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Terry Mutig und mit viel Durchsetzungsvermögen, wächst sie in einer finsteren Welt als Waisenkind auf und landet, nach mehreren Pflegefamilien, in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche. In dieser Welt, die unerbittlich durch "Die Organisation" unterdrückt wird und für die ein Menschenleben nichts wert ist, wird Terry heimtückisch von ihren Freunden getrennt und muss sich fortan allein durchs Leben schlagen. In einem Wechselbad der Gefühle, zwischen Akzeptanz, Abneigung und Abhängigkeit, beginnt Terry nach ihrer wahren Identität zu suchen und lüftet so Stück für Stück das Geheimnis ihrer Herkunft. Ein wenig Halt in ihrem Leben findet sie mit Bella, ihrer großen Liebe, die sie auf tragische Weise wieder verliert. Und angetrieben von Rachegedanken muss Terry sich schlussendlich dem Mann stellen, der alles daran setzt, sie um ihr Vermächtnis zu bringen.
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Seitenzahl: 565
Veröffentlichungsjahr: 2025
Gisela Teufel
TERRY
…einmal Hölle und zurück
Wenn aus einer Idee etwas Greifbares wird und man endlich sieht, dass sich der Aufwand, in den zahllosen, schlaflosen Nächten und an den freien, sonnigen Tagen, mehr als gelohnt hat, dann kann man durchaus stolz auf sich sein.
© 2024 Gisela Teufel
Verlagslabel: Schreibstube Kellerberge
ISBN Softcover: 978-3-347-97037-3ISBN-E-Book: 978-3-347-97038-0
Cover-Gestaltung:
Image Creator – Nach einer Idee von Gisela Teufel
Druck und Distribution im Auftrag von Gisela Teufel:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Gisela Teufel verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von Gisela Teufel, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Terry
Mutig und mit viel Durchsetzungsvermögen, wächst sie in einer finsteren Welt als Waisenkind auf und landet, nach mehreren Pflegefamilien, in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche.
Diese Welt wird unerbittlich durch"Die Organisation" unterdrückt, für die ein Menschenleben nichts wert ist.
Terry wird eines Tages, aus unerklärlichen Gründen, heimtückisch von ihren Freunden getrennt und muss sich fortan allein durchs Leben schlagen.Und in einem Wechselbad der Gefühle, zwischen Akzeptanz, Abneigung undAbhängigkeit, beginnt sie nach ihrer wahren Identität zu suchen und lüftet so Stück für Stück das Geheimnis ihrer Herkunft.
Ein wenig Halt in ihrem Leben findet sie bei Isabella, ihrer großen Liebe, die sie auf tragische Weise verliert. Und angetrieben von Rachegedanken muss Terry sich schlussendlich dem Mann stellen, der alles daran setzt, sie um ihr Vermächtnis zu bringen.
Willkommen in der Hölle
Der Mond stand als leuchtende Kugel am Himmel und warf ein schwaches Licht auf die Straßen der Stadt. Schnelle Schritte waren zu hören, die abrupt stoppten und von schweren Atemzügen abgelöst wurden.
Im Mondschein war die Silhouette einer jungen Frau zu erkennen, die sich im Schatten der Hauswände bewegte, als hätte sie Angst entdeckt zu werden.
Es war kalt in dieser Nacht.
Sie trug ein knielanges Kleid und hatte sich in eine Decke gehüllt, die bis zu ihren Hüften reichte. Die junge Frau zitterte und man konnte ihren Atem sehen, als sie warme Luft in ihre Hände blies. Nach einer kurzen Pause wagte sie sich weiterzugehen.
Sie trug keine Schuhe. Weil sie befürchtete, dass man sie hören könnte, hatte sie diese zurückgelassen und sich mit nackten Füßen auf den Weg gemacht.
Bauchrämpfe plagten die Frau, die mittlerweile so stark waren, dass sie kaum noch aufrecht gehen konnte. An der nächsten Hausecke musste sie erneut pausieren. »Nur noch ein bisschen«, sagte sie scheinbar zu sich selbst, schob eine Hand unter die Decke und rieb ihren Bauch. Sie blickte auf und sah am Ende der Straße ein großes Gebäude. Es war das Krankenhaus. »Wir haben es gleich geschafft und dann bist du in Sicherheit.« Immer noch streichelte die junge Frau ihren Bauch. Die Krämpfe ließen etwas nach und sie wagte es, ihre Deckung zu verlassen. Sie lief die Straße entlang, steuerte auf den beleuchteten Eingang des Krankenhauses zu und schaffte es gerade noch durch die Große Schwingtür, bevor sie im Eingangsbereich zusammenbrach.
Eine Schwester, die gerade ihre letzte Runde drehte und in den Zimmern der Patienten nach dem Rechten sah, sah die Frau auf dem Boden liegen und eilte zu ihr.
»Oh mein Gott«, stieß es aus ihr heraus, als sie die junge Frau erreichte. »Was ist passiert?«
Erst jetzt, im Schein des Lichts, konnte man die Verletzungen in ihrem Gesicht sehen. Um die Augen zeichneten sich große, geschwollene Blutergüsse ab, aus ihrer Nase quoll Blut und auch die Lippen waren aufgerissen und blutig.
»Einen Arzt! Sofort!«, rief die Nachtschwester durch den langen Flur. Und während der herbeigerufene Arzt ihre Verletzungen begutachtete und eine Trage anforderte, erzählte die Frau, dass sie Alice heiße und dass sie von ihrem Mann so zugerichtet wurde, weil das Kind, welches sie in ihrem Bauch trug, nicht von ihm war.
Anfangs hatte er sich noch darauf gefreut. Bis zu dem Augenblick, als Alice sich ihrem Mann anvertraute und ihm erzählte, dass das Baby das Ergebnis einer Vergewaltigung sei. Sein bester Freund war eines Tages über sie hergefallen. Doch ihr Mann wollte keinen Bastard aufziehen.
Damit begann das Martyrium.
Immer wieder bat Alices ihren Mann das Kind wenigstens zur Welt bringen zu dürfen und es dann zur Adoption, in ein Heim, zu geben. Aber ihr er war strikt dagegen und verlangte von ihr, dass sie das Baby abtreiben lassen sollte, ansonsten übernehme er das. Und als sie sich weigerte, begann er sie zu schlagen und stieß sie gegen Möbel und Wände, in der Hoffnung, das ungewollte Ungeborene so loszuwerden. Und Alice tat alles dafür, um das Baby zu schützen.
Viele Monate ließ sie diese Tortur über sich ergehen. Bis ihr Mann an diesem Abend, wieder einmal schlecht gelaunt, von der Arbeit nachhause kam. Erst ertränkte er seinen Frust in Alkohol und anschließend ließ er dann seine Wut an Alice aus, in dem er sie schlug, zu Boden stieß und ihr dann in den Bauch trat.
Alice lag schluchzend auf dem Küchenboden und wartete, bis sich ihr Mann, mit einem weiteren Bier, ins Wohnzimmer verzog und dort schließlich einschlief. Dann nutzte sie die Gelegenheit zur Flucht. Sie schnappte sich eine dünne Decke, die auf einem Stuhl lag, warf sich diese über die Schultern und schlich sich nach draußen.
Endlich kamen ein paar Pfleger mit einer Trage. Sie legten die werdende Mutter darauf, trugen sie in einen großen Raum und legten sie dort auf einen Behandlungstisch.
Helles Licht durchflutete den Raum, alles war in sterilem Weiß gehalten und die Helligkeit brannte in Alice’ Augen. Sie war erst Anfang zwanzig, aber sie spürte, dass sich ihr leben dem Ende neigte. Sie wollte nur noch diese eine, wichtige Aufgabe beenden. Ihr Baby zur Welt bringen und ihm einen Namen geben, dann konnte sie mit allem abschließen.
Alice kniff die Augen zu, aber dieses Mal war nicht das helle Licht der Grund. Ein starker Schmerz durchzog ihren Bauch.
»Es geht los!« Eine Schwester in grünem Kittel, mit Haube und Mundschutz, strich ihr sanft über den Kopf. Alice spürte, wie ihr Bauch hart wurde. Und ein scharfer Schmerz breitete sich aus, gefolgt von einem intensiven Stechen, als sich die nächste Wehe ankündigte.
»Sie müssen pressen«, sagte der Arzt, der zwischen Alice’ Beinen stand, mit ruhiger Stimme. Und sie begann zu atmen zu pressen.
»Ich kann das Köpfchen schon sehen«, hörte sie dann den Arzt nach einer Weile sagen.
»Das machen sie sehr gut«, sagte die Schwester, die Alice zur Seite stand und strich ihr mit dem Handrücken über die Wange.
Als die junge Frau die nächste Wehe spürte, fing sie wieder intensiv an zu pressen. Schmerzlaute drangen aus ihrem Mund und schienen Alice’ Anstrengungen Nachdruck zu verleihen.
»Noch einmal kräftig pressen…« ermutigte sie der Arzt »…dann ist es geschafft.« Und die zukünftige Mutter tat, wie ihr gesagt wurde. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und presste so fest sie konnte. Plötzlich hörte sie das Weinen eines Babys. Ihres Babys.
Doch Freud und Leid liegen oft sehr nah beieinander.
»Ich bekomme die Blutung nicht in den Griff«, hörte man die besorgten Worte des Arztes. Im Raum kam Hektik auf, alle schienen durcheinander zu laufen.
»Was ist los?«, fragte Alice ängstlich. »Ist etwas mit meinem Baby? Wo ist mein Baby?«
»Es ist alles in Ordnung, machen sie sich keine Sorgen«, antwortete die Schwester mit ruhiger Stimme. Und in diesem Augenblick legte jemand etwas auf Alices Brust. Sie griff sachte, mit zitternden Händen danach und bemerkte, dass es ihr Baby war. »Ein Mädchen«, hörte sie eine Stimme sagen.
Alice sah dieses winzige, nackte Wesen, lächelte zufrieden und streichelte ihm sanft über Kopf und Rücken. »Da bist du ja endlich«, raunte sie schwach.
»Wir verlieren sie«, rief der Arzt panisch. »Die Blutung ist zu stark.«
Alice hörte diese Worte nicht, aber sie spürte, dass es an der Zeit war sich zu verabschieden. »Du bist der einzige Grund, warum ich noch lebe«, sagte sie lächelnd und streichelte weiterhin ihr Baby. »Geh deinen Weg und lass dich von niemandem davon abbringen.« Sie spürte, wie ihre Kraft mehr und mehr nachließ. »Ich werde dich immer lieben. Vergiss das niemals, meine kleine Terry«, sagte sie fast unhörbar, mit ihrem letzten Atemzug, bevor ihre Hand regungslos auf ihrem Baby liegen blieb. Der Arzt hatte es nicht geschafft das Leben dieser, viel zu jungen, Frau zu retten.
Die Schwester, die bis zum Schluss an Alice’ Seite stand, nahm das Baby an sich, wobei ihr ein goldenes Amulett, in Herzform, in die Hand rutschte. »Da bist du also, kleine Terry«, sagte sie lächelnd. »Ich glaube, dass ist für dich.« Sie streifte die Kette über den kleinen Kopf des Babys, legte das Amulett auf dessen kleinen Körper und wickelte das Baby dann in eine Decke.
In diesem Augenblick gab es einen lauten Knall, die Tür zum Behandlungszimmer sprang auf und ein Mann stand auf der Türschwelle. »Wo ist mein Baby?«, brüllte er lallend und sah in die erschreckten Gesichter der Anwesenden.
Der Arzt war der erste, der den Schreck überwand. Er holte tief Luft und trat dem Fremden entgegen. »Wer sind sie und was wollen sie hier?«
Der Mann ließ sich davon nicht beeindrucken, er stieß sein Gegenüber, mit einem Schlag gegen das Schlüsselbein, beiseite und stapfte wütend auf die Schwester zu, die das Neugeborene in den Armen hielt.
»Das ist mein Kind«, schnaufte er und griff nach dem Baby. Gerade noch rechtzeitig konnte sich die Frau von ihm abwenden, sodass er ins Leere griff.
»Oh nein! Das ist nicht ihr Kind!«, gab die Schwester festentschlossen zurück. »Denn sie sind nicht der leibliche Vater.« Auch ihr hatte man Alice’ Geschichte erzählt. »Sie wollen dieses Baby doch gar nicht. Und nun sehen sie, was sie angerichtet haben.« Sie zeigte auf Alice’ toten Körper.
Der Blick des Mannes wurde finster und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Das ist meine Frau, also gehört auch das Baby mir. Und ich werde es jetzt mitnehmen.« Sein Gesicht wurde puterrot, Wut und Anstrengung ließen die Adern an seinen Schläfen hervorquellen. Er ballte seine Hände zu festen Fäusten und trat einen Schritt auf die Schwester zu.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, umschlangen zwei kräftige Arme den Oberkörper des Unruhestifters. Der Arzt hatte sich heimlich aus dem Zimmer geschlichen und den Sicherheitsdienst informiert. Dieser packte den wütenden Mann und rang ihn zu Boden. Als er ihn fest im Griff hatte, stellte er den Raufbold auf die Beine, drückte ihn gegen die Wand und legte ihm Handfesseln an. Der Typ versuchte sich zu wehren, hatte aber keine Chance gegen den Sicherheitsmann. Und erleichtert sahen der Arzt und die Schwester, die noch immer das Baby im Arm hielt, zu, wie der Fremde aus dem Behandlungszimmer geschafft wurde.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Doktor seine Kollegin.
Die Schwester nickte und sah dann lächelnd das Baby an. »Na dann werden wir dir mal ein schönes Zuhause suchen.«
-einige Stunden später-
Der Mann, den man vor ein paar Stunden aus dem Krankenhaus geworfen hatte, saß nun in einer Bar. Er trank inzwischen das dritte Bier und wartete auf seinen besten Freund. Seine Hände zitterten, als er das Bierglas zum Mund führte und erneut einen großen Schluck daraus trank.
»Wie konnte ich das nur zulassen?«, sagte er zu sich selbst und schüttelte den Kopf, nachdem er das Glas wieder auf dem Tresen abgestellt hatte.
»Ich habe meine Frau getötet«, lallte er wimmernd und nahm den nächsten Schluck aus dem Glas. »Wieso hab’ ich das nur zugelassen?«
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich sein Freund, in Anzug und Krawatte, zu ihm gesellte. Er legte zur Begrüßung eine Hand auf die Schulter des Mannes, während er sich ebenfalls an die Bar setzte. Mit einem Fingerzeig deutete er dem Wirt an etwas trinken zu wollen. Dieser nickte und unterbrach sofort seine Arbeit, stellte dann ein Glas, vor dem Mann, auf die Bar und füllte es mit einer haselnussbraunen Flüssigkeit.
»Vincent, mein Freund, was ist los mit dir?«, fragte der im Typ im Anzug den Mann neben sich und nippte an seinem Getränk. »Du siehst so bedrückt aus.«
»Alice ist tot«, sagte sein Freund niedergeschlagen und es schien, als müsse er sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Der andere horchte auf, aber verzog keine Miene. »Wann ist es passiert?«, fragte er emotionslos.
»Vor ein paar Stunden«, antwortete Vincent betrübt. »Kurz bevor ich dich anrief.«
»Sei doch froh…« sagte Vincents Freund »…dann bist du sie endlich los.«
Vincent sah den Mann neben sich erbost an. »Sie war meine Frau«, brummte er bedrohlich. »Und wenn du nicht, wie ein wildes Tier, über sie hergefallen wärst, würde sie jetzt noch leben.«
Der andere ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. »Ich habe nie gesagt, dass du deine Frau töten sollst«, antwortete er gelassen.
»Calab, verdammt nochmal, wir kennen uns seit dem Kindergarten und sind wie Brüder zusammen aufgewachsen«, sagte Vincent weinerlich, trank einen weiteren Schluck Bier und schlug mit dem Glas hart auf den Tresen, als er es abstellte. »Wie konntest du das nur tun?«
»Du hast es doch zugelassen, dass sie mich, nur mit einem Nachthemd bekleidet, ins Haus ließ«, rechtfertigte sich Calab. »Ich habe dir immer gesagt, bring deiner Frau Benehmen bei.«
Trotz des Alkohols hatte Vincent plötzlich wieder einen klaren Kopf. Er rutschte von seinem Barhocker und baute sich neben seinem Freund auf. »Es war mitten in der Nacht und ich war auf Geschäftsreise«, sagte er zornig. »Aber glaub’ mir, wenn ich zuhause gewesen wäre, hätte ich es verhindert.« Wütend griff Vincent nach seinem leeren Glas und hielt es drohend vor Calabs Gesicht.
»Ich glaube, du hast vergessen, wen du vor dir hast«, sagte dieser mit unterschwelligem Ton.
»Nein, dass habe ich ganz sicher nicht«, erwiderte Vincent. »Wie könnte ich auch. Man wird ja jeden Tag und überall aufs Neue daran erinnert.«
Calab Noles grinste, als er diese Worte hörte, denn als Oberhaupt einer, seit Generationen bestehenden, Organisation war er sich seiner Überlegenheit durchaus bewusst. Die Vorfahren seiner Familie hatten diese Organisation gegründet, nachdem die Welt, nach einem Asteroideneinschlag, kurz vor dem Kollaps stand. Sie verbündeten sich weltweit mit Gleichgesinnten und durch Korruption, Täuschung und Drohungen und Mord konnten sie, innerhalb einiger Jahrzehnte, die Macht an sich reißen. Die Organisation bestimmte fortan nicht nur die Preise für alles, sondern förderte seitdem auch aktiv den Menschenhandel und ließ so die Sklaverei wieder aufblühen. Sodass man aufpassen musste, um nicht in die Fänge von Menschenhändlern zu geraten.
Die wenigen, die gegen die Organisation kämpften, hielten sich im Hintergrund, denn es war zu gefährlich, sich öffentlich gegen diese Großmacht zu stellen.
Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war Calab das jüngste Organisationsoberhaupt, seit der Gründung vor über einhundert Jahren. Er war skrupellos und schreckte auch vor einem Mord an seinen Eltern nicht zurück, nur um an die Macht zu kommen.
Und dieser Mann saß nun mit seinem besten Freund in einem Lokal und setzte alles daran an der Macht zu bleiben, in dem er erzwingen wollte, dass das Kind, welches vor ein paar Stunden auf so tragische Weise geboren wurde, beseitigt wird.
Dieses Kind, auch wenn es aus einer Vergewaltigung hervorging, war sein rechtmäßiger Nachfolger. Denn es floss sein Blut in dessen Adern.
Doch alles, was Calab erreichte, war, dass die Mutter des Kindes und Frau seines besten Freundes, bei diesem Versuch, starb.
»Was ist mit dem Kind?«, fragte er Vincent, nachdem sich dieser wieder beruhigt hatte.
»Keine Ahnung«, gab sein Freund kopfschüttelnd zurück.
»Wie, du weißt es nicht? Wo ist das Kind?«, fragte Calab mit Nachdruck.
»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Ehrlich!«, beteuerte Vincent.
»Du wolltest dich darum kümmern«, antwortete sein Freund angespannt und nippte nervös an seinem Drink.
»Das hatte ich auch vor…« entgegnete sein Vincent »…aber als ich ins Krankenhaus kam, war Alice schon tot und eine Schwester hatte das Kind an sich genommen.«
»Und warum hast du es dir nicht einfach genommen?«
»Ich hab’s doch versucht, aber sie haben mich durch einen Sicherheitsmann rauswerfen lassen.«
»Einer von meinen Leuten?«, fragte Calab ungläubig.
Vincent schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
Sein Freund nickte. »Das sind sicher alles Organisationsgegner«, sagte er zynisch. »Ich werde mich darum kümmern.«
Vincent sah Calab misstrauisch an. »Das ist ein Krankenhaus«, sagte er. »Was willst du tun?«
»Wo ist das Baby jetzt?«, fragte Calab, ohne auf die Frage seines Freundes einzugehen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Vincent.
Calab erhob sich von seinem Barhocker, blickte Vincent bösartig an und schlug mit der Faust auf den Tresen. »Egal wie, ich will dieses Kind!«, brüllte er. Dann verließ er wütend das Lokal.
»Ja, Sir«, rief Vincent ihm lallend nach. Er wusste, dass es gefährlich sein konnte, sich den Anweisungen eines Mister Calab Noles zu widersetzen. Dabei war es völlig egal, dass sie seit über zwanzig Jahren beste Freunde waren.
Und auch, wenn Vincent dieser Schritt unheimlich schwerfiel, beschloss er, in der nächsten Nacht, nochmals in das Krankenhaus zu schleichen, um sein Vorhaben zu Ende zu bringen und das Baby zu holen.
Niemand war zu sehen, als Vincent das Gebäude betrat und es herrschte eine Totenstille. Also lief er eilig den langen Flur entlang, direkt zur Entbindungsstation. Das Zimmer zu finden, in dem die Babys lagen, war nicht schwer, denn eine große Glaswand trennte es vom Flur, so dass man direkt in das Zimmer hineinsehen konnte.
Vincent blickte durch die Scheibe auf die Babys, die in ihren Bettchen schliefen und fragte sich, welches davon sein Kind sei. Er hatte es ja nur kurz gesehen, und dass nicht einmal richtig. Aber vielleicht verriet irgendein Merkmal, um welches Baby es sich handelte.
Er betrat leine den Raum, ging vorsichtig von Bettchen zu Bettchen und schaute sich jedes der Babys ganz genau an, aber für Vincent glichen sie sich alle, wie ein Ei dem anderen. Und gerade in dem Moment, als Vincent beschloss, einfach irgendein Baby mitzunehmen und sich in das Bettchen beugte, um es herauszunehmen, betrat jemand das Zimmer. »Was machen sie da?«, hörte er eine weibliche Stimme fragen. Vincent wirbelte herum, ohne sein Vorhaben zu beenden und blickte in das überraschte Gesicht einer Krankenschwester, die ein Baby in ihren Armen trug.
Sie erkannte Vincent sofort, denn er stand ihr, am Abend vorher, direkt gegenüber, als er versuchte ihr das Neugeborene zu entreißen.
»Ich will mein Baby abholen.«, sagte er, mit erhobener Stimme. »Welches ist es?«
»Aber doch nicht mitten in der Nacht. Kommen sie morgen früh wieder, dann ist jemand hier, der ihnen weiterhelfen kann«, antwortete die Krankenschwester. »Und jetzt gehen sie bitte, oder ich muss den Sicherheitsdienst rufen.«
Vincent sah ihr direkt in die Augen, irgendetwas an dieser Frau kam ihm sehr bekannt vor. Es dauerte eine Weile, aber dann realisierte er, dass es die Krankenschwester war, die sein Baby am Vorabend im Arm hatte und sich weigerte es ihm zu geben. Auch wenn sie zu dem Zeitpunkt eine Maske trug, war er sich ganz sicher, denn ihre Augen verrieten sie.
»Wo ist mein Kind«, fragte er zornig und ging auf die Frau zu.
»Es ist nicht ihr Kind«, sagte sie und bestätigte damit Vincents Annahme.
»Ich wusste es doch«, erwiderte er mit rauer Stimme. »Sie haben es mir gestern gestohlen.«
»Ich habe nur dafür gesorgt, dass es einen Platz bekommt, wo es behütet, aufwachsen kann«, log die Schwester, denn in Wirklichkeit trug sie das Baby in jenem Moment in ihren Armen.
»Wo ist es?«, wollte Vincent wissen und bewegte sich weiter auf die sie zu.
»Ihre Organisation holt sich doch regelmäßig von uns Waisen«, entgegnete die Krankenschwester. »Warum wollen sie ausgerechnet dieses Baby?«
»Weil es mein Baby ist«, erwiderte Vincent mit erhobener Stimme. »Und ich entscheide ganz allein, was damit passiert.« In diesem Moment begann das Baby, welches die Schwester bei sich trug, zu weinen und zu strampeln. Vincent fiel auf, dass etwas glänzendes aus einer Falte der Decke, in die es gewickelt war, herausrutschte. »Das ist dasAmulett meiner Frau«, stellte er überrascht fest und blickte die Krankenschwester eindringlich an.
Sie bemerkte ihren Fehler und wurde nervös. Eigentlich wollte sie das Amulett wieder mit in die Decke einwickeln, nachdem sie das Baby gebadet hatte. Aber sie hatte es vergessen und hatte die Kette erst einmal zwischen die Falten gesteckt. Nun sah sie erschrocken auf den Anhänger und suchte nach den richtigen Worten. »Woher wollen sie wissen, dass es ihrer Frau gehörte? Es gibt viele solcher Ketten.«
»Willst du mich verarschen?«, fragte Vincent wütend. »Ich erkenne es doch, denn ich habe es extra für sie anfertigen lassen.«
Jetzt wusste die Krankenschwester keine Antwort mehr und so rannte sie, aus einer Kurzschlussreaktion heraus, einfach los und hastete, mit dem Baby im Arm, über den Flur des Krankenhauses, in Richtung Ausgang. Allerding verließ sie das Gebäude nicht, sondern bog in einen anderen Gang ein und lief dann bis zu einer Tür fast am Ende. Es war ein kleiner Abstellraum, in dem sich die Frau nun zwischen Putzmitteln und Kartons versteckte und versuchte das Baby zu beruhigen, in dem sie es sachte hin und her wiegte.
Auf den Gängen war plötzlich lautes Geschrei und Poltern zu hören.
»Du musst jetzt ganz still sein«, sagte sie zu dem Baby und drückte es, immer noch schunkelnd, fester an ihren Körper. Das Kind beruhigte sich und die Frau bemerkte, dass es auch im Gebäude wieder ruhiger wurde. Trotzdem traute sie sich nicht ihr Versteck zu verlassen
Plötzlich waren Schritte zu hören, die sich der Tür näherten und die Krankenschwester hielt ängstlich die Luft an. Dann wurde die Tür langsam geöffnet.
»Schwester Sophia, sind sie hier?«, fragte jemand in den Raum hinein. Die Frau erkannte die Stimme des Arztes, mit dem sie zusammenarbeitete und atmete erleichtert auf.
»Doktor, ich bin so froh, dass sie da sind«, sagte sie mit zittriger Stimme und kam aus ihrem Versteckt.
»Was ist denn passiert?«, fragte der Arzt besorgt und entdeckte das Baby in ihren Armen.
»Wo ist der Kerl?«, fragte sie ihren Kollegen, ohne ihm eine Antwort zu geben.
»Wir haben ihn vor die Tür gesetzt«, antwortete der Arzt.
»Können sie mich nachhause bringen«, fragte Sophia. Sie hatte Angst, dass Vincent sie draußen irgendwo auflauern und dann sein Vorhaben zu Ende bringen könnte.
»Und was ist mit dem Baby?«, wollte ihr Kollege wissen.
»Irgendetwas muss es an sich haben«, sagte sie nachdenklich. »Wir haben so viele Babys, aber dieser Mann war nur an diesem interessiert.«
»Schwester Sophia, warum haben sie das nur getan?«, fragte der Arzt und sah sie mahnend an. »Wir werden eine Menge Ärger mit der Organisation kriegen. Warum haben sie dem Mann das Kind nicht einfach gegeben?«
»Ein Kind, Herr Doktor…« erwiderte sie »…es ist nur ein Kind von vielen, für die Organisation. Geben sie ihm eine Chance auf ein besseres Leben. Bitte!«
Der Arzt atmete schwermütig. »Okay« sagte er schließlich und nickte zustimmend und etwas später brachte er seine Kollegin und das Baby zu ihr nachhause. Dort packte Sophia eilig ein paar Sachen zusammen und legte das Baby in einen geflochtenen Korb. »Sieh mal, was ich hier habe«, sagte sie zu der kleinen und hielt ihr ein kleines, rosa Püppchen vor die Augen. »Das ist für dich.« Sie legte es zu dem Baby unter die Decke und machte sich dann auf den Weg.
Sophia fuhr zu ihrer Freundin Molly, die ein Kinderheim leitete, bei dem die Organisation noch nicht ihre Finger im Spiel hatte und wo sie wusste, dass das Kind in guten Händen war. Und wie erwartet half Molly ihr und nahm das Baby in ihrem Heim auf.
Vincent hingegen hatte auf ganzer Linie versagt und nun lag es an ihm, das Beste aus seiner Lage zu machen. Und ein weiteres Treffen mit seinem Freund und Boss bestätigte seine Vermutung.
Noles war außer sich vor Wut und drohte ihm mit Konsequenzen, wenn er ihm nicht das Kind bringen würde. Vincent versuchte ihn immer wieder zu vertrösten, über viele Jahre. Bis Noles Sohn geboren wurde, dann wurde es ruhig und das Kind schien in Vergessenheit zu geraten.
Sternenkind
Fast zweieinhalb Jahre waren vergangen, seitdem Sophia das Baby zu Molly brachte. Und genauso lange dauerte es, bis Molly endlich eine Familie für das kleine Mädchen fand. Nur wenige, außerhalb der Organisation, trauten es sich ein Kind zu adoptieren, musste man doch immer aufpassen, dass ihre Leute nicht eines Tages auftauchten und die Kinder einfach mitnahmen.
Zu diesen wenigen gehörte Mollys Freundin. Diese war überzeugt, dass es dieses Mädchen verdient hatte in einer Familie aufgenommen zu werden.
Molly begrüßte die Frau herzlich, sie kannten sich schon viele Jahre und waren gut befreundet.
»Das ist sie also?«, fragte Mollys Freundin und blickte dabei freundlich das Kind an. »Na du, wie heißt du denn?«
»Das ist die kleine Terry«, sagte Molly, während sich das kleine Mädchen ängstlich hinter ihr versteckte und sich an ihre Wade klammerte, als vier fremde Augenpaare sie anstarrten.
In einer Hand hielt sie das kleine, rosa Püppchen, welches Sophia ihr geschenkt hatte. Es war seit jeher ihre ständige Begleitung.
Die fremde Frau wurde von ihrer fünfjährigen Tochter begleitet, die nun auf die Kleine zuging und vor ihr in die Hocke ging. »Hallo du«, sagte sie und streckte dem Mädchen die Hand entgegen. »Komm mit, wir fahren nachhause, spielen.«
»Du musst keine Angst haben«, sagte Molly mit sanfter Stimme zu ihrer Ziehtochter. »Das ist deine neue Familie.« Das Mädchen hörte zwar die Worte, verstand aber nicht, was sie bedeuteten, und sah zu Molly auf.
»Was hat sie da?«, fragte die Tochter ihrer Freundin plötzlich und sah ihre Mutter fragend an.
»Was meinst du, kleines?«, wollte diese wissen.
»Na da, am Hals«, sagte das Mädchen und zeigte auf Terry.
»Das ist ein Muttermal«, beantwortete Molly die Frage und lächelte.
»Das ist ein Stern«, stellte das Mädchen freudig fest und sah ihre Mutter strahlend an. »Meine neue Schwester ist ein Sternenkind.«
Ihre Mutter lächelte freundlich. »Ja, das ist sie, ganz gewiss.«
»Und dein Mann hat auch sicher nichts dagegen?«, wandte sich Molly wieder an ihre Freundin. »Immerhin habt ihr schon drei Kinder.«
»Nein, er hat nichts dagegen«, sagte die Frau. »Wir sind uns einig, dass es eine gute Sache ist, noch ein Waisenkind aufzunehmen. Es ist immerhin noch ein Kind weniger für die Organisation.«
Mollys Freundin und ihr Mann hatten bereits drei Kinder, ohne Wissen der Organisation, adoptiert. Diese Kinder waren zum Zeitpunkt der Adoption noch Säuglinge und konnten so als eigene Kinder durchgebracht werden, ohne dass jemand etwas merkte. Nur drei Menschen kannten dieses Geheimnis, und dass waren Molly, ihre Freundin und ihr Mann.
Molly nickte zustimmend und streichelte währenddessen dem kleinen Mädchen über den Kopf. Es dauerte ein wenig, bis die anfängliche Scheu, den Fremden gegenüber, verflogen war. Aber umso erfreuter waren Molly und ihre Bekannte, als sie sahen, dass die Kleine auf die Tochter zuging und sie an die Hand nahm. Doch es war auch das Zeichen für die beiden Frauen, um Abschied zu nehmen.
Für Molly war es schwer die Kleine, nach all der Zeit, gehen zu lassen. Immerhin hatte sie dieses kleine Mädchen, welches ihr nun mit dem rosa Püppchen in der Hand noch einmal zuwinkte, doch so liebgewonnen.
Molly winkte schwermütig zurück. »Viel Glück, Liebes«, sagte sie leise und wartete, bis die Frau mit den Kindern davonfuhr.
Das neue Zuhause war gemütlich eingerichtet, eine geräumige Wohnung, mit vielen Zimmern. Und auch die anderen beiden Geschwister und der Vater machten sich mit dem neuen Familienmitglied bekannt. Alle nahmen die kleine Terry herzlich in ihrer Mitte auf.
Da war zum einem der sechsjährige Sohn, der es sich, schon in seinem jungen Alter, zur Aufgabe machte seine Schwestern zu beschützen. Das hatte der Vater ihm, vom ersten Tag an, beigebracht. Und dann gab es noch das Nesthäkchen, die jüngste Tochter, die etwa so alt war wie Terry.
Den größten Bezug aber hatte das Sternenkind, von Anfang an, zur mittleren Tochter. Und so verbrachten sie, in den kommenden Jahren, viel Zeit miteinander. »Ich bin immer für dich da, Sternchen«, hatte sie oft zu Terry gesagt und dieses Versprechen hielt die Schwester auch.
Sie brachte die Kleine fast jeden Abend ins Bett, und wenn sie nicht einschlafen konnte, sang die große Schwester ihr ein Schlaflied vor. Es war immer das gleiche Lied, mit einer ganz markanten Melodie.
Und irgendwann begann das Sternchen diese mitzusingen.
Da der Vater einen sehr gut bezahlten Job hatte, konnten sie es sich leisten noch ein Kind aufzunehmen. Die Mutter kümmerte sich um den Nachwuchs und den Haushalt, solange ihr Mann arbeiten war. Am Abend brachte er dann die Kinder ins Bett. Auch wenn es oft stressig war, mit vier Kindern, war alles perfekt, um behütet und geliebt aufzuwachsen. Der Zusammenhalt in dieser Familie war stark und dieses unsichtbare Band, welches sie zusammenhielt, konnte scheinbar nichts trennen. Aber es wurde auf eine harte Probe gestellt, als ein paar Jahre später plötzlich fremde Männer das Haus der Familie betraten.
Es waren Arbeitskollegen des Vaters, die schlechte Nachrichten überbrachten. »Es tut uns sehr leid, aber wir müssen ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann einen Unfall hatte«, sagte einer von ihnen, nachdem die Mutter die Männer hineingebeten hatte.
Entsetzt, mit weit aufgerissenen Augen, sah sie die Männer an. »Was ist passiert?«, fragte sie ängstlich. Und dann erzählten sie ihr, dass ihr Mann bei Baumfällarbeiten unter einen Stamm geraten war und eingequetscht wurde. Jegliche Hilfe, um ihn unter den Stamm hervorzuholen, kam zu spät, so dass er infolgedessen seinen Verletzungen erlag.
Für die Familie brach eine Welt zusammen. Sie verloren nicht nur den Ehemann und Vater, sondern auch ihre Existenz, denn eine finanzielle Absicherung gab es nicht und die Ersparnisse waren bald aufgebraucht.
Sobald die Trauer einigermaßen überwunden war, nahm die Mutter einen Job als Haushälterin an. Aber jetzt, wo die Unterstützung ihres Mannes fehlte, war es schwer, Kinder, Wohnung und Beruf unter einen Hut zu bringen. Und so entschied sie sich schweren Herzens, die drei ältesten Kinder bei Verwandten unterzubringen, bis sich ihre Lage wieder gebessert hatte. Und die kleine Terry sollte vorerst wieder bei Molly unterkommen. Diese Entscheidung fiel der Mutter absolut nicht leicht, aber es war die beste Lösung. Aus ihrer Verwandtschaft wollte niemand das Mädchen aufnehmen, da jeder von ihnen wusste, dass Terry adoptiert war. Dieses lies sich aufgrund ihres Alters, als die Familie sie aufnahm, nicht verheimlichen.
Und so rief die Mutter die kleine eines Abends zu sich, um sie vorsichtig darauf vorzubereiten. Das Mädchen war zu der Zeit knapp sechs Jahre alt und die Mutter hoffte, dass sie es verstehen würde.
»Kleines, wir fahren Tante Molly besuchen«, sagte sie zu ihr und setzte sie auf ihren Schoß. Die Kleine kannte Molly noch, sie hatten sich zwischenzeitlich noch ein paar Mal getroffen. Aber der letzte Besuch lag lange zurück.
»Bist du traurig?«, fragte Terry, als sie sah, dass Tränen über das Gesicht ihrer Mutter kullerten. »Freust du dich nicht auf Tante Molly?«
»Ja, mein Schatz, ich bin sehr traurig«, sagte die Mutter schwermütig. »Weißt du… du wirst ein bisschen länger bei Molly bleiben müssen.«
»Warum? Willst du mich nicht mehr?«, fragte Terry und begann zu weinen.
»Doch natürlich, Sternchen«, antwortete die Mutter tröstend und drückte ihre Tochter fest an sich. »Weißt du… seitdem Paps nicht mehr da ist, ist es sehr schwer für mich. Und ich will, dass es wenigstens euch dreien gut geht.« Mit Tränen in den Augen gab sie Terry einen Kuss auf die Stirn. »Ich hab’ dich lieb, Sternchen. Das darfst du nie vergessen.
Ein paar Tage später stand der Abschied bevor. Alle standen auf dem Hof des Heimes. Sogar der Bruder war mitgefahren, obwohl er sich anfangs sehr dagegen gewehrt hatte. Doch nun war er der erste, der seine kleine Schwester in die Arme nahm und ihr durchs Haar wuschelte. »Ich werd’ dich vermissen, Nervensäge«, sagte er leise und schluckte. Die kleine Tochter war die nächste, mit einem »ich hab dich lieb« umarmte sie Terry, bevor sie wieder nach der Hand ihrer Mutter griff. Dann war die Lieblingsschwester an der Reihe. Mit Tränen in den Augen nahm sie Terry in ihre Arme und drückte sie fest an sich. »Ich werde dich immer beschützen, Sternchen. Versprochen!«, sagte sie zu ihr.
Die kleine verstand die Bedeutung der Worte noch nicht, doch anscheinend fühlte sie ihren Wert. Denn, als die Kinder sich aus ihrer Umarmung lösten, hielt Terry ihrer Schwester das kleine rosa Püppchen entgegen, welches sie bis dahin fest in der Hand hielt. Das Mädchen zögerte zwar, nahm es dann aber doch an sich. »Danke, ich passe gut drauf auf«, sagte die große Schwester mit weinerlicher Stimme und gab der kleinen einen Kuss auf die Wange. Dann lief sie zu ihrem Bruder und versteckte ihren Kummer, über den Abschied, an seiner Schulter.
Als sich die Kinder verabschiedet hatten, ging die Mutter vor Terry in die Hocke und schloss das Kind wehmütig in ihre Arme. »Du wirst immer ein Teil von uns sein«, sagte sie mit zittriger Stimme und drückte die kleine fest an sich. Nach Minuten der Stille löste sie sich wieder von der kleinen und wandte sich Molly zu. »Danke«, sagte sie leise zu ihrer Freundin und gab ihr die Hand. »Du warst unsere letzte Rettung.«
»Schon gut…« antwortete Molly seufzend »…sie wird es irgendwann verstehen.«
Dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Terry, die von Molly an der Hand gehalten wurde, sah ihrer Familie traurig hinterher, als diese zum Auto ging, einstieg und dann davonfuhr.
»Tante Molly, warum wollen sie mich nicht mehr?«, fragte Terry nach einer Weile und sah die Frau an. »Bin ich schuld? War ich nicht lieb genug?«
Molly schluckte, als sie diese Worte hörte und legte einen Arm um das Mädchen. »Nein kleines…« sagte sie tröstend »…es liegt nicht an dir. Sie lieben dich über alles und wollen nur das Beste für dich.«
Doch so sehr sich Molly in den nächsten Jahren auch bemühte, sie konnte dem Mädchen nie den Gedanken nehmen, nicht gewollt zu sein.
Ich bin Terry
Viele Nächte träumte ich noch von dieser Zeit und oftmals wachte ich schweißgebadet und weinend auf. Ich vermisste meine Familie schrecklich und wollte zurück zu ihnen. Was die neuen Pflegefamilien auch versuchten, sie schafften es nicht, mich über meinen Kummer hinwegzutrösten und so gaben sie schließlich die Hoffnung und dann mich auf. Ich wiederum fühlte mich mit meinem Schmerz alleingelassen und so begann mich zu verändern. Und das nicht zum Positiven.
Da ich niemanden hatte, um über das alles zu reden, zog ein zweites Ich in meinem Kopf ein. Und irgendwann begann ich es für vieles, was ich anstellte, verantwortlich zu machen.
So sehr man es sich von mir auch wünschte, aber ich war nie ein typisches Mädchen. Was vielleicht auch daran lag, dass ich in der letzten Pflegefamilie wie ein Junge behandelt wurde. Meine Pflegemutter hatte sich, nach vier eigenen Söhnen, dazu entschieden ein Mädchen zu adoptieren und ihre Wahl fiel auf mich.
Ihr Mann unterstützte sie zwar in ihrem Vorhaben, doch er meinte irgendwann, dass die Gesellschafft für ein Mädchen zu gefährlich sei, und begann mich nach den Maßstäben seiner Jungs zu erziehen. Und da ich Röckchen und Schleifen ab einem gewissen Alter sowieso richtig doof fand, kam es mir sehr gelegen, dass er mich eines Tages in Hosen steckte und mir auch das Schießen beibrachte.
Die mühevoll gewachsenen, langen Haare, auf die meine Pflegemutter so stolz war, schnitt ich mir eines Tages einfach ab. Die Trachtprügel, die ich dafür bekam, war es mir wert.
Ab diesem Tag begann ich mit meinen Pflegebrüdern um die Häuser zu ziehen. Wir begannen zu rauchen und Alkohol zu trinken, und zudem waren Prügeleien bei uns an der Tagesordnung, bei denen ich meinen Brüdern in nichts nachstand.
-ein paar Jahre später-
Je älter ich wurde, desto mehr rebellierte ich gegen alles und jeden. Ich ließ mir irgendwann von niemandem mehr etwas vorschreiben. Und wer sich mir in den Weg stellte, bekam meine ganze Wut zu spüren, wobei es mir egal war, wer mir gegenüberstand.
So geschah es eines Tages, dass ich mich auch gegen meine Pflegefamilie richtete und in einem Wutanfall auf sie losging. Ich warf mit Stühlen und anderen Gegenständen nach ihnen und zerstörte, in einem Rausch von Raserei, fast das gesamte Mobiliar, bevor sie mich stoppen konnten. Daraufhin steckten sie mich in ein Heim für schwer erziehbare Kinder.
Zu der Zeit war ich vierzehn Jahre alt und ich hatte das Gefühl, mir läge die Welt zu Füßen und jeder tanze nach meiner Pfeife.
Auch im Erziehungsheim wich ich nicht von meiner Masche ab und so schaffte ich es, nach ein paar Wochen, eine kleine Gang zu gründen. Einer aus dieser Gruppe war Shelly. Wir lernten uns bei einer Prügelei kennen. »Du schlägst wie ein Mädchen«, hatte er mir damals vorgeworfen, woraufhin ich ihm, mit einem gezielten, kräftigen Schlag, die Nase brach. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah.
»Ich bin Terry«, sagte ich und bot ihm meine Hand an, als er sich wieder beruhigt hatte. »Findest du immer noch das ich wie ein Mädchen schlage?«
Er schüttelte mit beeindrucktem Blick den Kopf, versuchte mit einer Hand das Blut zu stoppen, welchen aus seiner Nase lief, und reichte mir die andere zur Begrüßung. »Shelly«, stellte er sich mit schmerzverzerrter Stimme vor. »An dir ist doch gar nichts dran«, sagte er, nachdem er mich eine Weile gemustert hatte. »Wo nimmst du die Kraft her?«
Ich lachte, war aber auch geschmeichelt von diesem Kompliment. »Ich bin mit Jungs aufgewachsen«, sagte ich und zeigte ihm übertrieben stolz meinen Bizeps. »Ich musste mich immer durchsetzen.«
Shelly und ich wurden beste Freunde. Er war ein Jahr älter als ich und ein kluger Bursche. Was wir von diesem Tag an auch anstellten, wir taten es zusammen.
Das Mädchen, welches Shelly, kurz darauf, ein Tuch reichte, um das Nasenbluten zu stoppen, hieß Dana. Sie war mit ihren dreizehn Jahren schon sehr reif, was daher kam, dass sie, seit frühester Kindheit, auf ihre beiden jüngeren Brüder, Ralf und Gregor, aufpassen musste. So war sie sehr geschickt in Konfliktlösungen und rettete uns immer wieder aus irgendeinem Schlamassel.
Dana war auch die erste, bei der ich bemerkte, dass ich anders fühlte als andere Mädchen. Denn ich begann für sie, anstatt für irgendeinen Jungen, zu schwärmen und versuchte sie mit Sprüchen, die ich von meinen Pflegebrüdern gelernt hatte zu beeindrucken. Und irgendwann nahm ich all meinen Mut zusammen und gestand ihr meine Gefühle. Dana fühlte sich geschmeichelt, wie sie mir verriet, aber sie ließ mich abblitzen, denn sie stand auf Shelly. Und ich musste ihr versprechen dieses Geheimnis für mich zu behalten. So blieben auch wir nur sehr gute Freunde und Verbündete.
Eines Tages machte das Gespräch die Runde, dass ein neuer Heimleiter eingestellt wurde. Er hieß Mister Green und war vorher Hauptmann in einer Militärschule. Shelly und ich machten es uns zur Aufgabe ihn zu vergraulen. Schließlich hatten wir es bei seinem Vorgänger auch geschafft.
Und als es dann so weit war und der neue Erzieher, mit einem Pickup, vorfuhr und seine Sachen in sein Büro trug, boten Shally und ich ihm unsere Hilfe an, welche Green dankbar annahm. So wollten wir die Gelegenheit nutzen, um ihn auszuspionieren.
Unter Greens Hab und Gut fiel mir ein Pokal auf. Dieser glänzte golden und ich war fasziniert von diesem Ding. Ich wollte ihn an mich nehmen, um ihn genauer zu betrachten, doch gerade, als ich eine Hand danach ausstreckte, wurde ich von meinem Vorhaben abgehalten.
»Den nicht!« Es war Green, er stand an der Ladeklappe und hatte mich beobachtet.
»Ist der wertvoll?«, fragte ich, nachdem ich ihn bemerkt hatte.
Der Hauptmann nickte, als ich ihn ansah. »Sehr wertvoll.«
Er kletterte auf die Ladefläche, nahm den Pokal an sich und trug ihn in sein neues Büro. Ich folgte ihm mit einem Karton voller Papiere.
Im Büro war eine Glasvitrine aufgestellt, ich stellte den Karton auf den Tisch und beobachtete den neuen Heimleiter dabei, wie er mit seinem Hemdärmel die Fingerspuren von seinem kleinen Schatz putzte und ihn dann in den Glasschrank stellte.
»Morgen Abend hol ich mir Greens Pokal«, erzählte ich Shelly später von meinem Vorhaben.
»Du bist bekloppt«, antwortete er kopfschüttelnd, war aber trotzdem bereit mir zur Seite zu stehen. Wie immer.
»Ich komme auch mit.« Es war Dana. Sie hatte Shelly und mich belauscht, und fand unsere Idee super. »Endlich mal wieder ein Abenteuer«, juchzte sie vor Freude und hüpfte aufgeregt, in die Hände klatschend, auf der Stelle.
»Vergiss es…« entgegnete ich ihr »…das geht nicht!«
»Aber warum denn nicht?«, wollte Dana wissen und zog eine Schmollschnute.
»Hast du dich schon mal gehört?«, ergriff Shelly das Wort. »So wie du immer kreischst, wirst du uns verraten.«
»Genau!«, bestätigte ich die Worte meines Freundes.
Dana stampfte fest mit dem Fuß auf, verschränkte die Arme vor ihrem Körper und kam einen Schritt auf mich zu. »Wenn ich nicht mitdarf, gehe ich zum neuen Heimleiter und verpetze euch«, drohte sie.
Ich rollte mit den Augen und stimmte schließlich zu, denn ich wusste, Dana stand zu ihrem Wort. »Und meine Brüder kommen auch mit«, sagte sie grinsend.
Ich schüttelte wild den Kopf. »Nein, auf keinen Fall!«
»Es geht aber nicht anders«, gab Dana zurück. »Ich kann nicht einfach abhauen.
Die zwei werden mich suchen und dann unseren Plan verraten.«
»Unseren Plan?« Ich war fassungslos über ihre Worte und sah sie genervt an. Dann schaute ich zu Shelly, in der Hoffnung er könne sie noch von ihrem Vorhaben abbringen, aber er sah nur zu Boden und schüttelte den Kopf.
Blöder Angsthase!
»Also gut«, fluchte ich laut, machte auf dem Hacken kehrt und ging wütend in Richtung Wohnunterkunft. Plötzlich fand ich die Idee gar nicht mehr so toll, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass alles gewaltig den Bach runtergehen würde.
Aber kneifen konnte ich jetzt auch nicht mehr, dazu war ich viel zu stolz.
Die Mutprobe
Shelly sah mich an und grinste. »Du traust dich doch eh nicht!« In seinen Augen glänzte der Spott.
So gut es ging, versuchte ich mir die Nervosität nicht anmerken zu lassen. »Klar trau' ich mich!« »Und ich traue mich sogar noch viel mehr!«
Ich baute mich vor Shelly auf, stemmte meine Fäuste in die Hüften und sah ihn, mit halb zugekniffenen Augen, an.
»Orrrr...jetzt geht das wieder los«, flüsterte Dana im Hintergrund. Als Shelly und ich sie ansahen, verdrehte sie grad genervt die Augen. »Terry ist kein Feigling, und das wird sie euch allen beweisen.«
»Genau!« Selbstbewusst sah ich in die Runde. »Ich bin kein Feigling«, wiederholte ich leise Danas Worte. Vier Augenpaare starrten mich an und so selbstsicher ich mich nach außen hingab, so nervös war ich innerlich.
»Dann beweise es«, durchbrach Shelly die Stille flüsternd. »Hol' den Pokal aus Greens Büro. Jetzt!«
»Jahaaa, mache ich auch.« Übermut klang in meiner Stimme und ehe die anderen bis drei zählen konnten, setzte ich mich in Bewegung und die Gruppe folgte mir.
Es war mitten in der Nacht und stockfinster draußen, als wir leise über den Hof schlichen. Plötzlich war ein Husten zuhören, wir zuckten alle zusammen und blieben wie erstarrt stehen. Dana konnte sich gerade noch ein Kreischen verkneifen.
»Tschuldigung«, flüsterte Ralf und sah in zornige Gesichter. »Ich hab' meinen Kaugummi verschluckt.«
»Bist du doof?« Dana gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, welcher so kräftig war, dass seine Brille auf die Nasenspitze, rutschte. »Willst du uns alle verraten?« Ihre Stimme wurde lauter.
Jetzt war ich diejenige, die die Fassung verlor. »Mmmhm«, knurrte ich und riss theatralisch die Arme über den Kopf. Aber in dem Moment, in dem ich meiner Wut luftmachen wollte, fiel mir Shelly ins Wort: »Jetzt hört auf zu zanken und seid ruhig, sonst geht ihr zurück in die Unterkunft.«
Ja, toll, schick' sie nachhause und gib ihnen Stubenarrest.
Wütend und genervt schüttelte ich den Kopf.
Ich brauch’ diese Kinder nicht!
Ohne ein weiteres Wort ließ ich meine Freunde stehen und ging allein weiter.
Es dauerte keine Minute, als ich Dana leise rufen hörte: »Hey Terry, warte.« Sie hatte als erste bemerkt, dass ich weitergegangen war. Und als ich hörte, wie auch die Schritte der anderen schneller wurden, ging ich etwas langsamer, so dass sie mich einholen konnten. Auch, wenn ich sie manchmal zum Teufel wünschte, war ich doch froh, sie alle an meiner Seite zu wissen.
Leise schlichen wir weiter, bis wir den großen Flachbau erreichten, in dem sich Greens Büro befand. In dem Gebäude war es dunkel. Die Schwärze der Fenster mischte sich mit der Dunkelheit der Nacht. Vor der großen, schweren Doppeltür blieben wir stehen und während ich nach dem dicken Knauf griff, drehte ich mich zu den anderen um. Ich versuchte Ralf in der Dunkelheit ausfindig zu machen. Als ich seine schemenhaften Umrisse sah, wollte ich ihn zu mir rufen. »Pssst«, machte ich leise, doch er reagierte nicht. »Pssst, Brille!«, versuchte ich es erneut. Endlich bemerkte er mich und sah mich an. »Du stehst mit Gregor Schmiere«, gab ich ihm zu verstehen. »Und wenn jemand kommt, gebt ihr ein Zeichen. Klar?« Ralf nickte mir zu, griff seinen Bruder am Arm und zog ihn mit sich. Dann verschwanden beide hinter der Hausecke.
Dann drehte ich vorsichtig den Türknauf und zog die schwere Tür einen Spalt weit auf. Ich blinzelte in den dunklen Gang hinein und versuchte zeitgleich irgendwelche Geräusche zu hören. Aber da war nur Dunkelheit und Stille.
Ich zog die Tür noch ein Stück weiter auf. Gerade weit genug, dass ich hindurch schlüpfen konnte, und stand dann in dem langen Flur, der zu Greens Büro führte. Auf leisen Sohlen ging ich weiter, Dana und Shelly folgten mir und ich hoffte, dass wir unentdeckt blieben.
Dann erreichten wir unser Ziel.
Ich drückte mich an die Wand und sah vorsichtig durch die Glasscheibe der Tür ins Innere des Raumes. Es war alles dunkel und ich streckte meinen Kopf weiter vor, um mehr sehen zu können.
Schemenhaft setzte sich der Schreibtisch, der vor dem Fenster stand, vom Hintergrund ab, aber ich konnte nicht erkennen, dass sich etwas bewegte.
Ich drehte mich zu den anderen um und nickte ihnen zu, als ich langsam die Türklinke herunterdrückte. Wir alle waren sehr aufgeregt und unsere Anspannung war fast greifbar.
Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Langsam schob ich die Tür auf, was ein leises Quietschen verursachte. Ich verzog das Gesicht und zog augenblicklich den Kopf ein. Noch einmal drehte ich mich zu den anderen um, bevor ich den ersten Schritt in den Raum machte. Dana und Shelly blieben im Flur stehen, niemand von ihnen wagte es, sich zu bewegen.
Ich ging noch ein Stück weiter in den Raum hinein und dann sah ich sie, die Vitrine, in der Greens Pokal stand. Sie war nur noch zwei Armlängen von mir entfernt. Langsam näherte ich mich dem Glasschrank und streckte meine Finger nach dem Griff aus, um die Tür zu öffnen, als plötzlich ein lautes Rumpeln zu hören war.
Ich erstarrte, hörte Dana schreien, gefolgt von schnellen Schritten, die sich entfernten. Ich wusste sofort, dass meine Freunde in diesem Moment davonliefen.
All das hörte ich nur gedämpft und mir wurde klar, dass die Tür zugefallen war. Aber wie? Der Wind? Es war nirgends ein Luftzug zu spüren. Und in dem Augenblick, als ich mich umdrehen wollte, um mich zu vergewissern, hörte ich ein tiefes Atmen und eine Männerstimme ertönte: »Lass dich nicht abhalten.«
Es war Green.
Scheiße, wo kommt der so plötzlich her? Hatte der sich hier irgendwo versteckt? Ich hätte ihn doch bemerken müssen.
»Was?«, fragte ich verwundert und drehte meinen Kopf in seine Richtung. Mein Herz schlug mir bis in den Hals und ich war der festen Überzeugung, der Hauptmann konnte es pochen hören. Meine Hände begannen zu zittern und Schweiß bildete sich auf meiner Stirn.
»Wehe, du wagst es dich umzudrehen«, sagte er mit tiefer, aber ruhiger Stimme. »Und nun mach schon. Du hattest doch etwas vor, bring es zu Ende!«
Nun verstand ich gar nichts mehr.
Will der wirklich, dass ich den Pokal aus der Vitrine nehme?
»Sie meinen, ich soll...« begann ich zu stottern.
»Herrgott nochmal…« unterbrach Green mein Gestammel »…jetzt mach diesen scheiß Glasschrank auf und nimm diesen verfluchten Pokal da raus!« Seine Stimme wurde lauter. »Das war es doch, was du wolltest. Den Pokal. Oder etwa nicht?«
Green liebte diese Überlegenheit, denn er wusste, dass er weit über uns stand und dass sich niemand von uns traute, sich ihm entgegenzustellen. Er hatte seinen Standpunkt von Anfang an klar vertreten, so dass selbst Shelly und ich irgendwann einsahen, dass wir es, auf herkömmliche Art und Weise, nicht schafften ihn zu vertreiben.
Ich wandte mich wieder der Vitrine zu, griff mit meinen schweißnassen, zittrigen Händen den kleinen, goldenen Knauf und öffnete die Glastür. Dann nahm ich vorsichtig den Pokal an mich.
»Und nicht fallen lassen«, rief Green plötzlich und ich erschrak so sehr, dass mir der Pokal beinah aus den Händen gefallen wäre. Ich konnte ihn gerade noch festhalten, zitterte aber so sehr, dass der kleine Deckel obendrauf klapperte.
»Und jetzt, umdrehen«, befahl der Heimleiter, in schroffem Ton. Ich atmete einmal tief durch und wandte mich ihm zu. Er stand leicht breitbeinig, mit verschränkten Armen, direkt vor der Tür.
Keine Chance zu entkommen!
Und als ob er meine Gedanken lesen konnte, grinste er mich an.
Ich dachte nach. Erwischt hatte er mich sowieso schon und daher war es egal was ich tat.
Mit dem Pokal in den Händen, holte ich tief Luft, streckte meine Arme aus und machte einen Schritt auf den Heimleiter zu. Ich deutete an, ihm den goldenen Becher überreichen zu wollen. Er sah mich skeptisch an und zog seine Augenbrauen hoch. Green traute mir nicht, das war klar, aber ich musste es dennoch wagen zu entkommen.
Noch immer hielt ich ihm den Pokal entgegen. »Und was wird jetzt damit?«, wollte ich wissen. »Soll ich ihn zurückstellen?«
»Gib her«, brummte der Hauptmann mit tiefer Stimme und hielt mir die offene Hand entgegen. »Das mach ich lieber selbst.«
Als er nach seinem Eigentum griff, nutze ich meine Chance, nahm all meinen Mut und meine Kraft zusammen, und trat so fest ich konnte gegen Greens Schienbein. Der Pokal fiel laut scheppernd zu Boden, als der ehemalige Soldat sich mit einem Schmerzensschrei vorbeugte und sein Schienbein an der getroffenen Stelle rieb.
Ich drückte mich an ihm vorbei, öffnete die Tür und stand schon mit einem Fuß im Flur, als er mich am Kragen zu packen bekam.
»Du bist verdammt schnell…« knurrte Green, zog mich zurück in sein Büro und stieß mich von sich. Ich fand keinen Halt und krachte Rücklinks in die Vitrine. Klirrend zerbrach das Glas, als ich hineinfiel und mit ihr zu Boden krachte. Erneut griffen Greens kräftige Hände nach mir und ich wurde aus den Scherben gezogen. Plötzlich spürte ich keinen Boden mehr unter meinen Füßen, und ich konnte dem Ekel direkt in die Augen sehen.
»…aber nicht schnell genug«, beendete er seinen Satz und ließ mich dann, an anderer Stelle, einfach fallen. Ich bemerkte noch den Stoß gegen den Hinterkopf, als ich irgendwo anschlug, bevor ich zusammensackte und bei mir die Lichter ausgingen.
Erwachsen werden
Als plötzlich die Tür zu Greens Büro laut ins Schloss fiel, erstarrten Dana und Shelly für einen Augenblick. Dann sahen sie sich verdutzt an und rannten, so schnell sie konnten, davon. Sie liefen den langen Flur entlang und quetschen sich durch den Spalt der offenen Eingangstür nach draußen. Schutzsuchend verkrochen sie sich in ihrem Geheimversteck, eine kleine Bretterbude, am Rand des Hofes.
»Scheiße!« Dana fand als erste ihre Stimme wieder. »Was war das?«, fragte sie atemlos und sah in Richtung des Bürogebäudes.
»Was?«, schnaufte Shelly. »Du meinst wohl, wer?«
Dana atmete noch immer schnell und ihre Hände zitterten.
»Mister Green?«, fragte sie ungläubig und sah jetzt Shelly an. »Du meinst...« begann sie und suchte nach den richtigen Worten. »Aber wie?«
Shally schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
»Was passiert jetzt mit Terry?«, wollte Dana wissen.
Ihr Freund ließ sich im Schneidersitz auf den Boden plumpsen und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich weiß es nicht.« Er klang sehr nachdenklich. »Ich weiß es wirk...« Plötzlich horchte er auf. »Hörst du das?« Es blickte zu Dana, die durch eine Lücke, zwischen zwei Brettern, in die Dunkelheit starrte. Auch sie hatte die Schritte gehört, nickte nur und versuchte etwas auf dem Hof zu erkennen.
Shelly kroch auf allen Vieren über den Boden und drückte sich an einer Wand in den Schatten. Dana ging in die Hocke und bewegte sich nicht mehr. Beide hielten die Luft an, denn die Schritte kamen schnell näher und nur einen Moment später öffnete sich langsam die Tür zum Bretterverschlag und jemand schlich hinein.
»Shelly?«, flüsterte die Person. »Seid ihr hier?«
»Brille?« Dana kam erste aus ihrer Deckung. Man hörte förmlich die Anspannung abfallen. »Ey, bist du noch ganz dicht, uns so einen Schrecken einzujagen?« Wenn Shelly nicht gewesen wäre, der jetzt in die Mitte der Hütte trat, wäre sie ihrem Bruder wahrscheinlich an die Gurgel gegangen, so sauer war sie. »Mach das nie wieder!«
»Wo ist eigentlich Locke?«, unterbrach Shelly sie.
»Ich bin hier«, rief Danas zweiter Bruder leise und trat durch die Tür.
»Wo kommt ihr eigentlich her?«, wollte Dana wissen.
»Wir haben den Lärm gehört«, antwortete Ralf. »Wir dachten, ihr wurdet erwischt, haben uns dann hinter der Hausecke versteckt und gewartet.« Brille sprach so schnell, dass er eine kurze Pause machen musste, um Luft zu holen.
»Welchen Lärm?«, fragte Shelly, bevor Danas Bruder weitererzählen konnte.
»Keine Ahnung«, er hob die Schultern. »Als ob irgendwo ’ne Scheibe zu Bruch ging.«
Dana und Shelly sahen sich an. »Das waren wir nicht. Wir sind abgehauen, als die Tür von Greens Büro zuknallte«, klärte Dana ihre Brüder auf.
»Wo ist eigentlich Terry?«, meldete sich Gregor aus dem Hintergrund und sah sich um.
»In Mister Greens Büro.« Shellys Worte klangen besorgt.
»Scheiße! Und was machen wir jetzt?« Ralf gähnte kräftig, setzte sich auf die Dielen und lehnte den Kopf gegen die Wand. Nicht nur ihm waren die letzten Minuten förmlich ins Gesicht geschrieben.
»Ich geh nochmal zurück«, schoss es aus Dana heraus und kaum ausgesprochen, stand sie auch schon auf dem Hof. Die Jungs sahen ihr überrascht nach.
Shelly folgte Dana, er bekam sie gerade noch am Arm zu packen und hielt sie zurück. »Was willst du denn machen?«, fragte er leise. »Wenn es wirklich Green war, da im Büro, dann haben wir schon Probleme genug.«
»Das ist mir egal.« Dana löste sich aus seinem Griff. »Du scheinst vergessen zu haben, dass Terry unsere Freundin ist.«
»Nein, das hab ich nicht vergessen. Aber...« Shelly suchte nach Worten.
»Dann bleib hier, bei meinen Brüdern«, entgegnete Dana ihm wütend. »Du bist echt ein feiges Weichei!« Dann machte sie sich wieder auf den Weg zum Bürogebäude.
Shelly raufte sich die Haare. »Das darf doch alles nicht wahr sein. Dieses einfältige Ding.« Er ging zurück in die Hütte und wollte über einen Plan nachdenken, aber erst musste er sich um Ralf und Gregor kümmern.
Er schickte die Brüder kurzerhand ins Bett.
Auch wenn sie anfangs protestierten, weil sie ihrer Schwester doch helfend zur Seite stehen wollten, ließen sie sich schließlich von Shelly überreden.
-zur selben Zeit-
»Ach, komm schon«, Green stupste mir mit der Schuhspitze, fast vorsichtig, gegen die Schulter. »Du wirst doch wohl jetzt nicht schlapp machen?«
Ich spürte diese Berührung und hörte seine Stimme, doch ich reagierte nicht, in der Hoffnung, er würde von mir ablassen.
Der Heimleiter setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und sah wortwörtlich auf mich herab. Plötzlich fiel ihm das Muttermal an meinem Hals auf. »Na was haben wir denn da feines?« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Du wirst mir sicher eine schöne Stange Geld einbringen.« Und sich selbst anerkennend zunickend griff er zum Telefon, wählte eine Nummer und wartete darauf, dass jemand am anderen Ende der Leitung den Hörer abnahm.
-einige hundert Kilometer entfernt-
Das Telefon schellte.
Mister Whiteking, ein Mann mittleren Alters und mit Halbglatze, öffnete die Augen und sah auf das störende Gerät. Er hatte es sich, vor ein paar Minuten erst, in seinem Bürostuhl gemütlich gemacht, um ein Nickerchen zuhalten.
Abermals klingelte es und der Mann mit untersetzter Figur stöhnte genervt. »Nicht einmal nachts hat man seine Ruhe«, motzte er.
Und wieder dieses Nerv tötende Gebimmel.
»Ja, ja, ist ja gut!« Schwerfällig richtete er sich auf, beugte sich mit ausgestrecktem Arm über den mahagonifarbenen Schreibtisch und nahm den Hörer ab. »Whiteking«, blaffte er in die Sprechmuschel.
»Wissen sie überhaupt, wie spät es ist?«, fauchte er in den Hörer, als er hörte, wer da am anderen Ende der Leitung war. »Ich hoffe es ist wichtig! Also, was wollen sie?«, fuhr er nach einer Weile fort und lauschte wieder in den Hörer.
Plötzlich lachte er auf. »Fünfzigtausend Bugs?«, fragte er laut, als hätte er die Person nicht richtig verstanden. »Sind sie wahnsinnig?« Whiteking schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich kaufe doch nicht die Katze im Sack.« Er hörte weiter zu und wurde dann plötzlich hellhörig.
»Und sie sind sich da ganz sicher, dass es die Kleine ist?«, fragte er nach einer kurzen Pause.
»Na gut, ich mache ihnen folgendes Angebot: Ich zahle ihnen zehntausend sofort. Wenn ich die Ware geprüft habe und sie in Ordnung ist, bekommen sie noch einmal fünftausend. Sollte es allerdings nicht die versprochene Ware sein, dann suchen sie sich schonmal einen neuen Job, damit sie mir das Geld, plus fünfundzwanzig Prozent Zinsen zurückzahlen können.« Whiteking grinste hinterhältig und horchte gespannt in den Hörer. Nach einer Weile nickte er zufrieden. »Okay, in zwei Wochen. Und enttäuschen sie mich nicht!« Dann legte er auf und lehnte sich wieder in seinen Bürostuhl zurück, um sein Nickerchen fortzusetzen.
-in Mister Greens Büro-
Wütend über das Verlustgeschäft knallte Green den Hörer auf die Telefongabel und wandte sich wieder mir zu. »Dann werde ich dich mal gut verstauen. Nicht, dass mir auch noch dieser kleine Gewinn verloren geht.«
Er packte mich an den Oberarmen, zog mich hoch und legte mich über seine Schulter. So trug er mich aus seinem Büro. Wir durchquerten den langen, dunklen Flur und ich blinzelte durch halb geöffnete Augen.
Verdammt, das ist die falsche Richtung. Wir müssen raus, nicht weiter rein!
Green stieg mit mir eine Treppe hinunter und trug mich durch einen schmalen Gang.
Scheiße, wo sind wir hier?
Diese Ecke des Heimes kannte ich gar nicht.
Er blieb stehen und meine Gedanken wurden durch ein lautes Quietschen und Klappern unterbrochen. Der ehemalige Hauptmann zog mich von seiner Schulter und ließ mich unsanft auf den Boden fallen.
»Ich weiß, du hörst mich«, begann er plötzlich mit mir zu reden. »Ich bin nicht so blöd, wie du vielleicht denkst, also höre genau zu. Wenn du willst, dass es deinen Freunden auch weiterhin so gut geht, dann solltest du kooperieren. Ich gebe dir ein paar Tage zeit, um darüber nachzudenken. Solltest du versuchen mich zu verarschen, habe ich ein lukratives Angebot für deine kleine Freundin bekommen.« In seinen Worten klang der blanke Hohn und ich konnte Green lachen hören. »Sie wird dann die nächsten Jahre in einem Puff arbeiten. Und die drei Bengel bring’ ich gewinnbringend in irgendeiner Fabrik unter. Gute Arbeitskräfte werden immer und überall gesucht.«
Ich hörte ihm einfach nur zu. Und auch, wenn unsagbare Wut in mir aufstieg, wagte ich es nicht mich zu bewegen.
Dann war da wieder dieses Quietschen und Metall schlug auf Metall, gefolgt von einem Klicken. Erst, als sich Greens Schritte weit genug entfernt hatten, wagte ich es meine Augen zu öffnen. Und im schwachen Schein einer flackernden Kerze blickte ich auf Gitterstäbe.
Bravo, Terry, dass hast du ganz toll gemacht!
Dann wurde die Kerze gelöscht und ich blieb im Dunkeln zurück.
-etwa zur selben Zeit-
Abermals lief Dana über den dunklen Hof und schlich sich anschließend leise durch die offenstehende Tür des Flachbaus. Sie war gerade ein paar Schritte durch den Flur gegangen, als die Tür zu Greens Büro geöffnet wurde und sich schemenhaft eine Person in der Dunkelheit abzeichnete. Der Statur nach zu urteilen war es der Heimleiter und er trug etwas auf seinen Schultern. Dana ging, im Schatten einer Wand, in die Hocke und hoffte, dass er sie nicht entdeckte.
Green bewegte sich von ihr weg, weiter ins Dunkel hinein. Sie atmete erleichtert auf, wartete noch einen Augenblick und ging dann vorsichtig weiter. Am Büro angekommen, legte sie ein Ohr an die Tür, doch es war nichts zu hören. Sie überlegte kurz und entschied sich dann Mister Green zu folgen.