fall des 11-jährigen Schülers, dem ein Mitschüler das Messer an den Hals gesetzt hat, und schauen uns einmal an seiner Schule um, wenn dort der übliche Betrieb im Gang ist. Es wird sich zeigen, dass hier niemand eine rühmliche Rolle spielt, weder die Schülerschaft noch die Eltern des Täters noch die Schulleitung. Ich hatte mich seines Falls angenommen – nicht in meiner Eigenschaft als Polizistin, sondern als Bekannte seiner Mutter – und nach dem Vorfall ein langes Gespräch mit dem Jungen geführt, aus dem sich nach und nach ein erschreckendes Bild des Schulalltags ergab.

Das Erste, was mir auffiel, war, wie häufig er einen »Boss«, einen »Obersten« in seinen Schilderungen erwähnte. Ich fragte nach und erfuhr: Unter den Schülern seiner Klasse herrscht die Rangordnung einer Horde. Der sogenannte Boss nimmt die höchste Machtposition ein und schafft sich ein Gefolge, das ihm regelmäßig Tribut in Form von Geld oder Sachwerten entrichten muss. Mit anderen Worten: Dieser Chef verfügt nach Belieben über seine schwächeren Mitschüler und verlangt von ihnen unter anderem, für ihn zu klauen. Auch er selbst, der 11-Jährige, sei wiederholt gezwungen worden, Geld zu beschaffen; das letzte Mal habe er 50 Euro innerhalb von zwei Tagen auftreiben müssen.

Also Raub und räuberische Erpressung. Jetzt wollte ich es genauer wissen. Bei der Polizei muss ein Tatbestand grundsätzlich konkretisiert werden, was für die Opfer oft quälend ist, aber dieser Junge war froh, jemanden zum Reden gefunden zu haben, also fragte ich weiter: »Was passiert, wenn du dich weigerst?«

»Dann wird man verprügelt, bis man ohnmächtig wird.« Nicht immer durch den Boss persönlich. Natürlich hat er seine Gehilfen, seine Unterchefs, die die Schmutzarbeit übernehmen.

»Und wie schafft man es, Anführer zu werden?« Antwort: »Man prügelt sich nach oben.« In seiner Klasse gibt es zwei Gruppen mit jeweils einem Anführer, die es vermeiden, einander in die Quere zu kommen.

»Und was muss man tun, um in eine der Gruppen aufgenommen zu werden?«

»Mitmachen«, sagte er. Also stehlen, Geld beschaffen, nach der Pfeife des Chefs tanzen, der seine Gefolgsleute selbst nach Schulschluss fest im Griff hat; im Handyzeitalter kein Problem. »Wie viel Geld hast du zusammen?« Kann der Untertan den geforderten Betrag vorweisen, trifft man sich zur Übergabe, oder es ergeht der Befehl, etwas dafür zu kaufen – beziehungsweise zu klauen, wenn die Summe nicht reicht. Ganz oben auf der Wunschliste der Bosse stehen Energydrinks und Böller, die nach Schulschluss auf dem Schulhof gezündet und auf die Nachbarhäuser abgefeuert werden.

Bis hierhin war für mich nichts neu. Überrascht war ich von dem, was jetzt kam. Der Junge beschrieb, dass er und seine Klassenkameraden beim Klauen arbeitsteilig vorgingen – bei Erwachsenen würde man von bandenmäßigem Diebstahl sprechen: Ein Kind steckt sich die geklaute Ware ein und geht zur Kasse, ein zweites lenkt die Kassiererin ab, das Diebesgut wird unterhalb der Sensoren an der Kasse vorbei über den Boden geschoben und draußen einem dritten Kind übergeben, das mit der Beute verschwindet.

So sah der Schulalltag dieses Jungen aus. Der Angreifer war natürlich einer der beiden Klassenchefs gewesen und die Messerattacke eine Bestrafung für Widerspenstigkeit. Der 11-Jährige bot sich für solche Aktionen an. Er war klein und schmächtig für sein Alter und wohl das schwächste Glied in der Klassenhorde, weshalb er besonders brutal rangenommen wurde. Eine Ausnahme aber war er nicht. An seiner Schule komme es regelmäßig zu körperlicher Gewalt, erzählte er, Anrempeln, Schubsen und Treten seien üblich, Verletzungen würden in Kauf genommen, Schultaschen entrissen und beschädigt oder die Treppe hinuntergeworfen. Seine Mutter hatte mir gesagt: »Es macht meinen Sohn schon zum Gegenstand des Spotts, dass er nicht den coolsten Rucksack besitzt …«

Ob auch Lehrer angegriffen würden, wollte ich wissen.

»Ja. Die werden beklaut. Ihre Taschen werden durchsucht, ihre Schränke werden geöffnet, und wir lassen Sachen verschwinden.« Er erinnerte sich, dass einmal das Auto einer Lehrerin »geschrottet« worden sei. Es hatte sich um einen Neuwagen gehandelt, und Mitschüler hatten ihn zerkratzt und mit Fußtritten bearbeitet … Um endlich in Ruhe gelassen zu werden, verstecke er sich seit einiger Zeit während der Pausen in den Toiletten, wo er regelmäßig Zeuge von Strafmaßnahmen werde, denn Kinder, die nicht mitzögen, die sich den Bossen nicht fügten, würden mit Vorliebe in die Toilette gedrängt und dort zusammengeschlagen.

Hier beendeten wir unser Gespräch. Und ich hörte mich weiter um – auch aus beruflichem Interesse, aber nach wie vor privat. Anders als im Dienst, wo man sich die Arbeit an einem Fall teilt – während die Polizei ermittelt und die Schule ihrerseits Maßnahmen ergreift, betreuen Beratungsstellen und Jugendamt die Opfer, gegebenenfalls auch deren Familien –, konnte ich diesmal dranbleiben und die Reaktionen aller Beteiligten verfolgen. Außerdem sucht man ja, als Polizistin wie als Mutter, immer nach einer Lösung. »Was wünschst du dir, was soll sich deiner Meinung nach ändern?«, hatte ich den Jungen in unserem Gespräch gefragt und die klassische Antwort erhalten: »Ich will nur, dass es aufhört.« Und dann, nach kurzem Nachdenken: »Ich möchte, dass die Unruhestifter die Schule wechseln müssen, und nicht die Braven.« Wie sich nun zeigte, waren die Chancen dafür gering.

Der Junge und seine Eltern hatten alles richtig gemacht. Er hatte seine Mutter gleich nach der Messerattacke in die Verhältnisse eingeweiht und dabei die Diebeszüge nicht verschwiegen, und sie war nicht sofort zum Direktor gelaufen, sondern hatte als Erstes das Gespräch mit der Mutter des Angreifers gesucht. Für mich ist das der normale Weg: Wenn Kinder ihre Konflikte nicht untereinander geregelt kriegen, müssen sich die Eltern miteinander in Verbindung setzen; sollte das nichts helfen, wird die Schule einbezogen, und erst, wenn auch sie die Missstände nicht abstellen kann, wendet man sich an die Polizei. In diesem Fall aber hatte die Mutter des Angreifers auf stur geschaltet. »Du Petze führst dich hier als Übermutter auf und schwärzt meinen Sohn an«, so ungefähr waren ihre Worte gewesen, und dann eben der Satz: »Messer an der Schule sind doch normal.« Zum Schaden kam also die Beschimpfung hinzu.

An der Schule sah es nicht besser aus. Wie ich aus meinem Gespräch mit dem 11-Jährigen wusste, war es üblich, Unruhestifter von Zeit zu Zeit zum Rektor zu rufen, wo sie sich entschuldigen mussten und ermahnt wurden, woraufhin es im alten Stil weiterging. Die Messerattacke, die Diebeszüge, waren dann im Unterricht besprochen worden, aber als generelles Problem, ohne Namen zu nennen, wobei natürlich jeder in der Klasse wusste, wer gemeint war. Schließlich hatte der Schulleiter auf einem Elternabend das Thema angeschnitten, war aber weitgehend auf taube Ohren gestoßen. Die Einstellung mancher Eltern geht deutlich aus der Bemerkung eines Vaters zu einem früheren Vorfall hervor. Nachdem Schüler das Auto einer Lehrerin demoliert hatten, bekam die Geschädigte von ihm zu hören: »Was regen Sie sich so auf? Es ist doch nur Sachschaden entstanden, es ist doch keiner verletzt worden.« Als würde es zum Berufsbild des Lehrers gehören, einen Sachschaden dieser Größenordnung klaglos hinnehmen zu müssen.

Die Mutter des 11-Jährigen war einigermaßen verzweifelt. Sie hatte die kaltschnäuzige Reaktion der Mutter des Angreifers erlebt, die kraftlose Reaktion der Schule, die Uneinsichtigkeit der anderen Eltern, und sah sich jetzt außerstande, ihr Kind zu beschützen. Wenigstens mit den Raubzügen musste Schluss sein, also verlangte sie von ihrem Sohn, sich von seinen Kumpels fernzuhalten, in der Schule so gut es gehe, in der Freizeit völlig. Verständlicherweise protestierte der Junge: »Damit machst du mich doch erst recht zum Außenseiter!« Die einzige Maßnahme, die in ihrer Macht lag, hätte ihrem Sohn nichts genützt – ohne die Unterstützung der Schule würde er diesem Teufelskreis aus Unterwerfung, Auflehnung und erneuter Demütigung nicht entkommen, und der Gute wäre wieder mal der Dumme. Der Mutter war klar: Wenn sie jetzt resignierte, würde sich ihr Sohn von allen im Stich gelassen fühlen. Und ich wusste aus meiner Arbeit: Worunter Mobbingopfer – ähnlich wie Opfer von Sexualdelikten – am meisten leiden, ist das demütigende Gefühl ihrer Ohnmacht.

Blieb als letzte Chance das persönliche Gespräch mit dem Schulleiter. Diese Gelegenheit bot sich nach der Rückkehr des Jungen von einer Klassenfahrt. Tagelang vorher hatte er vor seinem Boss gezittert, dem er unterwegs schutzlos ausgeliefert sein würde, und ich hatte mir vorgenommen, ihn bei der Rückkehr vor seiner Schule zu erwarten – als moralische Unterstützung, wenn man sonst schon nichts für ihn tun konnte. Er war dann auch hocherfreut, mich dort stehen zu sehen, und zufällig bekam sein Boss unsere herzliche Begrüßung mit. Ich kannte diesen Jungen nicht, erkannte ihn aber sofort an seinem irritierten Blick, seinem düsteren Gesichtsausdruck – offenbar wusste oder ahnte er, wer ich war, und verzog sich eiligst.

Und dann das Gespräch mit dem Rektor. Ich begleitete die Eltern des Jungen zu seinem Büro, wir wurden vorgelassen, ich stellte mich vor und nannte auch meinen Beruf. Prompt machte der Mann die Schotten dicht, blockte ab, gab ausweichende Antworten, scheute vor klaren Stellungnahmen zurück und wurde regelrecht nervös – da gebe es nun nichts mehr zu besprechen, Ende, aus. Offensichtlich störte ihn meine Anwesenheit ganz außerordentlich, obwohl ich in Zivil war und gar nicht ins Gespräch eingriff. Kurzum, wir erreichten nichts.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, noch mit den Eltern des Täters zu reden, sie zu fragen, ob sie wüssten, was ihr Kind während der Schulstunden treibe, sie darüber aufzuklären, dass hier einiges an schwerwiegenden Straftaten zusammenkäme, wenn ihr Sohn bereits älter als 14 Jahre, also strafmündig wäre: räuberische Erpressung, bandenmäßiger Diebstahl und Körperverletzung bis hin zum versuchten Tötungsdelikt. Aber aus diesem Gespräch wurde nichts, weil ich nicht als Polizistin, sondern nur als Privatperson involviert war und als solche – ohne Auftrag der Schulleitung – keine rechtliche Grundlage dafür hatte. Da der Täter noch nicht 14 Jahre alt, also strafunmündig war, wäre ein Gang der Eltern des Opfers zur Polizei juristisch folgenlos gewesen.

Bisweilen rate ich auch bei jüngeren Kindern dennoch zu einer Anzeige, damit die Polizei die rechtlichen Voraussetzungen hat zu prüfen, ob möglicherweise Interventionsbedarf in der Familie besteht. Manchmal erzählen mir betroffene Eltern außerdem, dass die Mitarbeitenden der Jugendämter sich anders verhalten, wenn sie wissen, dass die Polizei mit im Spiel ist. Und manchmal empfehle ich bei strafunmündigen Kindern, das Jugendamt zu informieren – das können Eltern und Lehrkräfte tun –, damit frühzeitig erkannt werden kann, ob und wann kriminelle Karrieren entstehen.

Doch das sind präventive Maßnahmen mit dem Ziel, Schlimmeres in Zukunft zu verhindern.

Im konkreten Fall waren alle Versuche gescheitert, in der Klasse für zivilisiertere Verhältnisse zu sorgen, gescheitert an der Uneinsichtigkeit der Beteiligten und dem unverhohlenen Widerwillen des Rektors, aktiv zu werden. Nein, es würde so bald nicht aufhören.

Wunsch und Wirklichkeit – die Schulleiterkonferenz

Bleiben wir noch für einen Moment bei dem Fall des 11-Jährigen. Ich habe ihn an den Anfang dieses Buchs gesetzt, weil er so typisch ist. Weitere Mobbingfälle werden folgen. Das Wort »Mobbing« wird heute gern – manchmal vorschnell – benutzt. Nicht jede Hänselei ist gleich ein »Mobbingfall«. Juristisch versteht man darunter generell psychische oder physische Schikanen und Diskriminierungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen. Die verschiedenen Delikte, die damit einhergehen, gehören meist zu den »Antragsdelikten« bzw. Vergehen, wie zum Beispiel einfache Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung, Nötigung. Sie kommen in den seltensten Fällen zur Anklage, die Verfahren werden meist schon von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Hinzu kommt, dass Hänseleien über das Aussehen, die Kleidung usw. von Betroffenen zwar subjektiv als Beleidigung empfunden werden, aber keine Beleidigungen im strafrechtlichen Sinne sind. Bisweilen jedoch sind auch schwerere Straftaten Bestandteil des »Mobbings« – wie in diesem Fall zum Beispiel die räuberische Erpressung oder in einem anderen Fall, zu dem ich später kommen werde, gefährliche Körperverletzung.

Das Schikanieren und Quälen von Außenseitern – oder eigentlich von allen, die sich eine Blöße geben – ist ja an Schulen zu einer wahren Seuche geworden, und bei jedem dieser Fälle wird uns dieselbe hierarchische Klassenstruktur mit rigider Rangordnung begegnen. Das betrifft klassischerweise Jungen-»Horden« wie die gerade beschriebenen, in ähnlicher Form, jedoch weniger ausgeprägt, Mädchen-Cliquen und den gesamten Klassenverbund.

Von allen Mobbingopfern, die ich vernommen habe, ist diese Rangordnung stets als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt worden. Sie ist allen Beteiligten so klar, dass sie kaum eigens erwähnt zu werden verdient. Und genauso selbstverständlich ist, dass als Schüler oder Schülerin nur glücklich werden kann, wer sich widerstandslos in die Gruppenhierarchie einfügt, die sich in einer Klasse herausgebildet hat, das heißt: wer sich den Gesetzen der Clique und dem Machtwort des Chefs bzw. der Chefin unterwirft. Nicht allein deshalb, weil man andernfalls mit Nachstellungen zu rechnen hat und seines Lebens nicht mehr froh wird. Das Opfer der Messerattacke sagte mir: »Wenn ich nicht dazugehöre, bin ich allein.« Und als ich weiterfragte: »Kannst du dir vorstellen, mit anderen Kindern, die auch nicht dazugehören, eine eigene Gruppe zu bilden?«, da bekam ich beinahe empört zur Antwort: »Ich will mich doch nicht mit den Losern zusammentun!«

Die Selbstorganisation einer Klasse folgt also der unerbittlichen Logik: Der oder die Ausgestoßene ist grundsätzlich ein Verlierer – auch in den Augen der anderen Ausgestoßenen. Man will dazugehören, das ja, aber nicht irgendwo, man will zur Partei der Durchsetzungsfähigsten, eben der Sieger, gehören. So wird die Schule zu einer Schule der Unterordnung. Moralische Bedenken treten dabei ganz in den Hintergrund, und womöglich sind die Spielregeln der Clique die einzigen Regeln, die diese jungen Menschen überhaupt kennen und, freiwillig oder gezwungenermaßen, akzeptieren. Das jedenfalls war in vielen Fällen mein Verdacht.

Was mir ein Lehrer unlängst erzählte, erhärtet diesen Verdacht. »Es wird immer schwerer, Täter ausfindig zu machen«, sagte er, »weil in den Klassen – wie bei der Mafia – das Gesetz der Omertà herrscht, die absolute Schweigepflicht. Früher war es einfacher, einen Übeltäter ausfindig zu machen, weil er sich entweder selbst meldete oder man einen Tipp bekam. Heute müsste man als Lehrer in die Rolle des Detektivs schlüpfen und Spuren sichern, weil sich die Schüler darin einig sind, Täter auf jeden Fall zu decken. Das persönliche Gewissen bildet kein Gegengewicht mehr gegen den Gruppendruck oder die Cliquenmentalität.«

Nein, es gibt kein Entrinnen. Wenn die Schule nicht entschieden gegen Rädelsführer einschreitet, bleibt am Ende nur der Schulwechsel – den das Mobbingopfer als neuerliche Demütigung erlebt. Denn in aller Regel werden die Unschuldigen von der Schule genommen, müssen die Opfer den Klassenverbund verlassen, während die Täter und Täterinnen den Triumph erleben, weiterhin geduldet zu sein. In allen Fällen dieser Art haben jedenfalls die belästigten und bedrohten Kinder mir gegenüber den Wunsch geäußert: »Ich möchte, dass der Täter geht, nicht ich.«

Dieser Wunsch aber erfüllt sich selten, und damit kommen wir zu den Schulleitungen – mit denen meine Beschäftigung mit der Kriminalität an unseren Schulen überhaupt anfing.

Es war 2015, als mich ein Gewerkschaftskollege vom Deutschen Beamtenbund anrief und fragte, ob ich Lust hätte, einen Workshop auf dem Deutschen Schulleiterkongress in Düsseldorf zu leiten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mich erwarten würde. Ich bildete mir ein: Da treffen sich zwei Dutzend Leute in einem geeigneten Raum, denen du etwas über Polizeiarbeit erzählst – und da ich Vorträge dieser Art schon gehalten hatte, erklärte ich mich bereit. Es war ja auch noch viel Zeit. Der Kongress sollte erst in zwei Jahren stattfinden, und solche Zusagen fallen bekanntlich am leichtesten.

Worüber sollte ich überhaupt reden? Nicht einmal das Thema meines Vortrags stand fest, und ich fing an, mir Gedanken zu machen, was Schulleiter und Schulleiterinnen interessieren könnte. Nun bearbeitete ich seit Jahren Sexualdelikte und wusste aus Erfahrung, wie verunsichert Lehrerschaft und Schulleitung in der Regel reagieren, wenn es in ihrem Umfeld zu sexuell motivierten Straftaten kommt. Ich hatte nach solchen Vorkommnissen schon etliche Male Gespräche mit Lehrern oder Lehrerinnen geführt und mir jedes Mal gedacht: Mein lieber Mann, meine liebe Frau, es kann doch nicht sein, dass du in dieser Situation dermaßen hilflos und entgeistert und überfordert bist … Wie willst du dich in dieser aufgelösten Verfassung denn vernünftig und angemessen verhalten? Dieses Bild der Hilflosigkeit stand mir vor Augen, als ich mich für das Thema »Wie gehe ich kompetent und rechtssicher mit Straftaten im schulischen Kontext um?« entschied. Dabei wollte ich mich auf Sexualdelikte – von sexueller Nötigung bis hin zur Vergewaltigung – konzentrieren.

Organisiert wurde der Schulleiterkongress von einer Agentur, die offenbar nichts dem Zufall überlassen und jeden erdenklichen Umstand regeln wollte. Gleich zu Beginn machte ich den Fehler, in meinem Vertrag mit dieser Agentur hinter dem Satz »Ich stehe im Internet für Fragen zur Verfügung« ein Häkchen zu machen. Damit hatte ich mich verpflichtet, innerhalb von 48 Stunden als Expertin auf eventuelle Fragen zum Thema zu antworten. Als mir bewusst wurde, was auf mich zukommen könnte, widerrief ich meine Zustimmung – wer bei der Polizei im Schichtdienst arbeitet, der beantwortet nach Feierabend überhaupt keine Fragen mehr. Es war mein Glück. So, wie sich die Sache später entwickelte, hätte ich mich vor Fragen nicht retten können.

Überhaupt bedauerte ich allmählich, den Auftrag angenommen zu haben. Haarklein wurde mir vorgeschrieben, wie ich bei meinem Workshop vorzugehen hätte, bis hin zur Schriftgröße und Schriftart meiner Powerpoint-Präsentation – allem Anschein nach waren deutsche Schulleiter und -leiterinnen absolute Perfektion gewöhnt. Mein Team beim Nachtdienst amüsierte sich schon, wenn ich die ganze Schulleiterkonferenz wieder mal verwünschte, und ich erwog die Möglichkeit, mich zum besagten Termin krankzumelden.

Aber – im Zuge dieser Vorbereitungen fiel mir auf, dass das Spektrum der Delikte an Schulen viel größer ist. Ich war selbst überrascht, was da an Straftaten zusammenkam: Diebstahl, fortgesetzte und gemeinschaftlich begangene Nötigung, Bedrohung und Raub, sogar schwerer Raub, nämlich unter Androhung von Waffengewalt nach dem Motto: Wenn du mir deine Jacke nicht gibst, steche ich dich ab … Mit solchen Straftaten hatte ich bislang nicht direkt zu tun gehabt, allenfalls im Kontext von anderen Fällen. Im Polizeipräsidium Düsseldorf hatten wir nämlich die Regelung, dass unser Kommissariat bei Sexualdelikten das komplette Verfahren übernimmt, inklusive aller anderen Straftaten, die in diesem Zusammenhang angefallen waren. Sexualdelikte ziehen sich meistens über einen längeren Zeitraum hin, bevor sie zur Anzeige kommen, und im Endeffekt hat man es dann, nach Monaten oder vielleicht sogar Jahren, mit einem ganzen Bündel von Straftaten zu tun, sodass ich bereits eine Vorstellung vom Ausmaß der Kriminalität an Schulen besaß. Aber sie war vage, und erst jetzt wurde mir bewusst, dass Straftaten aller Art zum Schulalltag gehören, dass sie an allen Schulen vorkommen, und zwar täglich. Was wiederum auf eine große Zahl von Opfern schließen ließ, die keine Hilfe erwarten dürfen, solange die Polizei über solche Vorkommnisse im Unklaren gelassen wird.

Als Mensch und als Polizistin war ich jedenfalls von meinem Befund alarmiert, und damit rückte ein neues Thema für mich in den Vordergrund: Schule und Polizei müssen kooperieren, viel enger als bisher! Diese Zusammenarbeit muss gefördert und gepflegt und zur Selbstverständlichkeit werden. War den Lehrerinnen und Lehrern, den Rektorinnen und Rektoren überhaupt bewusst, dass sie bei bestimmten Verbrechen sogar verpflichtet sind, Anzeige zu erstatten? Als grobe Richtschnur, die sich aus dem Runderlass zur »Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität« der nordrhein-westfälischen Landesregierung ergibt, gilt: Bei kleineren »Antragsdelikten« und »Vergehenstatbeständen«, die nicht mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind, also etwa Beleidigung, Nötigung, Bedrohung, einfache Körperverletzung, einfacher Diebstahl etc., kann und sollte eine Schule im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten nach Lösungen suchen, da muss die Polizei nicht eingreifen. Bei »Verbrechenstatbeständen«, also Straftaten von größerem Gewicht, hat sie diese Freiheit keineswegs: Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raub, Erpressung sowie schwere Fälle von Bedrohung gehören dazu. Und was ist mit politisch motivierten Straftaten? Die Radikalisierung von Jugendlichen ist ein hochbrisantes Thema. Auch beim Kriminalkommissariat 12 waren wir damit schon in Berührung gekommen, und zwar über Vermisstenfälle, wenn plötzlich ein 16-jähriges Mädchen mit seinem Freund nach Syrien oder in den Irak entschwunden war. Hier hätte meiner Ansicht nach die Schule die Pflicht, genau hinzuschauen und die Polizei frühzeitig zu informieren, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Kurzum, ich dachte nicht mehr daran, mich krankzumelden. Vielmehr stieg ich tiefer in das Thema ein und besann mich auf den Runderlass. Dieser Runderlass aus dem Jahr 2014, den man im Internet auf dem Rechtsportal des nordrhein-westfälischen Innenministeriums nachlesen kann, war damals seit einiger Zeit im Umlauf, und in meinen Augen stellte er eine Besonderheit dar, denn nicht alles, was sich die Politik einfallen lässt, erweist sich in der polizeilichen Praxis als hilfreich. In diesem Falle aber hatte die Landesregierung ins Schwarze getroffen, indem sie alle Beteiligten zur Kooperation aufrief, Staatsanwaltschaft und Gerichte, Jugendämter und Beratungsstellen, vor allem aber Schulen und Polizei. Ich würde allen Landesregierungen empfehlen, solch einen Erlass herauszugeben, weil er Schulen die nötige Orientierung und ein Stück weit Rechtssicherheit bietet.

Der Aufruf zur Kooperation war ganz in meinem Sinne, und davon bin ich heute mehr denn je überzeugt: Wir müssen zusammenarbeiten. Für sich allein kann keiner das Problem der Jugendkriminalität lösen – die Schule nicht, die Polizei auch nicht. Deshalb ist völlig richtig, was dieser Runderlass fordert, nämlich Ansprechpersonen für Schulleitungen bei der Polizei, Ansprechpersonen für die Polizei an den Schulen und regelmäßigen Kontakt zwischen beiden, wenigstens ein Mal im Jahr. Man war sich ja noch ziemlich fremd, und jede Seite würde von einem intensiveren Erfahrungsaustausch nur profitieren. Die Polizei zum Beispiel könnte an Schulen gehen und Eltern den Ernst der Lage deutlich machen, ihnen erklären, wie kriminelle Karrieren sich mit zunehmendem Alter verfestigen. Sie könnte sich in informellen Gesprächen über die Entwicklungen und Probleme an einer Schule unterrichten lassen und Missverständnisse ausräumen, und umgekehrt könnten wir als Ermittlungsbehörde von Schulleitungen lernen, was bei einem Polizeieinsatz an einer Schule alles zu bedenken ist.

Mit anderen Worten: Der Runderlass bot zahlreiche sinnvolle Anregungen, nur hatte ich die Erfahrung gemacht, dass viele Lehrkräfte ihn gar nicht kannten. Ich war mir nicht einmal sicher, dass von meinen Kollegen und Kolleginnen alle damit vertraut waren. Deshalb machte ich ihn jetzt zur Grundlage meines Vortrags auf dem Schulleiterkongress in Düsseldorf. Meine Kernthese lautete: Dieser Runderlass muss von allen zur Kenntnis genommen, durchgesetzt und ausgeführt werden, denn Zusammenarbeit ist der Schlüssel zur Lösung des Problems.