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Über einhundert Jahre sind seit der ersten Invasion der außerirdischen Tentakel vergangen. In den kläglichen Resten der Irdischen Sphäre, dem heimatlichen Sonnensystem, hat sich eine Militärdiktatur etabliert, die mit eiserner Hand über die letzten Menschen regiert. Die Tentakelwacht steht bereit, sollten die Invasoren die Menschheit ein zweites Mal heimsuchen. Doch viele glauben schon nicht mehr daran, dass die Tentakel jemals zurückkehren werden. Als die Aliens dann aber doch wieder erscheinen, wollen die aggressiven Eroberer kein Risiko mehr eingehen: Sie haben eine Streitmacht aufgeboten, die es ohne Weiteres mit den Verteidigern aufnehmen kann. Die Menschheit steht diesmal endgültig vor dem Abgrund. Die Romane der Reihe in der Übersicht: Trilogie 1: 1) "Tentakelschatten" 2) "Tentakeltraum" 3) "Tentakelsturm" Trilogie 2: 4) "Tentakelwacht" 5) "Tentakelblut" 6: "Tentakelreich" Trilogie 3: 7) "Tentakelfürst" 8) "Tentakelkaiser" 9) "Tentakelgott" Alle Romane sind einzeln als Paperback mit Klappenbroschur lieferbar. Die Bände 1 bis 3 gibt als eBook in einem Sammelband: "Tentakel: Der erste Krieg" Diesen Sammelband gibt es auch als Hardcover. Die Bände 4 bis 9 gibt es als eBook jeweils als Einzelband und ebenfalls als Hardcover als Einzelband.
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Weitere Atlantis-Titel
Dirk van den Boom
Tentakelwacht
»Dieser Plan ist totale Scheiße!«
In Robys Kopf hallte dieser Satz wider, als er sich neben Slap an die kalte Mauer drückte. Slap stand näher an der Einmündung der Gasse zur beleuchteten Hauptstraße. Es war still, zwei Uhr morgens, und nur gelegentlich torkelte ein Stadtstreicher unter den Laternen entlang.
Gut ausgeleuchtet war das Gebäude von Big, dem Hehler. Nach vorne hin sah es wie ein beliebiges Pfandhaus aus, aber jeder wusste, dass Big in den ganz großen Geschäften seine Finger mit drinstecken hatte. Daher sein Name. Rein körperlich war er ein schmächtiges Männchen.
Seine Jungs waren besser ausgestattet. Roby war dagegen gewesen, Bigs Lager auszuräumen, doch außer Slap hatte sich niemand auf seine Seite gestellt. Der Bande ging es in letzter Zeit nicht gut. Das Essen wurde knapp. Sie mussten ein größeres Ding drehen. Das aber war zu groß.
Alles beruhte auf der Zusicherung von Tiny, dass er die elektronischen Alarmeinrichtungen weghacken konnte. Der kaum 13-jährige Junge, der mit seinem abgegriffenen und fleckigen Notionink Adam XII förmlich verwachsen schien, war bestimmt ein Genie oder wurde zumindest dafür gehalten. Er schnüffelte aber auch Industrielösungsmittel, und das reichlich. Roby würde ihm nicht einmal glauben, dass er Tiny hieß. Aber der Rest war verzweifelt genug gewesen, um auf die beständigen Zusicherungen des Hackers reinzufallen.
Erst hatte Slap das machen sollen. Slap war ein guter Hacker, er war der beste. Aber er hatte noch andere Talente, und so war er mit einer Aufgabe betraut worden, die Tiny überforderte. Slap war darüber genauso wenig erfreut gewesen wie Roby.
Der Plan blieb totale Scheiße, man konnte es drehen und wenden, wie man wollte.
»Die Jungs sind bereit«, flüsterte es in Robys rechtem Ohr. Auch Slap vor ihm hielt sich unwillkürlich den winzigen Empfänger in seiner Ohrmuschel. Slap war clever. Er war schnell und er wusste, wenn es abzuhauen galt. Roby würde sich an Slap halten. Es gab keine bessere Versicherung.
Siebzehn einsatzbereite Mitglieder hatte die Bande. Der Chef war Torque, ein großer, stämmiger Typ mit einer ganz üblen Narbe, die er sich aber nicht im Kampf, sondern von einer betrogenen Freundin geholt hatte. War keine gute Idee, ihn daran zu erinnern. Torques Position stand auf dem Spiel. Ginge das hier in die Hose und entkämen genug von ihnen dem Desaster, würde jemand Torque herausfordern. Roby betrachtete die sehnige Gestalt vor ihm, den sprungbereiten Slap. Der hieß nicht umsonst so. Vielleicht würde Slap die Herausforderung aussprechen. Das wäre nicht das schlechteste Ende dieser verrückten Aktion.
»Ich hab’s«, flüsterte die kratzige Stimme Tinys in seinem Ohr. Trockenes Husten folgte. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er Klebstoff geschnüffelt hatte. Roby fühlte sich schlecht. Das konnte nicht klappen.
»Los!«, kam Torques befehlsgewohnte Stimme. Aber halt – war da ein winziges, unsicheres Zittern in seinem Befehl gewesen? Konnte an der schlechten Verbindung des antiken Funknetzwerkes liegen. Roby wischte den Gedanken beiseite. War eh zu spät.
Slap sprang auf, huschte über die Straße. Aus anderen Richtungen weitere Jungs. Schnell und geübt, das waren sie. Wer hier aufgewachsen war, wusste, wie er sich zu bewegen hatte. Dann waren sie in der dunklen Gasse neben dem Leihhaus. Die Nebentür. Roby fasste Mut. Das warnende Blinklicht der Alarmanlage war aus.
»Der kleine Arsch hat es tatsächlich hingekriegt«, murmelte Slap vor ihm. Er war als Erster an der Tür, schob den elektronischen Dietrich in den Eingabeschlitz. Erneut Tinys Arbeit. Es klickte, die metallene Tür schwang auf. Keine Sirenen, keine heranstürmenden Helferlein des Hehlers. So weit, so gut.
»Slap, Roby, Chink – Ihr geht rein, der Rest steht Schmiere«, kam Torques Befehl, diesmal mit mehr Sicherheit und Siegesgewissheit. Niemand diskutierte. Egal, wie gut oder schlecht Tinys Vorbereitungen auch waren, das musste jetzt schnell gehen.
Slap ging zuerst.
Slap ging immer zuerst.
Es war dunkel hinter der Tür, doch sie alle trugen kleine Infrarotlampen. Zusammen mit den billigen Nachtsichtbrillen aus Armeebeständen konnten sie genug sehen, um sich zu orientieren. Die Ausrüstung stammte aus den guten Zeiten der Bande, als die Magazine noch nicht so stark bewacht worden waren. Musste zwanzig Jahre her sein, in der Generation vor ihnen. Waren alle tot oder eingezogen mittlerweile.
Die meisten tot.
Chink war ein Schlägertyp, definitiv mehr Muskeln als Gehirn. Er war dabei, um aufzuräumen, falls das notwendig werden sollte. Der massige Mann wirkte völlig unbeteiligt. Bei ihm hing das nicht mit Drogenkonsum zusammen, soweit Roby wusste. Chink war immer so. Er schien keinerlei Gefühle zu haben. Leider auch nicht sonderlich viel eigenen Willen. Er tat immer, was ihm gesagt wurde.
Und so sah er Roby auffordernd an. Slap ging immer als Erster. Und wenn er nicht in der Lage war, Anordnungen zu geben, war dies Robys Aufgabe. Er hatte sich das Gehirn noch nicht mit allerlei Mitteln zerfressen. Darauf stand er nicht.
»Hier ist keiner«, meldete Slap.
»Das abgesicherte Lager ist weiter hinten«, erinnerte ihn Roby an den Lageplan.
Sie schlichen den Gang entlang. Totenstille. Die Alarmanlage machte keinen Mucks. Als sie an einem Schaltkasten vorbeikamen, flackerten die Lämpchen der Einbruchsicherung auf Stand-by, völlig harmlos.
»Tiny hat nicht zu viel versprochen«, murmelte Slap. Seine hagere, fast dürre Gestalt war mit der Infrarotbrille gut zu erkennen. Slap lief immer auf 180, fraß wie ein Scheunendrescher und hatte einen höheren Grundumsatz als Chink, der ihnen schweigsam gefolgt war, mit seinem Muskelkörper. Slap, so fand Roby, brannte hell und heiß. Er hoffte, die Flamme würde deswegen nicht auch früher verlöschen.
»Abwarten«, erwiderte Roby. Sie standen vor einer weiteren schweren Eisentür. Er leuchtete den Türrahmen ab. Nichts zu sehen. Slap hatte sich schon über das Schloss gebeugt.
»Oh, Militärtechnik«, sagte er leise. »Big hat investiert.«
»Bekommst du das auf?«
»Aber ja. Gib mir Zeit.«
Zeit war etwas, mit dem Roby nicht zu reichlich umgehen wollte. Aber Slap war schnell und er ließ sich nicht drängen. Er hatte bereits den Rollbeutel mit dem Feinwerkzeug geöffnet, seinen größten Schatz. Big hatte Militärtech? Slap auch. Und nur vom Feinsten. Ein Erbstück seines Vaters, der war Sergent im Nachschub gewesen. Bevor sie den alten Mann wegen Unterschlagung öffentlich erschossen hatten, war Slap auf wundersame Art und Weise an einige Besitztümer seines Erzeugers gekommen. Das war seine Eintrittskarte in die Bande gewesen. Eine gute Investition, wie sich jetzt wieder zeigte.
Slap hantierte. Roby blickte sich um. Weitere Türen gingen vom Gang ab. Er öffnete keine. Kein unnötiges Risiko. Eine war angelehnt, also konnte er hineinleuchten. Er erkannte ein Bett, darin eine große, pneumatische Sexpuppe mit gigantischen Titten. Nicht übel. Vielleicht würde er sie mitgehen lassen, wenn Zeit blieb. Immerhin eine, die nicht dauernd nach einer Dusche verlangte.
»Okay, bin so weit.«
Slaps Bemerkung fokussierte Robys Aufmerksamkeit. Er stellte sich hinter Slap, der seine Werkzeuge sorgfältig wieder verpackte und einrollte. Dann machte er eine einladende Handbewegung.
»Chink!«, sagte Roby nur.
Der Riese trat kommentarlos vor und öffnete die Tür, ohne zu zögern.
Dahinter: Lauter Regale, vollgestopft mit Hightechzeugs, das auf dem Schwarzmarkt riesige Summen einbrachte. Robys geschultes Auge nahm die Waren in Sekundenschnelle wahr. Bingo! Ganz große Weihnachten!
Und das da war …
»Scheiße! Raus! Raus! Raus!«
Slap zögerte nicht. Er hatte es auch gesehen. Die simple Lichtschranke, unterbrochen durch die geöffnete Tür. An kein internes Netz angeschlossen, würde sie wahrscheinlich nicht mehr tun, als einen Telefonanruf auslösen. Oder …
Es knallte, als die äußere Eisentür ins Schloss fiel. Es knackte, als sie sich selbst verriegelte. Chink rüttelte daran. Es gab ein zweites Knacken, als das Störfeld den Funkkontakt unterbrach.
Dann zischte es, als das Betäubungsgas in den Gang gepumpt wurde.
Slap setzte sich einfach nur hin, um sich beim Fallen nicht zu verletzen.
Slap war pragmatisch.
Roby kämpfte gegen den Schwindel an, doch er hatte Glück.
Er fiel auf Chink.
Roby kannte Gefängniszellen von innen.
Es gab für ihn drei verschiedene Typen. Da waren erst einmal jene in den Wachen der Staatspolizei, die meist nur vorübergehend Unterkunft boten. Roby war dort bereits öfters zu Gast gewesen. Sie stanken, waren verdreckt und man hatte Gesellschaft, auf die man normalerweise sehr gerne verzichten würde. Man bekam nichts zu essen und durfte in ein offen an der Wand eingelassenes Pissoir pinkeln, wenn man sich traute. Frauen hatten eine eigene Sammelzelle, meist mit einem Loch im Boden, was sicher auch nicht angenehmer war. Die Polizisten vertrieben sich manchmal die Zeit damit, jemanden herauszuholen und zu verprügeln. Irgendwann wurde man dann einem Richter vorgeführt oder gleich freigelassen, weil jemand die notwendige Bestechungssumme gezahlt hatte. Letzteres war Roby einmal passiert; dafür war man in einer Bande. Damals hatte Torque noch genug Geld gehabt, um ihn auszulösen. Die guten, alten Zeiten.
Der zweite Typ waren die Zellen im Kreisgefängnis der Stadt, dort wurde man bis zu zwei Jahre eingekerkert. Sie waren etwas sauberer – was daran lag, dass die Insassen sie beständig putzen mussten – und man bekam Mahlzeiten, soweit die synthetische Pampe als Mahlzeit durchging. Verprügelt wurde man auch hier. Roby hatte die zweite Variante ebenfalls kennengelernt. Anderthalb Jahre hatte er gesessen für minderschweren Raub.
Wäre es jedoch nicht seine erste Verurteilung gewesen, hätte man ihn vor die Wahl gestellt: Exekution oder Rekrutierung. Bei der dritten Zellenvariante handelte es sich um die Todeszellen in einem der Exekutionszentren. Wie es dort aussah, wusste Roby nicht, und er wollte es auch nicht herausfinden.
Als er erwachte, lag er in einer Zelle der Kategorie eins, und die Gesellschaft war nicht so schlimm, wie er es erwartet hatte: Sie bestand neben Chink und Slap nur noch aus zwei schnarchenden Stadtstreichern, die hier ihren Rausch ausschliefen. Es war dunkel, also war der Tag noch nicht angebrochen – normalerweise ging das Licht exakt um 5:30 Uhr morgens an.
Roby orientierte sich schnell, dann richtete er sich ächzend auf. Durch die Gitter der Tür schimmerte etwas Licht. Eine normale Polizeistation.
Er hatte böse Kopfschmerzen. Und er hatte blaue Flecken. Wie auch immer es zu ihrer Verhaftung gekommen war, offensichtlich war jemand sauer auf ihn gewesen – oder hatte sich aus Langeweile die Zeit mit ihm vertrieben.
Roby wusste, was jetzt passieren würde. Chink würde für minderschweren Raub verurteilt werden, und die Bande war so pleite, dass sie ihn nicht würde auslösen können. Chink würde die Zelle der Kategorie zwei kennenlernen. Slap und er würden vom Richter vor die Wahl gestellt werden: Exekution oder Eintritt in die Streitkräfte. Sie lagen noch unterhalb der Altersgrenze. Roby besann sich. Ja, zwei Jahre älter, und er hätte die Wahl nicht mehr. Dann wäre die Todeszelle die einzig mögliche Konsequenz gewesen.
Halb in Gedanken versunken, bemerkte er gar nicht, wie die Zellentür geöffnet wurde. Alle Insassen schreckten auf, auch Slaps Bewusstlosigkeit war schwach genug geworden, dass sein über Jahre antrainiertes Alarmsystem anschlug. Er fuhr aus dem Schlaf und zuckte instinktiv zurück, als einige vierschrötige Polizisten, bewaffnet mit elektrischen Schlagstöcken, die Zelle betraten. Roby ahnte, dass dies das Frühstück sein würde. Schläge wurden hier als angemessener Ersatz für Nahrung angesehen.
Stattdessen riss ihn einer der Männer hoch und schleifte ihn kommentarlos hinaus. Roby wehrte sich nicht, das wäre Kraftverschwendung gewesen. Er ließ sich willenlos in ein schäbiges Zimmer führen, dessen Funktion er sofort erkannte: Es war das Anwaltszimmer. Die Tatsache, dass er hier war, verdankte er seinem Vorstrafenregister. Er bekam einen Anwalt zugewiesen, weil ihm die Exekution blühte.
Anwälte, das wusste Roby, waren in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger als bezahlte Anwerber der Streitkräfte. Wen auch immer man ihm schicken würde, derjenige hatte absolut kein Interesse an einem Freispruch oder einer Strafminderung.
Er hatte eine Quote zu erfüllen und eine Prämie zu kassieren.
Es dauerte keine fünf Minuten, dann trat ein untersetzter Mann in den Raum. Er trug ein breites Grinsen, eine wallende Frisur, die nur durch Haarspray in Form gehalten werden konnte, sowie eine schäbige Aktentasche. Aus dieser holte er zu Robys Erstaunen Papier und Bleistift hervor. Dieser Mann lebte offenbar im letzten Jahrhundert. Sie hatten ihm irgendeinen Provinzadvokaten geschickt, der den Besuch bei einer Mätresse nutzte, um sich ein paar schnelle Kredite dazuzuverdienen.
Roby war schon vorher ohne Hoffnung gewesen, aber das versetzte ihm jetzt doch einen Schlag.
Dieses Grinsen war penetrant.
»Robert Juri Ashwell«, begann der Anwalt nach einem Blick auf eine Unterlage. »Mein Name ist Ol Joks und ich wurde Ihnen vom Bezirksgericht als Anwalt zugeteilt.«
Er sah Roby forschend an. »Verfügen Sie über ausreichend Geldmittel, um sich selbst einen anderen Rechtsbeistand zu suchen, dann teilen Sie mir dies bitte jetzt mit.«
Roby schnaubte. Wer genug Geld hatte, überwies es direkt an den zuständigen Staatsanwalt. Niemand hielt sich dann noch lange mit Anwälten auf. Deswegen waren 90 % derjenigen, die in diesem Beruf arbeiteten, auch nur schmierige Wadenbeißer, die die Krümel aufsammelten, die das System ihnen auf den Boden warf.
»Gut!« Joks lächelte sonnig. »Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir eine Hinrichtung werden verhindern können, mein Freund. Sehr zuversichtlich. Ich habe große Erfahrung in derlei.«
Das glaubte ihm Roby aufs Wort.
»Die Anklage lautet: ›Einbruch und schwerer Diebstahl‹. Außerdem: ›Widerstand gegen die Staatsgewalt‹.«
Roby grinste. »Widerstand, ja? Ich wurde durch ein Alarmsystem mit Gas betäubt.«
Joks schaute mit scheinbarer Sorgfalt auf seine Papiere. »Hier habe ich die eidesstattliche Zeugenaussage von zwei Polizisten, nach der Sie sich heftig gewehrt hätten. Beleidigungen hätten Sie ausgestoßen.«
Roby schüttelte nur den Kopf. Da wollte man offenbar ganz auf Nummer sicher gehen.
Joks warf seine Stirn in sorgenvolle Falten. Er faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch und sah aus, als wolle er gleich eine Predigt halten. Es war deutlich erkennbar, dass ihm der Verfall von Moral und Sitte sehr zu Herzen ging, er nahezu persönlich darunter litt.
»Ashwell, ich will ganz offen sein«, ölte er salbungsvoll. »Da kommen Sie nicht mehr raus. Der Staatsanwalt hat Blut geleckt. Er wird Sie und Ihre Kumpane von allen Seiten braten und dann die Todesstrafe fordern. Das ist unausweichlich.«
»Ich dachte, Sie wären zuversichtlich?«, fragte Roby. Dem Anwalt entging die Ironie der Frage entweder oder er ignorierte sie bewusst.
»Natürlich, natürlich! Wir werden Weiterungen zu verhindern wissen! Ich habe bereits einen umfassenden Schriftsatz vorbereitet!«
Roby fühlte sich nicht besser. Er wartete darauf, dass Joks endlich zum eigentlichen Thema kam.
Der Anwalt enttäuschte ihn nicht.
»Ashwell, ich sehe da einen Ausweg. Ich kann Ihr Leben retten. Vielleicht wird sogar noch was aus Ihnen. Eine Chance, wie man sie nur einmal im Leben bekommt.« Er machte eine Kunstpause. »Melden Sie sich freiwillig zu den Streitkräften. Gehen Sie auf Tentakelwacht. Helfen Sie uns, in Sicherheit und Frieden zu leben. Ihr Vorstrafenregister wird gelöscht, und nach 25 Jahren Dienstzeit kehren Sie als angesehenes und respektiertes Mitglied der Gesellschaft zurück.«
Joks versuchte, durchdringend zu schauen, aber wirkte mit seinem eher wässrigen Blick nicht sehr überzeugend. Roby seufzte.
Als ob er eine Alternative hätte.
Er lächelte schwach und nickte.
Joks war gut vorbereitet. Mit einer fließenden Bewegung holte er ein weiteres Papier aus seiner Tasche. Roby kannte es gut. Es war ein Anwerbebogen der Tentakelwacht. Er war sich sicher, dass Joks davon einen ganzen Stapel in seinem Büro liegen hatte. Schließlich stellten diese Formulare seinen Lebensunterhalt dar.
»Hier – Sie müssen nur hier unterzeichnen. Dann gibt es nicht einmal mehr ein Verfahren. Ich habe schon alles für Sie vorbereitet!« Joks grinste aufmunternd.
Roby las das Formular gar nicht erst durch. Er unterzeichnete wortlos, drückte seinen Daumen auf die vorgesehene, mit einer Spezialschicht überzogene Stelle und schob das Formular Joks zu, der es mit freudigem Lächeln einsammelte.
»Ausgezeichnete Entscheidung. Sehr gute Wahl. Ich beglückwünsche Sie. Sie werden etwas aus sich machen, dessen bin ich mir sicher. Sie sind ein aufstrebender, intelligenter junger Mann.«
Roby nickte nur. Wie aus dem Nichts tauchte ein Polizist auf. Draußen, dessen war sich Roby sicher, würde bereits ein Gleiter der Tentakelwacht warten. Noch während er sich erhob, wurde Slap hereingeführt. Sie wechselten nur einen kurzen Blick.
Joks blieb sitzen.
Der Anwalt hängte sich heute wirklich rein.
Es regnete.
Es war diese Art von Regen, die einen wirklich durchdrang.
Er war nicht einmal besonders heftig, nur sehr beständig, dicht, fast wie ein Nebel, und fiel angesichts der völligen Windstille senkrecht vom bleiernen Himmel. Es war früher Herbst und es wurde kühl.
Roby fand, dass die Farbe des Himmels sehr gut zu den grauen Betonklötzen passte, die seit gestern seine neue, wenngleich vorübergehende Heimat waren. Graue Plastikbaracken waren die größte architektonische Abwechslung neben den steinernen, quadratischen Gebäuden, in denen Seminarräume, Werkstätten, Lager und Verwaltung von »Camp 17« untergebracht waren. Roby stand zusammen mit Slap in einer Reihe von 24 Rekruten, dahinter, jeweils mit einem Abstand von exakt einem Meter, ausgerichtet an ausgewaschenen Bodenmarkierungen, fünf weitere Reihen. Der Exerzierplatz war groß, weitläufig; auf dem nassen Asphalt schimmerten Ölspuren. Alles machte einen sauberen, aber extrem trostlosen Eindruck, was auch Robys eigenem Zustand entsprach. Sie alle, zwölf Delinquenten aus seinem Bezirk in einem Transport, waren nach ihrer Ankunft am vorhergehenden Abend als Erstes entlaust und desinfiziert worden. Man hatte ihnen Säuberungsflüssigkeiten verschiedener Natur in alle Körperöffnungen gespritzt, eine Prozedur, an der die verantwortlichen Sanitätssoldaten offensichtlich ungeheures Vergnügen empfunden hatten. Dass die Ausbildungscamps nicht nach Geschlechtern differenzierten, mochte dazu beigetragen haben, dass für jeden und jede etwas dabei gewesen war.
Danach waren ihnen in den Plastikbaracken einfache Plastikliegen zugewiesen worden, je ein Plastikschrank, eine aus Kunstfasern bestehende Trainingsuniform und eine Plastikdecke, die Robys Haare im Schlaf statisch auflud. Nicht, dass er davon noch viele hatte: Sein Kopfhaar war vielleicht fünf Millimeter lang, und im Zuge der Desinfizierung waren ihm Achsel- und Schamhaar rasiert worden.
Auch das hatte vielen sehr viel Freude bereitet.
Ihnen war eingeschärft worden, sich nicht zu bewegen und kein Wort zu sagen, ehe sich nicht ein Vorgesetzter an sie wandte. Roby hatte beschlossen, diese Anordnung auf das Genauste auszuführen, denn als ein anderer Rekrut sich die Stoppel im Schritt gekratzt hatte, war er herausgerufen und mit einem Elektrostab berührt worden. Der arme Kerl hatte sich eine Minute schreiend auf dem Boden gewälzt, Darm und Blase entleert und war dann in die Sanitätsstation geprügelt worden.
Roby blickte starr nach vorne.
Er erkannte mehr aus den Augenwinkeln, wie schließlich eine Gruppe von Unteroffizieren vor ihnen Aufstellung nahm. Einer war ein gedrungener, kräftiger Mann mit roter Gesichtsfarbe. Er trug die Abzeichen eines Sergenten. Roby kannte die alten Kriegsfilme, in denen die Freuden des Bootcamps dramaturgisch ausgewalzt wurden, und er war sich sicher, dass die kommenden Minuten aus wildem Geschrei und sinnlosen Provokationen bestehen würden, aus ungerechten Bestrafungen und aus wüsten Beleidigungen.
Er wappnete sich.
Der Mann baute sich vor ihnen auf und betrachtete die Reihe der Rekruten.
Dann öffnete er seinen Mund.
»Leute, ihr tut mir echt leid.«
Seine Stimme war angenehm sanft, ihr fehlte die Schärfe, die Roby erwartet hatte. Er spürte, wie sich die Rekruten neben ihm etwas entspannten. Sofort ging in seinem Kopf eine Alarmglocke los. Er blieb so steif und angestrengt stehen, wie es ihm nur möglich war, den Blick starr nach vorne gerichtet.
»Ihr alle seid Todeskandidaten und habt euch das Leben dadurch erkauft, dass ihr den Streitkräften beigetreten seid. Doch das ist kein guter Tausch.«
Der Mann machte einen Schritt nach vorne, damit ihn ja auch jeder gut verstand.
»Die Delinquenten bekommen, wenn sie die Ausbildung überleben, die miesesten Jobs. Sie werden im Regelfalle nicht befördert, egal wie sehr sie sich anstrengen. Ich glaube, mir ist einmal ein Caporal begegnet, der als Delinquent angefangen hat. Der ist das auch nur geworden, weil er bei einem Unfall einem Offizier das Leben gerettet hat. Das war es dann. Ihr werdet 25 Jahre Dienstzeit in erbarmungswürdigen Zuständen am Arsch dieses Sonnensystems verbringen, und das mit nur einem albernen Taschengeld an Sold. Dann wird man euch auf dem Scheißhaufen, aus dem ihr entstiegen seid, wieder zurückwerfen. Die meisten von euch werden danach darin ertrinken.«
Der Sergent wirkte bedrückt. Roby nahm ihm das keine Sekunde ab.
»Ich hätte mich ja für die Exekution entschieden«, sagte er laut. »Das wäre die angenehmere Alternative gewesen. Andererseits seid ihr offenbar harte Jungs und hängt am Leben. Kann sein, dass ihr das hier tatsächlich überlebt. Ich frage mich nur, wozu eigentlich?«
Jemand lachte leise. Der Sergent tat so, als habe er es nicht gehört. Roby war sich sicher, dass er es sehr wohl registriert hatte. Robys Nackenmuskeln schmerzten, so sehr war er um Regungslosigkeit bemüht.
»Es gibt eine winzige Ausnahme, die auch für euch Delinquenten gilt«, sagte der Sergent schließlich. »Wir werden jetzt gleich den Test machen. Die Streitkräfte sind ständig auf der Suche nach NeuroLAN-Controllern, die die großen Mechs und Abfangroboter, die interplanetaren Abwehranlagen und Roboterstationen kontrollieren. Den meisten Menschen brennen dabei schnell die Synapsen durch. Controller werden nicht trainiert, sie werden geboren, das haben wir schmerzhaft feststellen müssen. Wer den Test besteht, wird Controller, und da gelten andere Regeln. Controller sind die Besten, eine auserlesene Elite, und sie genießen alle Privilegien. Ich könnte jetzt sagen: Strengt euch an! Aber das ist sinnlos. Man ist einer oder man ist keiner. Ihr habt darauf keinerlei Einfluss.«
Der Sergent wandte sich den anderen Unteroffizieren zu. »Teilen Sie die Rekruten in Testgruppen ein. Das Zentrum ist benachrichtigt und die Experten stehen bereit. Sorgen Sie dafür, dass alle gut verpflegt werden und aus dem Regen herauskommen. Die Testergebnisse werden mir unverzüglich vorgelegt.«
Der Sergent drehte sich wieder den Rekruten zu. »Sie da! Vortreten!«
Er wies auf einen Rekruten. Roby ahnte, dass es derjenige gewesen war, der eben gelacht hatte. Der Mann, nun gar nicht mehr amüsiert, trat unsicher vor.
Der Sergent lächelte begütigend, fast väterlich.
»Beten Sie, dass Sie den Test bestehen, Rekrut. Denn wenn nicht, werden Sie nur noch darum beten, niemals geboren worden zu sein!«
Er hatte es sanft und aufmunternd gesagt.
Der Rekrut wurde kreidebleich.
Roby gratulierte sich selbst.
Die alten Filme waren doch für etwas gut.
»Setzen Sie sich da hin.«
Roby tat wie ihm geheißen. In einem lang gestreckten, weiß gekachelten Raum stand eine Batterie von Sesseln nebeneinander. Davor war ein Holograf angebracht, der dreidimensionale Projektionen zeigte. Slap nahm neben Roby Platz und warf seinem Kumpanen einen verwirrten Blick zu. Hinter jedem Sessel stand ein Typ in einem weißen Kittel, der aus jeder Pore »evil scientist« ausdünstete.
»Setzen Sie das auf!«
Ihm wurde eine Haube aus einem dünnen, metallartigen Stoff gereicht, an der keine sichtbaren Anschlüsse angebracht waren. Roby schob sie auf den kurz geschorenen Schädel. Er hatte ein kühles Gefühl erwartet, doch die Haube war angenehm warm und schmiegte sich an.
»Legen Sie die Handflächen hier hin!«
Die Sessellehnen endeten in handgroßen Scheiben, die aus einer Art Milchglas zu bestehen schienen. Als Roby seine Handflächen darauf ausbreitete, spürte er, dass auch sie warm waren. Der Kittel legte Fesseln um seine Handgelenke.
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Es wird nicht wehtun.«
Roby glaubte hier niemandem ein Wort, dieser Art von Typen schon gar nicht.
»Schauen Sie in den Holografen.«
»Was muss ich tun?«
»Gar nichts. Der Test erfordert keine Handlungen von Ihnen. Konzentrieren Sie sich auf die Darstellung und lassen Sie Ihr Unterbewusstsein den Rest machen. Wir messen nur. Entspannen Sie sich. Es dauert nicht lange, keine fünf Minuten.«
Roby schaute auf den Holografen. Dort erschienen plötzlich geometrische Formen, die dem Anschein nach ziellos durch den Raum glitten. Sie hatten unterschiedliche Farben, waren von unterschiedlicher Größe und einige trugen Muster, die sich abwechselten. Unwillkürlich versuchte Roby, ein Muster zu erkennen, gab das aber schnell wieder auf. Tatsächlich wirkte die Darstellung nach kurzer Zeit etwas langweilig.
Dann wurden die Formen durch Lichteffekte ersetzt. Blitze, Wellen, Helligkeitsveränderungen, wieder ein Chaos, das Roby nicht zu durchschauen vermochte. Alles erschien ihm sinnlos und wenig aufregend. Dennoch beherrschte er sich und starrte weiter auf die Darstellung. Es war besser, den Anweisungen zu folgen, als möglicherweise die Wiederholung des Tests zu erzwingen und die Wut des sanft sprechenden Sergenten auf sich zu ziehen.
Dann entstand ein Bild, das endlich sinnvoll erschien. Ein dreidimensionales Raster, darin sich bewegende Punkte mit eingeblendeten Vektoren, wie ein Radarbild oder eine Systemdarstellung aus einem taktischen Computerspiel. Roby kannte solche Spiele. Sofort versuchte er herauszufinden, wer die Guten und wer die Bösen waren, aber es schien, als wolle hier niemand kämpfen. Die Leuchtpunkte wechselten zudem ihre Farben und Richtungen völlig willkürlich. Erneut scheiterte Roby in seinem Bemühen, ein Muster zu erkennen, und sein Interesse erlahmte.
Aus den Augenwinkeln erkannte er, wie der Kittel auf einem Pad einige Notizen machte. Seinem Gesichtsausdruck war nicht zu entnehmen, ob er mit den Ergebnissen seines Probanden zufrieden war oder nicht.
Wahrscheinlich war es ihm völlig egal.
Die Testreihe setzte sich noch eine Weile fort. Was nach Aussage des Kittels nur wenige Minuten in Anspruch nehmen sollte, zog sich bei Roby in die Länge. Das hatte sicher auch etwas mit seiner subjektiven Wahrnehmung des Vorganges zu tun, denn er langweilte sich bei der Prozedur. Aber als die anderen Versuchskaninchen ihre Sessel bereits verlassen hatten und eine neue Gruppe Platz nahm, saß er noch immer.
Schließlich wurde er erlöst, die Fesseln wurden geöffnet und er durfte die Haube abnehmen. Der Kittel, der mittlerweile eher verwirrt als unbeteiligt wirkte, führte ihn in ein schmuckloses Büro und hieß ihn, sich zu setzen.
»Rekrut Ashwell, Ihre Testergebnisse lassen mich zu dem Schluss kommen, dass Sie für die Tätigkeit eines Controllers nicht geeignet sind.«
»Und es hat so lange gedauert, bis Sie das herausgefunden haben?« Seine Frage klang eine Spur zu aufsässig, aber der Kittel war offenbar kein Militär, zumindest nicht in dem Sinne wie der Sergent.
»Ja, wir haben solche Fälle manchmal. Wir entscheiden uns dann gegen den Einsatz als Controller, weil uns das Risiko zu groß ist.«
»Was sind: ›solche Fälle‹?«
Der Kittel seufzte und schaute auf seine Aufzeichnungen.
»Deswegen führen wir ja dieses Gespräch. Ihre Werte sind borderline. Ein paar Grad weiter über der Benchmark, und wir hätten Sie positiv getestet. Da die Messungen nur bedingt exakt sind, mussten wir uns etwas länger mit Ihnen befassen, um Klarheit zu erlangen. Die Mehrzahl Ihrer Werte liegt unterhalb der Mindestanforderungen. Dennoch …«
Er schaute Roby in die Augen. »… dennoch kann es sein, dass Sie auf NeuroLAN anders reagieren als normale Rekruten.«
»Da ich negativ getestet wurde, bekomme ich doch keinen Anschluss, oder?«
»Das hat nichts mit dem Test zu tun. NeuroLAN ist für alle Unteroffiziere ab einem bestimmten Dienstgrad sowie für alle Offiziere vorgesehen. Nur untere Ränge erhalten die Operation nicht, da sie niemals in die Verlegenheit kommen, taktische Entscheidungen treffen zu müssen. Sagt zumindest die Theorie. Nein, bei Ihnen geht es mir um etwas anderes. Es ist die Frage zu klären, ob Sie ein Controller sind oder werden könnten. Sie sind allerdings nur an der Grenze der notwendigen Intuition, fast ein Indigo.«
»Indigo?«
»So nennen wir Leute, die über ein sehr starkes Maß an Einfühlungsvermögen verfügen, das es ihnen ermöglicht, die Muster und Datenmengen einer Vollverbindung mit Kontrollzugriff zu meistern. Sie sind hart an der Grenze, wie gesagt. Es kann dazu führen, dass der normale Zugriff Ihnen andere Herausforderungen bereitet als dem durchschnittlichen Soldaten.«
»Was muss ich mir darunter vorstellen?«
Der Kittel hob die Schultern.
»Das ist bei jedem anders. Ich werde in Ihre Akte einen Vermerk schreiben, damit der medizinische Dienst ein Auge auf Sie hat. Kann sein, dass man Sie regelmäßig testen wird. Nichts weiter Schlimmes.«
Der Kittel legte das Pad zur Seite.
»Das wäre dann alles, Rekrut Ashwell.«
»Wie viele haben Sie bisher positiv getestet?«
»Aus Ihrer Gruppe nur einen. Georg Workman.«
Slap!
Roby erhob sich und verließ das Testzentrum. Er würde Slap, wenn er das richtig verstanden hatte, nicht so bald wiedersehen, vielleicht sogar nie wieder. Das machte ihm etwas zu schaffen. Slap war ein Freund. Und hier das einzige vertraute Gesicht. Jetzt war er allein.
Er hatte gehofft, draußen auf dem Exerzierplatz Slap noch einmal zu begegnen, doch er war offenbar direkt aus dem Testzentrum abberufen worden.
Roby beobachtete, wie zwei Militärpolizisten eine blutig zusammengeschlagene Gestalt in Richtung Lazarett schleppten. Das Blut vermischte sich mit dem nassen Betonboden zu einer rötlich braunen Spur, die nur langsam weggewischt wurde. Roby erkannte den Mann.
Es war der, der vorhin gelacht hatte.
Offenbar war er tatsächlich durch den Test gefallen.
Slap wurde in einen angenehm ausgeleuchteten Raum geführt. Der Flug in dem abgedunkelten Transporter hatte nicht allzu lange gedauert, etwa eine halbe Stunde. Es hatten nicht besonders viele der Rekruten den seltsamen Test bestanden. Außer Slap befanden sich nur zwei weitere Delinquenten im Gleiter, die er aber nicht kannte, eingesunken in viel zu tiefe, butterweiche Polstersitze, deren Stoff bereits etwas schäbig wirkte. Der eine heiß Rolf und hatte kein Wort herausgebracht, ein düsterer Mann, mit einer dünnen Nase und einem Blick, der in Slap gar nicht erst die Frage aufkommen ließ, warum es ihn hierher verschlagen hatte. Der andere hieß José und war kaum achtzehn Jahre alt, ein nervös wirkender Junge mit reichlich Akne im Gesicht, fettigen Haaren und feinen, nervigen Fingern. Er meinte, dass all dies doch ein großer Glücksfall für sie sei, das aber mit einem fragenden Unterton, als ob er sich von Slap Trost erhoffte.
Slap war kein Kindermädchen.
Er nickte José nur ein oder zweimal zu, ließ dessen Redefluss über sich ergehen und war froh, als sie gelandet waren. Wachsoldaten begleiteten sie in ein niedriges Gebäude. Slap erhaschte einen Blick auf das Gelände. Ein militärischer Raumhafen, kein Zweifel. Das Militärshuttle auf dem Rollfeld stieß Dampf aus und die Mannschaft umkreiste es zu einem Außencheck. Slap ahnte nichts Gutes.
Im Inneren des Gebäudes wurde sie aufgefordert, die Uniform zu wechseln. Der kratzige Stoff wurde gegen eine Art Fliegermontur ausgetauscht. Dann baute sich eine Offizierin vor ihnen auf. Slap kannte die Dienstgrade, sie gehörten zu dem, was jedem in den fünf verpflichtenden Schuljahren eingeimpft wurde. Die junge Frau mit dem aschblonden Haar und den grünlich blauen Augen, etwas zu pummelig, um in der Uniform noch scharf auszusehen, war ein Aspirant und somit völlig grün hinter den Ohren. Um die Schläfen trug sie die schimmernden Flächen des NeuroLAN-Implantats. Ob sie ein Controller war, konnte Slap daraus aber nicht ableiten.
»Männer, ich darf gratulieren! Sie wurden positiv getestet und werden bald einer Eliteeinheit der Tentakelwacht angehören. Wir Controller sind das Rückgrat der Streitkräfte. Wenn die Aliens zurückkehren, werden wir diejenigen sein, die der Menschheit das Überleben sichern.«
Sie schaute auf die Uhr.
»Das Shuttle draußen wird Sie zur Marsbasis bringen, dort liegt das Ausbildungszentrum. Ich vermute, von Ihnen ist noch nie jemand im All gewesen?«
Sie lächelte bei dieser Frage. Natürlich nicht. Das All war die Domäne des Militärs sowie der vom Militär kontrollierten Handelshäuser. Nur Mitglieder der Streitkräfte verließen die Erde.
»Es liegen ausreichend Kotztüten bereit«, erklärte sie. José stöhnte. Rolf sagte nichts. Slap entspannte sich. Er war zwar noch nie im All gewesen, hatte aber einen starken Magen und außerdem seit dem schleimigen Dreck, den sie hier Frühstück nannten, nichts mehr gegessen. Er hatte durchaus die Absicht, seine Würde zu bewahren.
»Sie werden Annehmlichkeiten genießen, denn Ihre Begabung ist wertvoll. Von 1000 getesteten Personen verfügen bestenfalls gerade einmal fünf oder sechs über das notwendige Talent, und selbst diese scheitern manchmal an den Herausforderungen der Ausbildung und werden dann zurückgestuft, falls sie es überleben. Aber wenn sie es schaffen, führen sie ein gutes Leben. Bilden Sie sich aber nicht allzu viel darauf ein. Sie leben gut, solange Sie funktionieren. Es ist Ihre Leistungsbereitschaft, die Ihnen den Lebensstandard sichert. Aber das werden Sie früher oder später selbst merken.«
»Madame!« José hob zögerlich den Arm.
»Ja, Rekrut?«
»Sind Sie ein Controller?«
Für einen winzigen Moment zogen Ärger und Neid über das Gesicht der jungen Frau, für Slap Antwort genug.
»Nein, Rekrut. Aber ich habe die Ausbildung überlebt, obgleich ich gescheitert bin, und habe das Privileg, die neuen Controller zu begleiten und zu empfangen.«
Slap war sich nicht sicher, ob sie es wirklich als Privileg empfand. Er hielt sich aufrecht, stand starr da und sagte nichts. José murmelte etwas.
Es gab keine weiteren Fragen und sie wurden nach kurzer Einweisung in das Shuttle getrieben. Der Innenraum des Transportschiffes roch nach Schweiß und die Luft hatte zudem etwas Metallisches. Einfache Kunststoffsitze mit Gurten waren aneinandergereiht, und sie alle nahmen kommentarlos und etwas aufgeregt Platz. Die Offizierin, die sich ihnen bis jetzt noch nicht einmal mit Namen vorgestellt hatte, setzte sich wortlos in die erste Reihe. Neben ihr wollte niemand sitzen, nicht einmal der Sergent, der sie begleitet hatte.
Der Pilot meldete sich nicht. Die Funktion der Gurte war glücklicherweise selbsterklärend. Als das schwere Raumfahrzeug anrollte, um den atmosphärischen Steigflug zu beginnen – es startete wie ein Flugzeug –, war jeder sich selbst überlassen. José hatte sich natürlich neben Slap gesetzt. Dieser ahnte nichts Gutes. Es war sein Schicksal, dass sich egal, welches Transportmittel er benutzte, immer die Verrückten oder Derangierten neben ihn setzten, um ihm ihre Lebensgeschichte zu beichten oder ihn einfach als Objekt für sinnloses Gequassel zu nutzen. Slap schloss die Augen.
Das hielt José nicht davon ab, mit einer Hand Slaps Unterarm zu ergreifen. Der Griff war fest, fast schon schmerzhaft. José hatte offenbar Flugangst, die ideale Voraussetzung für eine Dienstzeit im Weltraum. Slap wollte es ihm übel nehmen, konnte es aber nicht: Die wenigsten Normalbewohner der Erde hatten die Gelegenheit, jemals in ihrem Leben ein Flugzeug zu besteigen. Mobilität wurde durch die Regierung nicht gefördert, lange Reisen waren beschwerlich, da man die nur lose miteinander verbundenen, unterirdischen Bahnsysteme dazu verwenden musste. Diese Bahnen fuhren zwar oft, aber oft auch nur langsam, und die zusammenhängenden Streckenabschnitte waren kurz. Das unterirdische Tunnelsystem war vor allen Dingen als Operationsebene für die Tentakelwacht angelegt worden, sollten die gefürchteten Aliens eines Tages tatsächlich zur Erde zurückkehren, wie die offizielle Propaganda immer wieder auf sie einhämmerte.
Slap vermochte nicht so recht daran zu glauben, wie so viele seiner Generation. Dass er nun ausgerechnet die Erde gegen den vermeintlichen Feind zu verteidigen hatte – und das mehr oder weniger für den Rest seines Lebens –, fand er durchaus ironisch.
Das Shuttle schnellte vorwärts und nahm rasant Beschleunigung auf. Dann hob es sich in die Lüfte. Der Magen wanderte in den Keller. Slap ahnte, auch ohne hinzusehen, dass Josés Hand deswegen von seinem Unterarm verschwunden war, weil er beide Hände benötigte, um nach der Kotztüte zu suchen.
Er hoffte, dass die Suche von Erfolg gekrönt sein würde.
Ein würgendes Geräusch neben ihm bestätigte seine Befürchtung. Ein stechender Geruch wanderte durch die Kabine, als zwei weitere Rekruten ihr Innerstes nach außen kehrten. Es knisterte. Slap öffnete seine Augen nicht. Ja, José hatte die Kotztüte gefunden. Slap war dankbar für die kleinen Freuden des Lebens. Obgleich das Shuttle sicher über künstliche Gravitation verfügte, wusste man bei diesen alten Kisten nie, ob mal etwas ausfiel. Herumfliegende Brocken von Halbverdautem in der Schwerelosigkeit – nein, auf diese Art von Erfahrung war Slap nicht scharf. Er betete, dass die alte Mühle ihren Dienst tun würde. Er konnte schließlich nicht davon ausgehen, dass José die erbeutete Tüte auch ordnungsgemäß verschließen würde.
Der Flug dauerte nicht lange.
Sobald sie das Schwerefeld der Erde verlassen hatten, sprang die Gravitationskontrolle ein. Der Flug wurde angenehm sanft und Slap konnte einen ausgiebigen Blick auf die schimmernde Kugel der Erde unter ihm werfen. Von hier oben merkte man gar nicht mehr, was für ein Drecksloch das eigentlich war. Er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder einen Fuß auf ihre Oberfläche setzen würde.
Es knackte und die gelangweilte Stimme des Piloten erklang. »In einer halben Stunde werden wir die L5-Station erreicht haben. Von dort werden Sie auf den interplanetaren Transport Richtung Mars gebracht. Auf L5 haben wir etwa eine Stunde Aufenthalt, aber es wird keine Möglichkeit für eine Besichtigungstour geben. Bleiben Sie bitte einfach im Wartebereich sitzen. Es gibt dort Toiletten und Nahrungsautomaten.«
Dann war die Ansage auch schon beendet.
Fast genau dreißig Minuten später glitt das Shuttle in den großen Hangar der L5-Station. Von hier und nicht vom völlig abgeriegelten militärischen HQ auf dem Mond wurde der gesamte Verkehr zwischen der Erde und den Kolonien sowie Außenstationen abgewickelt. Außerhalb der Erde gab es nur noch auf dem Mars sowie auf dem Thetis-Habitat eine nennenswerte zivile Bevölkerung. Der Mars war in manchen Dingen sogar eine bessere Lebensumwelt als die Erde, war der Planet während der Tentakelinvasion doch weitgehend von Zerstörungen verschont geblieben. Man hatte dort auch sehr stark vom ökonomischen Aufschwung des Wiederaufbaus profitiert. Nach offiziellen Informationen lebten dort mittlerweile rund 25 Millionen Menschen unter großen Habitatkuppeln. Die gigantischen Terraformtürme, die die Atmosphäre veränderten, waren zwar schon seit gut 100 Jahren im Einsatz, aber nach allgemeiner Schätzung würde es mindestens weitere 200 Jahre dauern, bis die Menschen die Kuppeln würden verlassen können. Das große Thetis-Habitat wiederum bestand aus einer großen Forschungs-, Industrie- und Militärstation, die man nach dem Tentakelkrieg errichtet hatte. Dort waren die besten Köpfe des Systems zusammengefasst und dort wurde mithilfe der Ressourcen der äußeren Welten und Monde all das produziert, was der gigantische Militärapparat der Sphäre zu benötigen meinte. Die Ressource, die am meisten fehlte, das wusste jeder, waren geeignete Rekruten. Und Slap war dermaßen geeignet, dass selbst das rüde System der Sphäre ihm offenbar mit so etwas wie einem Mindestmaß an Respekt zu begegnen schien.
Slap hoffte, dass über Roby ähnlich gute Sterne wachen würden. Er ging nicht davon aus, seinen alten Freund jemals wiedertreffen zu können.
Das Shuttle wirbelte einmal um die eigene Achse, um in die richtige Position für den Landevorgang zu kommen. Die Sterne schwirrten nur so über die Bullaugen, obgleich man von der eigentlichen Bewegung lediglich ein sanftes Zittern spürte.
José würgte wieder lautstark in seine Tüte.
Slap war für die Schwerkraft sehr dankbar.
Roby würgte und erbrach sich in den Schlamm. Die Erschöpfung, die er fühlte, war etwas, was er so noch nie in seinem Leben erlebt hatte. Die Tatsache, dass die Ausbilder mit ihren Elektrostäben regungslos danebenstanden und jeden, der zusammenbrechen drohte, gnadenlos mit den Waffen traktierten, bis er entweder bewusstlos war oder sich wieder aufraffte, hatte sicher dazu beigetragen.
Hier jedoch war kein Ausbilder. Dieser Teil des Kurses lag in einem Gehölz, nicht in direkter Sichtlinie ihrer Peiniger. Roby gönnte sich einige Augenblicke der Ruhe. Sein Herz pumpte schmerzhaft in seinem Brustkorb. Die Galle stand in seiner Kehle. Er streckte die Zunge heraus und ließ Regentropfen in seinen Mund prasseln. Er trug eine gefüllte Wasserflasche an seinem Gürtel, aber in den bisherigen drei Stunden ihres Trainings im Freien hatte er nicht einmal die Erlaubnis erhalten, auch nur einen Schluck daraus zu trinken.
Der Regen war erfrischend. Roby legte den Kopf in den Nacken.
Eine Sekunde später lag er schreiend und zuckend im Schlamm, spritzte mit seinen erratischen Arm- und Beinbewegungen Dreck in alle Richtungen. Der Elektrostab hatte ihn direkt am Arsch getroffen, an den empfindlichen Nerven, die an seinen Pobacken zusammenliefen. Tränen vermischten sich mit Regen und Matsch, als sein hochgepeitschter Körper langsam wieder zur Ruhe kam.
Ein Gesicht beugte sich über ihn, bar jeder Emotionalität. Roby hätte es besser vertragen, wenn ihn diese Männer anschreien würden. Aber sie zeigten nur eine kalte Verachtung, als ob sie das Schicksal der Rekruten nicht im Geringsten interessiere und sie nur eine lästige Pflicht absolvieren würden. Wahrscheinlich war das auch so. Für die Ausbilder waren die Delinquenten bloß eine Art von Material, Menschenmaterial, und zwar von minderer Qualität.
Roby stützte seinen Oberkörper auf. Er fühlte diese tiefe, alles umfassende Schwäche in sich, eine Art von Fatalismus, der ihm neu war. Da war keine Kraft mehr, nichts, was ihn aufrecht erhielt. Er sah, dass sich der Ausbilder vor ihm auf einen Baumstumpf gehockt hatte. Er spielte mit seinem Elektrostab und schaute auf Roby hinunter.
Dann sprach er.
»Wissen Sie, Rekrut, es gibt verschiedene Arten von Dreck.«
Roby starrte ihn fragend an.
»Es gibt Dreck, der sich nach einem harten Marsch in jede Pore unserer Haut bohrt. Dreck, den wir mit uns herumtragen nach einem langen Tag schwerer Arbeit. Ehrlichen Dreck.«
Roby grunzte etwas. Sollte der Trottel doch ruhig reden. Er war für jeden weiteren Augenblick, in dem er sich ausruhen konnte, ausgesprochen dankbar.
»Dann gibt es Dreck, den andere auf uns spritzen. Weil sie unachtsam waren oder weil es ihnen egal ist. Weil sie es lustig finden. Diese Art von Dreck ist ein Ärgernis, eine Provokation oder ein notwendiges Übel. Kommt ganz darauf an.«
Roby sagte nichts, versuchte aber, aufmerksam auszusehen, damit der Ausbilder weitersprach. Rede nur, dachte er. Rede, rede, rede und lass mich hier in meinem gemütlichen, nassen, weichen Dreck nur noch ein Weilchen in Ruhe.
Der Mann erhob sich und machte einen Schritt auf Roby zu. Dessen Bauchmuskeln spannten sich unwillkürlich an.
»Dann gibt es menschlichen Dreck. Wesen, die nie etwas wert waren und nie etwas wert sein werden. Menschen, weniger wert als Scheiße. Menschen, bei deren Geburt man sie selbst und ihre Mutter sofort hätte erschießen müssen. Weniger als Dreck. Weniger als Abschaum. Nichtswürdig und nichts wert. Dreck wie du, Rekrut.«
Ohne jeden Gesichtsausdruck hob der Ausbilder den Elektrostab.
Roby wusste nicht, wie ihm geschah. Er fand diese Kraft in sich, die er längst verloren geglaubt hatte. Er fühlte, wie sie in ihm aufwallte, einen kalten Zorn, eine wilde, fatalistische Entschlossenheit, die alles hinter sich ließ und der jede Konsequenz egal war.
Eben noch im Matsch, stand er nun auf den Füßen. Der Ausbilder sah ihn überrascht an, hob den Elektrostab, um sich sein Ziel neu zu suchen. Dann stand Roby hinter ihm, setzte ein, was er in den Jahren auf der Straße gelernt hatte. Das wurde einem beim Militär nicht beigebracht, das lernte man, wenn man schon als Sechsjähriger entweder verprügelt wurde oder jemanden verprügelte.
Roby dachte nicht nach.
Er handelte einfach, instinktiv, geleitet von all der Wut und Frustration, die er in sich trug.
Er griff schnell zu, sauber, ohne Zeitverlust. Eine Hand am Kinn, das rechte Knie in den Rücken, die andere Hand kontrollierte den Arm mit dem Elektrostab. Eine kraftvolle Bewegung, effizient in ihrem dosierten Einsatz der Muskeln, präzise.
Ein ebenso präzises Knacken, als die Wirbelsäule brach; der Körper vor ihm erschlaffte und fiel in den nassen Dreck, Schlamm spritzte zur Seite.
Roby starrte auf den Leichnam des Ausbilders vor ihm. Ganz langsam, fast zögerlich, kehrte sein Verstand wieder zurück, klopfte an die durch Wut und Mordlust verschlossenen Türen. Die Welle der Gefühle ließ nach. Er zitterte. Roby fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Er hatte bereits getötet, und es machte ihm sicher keinen Spaß. Er war im Grunde ein mehr defensiver Mensch. Aber die Übelkeit kam nicht von dem, was er getan hatte, sondern in Ausblick auf das, was ihn jetzt erwartete.
Sicher, ja, er hatte im Affekt gehandelt.
Aber wen interessierte das hier?
Roby war bloß Menschenmaterial, das entsorgt werden konnte, wenn es den Anforderungen nicht genügte. Er war lediglich ein Ding, lebend ja, atmend, aber doch nur Verfügungsmasse einer militärischen Maschinerie. Wer er war, das störte niemanden. Es ging darum, was er war.
Jetzt hatte er einen Vorgesetzten umgebracht, dem Anschein nach kalt und gnadenlos.
Roby sackte auf seine Knie. Er zitterte am ganzen Körper. Er sah, wie der Regen in den halb geöffneten Mund des Toten strömte, der in den grauen, wolkenverhangenen Himmel starrte. Fast automatisch durchsuchte er die Taschen des Mannes, wie er es auf der Straße gelernt hatte. Er fand Ausweispapiere, Kleinkram, ein paar Münzen, die er sofort mechanisch einsteckte, und dann war da noch der Elektrostab.
Das war alles, was ihm blieb.
Nichts davon bot ihm einen Ausweg oder eine Idee fürs Überleben.
Er blickte hoch. Noch war niemand zu sehen, aber das würde sich jeden Moment ändern.
Das Übungsgelände war eingezäunt, wie das Freigehege eines Zoos. Überall standen Kameras und Wachleute. Und in diesem Zustand … Roby sah an sich hinab. Nein. Selbst, wenn es ihm gelang, das Gelände unerkannt zu verlassen, hatte er keine Chance.
Er atmete tief ein und aus. Was sollte es auch? Sein Leben war vorbei. Er …
Eine harte Faust ergriff ihn an der Schulter. Er wurde hochgezogen, herumgewirbelt. Etwas verschwommen sah er Uniformen, Militärpolizei.
Das war schneller gegangen als erwartet, dachte er.
Dann wurde er fortgezogen.
Er ließ es mit sich geschehen.
Sie verdrehten Slap die Arme auf dem Rücken, bis er vor Schmerz aufschrie. Die junge Offizierin sah dem grinsend zu. Er wusste jetzt auch endlich ihren Namen. Aspirant Estevez, Vorname: Oliviera. Sie fand, dass es nur angemessen war, sich richtig vorzustellen, ehe es zur Einweihungsparty kam.
Slap hatte andere Vorstellungen von einer Party, war aber nicht in der Situation, Aspirant Estevez alternative Vorschläge zu unterbreiten. Die beiden Muskelmänner, die ihn festhielten, wurden für ihre Gefälligkeit offenbar in klingender Münze bezahlt, anders konnte sich Slap nicht vorstellen, dass die Besatzung eines großen Raumschiffes so etwas mitmachte.
Andererseits, so korrigierte er sich, hatte er ja gar keine Ahnung, ob das hier nicht üblich war. Er wusste nur, dass es ihm nicht gefiel.