Taviano - Christine Feehan - E-Book

Taviano E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Seit dem Augenblick, als er ihr als Teenager das Leben rettete, hat Schattengleiter Taviano Ferraro sein Herz an die zauberhafte Nicoletta Gomez verloren. Unter dem wachsamen Augen des mächtigen Ferraro-Clans ist Nicoletta zu einer betörenden Schönheit herangewachsen – und zu einer starken und unabhängigen Frau. Als sie erneut den Feinden der Ferraros in die Hände fällt, setzt Taviano alles daran, sie zu retten. Auch, wenn das bedeutet, dass er jedes einzelne Gebot der Schattengänger-Gilde brechen muss ...

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DAS BUCH

Seit dem Augenblick, als er ihr als Teenager das Leben rettete, hat Schattengleiter Taviano Ferraro sein Herz an die zauberhafte Nicoletta Gomez verloren. Unter dem wachsamen Augen des mächtigen Ferraro-Clans ist Nicoletta zu einer betörenden Schönheit herangewachsen – und zu einer starken und unabhängigen Frau. Trotzdem ist Tavianos Familie gegen eine Heirat zwischen ihm und Nicoletta. Als seine große Liebe jedoch erneut den Feinden der Ferraros in die Hände fällt, ist Taviano bereit, sich über alle Regeln hinwegzusetzen, um sie zu retten. Die seiner Familie und die der Schattengleitergilde …

DIE AUTORIN

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als siebzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Auch in Deutschland ist sie mit ihrer Schattengänger-Serie, der Leopardenmenschen-Saga, den Drake-Schwestern und der SeaHaven-Saga äußerst erfolgreich. Taviano ist der fünfte Band einer aufregenden neuen Paranormal-Romance-Reihe.

Mehr über Christine Feehan und ihre Romane finden Sie auf: www.christinefeehan.com

CHRISTINE FEEHAN

SHADOWS

TAVIANO

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

SHADOW FLIGHT

Deutsche Übersetzung von Antonia Zauner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2020 by Christine Feehan

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-26545-8V003

www.heyne.de

Für Julie und Sam In Liebe

1

Nicoletta Gomez saß in ihrem luxuriösen Ledersitz und versuchte so auszusehen, als würde sie Taviano Ferraro nicht anstarren oder auch nur wahrnehmen. Sie hatte ihn um das hier gebeten, und wie immer, wenn sie sich etwas von den Ferraros wünschte, hatte sie es auch bekommen. Es war das erste Mal, dass sie nach etwas so Peinlichem gefragt hatte, aber es hatte keine Rolle gespielt. Die Familie hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt und keine Sekunde gezögert. Jetzt saß sie mit drei Freundinnen im Privatjet der Familie und war auf dem Weg nach Los Angeles, um ein Konzert von Kain Diakos zu besuchen, weil es Pia Bassos größter Wunsch war und sie heute Geburtstag hatte.

Nicoletta schämte sich, dass sie gefragt hatte. Ihr gefiel nicht, wie die drei Mädchen sich Taviano gegenüber verhielten. Sie flirteten schamlos mit ihm und kommandierten sein Personal herum. Sie selbst saß schweigend da und blickte aus dem Fenster, wobei sie wünschte, diese Entscheidung nie getroffen zu haben. So sehr sie Kains Musik mochte und so viel Spaß die ganze Sache auch versprochen hatte, sie war es nicht wert, diesen Gefallen von den Ferraros zu erbitten, nicht nach allem, was sie schon für sie getan hatten. Beinahe von Beginn an hatte alles sich wie ein Albtraum angefühlt, schon als sie Pia erzählt hatte, dass die Ferraros Tickets für sie besorgt hatten und sie nach Los Angeles fliegen würden, wo ihnen für die Nacht eine Suite in einem Hotel zur Verfügung stand.

Innerhalb weniger Stunden hatten Pia, ihre Schwester Bianca und ihre beste Freundin Clariss Naples angefangen, Nicoletta in den Ohren zu liegen, dass sie die Ferraros um ein Shopping-Budget bitten solle, damit sie sich Kleidung kaufen konnten. Nicoletta war entsetzt. Die Mädchen stammten alle aus reichen Familien, und sie würde garantiert nicht die Ferraros um Geld bitten, damit sie sich neue Outfits für ihren Trip kaufen konnten – nicht, nachdem sie bereits einen Jet, eine Suite in einem Luxushotel und die Konzerttickets bezahlten. Sie fand es etwas erschreckend, dass sie es überhaupt in Betracht zogen.

Sie jammerten ihr die Ohren voll, erinnerten sie daran, dass es doch Pias Geburtstag war, und als sie strikt ablehnte, wollten sie, dass sie ihre Zieheltern Lucia und Amos Fausti bat, ihre Boutique Lucia’s Treasures zu öffnen, damit die drei sich umsonst Kleidung aussuchen konnten. Das entsetzte sie noch mehr. Sie überlegte, die ganze Sache abzusagen, aber Clariss musste ihre Miene richtig gedeutet haben, denn sie brach sofort in Gelächter aus und behauptete, dass alles nur ein Scherz war und sie natürlich nur Spaß machten. Nicoletta war erleichtert gewesen, aber jetzt, da sie genauer darüber nachdachte, war sie sich nicht mehr so sicher.

Die Wahrheit war, dass sie nicht viel Erfahrung mit Menschen hatte und sie auch nicht wirklich verstand. Sie hatte die letzten Jahre damit verbracht, möglichst niemandem nahezukommen. Sie hatte zu viele Geheimnisse und panische Angst davor, dass jemand etwas über ihre Vergangenheit herausfinden könnte. Dank ihrer Zieheltern, Therapiestunden und zugegebenermaßen auch dank der Ferraros begann sie mittlerweile, selbstbewusster zu werden.

Sie hörte Gekicher, und als sie aufblickte, sah sie, dass Pia fast in Tavianos Schoß gelandet wäre. Er fing sie galant auf, schloss starke Hände um ihre Taille, aber seine Miene blieb ausdruckslos. Sie kannte diesen Ausdruck, hatte ihn oft genug gesehen. Taviano war nicht erfreut. Er ließ es sich nie anmerken. Niemals. Aber er hatte ein ziemliches Temperament, und sie wollte ihn nicht gegen sich aufbringen, wie sie es schon mehr als einmal getan hatte.

Sie wusste, dass ihre Freundinnen ihn für den heißesten Typen hielten, den sie je gesehen hatten, und sie konnte es ihnen nicht verdenken, weil – nun ja – er es tatsächlich war. Er war groß, hatte breite Schultern und war vollkommen durchtrainiert wie seine Brüder. Überall Muskeln, die in den Anzügen, die sie trugen, besonders gut zur Geltung kamen. Er hatte sehr dunkles Haar, das immer ein bisschen durcheinander war, was sie genauso liebte wie den dunklen, bläulichen Bartschatten, der stets auf seinem ausgeprägten Kiefer zu schimmern schien. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er als Junge ausgesehen haben mochte. Er sah immer wie ein Mann aus mit diesen unglaublich blauen Augen. Ein dunkles Blau, umrahmt von langen schwarzen Wimpern.

Genau diese Wimpern hoben sich jetzt, und plötzlich blickte sie in dieses Blau. Ihr blieb fast das Herz stehen, ehe es wie wild zu klopfen begann. Schon immer hatte er diese Wirkung auf sie gehabt. Sie war ein verängstigter Teenager gewesen, als er und sein Bruder ihr das Leben gerettet und sie zu ihren Zieheltern, Lucia und Amo, gebracht hatten, den großartigsten Menschen auf dem ganzen Planeten. Allein der Gedanke an sie trieb ihr die Tränen in die Augen.

Ihre Zieheltern wussten alles über sie, alles, was ihr widerfahren war, und sie liebten sie während ihrer Albträume und auch während ihrer wilden Phase, als sie mit Partys und Rebellion versucht hatte, sich selbst zu überholen. Taviano und seine Familie hatten ihr Verhalten geduldet, hatten auf sie aufgepasst, hatten für ihre Ausbildung gesorgt und sie sogar nach Europa geschickt, damit sie die beste Therapie bekam.

Im gleichen Moment, in dem Taviano Pia losließ, erhob er sich aus seinem Sitz, schob sich an ihr vorbei, ohne auf ihr Wimpernklimpern zu achten, und kam direkt auf Nicoletta zu. Wenn er das machte, sie so direkt ansah, dann wurde sie plötzlich schüchtern. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie sich in seiner Gegenwart oft wie eine Verrückte verhalten. Sie hatte schlimme Dinge gesagt, und dann war da noch diese eine schreckliche Nacht …

Sie wollte vor Scham aufstöhnen, und es kostete sie ihre ganze Kraft, nicht rot zu werden, als sie sich daran erinnerte, wie betrunken sie gewesen war und wie sie sich ihm an den Hals geworfen hatte. Es war eine wirklich schreckliche Nacht gewesen. Im Laufe der folgenden Jahre waren sie sehr vorsichtig miteinander umgegangen, und wenn er da war, hatte sie nie so recht gewusst, wie sie sich verhalten sollte. Die meiste Zeit war Taviano ihr aus dem Weg gegangen, aber er hatte auf sie aufgepasst, genau wie die anderen Ferraros.

»Was ist mit dir, piccola? Du siehst aus, als würdest du dich über etwas ärgern. Deine Freundinnen haben Spaß, aber du sitzt nur hier drüben und starrst aus dem Fenster.«

Es lag kein Tadel in seiner Stimme. Ihr wurde klar, dass das nur noch selten der Fall war. Sie suchte ständig nach Anzeichen, dass andere schlecht über sie denken könnten, und in Tavianos Gegenwart war sie besonders empfindlich. Seine Schwester Emmanuelle hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Sie hatte darüber nachgedacht und festgestellt, dass es stimmte. Sie hatte keine hohe Meinung von sich selbst und interpretierte die kleinste Regung bei anderen sofort als Ablehnung.

»Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich dich in diese Situation gebracht habe, Taviano. Ich weiß, du musst eine Wette verloren haben, um heute freiwillig mit uns zu kommen. Ich hatte nicht gedacht, dass jemand aus der Familie uns begleiten würde.« Das hatte sie wirklich nicht. Sie wusste, dass sie Bodyguards mitschicken würden, Cousins der Ferraros, aber ihr war nie der Gedanke gekommen, dass jemand aus der Familie es für notwendig befinden würde, sie zu begleiten.

Er streckte die Hand aus und strich ihr eine Strähne hinters Ohr. Seine Fingerkuppen waren sanft, als sie wie ein Flüstern erst über ihre Wange und dann über ihr Ohr glitten. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, und ihr Geschlecht zog sich zusammen. Wenn er so weitermachte, würde sich ihr Höschen einfach auflösen, aber sie wagte es nicht, sich zu bewegen oder auch nur tief einzuatmen.

»Ich bin hier, weil ich mitkommen wollte, nicht, weil ich eine Wette verloren habe. Wenn du irgendwo hingehst, Nicoletta, dann kommt jemand aus der Familie mit, oder wir schicken einen der Cousins, jemanden, dem wir vertrauen. Wir überlassen es nicht einfach Fremden, über einen Schatz zu wachen, und das bist du für uns. Für mich. Hab Spaß mit deinen Freundinnen. Du bittest nie um etwas für dich selbst. Immer nur für Lucia und Amo oder jemand anderen. Selbst das hier war für …« Er blickte über die Schulter und machte eine kurze Geste. »Hab Spaß mit deinen Freundinnen, solange du es kannst«, wiederholte er.

Sie zwang sich einzuatmen, obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war. Taviano hatte diesen ganz eigenen männlichen Geruch an sich. Sie würde ihn im Dunkeln erkennen. Der Geruch war nicht stark, und sie glaubte nicht, dass es sich um ein Parfum handelte; es war seine Haut, eine leichte, würzige Fährte, der sie folgen wollte und die ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, wann immer sie in seiner Nähe war. Sie erklärte diese Empfindungen damit, dass er es gewesen war, der in ihrer dunkelsten Stunde zu ihr gekommen war, und wenn sie einatmete und Luft – und ihn – in ihre Lunge saugte, dann empfand sie dieses Gefühl von Geborgenheit.

»Danke, Taviano. Du bist immer so großzügig. Du und deine Familie.« Sie nickte in Richtung Pia und Bianca, die gerade zu einem von Kains populärsten Songs tanzten. Clariss stürzte gerade eine mit Erdbeeren gefüllte Champagnerflöte hinunter. »Es geht ihnen richtig gut, während sie euren teuersten Champagner trinken.«

»Dafür ist er da. Ich sehe, dass du nichts trinkst.«

Dieses Mal konnte sie es nicht verhindern, dass sie rot wurde. Es begann irgendwo tief unten und kroch nach und nach ihren Hals hinauf und in ihr Gesicht. Sie vermied den Blickkontakt. »Ich habe schon vor einer Weile mit dem Trinken aufgehört.«

Ein kurzer Moment der Stille trat ein. »Nicoletta.«

»Mmmm?« Mehr brachte sie nicht heraus. Sie fummelte an ihrem Handy herum, gab vor, mit einer Textnachricht beschäftigt zu sein.

»Sieh mich an.«

Es war ein Befehl, daran bestand kein Zweifel, und sie war es gewohnt, den Anweisungen der Ferraros Folge zu leisten. Niemand widersetzte sich ihnen. Das kam einfach nicht vor. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um seinem Blick zu begegnen. Doch schließlich gelang es ihr, die Wimpern zu heben und sich all dem dunklen Blau zu stellen. Es war, wie in einen stürmischen Nachthimmel zu blicken. Immer wenn sie es tat, raubte er ihr den Atem.

Nicoletta war rettungslos in ihn verliebt, und sie konnte nichts dagegen tun, also hatte sie es aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Vor einigen Jahren hatte sie sich überlegt, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, und beschlossen, dass sie so sein würde wie Emmanuelle und Mariko Ferraro. Sie sprachen nicht viel darüber, aber sie waren Kriegerinnen, die Selbstbewusstsein ausstrahlten und Respekt einforderten, und dank ihnen begann sie, langsam an sich zu glauben.

Was die Ferraros ihr unermüdlich eingebläut und geschenkt hatten, war der Glaube daran, dass sie über alles, was ihr angetan wurde, alles, was ihr genommen wurde, hinauswachsen konnte. Sie konnte ein Phönix sein und sich wie der Feuervogel aus der Asche dessen, was sie einmal gewesen war, erheben. Niemand würde sie mehr so verletzen können – oder sie und die, die sie liebte, zerstören. Sie würde eine starke, selbstbewusste Frau sein und dafür sorgen, dass ihre Töchter das auch wurden. Wenn sie Söhne bekäme, dann sollten sie werden wie die Männer der Ferraro-Familie, denn bessere Männer kannte sie nicht.

»Diese eine Nacht, das war nicht deine Schuld. Es war meine«, sagte Taviano mit fester Stimme. Doch sein Ton war sanft, es war die Art, wie er beinahe immer mit ihr sprach, seit dieser schrecklichen Nacht, in der sie sich so idiotisch benommen hatte. »Unsere Familie achtet darauf, nicht zu viel zu trinken. Du weißt das. Du bist eine der wenigen, die wir so nah an uns heranlassen. Nur immer jeweils einer von uns darf trinken; in dieser Nacht war ich dran, und ich habe es übertrieben. Ich hätte niemals zu dir kommen sollen, als du gefeiert hast, und ich war zornig. Ich hätte es besser wissen müssen. Meine Brüder hätten mich aufhalten sollen. Du musst das hinter dir lassen.«

Sie schüttelte den Kopf, und ihr Blick huschte an ihm vorbei zu ihren Freundinnen, die ihrer Unterhaltung zum Glück kaum Aufmerksamkeit schenkten. »Ich schäme mich dafür, wie ich dich behandelt habe, obwohl du so viel für mich getan hast. Wirklich, Taviano. Ich glaube, ich wollte vor mir selbst davonlaufen.« Sie wusste, dass es so war. Sie hatte sich selbst gehasst und geglaubt, nichts wert zu sein. Auf irgendeine seltsame Art hatte sie sich für das bestraft, was ihre Stiefonkel ihr angetan hatten – Dinge, die sie nicht hatte verhindern können. »Jedes Mal, wenn ich dich gesehen habe, kamen die Erinnerungen an …«

»Du schuldest mir keine Erklärung. Ich weiß das.« Taviano strich sehr sanft mit den Fingern über ihre Wange.

Ihr stockte der Atem. Etwas an der Art, wie er sie berührte, ließ sie jedes Mal reagieren. Er verursachte ihr eine Gänsehaut und jagte ihr gleichzeitig eine Hitzeflut durch die Adern. Bei seiner Berührung tanzte ein sündhaftes Feuer in ihr. So war es, seit sie das erste Mal die Augen geöffnet und in seine geblickt hatte. Sie war so jung und so alt zugleich gewesen. Hatte so viel Angst vor dem Leben gehabt und war so beschämt darüber gewesen, dass jeder wusste, was ihr in den letzten Jahren widerfahren war. Sie hatte es kaum ausgehalten, ihn oder seine Brüder auch nur anzusehen. Irgendwen aus seiner Familie. Sie wussten es.

Und doch waren sie es, diese Familie, Taviano, die ihr beigebracht hatten, selbstbewusst zu sein. Die ihr den Glauben geschenkt hatten, dass sie etwas wert war. Sie verdankte ihre Genesung den Ferraros und ihrer schier endlosen Geduld mit ihr. Und natürlich der Therapie, die sie bezahlt hatten. Aber sie war sich auch sicher, dass es an Lucia und Amo Fausti lag, der Familie, die sie für sie ausgesucht hatten. Ihre Zieheltern hatten sie selbst dann noch geliebt, als sie wild um sich geschlagen und alle verletzt hatte – am meisten sich selbst.

»Hab einfach Spaß, tesoro. Wir werden uns ein andermal Gedanken um uns und unsere Beziehung machen, dieser Tag soll nur dir und deinen Freundinnen gehören.«

Ihr Herz machte einen Satz und zog sich dann heftig zusammen. Sie musste sich beherrschen, sich nicht die Brust zu reiben. Was hatte er damit gemeint? Ihre Beziehung? Er sprach kaum mit ihr, tatsächlich vermied er es normalerweise, mit ihr allein zu sein. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Die Beziehung zur Familie? Sie hoffte, dass sie nicht den Kontakt zu ihr abbrechen wollten. Sie hatte ihnen gehorcht, hatte sogar mehr als das getan, was sie von ihr erwarteten.

Sie blickte zu den drei jungen Frauen hinüber. Pia starrte sie an. Es war ihr Geburtstag, und sie wollte alle Aufmerksamkeit, vor allem Tavianos. Er war reich und atemberaubend attraktiv und hatte einen gefährlichen Ruf. Es war eine berauschende Kombination. Nicoletta schämte sich, dass ihre drei Freundinnen sich ihm an den Hals warfen, aber sie war nicht in der Position, mit sprichwörtlichen Steinen zu werfen – schließlich hatte sie es auch getan. Sie war jünger und betrunken gewesen und hatte sich wertlos gefühlt, aber sie hatte es getan. Das Ergebnis war eine kleine Katastrophe gewesen, und das war eine Lektion, die sie niemals vergessen würde. Ihr ganzes Leben lang nicht.

Und wieder wurde sie rot, und sofort reagierte Taviano, als wüsste er genau, was sie dachte. Vermutlich tat er das auch. Sie hätte schwören können, dass er Gedanken lesen konnte – zumindest ihre.

»Du musst es hinter dir lassen, Nicoletta. Wir waren in dieser Nacht beide sehr betrunken.«

»Ich war sehr betrunken. Du hast zumindest noch einen Funken Verstand zurückbehalten.« Sie flüsterte, weil sie Angst hatte, dass die anderen es hören könnten, trotz der lauten Musik und obwohl sie ein gutes Stück weit weg waren.

Seine Augen, die ohnehin schon so unglaublich blau waren, verdunkelten sich von etwas, das so sehr nach Begehren aussah, dass es in ihrem Bauch rumorte und ihr Geschlecht sich zusammenzog. Plötzlich war sein Atem warm auf ihrer Wange und ihrem Ohr und schickte einen lustvollen Schauer ihr Rückgrat hinab. Sie konnte ihn nicht ansehen. Sie wagte es nicht. Nicht, wenn jede Zelle ihres Körpers von Verlangen erfüllt war, während er erfahren genug war, um eine Frau wie ein Buch lesen zu können.

»Du siehst das vielleicht so. Ich blicke zurück auf jene Nacht und wünschte, ich hätte noch etwas mehr getrunken.« Seine Stimme war leise wie immer. Weich wie Samt. Er murmelte es in ihr Ohr, und die Worte brannten sich in ihren Geist ein wie eine in Stein gemeißelte Kalligrafie.

Ihr Blick sprang nach oben und begegnete seinem, und sie konnte nicht wegsehen. Er hätte sie so leicht verführen können, und doch hatte sie sich ihm angeboten, und er hatte sie ganz und gar zurückgewiesen. Sie wusste, dass er viele Frauen haben konnte. Er war in jedem Hochglanzmagazin, abgelichtet mit Models und Schauspielerinnen am Arm. Er ging zu Wohltätigkeitsveranstaltungen und war überall von Frauen umschwärmt. Beinahe täglich fingen Paparazzi sein Leben ein.

Die Fotografen trieben sich um das Hotel Ferraro und im Territorium der Familie herum und behielten auch alle anderen Orte im Auge, wo sich die Ferraros aufhalten könnten, um Bilder von ihnen zu bekommen, vor allem dann, wenn es sich um kompromittierende Situationen handelte. Taviano war der letzte Junggeselle, der letzte Ferraro-Bruder, der noch Single war, und die Frauen umschwärmten ihn in der Hoffnung, dass er eine von ihnen zu seiner Braut machen würde. Er hatte keine Beziehungen. Er hatte nicht mal One-Night-Stands, zumindest hatte es in der letzten Zeit keine entsprechenden Bilder gegeben, und das schien ihn noch interessanter für die Öffentlichkeit zu machen, als hätte er ein geheimes Leben, das die Welt unbedingt aufdecken wollte.

»Was soll das heißen?« Es gelang ihr, die Frage hervorzuwürgen. Denn was wollte er damit sagen? Sie war in jener Nacht unglaublich beschämt gewesen. Sie hatte sich ihm an den Hals geworfen, und er hatte sie zurückgewiesen.

Da waren Küsse gewesen. Heiße Küsse. Er hatte sie verschlungen. Sie hatte nicht gewusst, dass jemand so küssen konnte. Sie hatte geglaubt zu wissen, wie Küssen ging. Sie hatte geglaubt, Sex unter Kontrolle zu haben, aber plötzlich war ihr klar geworden, dass sie nichts darüber wusste. Taviano hatte sie geküsst, als wäre sie besonders. Jemand, der ihm etwas bedeutete. Er hatte sie behutsam gehalten. Sein Mund war sanft und doch fest gewesen. Er hatte die Kontrolle übernommen und sie geführt, nicht andersherum. Und dann war alles außer Kontrolle geraten.

Sie hatte Kleidungsstücke ausgezogen. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm alles angeboten hatte. Wie sie ihn mit jedem Atemzug gewollt hatte. Sie brauchte ihn, damit er alles auslöschte, was zuvor geschehen war. Sein Mund hatte das getan, so heiß, so stark. Sie hatte nicht gewusst, dass es nur seinen Mund auf ihrer Brust brauchte, damit ihr Körper sich so fühlte. Seine Finger an ihrer Brustwarze, sein Haar, das über ihre Haut strich. Das Gefühl, wenn seine Bartstoppeln über die Rundung ihrer Brust rieben. Noch den Rest der Nacht und den folgenden Tag hatte sie die Spuren dieser Stoppeln, seiner Zähne und Finger sehen können, und sie hatte sie für immer behalten wollen.

»Das soll heißen, dass ich dich noch immer schmecken kann. Ich gehe ins Bett und habe deinen Geschmack auf der Zunge, und ich wache damit auf. Es schmerzt mich, nur an dich zu denken. Es soll heißen, dass du nicht für immer sicher sein wirst, also hab Spaß mit deinen Freundinnen, solange du noch kannst, denn du bist kein Kind mehr.«

Es war eine Erklärung. Eine Herausforderung. Vielleicht sogar ein hingeworfener Fehdehandschuh. Nicoletta drückte sich in ihren Sitz und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Es war das Letzte, was sie von ihm zu hören erwartet hatte. Und er meinte es ernst. Taviano sagte niemals Dinge, die er nicht genau so meinte. Seine blauen Augen funkelten sie an, bis sie den Atem anhielt und nicht mehr wagte, sich zu bewegen. Lange saß sie da, unschlüssig, was sie tun sollte. Wenn Taviano wirklich versuchen wollte, sie zu verführen, dann musste er sich keine große Mühe geben. Das wusste sie. Wie sollte sie jemals vergessen, wie sein Mund sich auf ihr anfühlte. Wie er ihren Körper hinunterwanderte? Seine Zunge auf ihrer Haut. Wie seine Lippen sie liebkosten? Und dann so langsam ihre Schenkel hinaufwanderten, dass sie schreien wollte. Nichts und niemand hätte sie darauf vorbereiten können. Sie hatte nicht gewusst, dass Sex so gut sein konnte.

Und dann hatte er plötzlich aufgehört. Sich fluchend zurückgezogen. Sie war ihm nachgejagt, die Hand auf seiner Hose, wo sie seine mächtige Erregung spürte. Sie hatte an seinem Reißverschluss herumgefummelt, verzweifelt und fest entschlossen, ihn zu haben. Seine Hände hatten ihre Handgelenke umschlossen und sie von sich geschoben. Kaum hatte er sie losgelassen, war sie wieder bei ihm gewesen, weil sie wusste, wie erregt er war und dass er nicht verbergen konnte, wie sehr er sie wollte. Sie hatte gewusst, wozu sie in der Lage war, dass er nicht würde aufhören können, sobald er einmal ihren Mund auf sich spürte, aber er war so wütend und hatte sie erneut aufgehalten und sogar etwas geschüttelt.

Sie hatten einige Worte gewechselt. Herausfordernd, um ihn in Versuchung zu führen, wobei sie schamlos ihren Körper eingesetzt und gesagt hatte, dass er sie wolle, und was ihr Mund, ihr Körper für ihn tun konnten. Er hatte versucht, sie aufzuhalten. Rückblickend schämte sie sich, wenn sie daran dachte, wie er versuchte hatte, sie wieder anzuziehen und die Situation zwischen ihnen zu entschärfen.

Sie war so verletzt und wütend und betrunken gewesen, dass sie immer weiter versucht hatte, die Situation zum Eskalieren zu bringen. Es fiel ihr schwer, noch einmal an die Dinge zu denken, die sie in jener Nacht gesagt und getan hatte, bis er ihren nackten Körper plötzlich über seinen Schoß gelegt und ihr den nackten Hintern versohlt hatte. Es hätte sie wieder zum Kind machen sollen. Es hätte erniedrigend für sie sein müssen. Das Letzte, was es für sie hätte sein sollen, war erotisch, und doch wollte sie weinen vor Verlangen.

Taviano umschloss ihr Kinn mit der Hand. »Du musst damit aufhören. Wenn du nicht aufhörst, habe ich keine andere Wahl und muss deine Freundinnen schockieren. Ich habe mir geschworen, deinen einundzwanzigsten Geburtstag abzuwarten, und bis dahin sind es noch einige Wochen. Als wäre ich mir nicht bewusst, wie lange es noch bis dahin dauert.«

Sie würde nicht nachfragen, was er damit meinte. Sie nickte, um ihm zu signalisieren, dass sie ihr Bestes tun würde, um zu vergessen, dass es diese schreckliche Nacht je gegeben hatte – gleichzeitig wusste sie, dass ihr das niemals gelingen würde. Sie musste jeden Tag daran denken. Sie war der Treiber für die Veränderung in ihrem Leben gewesen, hatte den Wunsch in ihr geweckt, etwas aus sich zu machen. Nicoletta hatte aufgehört zu trinken und sich für etwas zu bestrafen, was in der Vergangenheit geschehen war und auf das sie keinen Einfluss gehabt hatte. Sie beschloss, sich zusammenzureißen und wenigstens für sich Verantwortung zu übernehmen.

Sie wollte Lucia und Amo beschützen und dafür sorgen, dass ihnen niemand etwas antun konnte. Natürlich konnte sie Taviano Ferraro niemals haben, aber sie konnte die Hand ergreifen, die die Familie ihr reichte, und die Ausbildung in Anspruch nehmen, die man ihr anbot. Sie war klug und lernte schnell, und von jenem Tag an strengte sie sich an. Alle Ferraros halfen ihr. Taviano war da, weil die Familie einen engen Zusammenhalt pflegte. Sie ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg, und er schien sie auch zu meiden, was sehr praktisch war, weil sie nicht wusste, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte.

Sie suchte nach einem unverfänglichen Thema. »Wie geht es Cristo?«

Taviano lachte leise. »Ich werde dir solche Ausflüchte nicht ewig durchgehen lassen, Nicoletta, aber ich ergreife gern jede Gelegenheit, über meinen Neffen zu sprechen. Crispino geht es gut, wie du wissen müsstest, weil du für Francesca auf ihn aufpasst, wann immer du die Gelegenheit bekommst.«

»Ich liebe seine Locken. Er ist so hübsch«, sagte sie, und es stimmte. Francesca hatte ihr erzählt, dass Stefano seinen Sohn sofort Crispino genannt hatte, als er sah, dass er mit schwarzen Locken auf die Welt gekommen war. Seine Onkel und seine Tante Emmanuelle vergötterten ihn, und alle verwöhnten ihn, aber Nicoletta war entschlossen, dass sie sein Liebling sein wollte. Er war der süßeste Junge überhaupt.

»Es ist gut, dass du so viel Zeit mit ihm verbringst«, sagte Taviano.

»Francesca brauchte nach seiner Geburt eine Menge Unterstützung«, sagte Nicoletta. »Und ich war ohnehin da, weil ich mit Mariko und Emmanuelle Selbstverteidigung geübt habe. Also war es nur natürlich, dass ich ihr da mit dem Kind helfe. Es ist unmöglich, ihn nicht sofort ins Herz zu schließen. Er ist einfach so niedlich. Ich bin fast jeden Tag da.«

Es war dumm, das zu sagen. Natürlich wusste Taviano das alles. Sie arbeitete für ihre Zieheltern in Lucia’s Treasures und half hin und wieder im Blumenladen aus, aber sie verpasste nie eine Selbstverteidigungsstunde. Sie nahm ihre Lektionen sehr ernst und übte immer mit den Frauen oder einem von Tavianos Brüdern. Sie packten sie nicht mit Samthandschuhen an. Wenn sie nach Hause ging, hatte sie oft blaue Flecken, und jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte, aber es kümmerte sie nicht. Sie wollte so gut werden wie sie – ein scheinbar unerreichbares Ziel, aber sie würde es wenigstens versuchen. Jeder fing mal klein an.

Sie hatte festgestellt, dass sie schnell war. Sehr schnell. Sie hatte eine gute Hand-Augen-Koordination und konnte hart und präzise austeilen, sowohl mit den Händen als auch mit Tritten. Sie lernte die neuen Techniken schnell und wollte immer noch mehr wissen. Sie brauchte kein Lob, sondern wollte Kritik, durch die sie sich verbessen konnte. Nie wieder wollte sie Opfer sein. Niemals. Sie war fest entschlossen, Geist und Körper in die bestmöglichen Waffen zu verwandeln, damit sie im Notfall sich und andere schützen konnte.

»Der Kleine hat bereits Stefano um den kleinen Finger gewickelt«, meinte Taviano. »Wir werden noch alle nach seiner Pfeife tanzen.«

Nicoletta lachte. Sie konnte nicht anders. Taviano klang so reumütig, und er war so schön mit dem dunklen Haar, das ihm in die Stirn fiel, und den traurigen blauen Augen – als ob es schlimm wäre, dass sie alle seinen Neffen so sehr liebten, dass niemand ein schlechtes Wort über ihn verlor. Niemand von ihnen erhob jemals die Stimme gegenüber Crispino. Das Kind hörte ein Nein, wenn es zu abenteuerlustig wurde und sich möglicherweise in Gefahr brachte, aber niemals ein harsches Nein, und wenn er nicht gehorchte, holte man ihn sanft zurück.

Nicoletta passte sich den Ferraros an, wenn sie auf den Jungen aufpasste, und behandelte ihn genauso. Manchmal tanzte sie ihn in den Schlaf oder knuddelte länger mit ihm, als nötig gewesen wäre, weil sie es noch mehr brauchte als er. Oft kamen auch Amo und Lucia, um den Jungen zu halten. Sie genossen es, ihn groß werden zu sehen.

»Es ist erstaunlich, wie schnell er in den letzten Wochen und Monaten gewachsen ist, wie er erst nur herumrollen, dann krabbeln und sitzen konnte und schließlich das erste Mal stand. Manchmal habe ich das Gefühl, ich war darauf weniger vorbereitet als Stefano und Francesca«, gab Nicoletta zu. »Er knuddelte mit mir, und ich fühlte mich ihm so nahe. Mein Herz fühlte sich so …« Sie brach ab, weil sie sich wieder albern vorkam.

Als sie die Wimpern hob, sah Taviano sie mit diesem intensiven Blick an, bei dem sich irgendetwas langsam in ihrem Magen drehte und schließlich eine Million Schmetterlinge flatternd aufstob, sodass sie eine Hand auf die Stelle pressen musste, um zu offenbaren, dass ein Blick von ihm ausreichte, um ihrem Körper den Rest zu geben. Er war gefährlich für Frauen und vor allem für sie.

»Was?«, fragte sie.

»Ich mag es, dass Crispino dich so fühlen lässt. Du tanzt mit ihm.«

»Woher weißt du das?«, fragte sie. »Du bist nie da, wenn ich mit ihm tanze.«

»Piccola, du weißt doch, dass Stefano überall Sicherheitskameras hat. Er hat Apps auf seinem Handy, mit deren Hilfe er jederzeit nach seinem Jungen sehen und sich versichern kann, dass es ihm gut geht. Das wusstest du von Anfang an. Wir haben dir das nie vorenthalten.« Seine Stimme war sanft wie Samt, der über ihre Haut glitt. Sie wusste nicht, ob er mit jedem so redete oder nur mit ihr. Vielleicht war sie die Einzige, bei der es solche Gefühle auslöste, wenn er mit dieser leisen Stimme sprach.

»Ich vergesse es nur manchmal«, gab sie zu. »Ich bin froh, dass Stefano so auf Crispo aufpasst.« Sie hatte den Namen des Babys von Anfang an abgekürzt, und selbst Lucia und Francesca nannten ihn Crispo, aber die Männer in der Familie kürzten seinen Namen nur selten ab.

»Er mag es, wenn du mit ihm tanzt, aber Stefano meinte, neulich nachts, als der Kleine unruhig war, sei er gezwungen gewesen, mit ihm zu tanzen, um ihn zum Einschlafen zu bringen.«

Taviano klang, als würde ihm das gefallen. Er grinste sogar ein wenig. »Wir hoffen alle, dass Francesca es geschafft hat, ein Video davon zu bekommen.«

»Du weißt, dass sie eins hat.« Nicoletta musste lachen. »Stefano wird mir wieder einen Vortrag halten. Er meint immer, dass Crispo lernen muss, selbst ruhig zu werden und einzuschlafen und dass ich nicht mit ihm tanzen oder knuddeln soll.«

Tavianos Lächeln verging. »Lass dich nicht in die Irre führen. Er wiegt den Jungen immer noch manchmal in den Schlaf, wenn er mehr als einmal in einer Nacht aufwacht. Das hat er bei uns allen getan. Er hält dir Vorträge? Ist er barsch? Stefano kann ziemlich barsch klingen, selbst wenn er es nicht so meint. Wenn er dir das Leben schwer macht, rede ich mit ihm.«

Das klang unheilvoll. Mehr als das. Seinem Ton nach zu urteilen war er allein bei der Vorstellung, dass Stefano ihr Vorträge hielt, wütend auf seinen Bruder, was albern war, weil Taviano das die ganze Zeit tat.

Nun ja … zumindest bis zu jener Nacht. Seitdem war er ihr aus dem Weg gegangen. Er hatte ein ziemliches Temperament, und sie wollte nicht, dass er Streit mit Stefano anfing, vor allem nicht ihretwegen. Wo doch die Ferraros immer so gut zu ihr und den Faustis gewesen waren. Sie wusste, dass sie ihren Zieheltern das Leben sehr erleichtert hatten, und sie schätze alles, was sie für sie getan hatten, weil sie die beiden so liebte.

»Stefano war unglaublich nett zu mir, Taviano. Es macht ihm nicht wirklich etwas aus, dass ich mit Crispo tanze, er mag es nur, tough zu klingen. Er liebt es, mitten in der Nacht mit seinem Sohn aufzustehen. Francesca sagt, dass er es sehr genießt, mit dem Kleinen allein zu sein, weil er so viel zu tun hat und selten Gelegenheit dazu bekommt.

»Das glaube ich gern. Er hat sich um uns alle gekümmert, als wir noch klein waren. Unsere Eltern hatten es nicht so mit Babys oder Kleinkindern«, erzählte Taviano. »Es war immer Stefano, der die Windeln gewechselt, uns das Fläschchen gegeben und uns in der Nacht getröstet hat. Gott behüte, dass eines der Ferraro-Kinder einen Albtraum hatte oder nicht schon von Geburt an wusste, wie man eine Toilette benutzte.«

Nicoletta legte unwillkürlich die Hand auf seine. Ihr war nie der Gedanke gekommen, dass Taviano Trost brauchen könnte und sein Leben nicht immer perfekt gewesen war, weil er stets so allmächtig wirkte. Er schien sich nie darum zu scheren, was andere über ihn dachten. Er schien niemanden zu brauchen. In dem Moment, als sie ihn berührte, wurde ihr klar, was sie da tat, und sie begann, die Hand zurückzuziehen, doch er legte seine auf ihre, drückte sie nach unten, hielt sie zwischen seinen Händen gefangen.

»Du bist Eloisa begegnet. Sie ist kalt wie Eis.«

Wie der Rest seiner Geschwister sprach Taviano seine Mutter selten anders als mit ihrem Vornamen an: Eloisa. In der Öffentlichkeit nannten sie sie Mutter, aber Nicoletta hatte zu viel private Zeit mit ihnen verbracht, um nicht zu bemerken, dass sie für die Geschwister immer nur Eloisa war.

»Ich dachte, dass sie nur zu mir so ist.«

»Nein, sie behandelt jeden so, einschließlich ihrer Söhne. Emmanuelle behandelt sie noch schlimmer, und ihre Schwiegertöchter haben es am schwersten. Sie hält sich mit ihrem Gift dir gegenüber noch zurück, weil sie weiß, dass du uns allen etwas bedeutest.«

Auch hier fragte sie nicht nach. Taviano spielte einfach auf zu viele Dinge an, und sie konnte damit nicht Schritt halten oder sogar Hoffnung daraus schöpfen. Er hatte sie einmal abgewiesen, und das hatte ausgereicht, um ihr Herz in Stücke zerspringen zu lassen. Sie würde sich dem nicht noch mal aussetzen. Sie hatte drei Jahre mit ihm und seiner Familie verbracht. Ganz egal, wie idiotisch sie sich aufgeführt und wie sehr sie sich für das gehasst hatte, was ihr widerfahren war, die Ferraros waren geduldig mit ihr gewesen.

Taviano hatte niemandem von ihrem Benehmen in jener Nacht erzählt, dabei hätte er es tun können. Er hätte es ihren Zieheltern erzählen können oder seiner Familie. Er war immer geduldig mit ihr geblieben. Hatte sich immer um sie gekümmert. Er hatte darauf geachtet, nicht allein mit ihr zu sein, und wenn sie ehrlich war, tat das weh, aber sie verstand es und war sogar dankbar. Sie hatte sich verändert, hatte gelernt, was sie lernen sollte. Hatte auf ihren Therapeuten gehört und versucht umzusetzen, was er ihr sagte. Sie hatte Lucia vertraut und mit ihr gesprochen, wenn sie besonders aufgewühlt war und Albträume hatte. Sie hatte sich der Möglichkeit geöffnet, wieder jemanden zu lieben. Und das schloss auch sie selbst ein.

Sie hatte selbst herausfinden müssen, wo ihre Stärken und Schwächen lagen. Die Ferraros hatten ihr angeboten, ihr Selbstverteidigung beizubringen, und sie hatte angenommen. Das bedeutete, dass sie der Familie näherkommen musste, und das war ihr nicht unrecht. Sie nahmen sie unter sich auf und verhielten sich, als gehörte sie dazu. Sie distanzierten sich nicht von ihr – abgesehen von Eloisa, die ihr mit absoluter Abneigung begegnete, aber sie war nie in Francescas und Stefanos Penthouse, wo Nicolettas Trainingsstunden stattfanden. Eloisa begegnete sie nur, wenn die Frau Lucia besuchen kam.

Nicoletta liebte Taviano. Es war nicht nur Sex. Es war nicht nur, dass er ihr Leben gerettet hatte. Die Ferraros waren im Privaten, im Kreis der Familie anders, als sie sich in der Öffentlichkeit präsentierten. Man behandelte sie, als gehörte sie zur Familie. Immer. Sie sah den echten Taviano, und sie liebte alles an ihm. Wie sanft und freundlich er war. Wie aufbrausend er sein konnte, wie er manchmal explodierte und hell loderte und genauso schnell wieder abkühlte und lachte. Wie zärtlich er seinen Neffen hielt, ihm Worte zuflüsterte, lachte, den Kinderwagen die Straße hinunterschob und später seine kleine Hand hielt.

Taviano setzte sich auf den Boden und spielte mit Crispino auf Instrumenten oder veranstaltete Rennen mit kleinen Autos, und manchmal rollte er Bälle über den Boden. Es spielte keine Rolle, mit welcher Art Spielzeug sein Neffe spielen wollte, er war bereit und hatte unendliche Geduld. Das liebte sie an ihm. Alle seine Brüder und Emmanuelle schienen ihm diesbezüglich in nichts nachzustehen, aber sie konnte nie recht den Blick von Taviano lösen, wenn er mit Crispino zusammen war.

Nicoletta liebte auch seine Beziehung zu Emmanuelle. Die beiden lachten oft zusammen. Alle Brüder behüteten ihre Schwester. Anfangs hatte sie Emmanuelle darum beneidet, aber dann war ihr klar geworden, dass sie sie genauso behüteten. Dann war ihr eine große Traurigkeit in Emmanuelle aufgefallen, und sie stellte fest, dass auch sie Tavianos Schwester behüten wollte, ohne recht zu verstehen, warum.

Emmanuelle verreiste oft und verbrachte viel Zeit bei ihren Cousins in New York, und manchmal reiste sie auch zu Verwandten nach Italien, aber nach ein paar Monaten kam sie immer zurück, vergrub das Gesicht am Hals des kleinen Crispino und erklärte, dass er die Liebe ihres Lebens sei und sie ihn nie wieder verlassen könne.

»Warum ist Eloisa so schneidend Emmanuelle gegenüber, Taviano? Sie besucht Lucia oft, und manchmal kommt Emmanuelle mit ihr, und dann lässt Eloisa jedes Mal spitze Bemerkungen fallen, um sie vor Lucia zu erniedrigen. Ich meine, sie sagt solche Dinge auch über mich, aber ich erwarte es nicht anders.«

Taviano runzelte die Stirn. »Was meinst du damit, sie sagt sie auch über dich? Ich habe Lucia extra angewiesen, dass sie es mir sagen soll, wenn Eloisas Besuche dich belasten.«

»Sie belastet mich nicht. Ich habe dich nach Emmanuelle gefragt.«

»Ich habe dich gefragt, was Eloisa zu dir oder über dich sagt«, meinte Taviano, und seine Stimme wurde hart. »Antworte, Nicoletta.«

Sie rollte die Augen. »Herrgott noch mal, Taviano. Du kennst doch ihre verächtliche Stimme und die Kommentare, die sie loslässt.«

Er erhob sich und ragte über ihr auf. Seine Miene wurde zu Stein, seine Augen funkelten auf sie herab, Zwillingsjuwelen, die mit einem Mal Furcht einflößend wirkten. »Antworte, Nicoletta«, wiederholte er.

Sie zögerte nicht, während ihr Herz wie wild raste. »Dass ich nicht gut genug für Lucia bin und dass Eloisa keine Ahnung hat, warum Lucia und Amo mich aufgenommen haben. Ich sei alt genug, dass sie mich vor die Tür setzen könnten, und dass sie ihre gute Tat vollbracht hätten und sich nicht weiter für Sünden geißeln sollten, die sie niemals begangen haben. Dass ich mich gegen sie wenden und sie ausrauben werde. Dass ich sie im Schlaf erstechen werde. Dass ich der Ferraro-Familie schon genug Ärger gemacht habe, man müsse sich nur mal ansehen, was mit Vittorio gleich vor unserem Zuhause passiert ist, weil ich aus dem Fenster geklettert bin, um mich mit irgendeinem Jungen zu treffen. Dass ich eine Schlampe und eine Hure bin und mit jedem schlafe, dass sie dafür glaubhafte Zeugen habe und dass sie nur versuche, Lucia Kummer zu ersparen. Natürlich sagt sie das nicht alles auf einmal bei einem Besuch, sie verteilt es. Lucia widerspricht ihr natürlich, aber, na ja, diese Dinge eben.«

Seine Miene verdunkelte sich, und sie konnte sehen, dass er sich bemühte, das berüchtigte Ferraro-Temperament im Zaum zu halten. »Du hättest mir davon erzählen sollen. Lucia hätte es mir erzählen sollen.«

»Es stört mich nicht. Eloisa wird mich niemals mögen. Viele ihrer Freunde mögen mich auch nicht.« Sie wies auf Pia und Bianca. »Ihre Mutter gibt vor, mich zu mögen, aber das tut sie nicht. Pia und Bianca sind vermutlich mit mir befreundet, weil sie über mich an dich herankommen. Ihre Mutter hofft, dass du eine von ihnen heiratest.«

»Willst du mich verarschen, Nicoletta? Warum organisierst du diesen Ausflug für sie, wenn du das weißt?«

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Manchmal bin ich ein bisschen langsam. Mir wurde das erst vorhin klar, als ich sie mit dir gesehen habe. Ich könnte mich irren. Ich hoffe, dass ich mich irre. Ich glaube, dass Clariss wirklich meine Freundin ist, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich andere Leute gut einschätzen kann. Lucia hilft mir noch immer damit. Sie ist toll, was das angeht.«

»Tu das nicht noch mal und enthalte mir vor, wenn Eloisa Mist über dich redet.«

»Sie redet auch Mist über Emmanuelle, Taviano. Ich würde meinen, dass dich das mehr aufbringen sollte.«

»Das tut sie schon, seit Emmanuelle geboren wurde, tesoro. Meine Schwester war meiner Mutter nie gut genug, und sie wird es niemals sein. Francesca wird nie gut genug sein. Keine Frau wird in Eloisas Augen wohl jemals gut genug sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Es gibt einen Grund, warum du sie nie bei Stefano zu Hause siehst. Wenn sie weiterhin Scheiße über dich redet, dann wirst du sie auch nicht mehr bei Lucia sehen.«

»Sie ist Lucias Freundin, Taviano«, sagte Nicoletta behutsam. Sie spürte seinen Zorn. Er war wirklich wütend auf seine Mutter.

»Das kümmert mich nicht. Hab Spaß mit deinen Freundinnen. Ich werde mit Lucia sprechen und herausfinden, wie lange dieser Mist schon läuft.«

»Bitte reg Lucia nicht auf.«

»Das würde ich niemals tun«, sagte Taviano, und seine Stimme klang jetzt sanfter. »Ich meine es ernst, piccola. Ich gebe dir noch diese eine Nacht, und dann reden wir.« Und damit drehte er sich abrupt um und ging den Gang hinunter in den vorderen Teil des Flugzeugs, wo seine Großcousins Demetrio und Drago saßen und äußerst entspannt wirkten, doch Nicoletta wusste es besser. Sie mochten jung und gut aussehend sein, aber sie waren auch ausgebildete Bodyguards und verdammt gut in ihrem Job. Ihre Freundinnen lenkten sie nicht mehr ab als sie selbst.

Nicoletta blickte Taviano hinterher, unsicher, was sie denken sollte. Sie holte ihr Handy heraus und wollte Lucia anrufen. Mittlerweile verließ sie sich ganz auf sie. Lucia war eine ältere Frau, sie war verlässlich, lieb und unerschütterlich stark. Ihr Leben war von Tragödien gezeichnet. Erst hatte sie ihre kleine Tochter an den Krebs verloren und dann ihren Sohn, der nach seiner Rückkehr vom Militär von irgendeinem Mörder vor einem Kino erschossen wurde.

Nicoletta war mit siebzehn zu Lucia und Amo gekommen, sie war vor Trauer um ihre Eltern fast verrückt und von so viel Zorn über die schrecklichen Dinge erfüllt gewesen, die ihre drei Stiefonkel ihr in den drei Jahren bei ihnen angetan hatten, dass sie um sich geschlagen hatte. Ihre Zieheltern schienen sie zu verstehen, und sie hatten die Geduld, ihr die Zeit für Trauer und Wut zu geben. Sie bauten eine Verbindung zu ihr auf, und es war unmöglich, sie noch mehr zu lieben, als sie es bereits tat.

»Willst du dich uns nicht anschließen?«, fragte Pia nörgelig. »Ich dachte, das hier soll eine Party sein.«

Nicoletta blickte mit einem leichten Lächeln auf.

»Für mich sieht es aus, als würdet ihr euch ganz gut amüsieren. An deinem einundzwanzigsten Geburtstag sitzt du in einem Privatflieger, trinkst den besten Champagner und bist auf dem Weg zu einem Konzert deiner Wahl, das würde ich definitiv eine Party nennen.«

»Was war das gerade?«

Nicoletta schüttelte den Kopf. »Was?«

»Du und Taviano? Ihr saht aus, als hättet ihr ein privates Gespräch.«

Sie zuckte die Achseln. »Nur Familienkram. Nichts Wichtiges. Wir haben vor allem über Francesca und Stefano gesprochen.«

»Familienkram. Gehörst du jetzt zur Familie, oder was?« Nun lag ein bissiger Unterton in ihrer Stimme.

Pia war eindeutig eifersüchtig. Sie hatte zu viel getrunken, um es zu verbergen. »Ja. Ich gehöre zur Familie. Wenn es nicht so wäre, dann würden wir nicht in diesem Flieger sitzen und auf dem Weg zu Kain Diakos’ Konzert sein, oder? Lass uns noch ein wenig tanzen, bevor wir ankommen.« Sie ergriff Pia am Arm und eilte mit ihr zurück zu ihren Freundinnen.

Sofort begann sie zu lachen und zu tanzen. Clariss hatte mehr Erdbeeren als Champagner, erklärte ihn aber dennoch zum besten, den sie je probiert hatte. Nicoletta machte sich über die Erdbeeren her, und als sie Schlagsahne fand, garnierte sie die Früchte kurz entschlossen auch damit. Bianca trank zwei weitere Champagnerflöten mit Erdbeeren, aber Pia trank von allem. Das bereitete Nicoletta Sorgen. Sie waren noch nicht mal beim Konzert.

»Langsam, Mädchen. Wenn du zu viel trinkst, lassen sie uns nicht rein.«

»Wen kümmert das«, sagte Pia. »Wir können einfach im Flieger bleiben und die Nacht hier verbringen. Warum brauchten wir überhaupt Hotelzimmer, wo es hier doch ein Bett gibt. Oder ihr drei geht einfach ins Hotel, und ich bleibe mit Mister Superheiß hier. Er starrt mir schon den ganzen Abend auf die Brüste.«

Nicoletta verkniff sich ein Lächeln. Taviano blickte auf sein Handy hinab, und obwohl er die steinerne Miene aufgesetzt hatte, die die Ferraros in der Öffentlichkeit meistens zur Schau stellten, wusste sie, dass er verärgert war. Er starrte definitiv nicht Pia an.

»Davon träumst du, Pia«, sagte Clariss. »Wir gehen zu dem Konzert, also steig auf ein anderes Getränk um. Du wirst uns das nicht verderben. Außerdem liebst du Kain. Ich dachte, du willst ein Kind von ihm?«

Pias Miene hellte sich auf. »Und ob ich das will.«

Sie warf die Arme um Nicoletta und zog sie in eine enge Umarmung, bei der sie ins Schwanken geriet und sie beinahe mit sich zu Boden riss. Nicoletta musste sie beide ausbalancieren.

»Es tut mir leid. Ich liebe dich, Freundin. Ich hatte einen Traum, dass Mister Superheiß mich heiraten und zu einem Ort entführen würde, an dem mich meine Mutter nicht mehr anschreien und alles zerstören kann, was ich versuche. Ein Traum, der niemals wahr wird. Stattdessen werde ich ein Kind von Kain bekommen.«

Bianca schüttelte den Kopf. »Mom wird niemals aufhören zu versuchen, uns mit den reichsten Männern zu verheiraten, die sie auftreiben kann. Sie ist nicht glücklich mit Dad, aber sie will genau so ein Leben für uns. Ich bin total verrückt nach Enzo Gallo … nicht dass er mich auch nur ansehen würde. Wenn er mich bitten würde, mit ihm auszugehen, wäre Mom so schrecklich zu ihm, dass er es danach nie wieder versuchen würde, aber ehrlich gesagt wäre ich bereit, mit meiner Familie zu brechen, wenn ich nur eine Chance bekäme, dass das mit ihm etwas wird. Nicht mit dir, Pia, nur mit ihr. Ich bin es so leid, nie mit einem Mann sprechen zu können, der mich wirklich interessiert.«

»Das wusste ich gar nicht«, sagte Nicoletta. »Ihr lebt beide allein. Ihr arbeitet.«

»Es war die einzige Möglichkeit, ihr zu entkommen, aber wir sind ihr nicht wirklich entkommen. Jedes Mal, wenn wir einen neuen Job finden, geht sie zu unserem Chef und sabotiert die ganze Sache«, gestand Pia ein bisschen betrunken. »Und dann können wir unsere Miete nicht mehr zahlen, und es ist scheiße, immer auf Jobsuche zu sein, weil es aussieht, als würden wir von einer Stelle zur nächsten springen.«

Clariss ließ sich in einen der Sitze sinken und griff nach einer Erdbeere, die sie in Schlagsahne tunkte. »Das ist schrecklich. Ihr hättet bei mir einziehen können. Meine Wohnung ist klein, aber wir würden uns schon arrangieren.«

»Ich hätte mit Stefano sprechen können«, sagte Nicoletta. »Er hätte Jobs für euch gefunden, die sie nicht sabotieren kann.« Sie stieß Bianca mit der Hüfte an. »Und ich kenne Enzo Gallo. Er ist ein Cousin der Ferraros. Er arbeitet als Bodyguard. Ich kann euch bei Gelegenheit mal vorstellen, falls ihr euch noch nicht offiziell kennengelernt habt. Ich könnte es so einrichten, dass ihr euch hier und da über den Weg lauft, wenn er nicht gerade arbeitet. Manchmal weiß ich, wo sie sich aufhalten werden.«

Bianca schüttelte den Kopf, doch dann änderte sie ihre Meinung. »Das würdest du tun?«

»Ich würde wirklich gern herausfinden, ob Stefano Jobs für uns finden könnte, die Mom uns nicht ruinieren kann«, sagte Pia. Sie lallte ein klein wenig, aber als sie Nicoletta direkt ansah, wirkte sie sehr nüchtern.

»Ich glaube wirklich, dass er das könnte«, sagte Nicoletta. »Stefano kann alles. Wenn du und Bianca wirklich arbeiten wollt, kann er bestimmt eine gute Stelle für euch finden.«

»Eine, bei der wir genug verdienen, um unabhängig zu sein? Ich meine nicht haufenweise Geld, nur genug für Miete und Essen«, beharrte Pia. »Keine Mitleidsnummer. Wir arbeiten für unser Geld.«

Nicoletta nickte. »Ich bin mir sicher, dass er das tun würde, aber so einen Gefallen tut er Menschen nur einmal. Ihr dürft das nicht versauen«, warnte sie. »Stefano ist kein Mann, mit dem man es sich verderben will.«

Pia nickte. »Das verstehe ich.« Sie stopfte sich eine Erdbeere in den Mund. »Das ist ein noch besseres Geschenk als das Kain-Konzert. Und ich liebe ihn, ich werde seine Kinder bekommen.«

»Nein, das willst du nicht«, widersprach Bianca. »Ich werde nicht schuften, damit wir über die Runden kommen, während du die ganze Zeit Sex hast und zu Hause bei den Kindern bleibst, du Luder.«

Sie lachten und begannen erneut zu tanzen. Nicoletta beschloss, dass sie vielleicht doch besser darin war, sich die richtigen Freundinnen auszusuchen, als sie gedacht hatte.

2

Die Luft brannte, wie nur Kain Diakos und seine Band sie zum Brennen bringen konnten. Nicoletta spürte Vibrationen in der Luft, überall. Die Musik pulsierte durch ihre Adern, setzte ihr Blut in Flammen, sodass sie den Kopf zurückwarf und die Hände in die Luft reckte, während ihre Füße im Takt stampften und ihr Körper sich bewegte. Wie alle anderen um sie herum konnte sie jetzt nicht sitzen. Sie wollte tanzen. Singen. Ihre Augen waren von dem Geschehen auf der Bühne gefangen.

In einem Moment war die Bühne in Dunkelheit getaucht, dann explodierte Licht, Farben regneten in allen Schattierungen herunter, und Kain bewegte sich mit seinem sinnlichen Körper durch all diese Farbtöne und sang die Lyrics des Songs mit seiner unglaublich erotischen Stimme. Wenn Nicoletta nicht so rettungslos in Taviano verliebt gewesen wäre, hätte sie wie Pia zum Himmel gebetet, die Mutter von Kains Kindern zu werden. Er war atemberaubend. Seine Songs waren wunderschön. Poetisch. Er war muskulös. Sexy.

Seine Mutter war Äthiopierin, sein Vater Grieche, und was das Aussehen betraf, hatte er von beiden die besten Gene bekommen. Seine Augen wiesen ein dunkles Schokoladenbraun auf, sein Haar schwarz und sehr lockig, so wild, dass einige der Locken ihm in die Stirn fielen, wenn er sich über die Bühne bewegte, was ihn nur noch heißer aussehen ließ. Er produzierte seine eigene Musik, schrieb seine eigenen Songs und hatte die Musikszene im Sturm erobert.

Seine ersten Fans hatte er im Internet gewonnen, die Konzerte waren schon nach einer Stunde ausverkauft, und er gewann jeden Preis, den man sich nur vorstellen konnte. Nicoletta wusste, dass er in der Musikindustrie nur noch erfolgreicher werden würde. Und trotzdem war er noch immer an der Planung seiner Bühnenshows beteiligt, sodass die Vision seiner Musik sich auch auf der Bühne wiederfand. Es machte die Musik und die Art, wie sie präsentiert wurde, nur noch atmosphärischer. Die Musik vibrierte durch ihren Körper, die Lichter tanzten vor ihren Augen, und sie wurde mit ihm in den Song hineingezogen.

Sie liebte seine Stimme. Sie liebte die Texte. Sie liebte die Rhythmen und Gitarrenriffs, die Drums und wie sich alles mit den Lichtern und der Energie der Menge verband. Pia, Bianca und Clariss tanzten, schwenkten die Arme, sprangen auf und ab und feierten mit allen anderen.

Nicoletta stellte fest, dass sie mehr und mehr Energie aus der Menge, der Bühne, dem Sänger und der unglaublichen Musik zog. Sie nährte ihre Seele. Ihr Körper sang, sie fühlte sich erholt und stark. Sie liebte Konzerte. Lucia war die Erste gewesen, die sie mit zu einem Konzert genommen hatte, und in dem Moment, als der Sänger auf die Bühne gekommen war und sie alle Eindrücke auf einmal aufgenommen hatte – die Menge, die Musik, den Sänger –, da hatte etwas in ihr auf diese Energie reagiert, und sie hatte die Veränderung beinahe unmittelbar gespürt. Es hatte eine heilende Wirkung auf sie gehabt, beinahe spirituell. Sie hatte Lucia davon erzählt, und Lucia hatte entsprechend gehandelt. Die wunderbare Lucia. Die ihr alles gab, was sie brauchte.

Seither hatte sie viele Konzerte besucht, und dann hatte sie Kains Musik entdeckt. Er hatte gerade online seine Anfänge gemacht, aber sie hatte seine Songs wieder und wieder gespielt und in ihrem Zimmer dazu getanzt. Wenn sie nicht schlafen konnte und die Albträume ihr zu nahe gingen, hörte sie seine Songs, sang mit und ließ sie ihre schlimme Vergangenheit wegtragen.

Seine Konzerte waren unglaublich, sie entführten sie in eine andere Welt. Anders als die anderen Frauen im Publikum – Schauspielerinnen, Models oder sogar selbst Sängerinnen, bekannte Stars, die jetzt Kains Fans waren –, die wegen des heißen Manns und seiner Stimme gekommen waren, war sie wegen des ganzen Pakets hier, einschließlich der Energie des Publikums. Sie schluckte ihre Vergangenheit. Verschlang sie. Gab ihr ihr Leben zurück.

Pia stieß sie mit der Hüfte an. »Ist er nicht großartig?«, schrie sie.

»Das ist er.« Nicoletta musste ihr zustimmen.

»Ich bin verliebt«, rief Clariss.

»Ich auch«, sagte Bianca. »Du kannst seine Kinder bekommen, Pia. Ich arbeite und sorge für dich.«

Pia warf ihrer Schwester eine Kusshand zu, während die Band den nächsten Song anstimmte. Sie waren ganz vorne. Natürlich hatte Taviano ihnen die besten Plätze besorgt, und sie konnten die Bühne hinauftanzen, wo die Bodyguards sie ziemlich nahe an das Geschehen heranließen. Die Lichter tanzten über sie hinweg, und Kameras schwenkten herum und warfen Bilder auf die riesigen Leinwände hinter und zu beiden Seiten der Band. Auf diese Weise konnten sogar die Leute ganz hinten Kain und die unglaublich erotischen Bewegungen seines Körpers sehen, wenn er sich mit der Mischung aus Hip-Hop und R&B einen Weg über die Bühne bahnte.

Manchmal war seine Musik elegant und düster, aber sie war stets auch hypnotisch. Die Atmosphäre, die er mit seiner Stimme und seinen Songs erschuf, war faszinierend. Zusammen mit seiner Bühnenpräsenz, den Lichtern, den Farben und den stampfenden Beats zog er das gesamte Publikum von der ersten Sekunde an in seinen Bann.

Nicoletta hob das Gesicht in seine Richtung, reckte die Hände, badete sich in seiner Magie. Sie brauchte seine düsteren Texte, die immer von schlimmen Zeiten handelten, aus denen es am Ende jedoch einen Ausweg gab. Der Weg war lang, steinig und schmerzhaft, die Verluste wogen schwer, aber das Ende war all das Leid wert. Sie kannte diesen Weg. Sie war ihn gegangen. Sie kam gerade an sein Ende.

Sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass Kain diesen Weg auch beschritten hatte, wie sonst sollte er Songs schreiben können, die so genau beschrieben, wie es war, das Schlimmste zu erleiden, was Menschen einander antun konnten, und doch mit Hoffnung endeten. Er gab Millionen Zuhörern durch seine Songs Hoffnung. Wenn sie die Augen zumachte und einfach nur in seiner Stimme und den Sounds seiner Band badete, sie durch ihre Adern fließen und sich von ihr weiter und weiter von den wenigen Jahren, die sie bei ihren drei Stiefonkeln in New York gelebt hatte, wegtragen ließ …

»Nicoletta?«

Sie blinzelte, versuchte, die Stimme zu erkennen. War es Pias oder Biancas? Nein, sie war zu tief. Die Stimme eines Mannes. Mit Akzent. Eine Stimme, die ihr nur zu vertraut war. Sie drehte den Kopf und starrte direkt in ein Paar fragende dunkelbraune Augen. Der Mann war beinahe vierzig. Sie erkannte ihn sofort, und ihr Herz machte einen Satz – hörte beinahe auf zu schlagen. Armando Lupez. Er war Benito Valdez’ rechte Hand.

Benito Valdez war der Kopf einer brutalen Gang, den Demons, die ihren Hauptsitz in New York hatten. Unglücklicherweise hatte Benito, der gerade aus dem Gefängnis freigekommen war, eine Obsession für sie entwickelt und von ihren Stiefonkeln verlangt, dass sie sie an ihn übergaben. Kurz bevor es dazu kommen konnte, hatten die Ferraros sie gerettet, und sie war von der Bildfläche verschwunden. Niemand wusste, wo sie war oder was mit ihr passiert war. Sie hatte in Chicago gelebt und war in den letzten Jahren einfach davon ausgegangen, dass man sie vergessen hatte.

Um sie herum wurde die Menge in Dunkelheit gehüllt, die Lichter blitzten auf und verloschen wieder, erneut breiteten Farben sich aus wie ein magisches Netz. Der Takt der Musik hätte diese Farben leuchtend und harmonisch erscheinen lassen sollen, aber stattdessen fühlten sie sich bösartig und bedrohlich an. Sie blickte an Armando vorbei und entdeckte zwei weitere Männer, die sie als Mitglieder der Gang identifizierte. Sie kannte sie nicht, aber das spielte keine Rolle; sie wusste, dass die Demons auch Niederlassungen in anderen Städten hatten.

Armando lächelte, ein träges, bösartiges Lächeln. Er hatte sein Handy gezückt und zeigte ihr eine Textnachricht. »Ich hab dich da auf der Leinwand gesehen, wie du so schön getanzt hast, und Benito ein Bild geschickt. Du bist mit dem Alter nur noch besser geworden. Er meinte, ich soll dich zu ihm bringen. Er hat Pläne mit dir.«

Nicoletta zögerte nicht lange. Sie versetzte ihm einen heftigen Tritt, rammte ihm den Stiefel ins Gemächt und zog dabei ihr Handy heraus. Sie wartete nicht darauf, dass Armando stürzte, sondern drängte Pia und Bianca, damit sie sich in Bewegung setzten. »Kommt, Clariss, wir müssen gehen. Rennt. Zur anderen Seite des Gangs.«

Sie waren langsam, verstanden nicht, was sie wollte, aber sie packte Clariss’ Arm und zerrte sie mit sich, als sie zur anderen Seite der Halle rannte. Zum Glück waren sie ganz vorne. Sie mussten sich einen Weg durch das Publikum bahnen, aber die meisten waren aufgestanden. HiersindTypenvondenDemons.Habenmichentdeckt.Werdegejagt.Wassollichtun?

Komm zum Westeingang. Warte dort auf dich. Die Antwort kam sofort. Augenblicklich. Als wäre er auf einen Notfall vorbereitet gewesen.

Sie schickte ihm ein Daumen-hoch-Emoji.

Konnte Taviano so schnell dort sein? Er war nicht mit zum Konzert gekommen. Er wartete im Flieger. Sie musste ihm glauben. Sie riskierte einen kurzen Blick und entdeckte ein grün leuchtendes »Ausgang«-Schild an der westlichen Wand. Der Weg erschien ihr unendlich lang, vor allem weil Pia, Bianca und Clariss sich ständig umdrehten, als Kain und seine Band einen seiner größten Hits anstimmten.

»Nicoletta«, jammerte Pia, »was tust du?«

»Rennt«, sagte Nicoletta mit Dringlichkeit in der Stimme und schob sie weiter.

Sie blickte über die Schulter. Die beiden Männer, die hinter Armando gestanden hatte, stießen Frauen aus dem Weg, während sie hinter ihnen herjagten. Einige Frauen schrien, aber zwischen den Begeisterungsschreien für Kain auf der Bühne ging das unter, sodass die Security nicht merkte, dass etwas nicht stimmte.

»Aber ich habe hohe Absätze an«, beklagte sich Bianca. »Was ist denn los?«

»Die Männer da sind hinter uns her, und sie werden uns umbringen«, zischte Nicoletta. »Und davor werden sie uns vergewaltigen und foltern. Sie gehören zu einer Gang, den Demons. Und jetzt rennt.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Pia.

Bianca schlüpfte aus ihren High Heels, blieb jedoch einen kurzen Moment stehen, um zurück zu den Männern zu blicken, die sie verfolgten. Einer von ihnen stieß einer Frau die flache Hand zwischen die Schulterblätter, sodass sie über eine Sitzreihe fiel. Bianca schnappte nach Luft und rannte an Clariss vorbei, um die Führung zu übernehmen. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wohin sie gerade rannte.

»Zum Ausgang. Westausgang!«, rief Nicoletta und versuchte, die Musik und das Johlen der Menge zu übertönen.

»Wo ist Westen?«, fragte Pia und folgte ihrer Schwester.