The Best Minds - Jonathan Rosen - E-Book

The Best Minds E-Book

Jonathan Rosen

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Beschreibung

Shortlist Pulitzer Prize 2024 / »Best Book of the Year« bei u.a. Guardian, New York Times, The Atlantic und Wall Street Journal

Der oft zitierte schmale Grat zwischen Genie und Wahnsinn steht im Mittelpunkt dieser ergreifenden wahren Geschichte. Jonathan Rosen erzählt davon, wie die Diagnose Schizophrenie seinen besten Freund aus Kindertagen, den Shooting-Star der Ivy-League-Universität Yale Michael Laudor, vom Gipfel des akademischen Ruhms und eines großen Film- und Buchvertrags in eine psychiatrische Klinik und schließlich sogar zu einem grausamen Verbrechen führte. Es ist eine »amerikanische Tragödie«, jedoch mit universeller Relevanz. Rosen verbindet eine zärtliche und berührende Geschichte über Freundschaft mit einer knallharten Anklage darüber, wie sträflich wir die psychisch Kranken in unserer Gesellschaft vernachlässigen – und damit sie und auch uns selbst in Gefahr bringen.

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Seitenzahl: 1057

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der oft zitierte schmale Grat zwischen Genie und Wahnsinn steht im Mittelpunkt dieser ergreifenden wahren Geschichte. Jonathan Rosen erzählt davon, wie die Diagnose Schizophrenie seinen besten Freund aus Kindertagen, den Shooting-Star der Ivy-League-Universität Yale Michael Laudor, vom Gipfel des akademischen Ruhms und eines großen Film- und Buchvertrags in eine psychiatrische Klinik und schließlich sogar zu einem grausamen Verbrechen führte. Es ist eine »amerikanische Tragödie«, jedoch mit universeller Relevanz. Rosen verbindet eine zärtliche und berührende Geschichte über Freundschaft mit einer knallharten Anklage darüber, wie sträflich wir die psychisch Kranken in unserer Gesellschaft vernachlässigen – und damit sie und auch uns selbst in Gefahr bringen.

Jonathan Rosen studierte in Yale und Berkeley und brach seine akademische Karriere ab, um Autor zu werden. Er hat mehrere Romane und Sachbücher verfasst. Seine Texte sind in der New York Times, im New Yorker, The Atlantic und zahlreichen anderen Medien erschienen. Für The Best Minds war er 2024 für den Pulitzer Prize nominiert. Er lebt mit seiner Familie in New York City.

Jonathan Rosen

The Best Minds

Aus dem amerikanischen Englischvon Leon Mengden

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel

»The Best Minds: a story of friendship, madness, and the tragedy of good intentions« bei Penguin Press, New York

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor.

Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Deutsche Erstausgabe April 2025

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2023 by Waxwing, LLC

Covergestaltung: semper smile, München

unter Verwendung von Bildmaterial von Jack Schultz

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ls · Herstellung: han

ISBN 978-3-641-16683-0V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

In Erinnerung an Robert und Norma Rosen

Möge die Erinnerung an sie mir stets ein Segen sein

Und für Anna Rosen – Schwester, Beistand, beste Freundin

Ich rufe den Geheimnisvollen an,

Der noch auf diesem nassem Sand am Fluss

Gehen soll, mir ähnlich, ja, mein Doppelgänger

Und das Unähnlichste mir unter allem,

Mein Gegen-Ich

William Butler Yeats, »Ego Dominus Tuus«

Inhalt

Inhalt

Teil I Das Haus an der Mereland Road

1 Der Ideale Gefährte

2 Die gute Erde

3 Buntglaskästchen

4 Fremde

5 American Pie

6 Der Sommer der Freiheit

7 Flaschenpost

8 Lesefehler

Teil II Das Haus der Psychiatrie

9 Der Schatten weiß es

10 Die Drehtür

11 Wieder zu Verstand kommen

12 Geschichten

13 Entscheidungen

14 Der Bruch

15 Verstrickung

16 Geschlossene Abteilung

17 Aus der Krankheit eine Waffe machen

18 Unterschicht

19 Auf halbem Wege

Teil III Das Haus des Gesetzes

20 Kluge Köpfe

21 Mentoren

22 Präzedenzfall

23 Geheimnisse

24 Das wohlwollende Licht der Krankheit

25 Der glückliche Narr

26 Der Postdoktorand

27 Durchdachtes Ertüchtigen

28 Karrierekiller

Teil IV Das Haus der Träume

29 Das Vorbild

30 Zweimal geboren

31 Creativity, Inc.

32 Michael, auch Kevin genannt

33 Schamanen

34 Chancengleichheit

35 Zurück in die Vergangenheit

36 Die zwei Adams

37 Ein persönlicher Notfall

38 Der Weg zurück

39 Der tödliche Trichter

40 Kain und Abel

41 Die unerschütterliche Optimistin

42 Das Ende der Geschichte

Epilog Es führt kein Weg zurück

Danksagungen

Zu den Quellen dieses Buches

Literaturangaben

Teil I Das Haus an der Mereland Road

Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir jemals am Leben waren,

in den Häusern der Mütter lebten, uns einrichteten

mit unserem eigenen Tun in einer Freiheit der Luft.

Wallace Stevens, »Der Felsen«

Ich kehre im Geiste zurück zu der Zeit vor fünfzig Jahren – der Zeit vor den sensationslüsternen Schlagzeilen, dem Filmvertrag mit Hollywood und dem in der New York Times veröffentlichten Profil eines verkannten Genies, das allen Erwartungen zum Trotz sein Jurastudium an der Yale University mit Erfolg abgeschlossen hatte. Es war die Zeit, bevor Sinnestäuschungen als reale Dinge durchgingen und erfundene Geschichten als das wahre Leben. Es war die Zeit vor dem edlen Anzug, den du für deine Unternehmensberatertätigkeit gekauft hattest und in dem du in die Klinik eingewiesen wurdest, auf die dann die Wohngruppe folgte und das Gatsby-Haus, das du mit einem Baseballschläger gegen Widersacher zu verteidigen suchtest, die sich als deine Freunde und Angehörigen ausgaben und die ihrerseits wiederum von wohlmeinenden Nachbarn unterstützt wurden.

Ich kehre zurück zu der Zeit, bevor du deinen mit summa cum laude hochgelobten Abschluss machtest – den ich in Anspielung auf deinen Familiennamen im Geiste immer summa cum Laudor genannt habe, weil du innerhalb von drei Jahren erreicht hattest, was mir in vier Jahren nicht gelungen war. Zurück zu unserer Zeit an der Highschool, als du davongerannt bist, während ich Prügel bezog – und den Schrecken zwanzig Jahre später, als es an mir war, mich zu sputen.

Ich befinde mich auf einer Straße, auf der ich mich in rasendem Tempo rückwärts bewege und einem tragischen Kummer zu entfliehen suche, der nach allen Seiten seine Kreise zieht. Vergib mir. Ich weiß, dass es keine solche Straße gibt und sie auch nicht in rasendem Tempo zurückführt – allerdings ebenso wenig voraus. Ich weiß, dass es keine Rückkehr gibt.

Und doch befinde ich mich hier nun auf einem kurzen Straßenstück in New Rochelle. Am oberen Ende der Straße steht ein grün-weiß gestrichenes Herrenhaus im Kolonialstil und am unteren ein braun-weiß gestrichenes Haus im Tudor-Stil. Es gibt hier zwei zehn Jahre alte Jungen, die in je einem dieser Häuser leben – selbst heute noch. Sie sind nicht wirklich da, aber doch präsent. Und mit ihnen muss ich beginnen.

1 Der Ideale Gefährte

Als du noch ein kleiner Junge warst, hätte niemand die Rolle des perfekten Spielkameraden für dich besser ausfüllen können als Michael Laudor vom anderen Ende der Straße: ein Freund, wie man ihn sich für dich nur wünschen konnte – einer, der dir auf ganz besondere Weise ebenbürtig war.

Cynthia Ozick, in einem Brief an den Autor

Meine Eltern und ich waren 1973 nach New Rochelle gezogen. Es gab hier gute Schulen, sattgrüne Rasenflächen und drollige, in den Zwanzigerjahren entstandene Schilder, auf denen NURFÜNFUNDVIERZIGMINUTENBISZUMBROADWAY oder EINESTADTZUMLEBEN, DERKIRCHENUNDDERSCHULEN geschrieben stand – obwohl es sich in Wirklichkeit um vier Synagogen handelte und man mit der Metro innerhalb von dreiunddreißig Minuten in Manhattan war – dem Fels, um den sich alles drehte. Aber als wahrer Grund für unseren Umzug nach New Rochelle erwies sich, dass ich hier Michael kennenlernen sollte. So jedenfalls hat es mir die Schriftstellerin Cynthia Ozick, die beste Freundin meiner Mutter, dargestellt:

In der Zeit, in der du aufwuchst, habe ich viel von Michael Laudor gehört, und bevor du von seiner Existenz auch nur ahntest, war es irgendwie schon klar, dass Michael – oder jemand wie er – so etwas wie das Zünglein an der Waage darstellte, wenn man am Überlegen war, wo man sich ein Haus kaufen sollte.

Mit anderen Worten: An Michael führte kein Weg vorbei. Es war mir vorbestimmt, ihm zu begegnen – oder zumindest jemandem wie ihm, denn ebenso wenig, wie man mit Gewissheit vorhersagen kann, mit wem man eines Tages befreundet sein wird, kann man die Stunde seines eigenen Todes vorausahnen oder ob man eines Tages dem Wahnsinn verfallen wird – oder etwa doch?

Meine erste Begegnung mit Michael fand bald nach unserem Einzug statt: Ich war gerade dabei, eine Ladung Gerümpel zu inspizieren, das die Vorbesitzer unseres Hauses akkurat aufgehäuft an einer Ecke unseres Rasens zurückgelassen hatten. Mein besonderes Augenmerk galt dabei möglichen Hinterlassenschaften aus dem Besitz der drei recht athletisch wirkenden Jungen, die hier gewohnt hatten, und ich überlegte gerade, ob ein kleines Aquarium es wohl wert war, aus dem Müll gerettet zu werden, als ein Junge mit rotbrauner Mähne und einer großen, dunklen Fliegersonnenbrille auf der Nase herüberkam, um mich in meiner neuen Nachbarschaft willkommen zu heißen.

Er war sogar noch ein Stückchen größer als ich und wirkte zunächst ein wenig linkisch auf mich, doch es war gleichzeitig etwas Schwungvolles in seinem Schritt, das eine Entschlossenheit ausdrückte, wie sie für einen Jungen unseres Alters eher ungewöhnlich schien – als hätte er jederzeit ein fest umrissenes Ziel vor Augen. Seine Art, seinen aufrechten Gang hervorzuheben und sich dabei in die Brust zu werfen, um eine gewisse Überlegenheit zu betonen und Distanz zu seinem Gegenüber zu schaffen, war so auffällig, dass sie ihm den Spitznamen Großfuß eingebracht hatte.

Aber das erfuhr ich erst, als wir in die fünfte Klasse kamen und ich gleichzeitig in Erfahrung brachte, dass man ihn auch ganz allgemein den »Großen« nannte. Der kleinste Junge in der Klasse wurde »der Kleine« gerufen, und wenn wir uns der Größe nach aufstellen mussten, bildeten der Kleine und der Große jeweils den Anfang und das Ende der Reihe, wie Buchstützen. Lehrer, die mitdachten, ließen manchmal den kleineren Schülern den Vortritt, was ganz bestimmt Wunder für ihr Selbstwertgefühl bewirkte.

»Der Große« war im Vergleich zu »Großfuß« natürlich ziemlich nichtssagend, aber wie viele Kinder bekommen schon zwei Spitznamen verpasst? Und Michael war ja auch wirklich groß – nicht ganz so groß wie unser Klassenkamerad Hal, von dem man glatt meinen konnte, er wäre von dem Gesetz zur Wiedereingliederung und Fortbildung ehemaliger Soldaten in die fünfte Klasse zurückbefördert worden, sondern infolge einer seltenen Kombination von Statur, Intelligenz, Haltung und Willensstärke.

In Brookline – dem Vorort von Boston, in dem wir drei Jahre lang gelebt hatten, ehe wir nach New Rochelle umzogen – war ich unter all meinen Freunden der Längste gewesen, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, mich deswegen »den Großen« zu nennen – dazu machte ich einfach zu wenig her. Ich hatte mich in einer ganz bescheidenen Nische für mich selbst eingerichtet. Michael war bloß zwei oder drei Zentimeter größer als ich und genauso dünn, aber er schien es zu genießen, Raum einzunehmen, den er allerdings auf eine bisweilen etwas unbeholfene Weise auszufüllen pflegte.

Selbst beim Stillstehen hatte er die Angewohnheit, mit dem Oberkörper nach vorne zu wippen und auf seinen Fußballen zu balancieren, als wolle er den Spurt, den sein Körper beim Wachsen eingelegt hatte, nachholen. Da stand er also eines Tages neben mir auf der Mereland Road in dieser etwas wackeligen, aber selbstbewussten Haltung und hob und senkte sich wie die Wellen auf dem Meer. Aber er wurde so, wie er war, problemlos akzeptiert, und dies gelang ihm auf die gleiche Art und Weise, die ihn beim Basketball glänzen ließ – indem er unbeirrt Rückgrat zeigte.

In späteren Jahren habe ich oft gehört, dass manche Leute sich von ihm eingeschüchtert fühlten, aber auf mich hatte er genau die gegenteilige Wirkung. Trotz meiner eigenen Schüchternheit – oder vielleicht auch gerade wegen ihr – hatte Michaels Selbstbewusstheit eine beruhigende Wirkung auf mich. Mir war sehr wohl bewusst, dass sogar ihm eine gewisse Unbeholfenheit zu schaffen machte, die er jedoch zu überwinden oder einfach auch zu überspielen wusste. Auf jeden Fall konnte ich mir von eben diesem seinem Selbstbewusstsein ein Stück für mich abschneiden.

Abgesehen davon ist Schüchternheit nicht dasselbe wie Bescheidenheit. Die gleiche Zuversicht, von der sein Leben bestimmt war, prägte auch das meine – der feste Glaube, das eigene Hirn wäre ein Raumschiff, in das man bloß einzusteigen bräuchte, um zu ungeahnten Höhen loszudüsen, angetrieben von einer nicht näher benannten, mysteriösen Macht, beinahe mystisch und doch ganz und gar real: So würden wir das Schattenreich unserer profanen Existenz weit hinter uns lassen und unseren Weg zu stratosphärischen Erfolgen erdenken.

Michael nannte mir seinen Namen und ließ mich auch sofort wissen, dass er den meinen zu Jon abkürzen würde. Es gefiel ihm, Fragen zu beantworten, ehe diese auch nur gestellt worden waren, und so tat er gleich seine Einschätzung kund, der zufolge das Aquarium wohl kaum auf den Müll gewandert wäre, wenn es nicht irgendwo eine undichte Stelle aufwiese – auch wenn nirgendwo ein Sprung im Glas zu erkennen war. Mir hatte es noch nie behagt, wenn jemand mich mit einer Kurzform meines Namens anredete, aber ich ließ Michael gewähren.

Es ist denkbar, dass seine Mutter ihn geschickt hatte. Ruth Laudor war eine Frau, die auf gutnachbarliche Verhältnisse Wert legte, und sie kam irgendwann dann auch persönlich zu uns herüber, um uns willkommen zu heißen. Manchmal fand sie sich aber auch nur bei uns ein, um dem Gezeter in ihrem eigenen Haushalt zu entkommen. Michael hingegen blieb stets ein Ausbund an freundlicher Gelassenheit und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Schon damals kam er mir vor wie der Botschafter seines ganz eigenen Reiches.

Michael war es denn auch, der mich darauf aufmerksam machte, dass unser Haus sich zwar ganz am Anfang der Straße befand, aber die Hausnummer 11 trug und nicht die Nummer 1 – etwas, worüber ich mir nie und nimmer den Kopf zerbrochen haben würde, weil ich Zahlen nie so recht über den Weg traute. Und dazu bedurfte es nicht einmal der »Neuen Mathematik«, die man in den Sechzigerjahren eingeführt hatte, damit wir im Kalten Krieg Sieger blieben. Ich wusste nicht einmal, dass diese Neue Mathematik auch als Mengenlehre bezeichnet wurde – bloß, dass mir in der vierten Klasse ein Komma beigebracht worden war und ich mein ganzes restliches Leben lang darüber rätseln würde, wo dieses Komma innerhalb des Dezimalsystems denn nun eigentlich hingehörte.

Das wusste Michael, und deshalb spielte er mir einen Song von Tom Lehrer mit dem Titel »New Math« vor – einen von vielen Songs und vielen Schallplatten, die wir uns stundenlang in seinem Zimmer anhörten. Der Witz an »New Math« bestand darin, dass diese »Mengenlehre« in Wirklichkeit so simpel war, »that only a child can do it« – dass nur Kinder damit zurechtkamen. Dabei war »New Math« ganz bestimmt kein Kinderlied, sondern für Erwachsene geschrieben – was seinen ganz besonderen Reiz ausmachte. Michael hat nie daran geglaubt, dass es eine Grenzlinie gäbe, die Kinder und Erwachsene voneinander trennte – wie auch so manche andere Grenze für ihn einfach nicht zu existieren schien.

Die Platte von Tom Lehrer war damals bereits zehn Jahre alt; mir aber war sie vollkommen neu. Es war darin von Menschen und Institutionen wie Wernher von Braun und dem Vatikan die Rede, über die Tom Lehrer sich zu Michaels größtem Amüsement lustig machte. Die Lieder hatten einen irgendwie altmodischen Klang, aber die Texte trafen haargenau den Nerv der Zeit – so ähnlich wie die Abenteuer des Superman-Vorläufers Doc Savage, die ich ebenfalls erst durch Michael kennenlernte.

Michael kam mir oft wie jemand vor, der bereits ein ganzes Erwachsenenleben hinter sich hatte und sich jetzt in seiner Kinderzeit einfach hängen ließ – oder sein Leben rückwärts lebte wie Benjamin Button oder Merlin. Meine Eltern fanden es ausgesprochen reizend, wie rasch er dazu überging, sie mit Bob und Norma anzureden, und bewunderten ihn dafür, wie neunmalklug er ihnen in die Augen sah, wenn er die Bombenangriffe auf Kambodscha verfluchte oder den Watergate-Skandal kommentierte, während ich bloß darauf wartete, dass er seinen Vortrag beendete, damit wir endlich Karten spielen oder nach draußen gehen konnten. Mir war durchaus bewusst, dass unser Präsident ein ziemlich schlimmer Finger war, aber Michael wusste außerdem, wer Liddy, Haldeman und Ehrlichman waren und was sie auf dem Kerbholz hatten – alles Dinge, über die er sich lang und breit ausließ, als wären sie ihm auf dem Schulhof gleich hinter dem Haus seiner Eltern von Deep Throat, dem Informanten, der die beiden Reporter der Washington Post damals auf die Spur des Watergate-Skandals gesetzt hatte, höchstpersönlich zugeraunt worden.

Zur Theodore Roosevelt Elementary School war es ein so kurzer Weg, sagte Michael, dass ich eine Viertelstunde vor dem ersten Glockenläuten aufwachen, in Ruhe frühstücken und immer noch pünktlich zum Unterrichtsbeginn erscheinen konnte. Den Schulhof mit seinen Basketballkörben betrachtete er als einen Teil des angrenzenden Gartens seiner Eltern.

Vom Dachfenster des Arbeitszimmers meiner Mutter konnte ich das Dach der Schule sehen, dessen verzierte Kuppel an die Scheune eines vermögenden Farmers oder eine Kleinstadtkirche denken ließ. Von meinem eigenen Fenster aus konnte ich das von ein paar Ästen abgeschirmte Dach von Michaels Haus sehen. In unserer Straße gab es überhaupt nur sechs oder sieben Häuser. Das der Laudors, die Nummer 28, lag unserem diagonal gegenüber eine Hausnummer weiter die Straße hinunter, also nur einen Königszug weit auf dem Schachbrett entfernt.

Michael machte mit mir einen Rundgang durch das nur zwei Straßenblocks von dem Haus meiner Eltern entfernt gelegene Wykagyl-Einkaufszentrum. Hier gab es ein Geschäft, das sich Big Top nannte und im vorderen Ladenteil Süßigkeiten und weiter hinter Spielzeug verkaufte, eine Filiale der Supermarktkette A&P, eine Pizzabäckerei und eine Tierhandlung, in der ich mir ein neues Aquarium besorgen könnte. Die Guppys kosteten hier zehn Cents pro Stück.

Michael war ein kenntnisreicher Führer, der es nicht dabei beließ, auf George’s Hair Fort hinzuweisen, sondern auch die Namen der vier italienischen Brüder aufzählte, die einem hier die Haare schnitten. Ich hingegen konnte mir auch später noch gerade mal Rosario merken, den Namen des Bruders, der mich immer bediente. Rosario war auch der Frisör meines Vaters und begrüßte ihn jedes Mal lautstark mit »Professore!«, wenn er den Laden betrat. Michaels Vater bedachte er mit dem gleichen Titel.

Das war noch etwas, was Michael und ich gemeinsam hatten. Unsere Väter waren beide Collegedozenten, wobei mein Vater deutsche Literaturgeschichte lehrte und Michaels Vater Wirtschaftswissenschaften. Außerdem hatte mein Vater einen kahlen Schädel und weißes Haar über seinen Ohren, während der Vater von Michael eine dramatisch nach hinten gekämmte dunkle Haartolle nach Art der Motorradgangs trug, in deren Nachbarschaft er im Hafenviertel von Brooklyn aufgewachsen war.

Im darauffolgenden Jahr fing Mr. Summa – der seinen Job in einem Abfüllbetrieb für 7-Up-Brause aufgegeben hatte, um in der sechsten Klasse unser Lehrer zu werden – damit an, Michael »Professor« zu nennen, nachdem er ihn beim Erzählen eines Witzes, in dem es um einen Schluckauf ging, das Wort »Epiglottis« hatte verwenden hören. So kam Michael zu einem dritten Spitznamen.

Michael mochte der Grund gewesen sein, weshalb die Wahl meiner Eltern auf die Mereland Road gefallen war, aber Cynthia Ozick, die Freundin meiner Mutter, war der Auslöser dafür gewesen, dass sie sich überhaupt erst für New Rochelle entschieden hatten. Cynthia und meine Mutter waren beide Schriftstellerinnen und beseelt von einer verzehrenden Hingabe an die Literatur, ihrem Engagement für Feminismus und einem Bewusstsein für die dunklen Schrecken des Holocausts – dem schwarzen Hintergrund des Spiegels, den sie der Realität vorhielten und der die darin reflektierte Welt sichtbar machte. Sie telefonierten jeden Tag miteinander. Wenn die Telefonate beendet waren, machten sie sich gleich daran, einander lange Briefe zu schreiben, und sobald diese Briefe dann ihre Empfängerinnen erreicht hatten, riefen diese sich gegenseitig an, denn es gab immer etwas zu erzählen – obgleich das geschriebene Wort das einzige blieb, auf das es wirklich ankam.

Cynthia wohnte im Süden von New Rochelle, einer Gegend, die gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts von Hugenotten – französischen Protestanten auf der Flucht vor den Verfolgungen Ludwigs XIV. – besiedelt worden war. Von Cynthias Haus aus konnte man sowohl den Bahnhof zu Fuß erreichen als auch den Strand von Long Island sowie ein viktorianisches Haus in einer Straße mit dem schönen Namen Sutton Manor, in das meine Mutter sich verliebt hatte. Und doch war der Reiz des Stadtviertels mitsamt dem Traumhaus meiner Mutter »rasch wieder verflogen«, vertraute mir Cynthia an – weil ihm nämlich »jegliches jüdische Ambiente« fehlte. Dieser Einwand ging auf meinen Vater zurück – ihm war es das Wichtigste, dass wir in einer Gegend lebten, in der es Kinder gab, mit denen ich mich anfreunden konnte.

Die passenden Kinder wohnten im Norden von New Rochelle, wo sich in der Folge des Booms der Nachkriegsjahre viele jüdische Familien niedergelassen hatten. Rob Petrie, der von dem smarten Dick Van Dyke in der gleichnamigen Sitcom gespielte fiktive Komödienautor, wohnte gemäß Drehbuch in einem Vorort namens New Rochelle, während Carl Reiner, der kahlköpfige jüdische Autor der Dick Van Dyke Show, der die Hauptfigur nach seinem eigenen Vorbild gestaltet hatte, dann aber nicht als er selbst in der Show mitspielen durfte, ebenfalls ein Haus im Norden von New Rochelle besaß.

Und das traf auch auf Jerry Bock und Joe Stein zu, den Komponisten und den Autor des Musicals Anatevka – besser bekannt unter seinem Originaltitel Fiddler on the Roof –, der Geschichte eines armen Juden, der davon träumt, ein reicher Jude zu sein, und die besonders gut bei vermögenden Juden ankam, die sich romantischen Träumen davon hingaben, wie es gewesen sein musste, ein armer Jude zu sein – oder sich zumindest an ihre Großeltern erinnerten, die einmal als arme Juden ins Land gekommen waren. Das Musical war am Broadway gerade erst zwei Jahre zuvor abgesetzt worden, nachdem der Stoff verfilmt worden war. Meine Eltern hatten sich sogar die Schallplattenaufzeichnung des Stückes gekauft, obwohl mein Vater Anatevka als eine Travestie betrachtete und meine Mutter es als anspruchslosen Schund abtat.

Juden waren auch nach New Rochelle gezogen, um New York City zu entfliehen, und dann in die nördlichen Bezirke der Stadt umgesiedelt, um den Problemstadtteilen auszuweichen. New Rochelle war im Grunde genommen kein typischer Randbezirk einer Metropole, sondern vielmehr eine ganz eigene kleine Stadt, die über Neubausiedlungen, Golfplätze und ein einstmals auch blühendes Stadtzentrum verfügte, das nach Schließung des ortsansässigen Kaufhauses jedoch mit einem Male wie ausgestorben zu sein schien – der Schließung eben jenes Konsumtempels, dessen Eröffnung seinerzeit bereits den Niedergang der Innenstadt von New Rochelle eingeläutet haben sollte, was ich alles nicht so recht nachvollziehen konnte, worüber aber im Haus von Michaels Eltern in wissendem Tonfall diskutiert wurde.

Beth El, die Konservative Synagoge, der wir dem Wunsch meines Vaters gemäß beitreten sollten, war vom Innenstadtbereich in den etwas grüneren Norden der Stadt verlegt worden und eröffnete im Jahre 1970 ihre neuen Räume. Zwischen dem Traumhaus meiner Mutter im Süden der Stadt und Beth El im Norden erstreckte sich ein Flickenteppich aus alteingesessenen irischen und italienischen Arbeiterklasseenklaven, überkandidelten Stadtentwicklungsprojekten, Mittelklassewohnblocks mit einem Mix aus Mietern unterschiedlicher ethnischer Herkunft, der im Aussterben begriffenen Hauptgeschäftsstraße und einem von Schnellstraßen zerschnittenen sozialen Wohnungsbaugebiet, in dem ähnlich wie in den Neubausiedlungen überwiegend Schwarze lebten.

Also zogen wir nicht in eine Straße mit einem wohlklingenden, sinnträchtigen Namen wie Sutton Manor oder Echo Avenue, sondern in die Mereland Road. Das »mere« in Mereland deutete wohl auf eine früher dort vorhanden gewesene Wasserfläche hin, aber meine Mutter hatte sogleich eine verblüffend einfache Erklärung für den Straßennamen parat: Es wäre eben einfach nur Land – nicht mehr und nicht weniger.

Ja, einen Blick aufs Wasser hatte man hier fürwahr nicht, nur auf die kahle Außenwand von Beth El, die hoch über der North Avenue aufragte. Entworfen worden war das Bauwerk von einem Schüler des berühmten Architekten Frank Lloyd Wright, und es war so fensterlos wie ein Atomkraftwerk oder ein Mausoleum. Aber meinem Vater bedeutete es Trost, denn er war dabei, Frieden mit der Befolgung jüdischer Bräuche und Sitten zu machen, denen er abgeschworen hatte, weil er Gott nicht vergeben konnte, dass dieser seine Eltern dreißig Jahre zuvor im Stich gelassen hatte, als sie zusammen mit einem Drittel aller Juden auf der Welt grausam ermordet worden waren.

Unser Viertel trug den Namen Wykagyl. Dieser galt als Verballhornung eines Algonkin-Namens, der unter den Lenape-Indianern, den Ureinwohnern der amerikanischen Ostküste, gebräuchlich gewesen war, aber so, wie mein Vater das Wort aussprach, hatte es einen leicht jiddischen Klang. In der Intonation meines Vaters hatte sich zwar bereits ein Gutteil seines Akzents abgeschliffen, aber sein w hörte sich immer noch so an wie ein v. Wer nie verstanden hat, wieso die Marx Brothers im amerikanischen Original eines ihrer Filme bei dem Wort »Viadukt« meinten, es ginge um eine Ente (»Why a duck«), der hat auch meinen Vater niemals Wykagyl sagen hören.

Unser nächster Nachbar, Mr. Fruhling, dem die Flucht aus Nazideutschland gelungen war und der immer wollte, dass ich seinen achtzig Jahre alten Bizeps drückte (beinhart; er trainierte mit Hanteln), sprach das w ebenfalls wie ein v aus – ebenso wie seine zähe, nicht sehr große Schwester, die mit ihm im Haus lebte, und auch wie Harry Gingold, ein Holocaustüberlebender aus Polen, der eine Straße weiter wohnte. Er pflegte am Freitagabendgottesdienst die Synagogenbesucher zu begrüßen und ihnen verstohlen zuzuflüstern, wann es Zeit war, den Vorhang vor dem Toraschrein zu öffnen – so, als gäbe er einen Geheimtipp fürs Pferderennen weiter.

Für meine Schwester und mich war Mr. Gingold eine komische Figur, aber für meinen Vater war er Teil der unsichtbaren Bruderschaft der Geretteten, und er betrachtete es als die geheime Aufgabe seiner Seele, sie um sich zu versammeln. So wie Sherlock Holmes nur jemanden humpeln zu sehen brauchte, um auf den ersten Blick sagen zu können, was für eine Art von Unfall diese Behinderung verursacht hatte, brauchte mein Vater nur einen bestimmten Akzent zu hören, um sofort zu wissen, welche Bürde der Sprecher mit sich herumschleppte.

In einem Café – Michael und ich spielten derweil mit drei Pennys und Torpfosten aus Zuckertütchen Tischfußball – gelang es meinem Vater einmal, in der Zeit zwischen der Bestellung des Kuchens und dem Erhalt der Rechnung die von Rumänien nach Paris und von dort über die Pyrenäen nach Spanien, dann nach Palästina und schließlich in die Bronx führende Kriegsodyssee der Kellnerin zu erraten. Selbst wenn man berücksichtigt, dass zwischenzeitlich eine neue Kanne entkoffeinierter Kaffee aufgebrüht werden musste – koffeinfreier Kaffee war so ziemlich das Einzige, worauf mein Vater zeitlebens unbedingten Wert legte –, stellte dies eine beeindruckende Leistung dar, vor allem, da die Informationen der Betroffenen nicht im Rahmen eines journalistischen Frage-und-Antwort-Spiels entlockt wurden, sondern eher die Früchte eines durch gegenseitiges Wiedererkennen befeuerten Austausches im Telegrammstil darstellten. Als wir gingen, murmelte mein Vater: »Auschwitz. Ihre gesamte Familie.«

So etwas faszinierte Michael, und er tat es meinem Vater auf seine Weise nach. Anderen Freunden von mir mochte lediglich auffallen, dass mein Vater mit einem Akzent sprach; Michael aber wollte auch gleich wissen, wo mein Vater herkam, und dann, wie es ihm gelungen war, aus Wien zu entkommen. Diese Information wirkte sich sogleich auf Michaels Umgang mit meinem Vater und auch mit mir aus, wobei selbst der Akzent meines Vaters mit einbezogen wurde, den Michael prompt nachzuahmen begann – jedoch nicht aus eitlem Nachahmungstrieb, sondern eher so, wie man jemandes Telefonnummer immer wieder vor sich hinsagt, um sie im Gedächtnis zu behalten.

Er tat das Gleiche während der Highschool, als er für Sam und Stella arbeitete, ein älteres jüdisches Ehepaar, das einen Geschenkartikelladen namens Stellar Gifts betrieb und wie mein Vater nach der Reichskristallnacht aus Deutschland geflohen war. Es bedurfte einer gewissen Vertrautheit mit der düsteren Fremdartigkeit solcher Ereignisse, um sich wie wir Kinder insgeheim und nicht ohne eine leichte Gänsehaut darüber amüsieren zu können, dass Sam und Stella auch Artikel aus Kristallglas in ihrem Verkaufssortiment führten.

Die versammelten Überlebenden unserer Nachbarschaft erschienen Michael wie ein heimliches Kollektiv gerechter Beschützer, deren aus ihrem Leid erwachsene mystische Aura sie zu einem Bollwerk gegen alles Böse erhob.

Nichts konnte weiter entfernt sein von dem einfachen, alles in Gut und Böse unterteilenden Weltbild des zwanzigsten Jahrhunderts als die Mereland Road – auch wenn Betty Friedan in ihrem Bestseller Der Weiblichkeitswahn das Leben in den Vorstädten mit einem »komfortablen Konzentrationslager« verglich und warnend darauf hinwies, dass Hausfrauen einer nicht minder schlimmen Bedrohung ausgesetzt seien als die Millionen, die in den Konzentrationslagern in den Tod marschiert sind.

Aber wenn in besagtem Bestseller, der immerhin in dem Jahr erschien, in dem Michael und ich auf die Welt gekommen waren, auf eine solche Weise über Konzentrationslager gesprochen werden konnte, diente eine derartige Übertreibung auf jeden Fall als Indikator dafür, wie schlecht es um das amerikanische Wissen in Bezug auf die Konzentrationslager wie dem, in dem man meinen Großvater hingemordet hatte, wirklich bestellt war. Betty Friedans Buch fand denn auch einen komfortablen Platz im Bücherregal so mancher amerikanischen Familie, sodass auch ich, getrieben von pubertärer Neugier, einen verstohlenen Blick hineinwerfen konnte, nachdem ich mich von seinem Titel hatte täuschen lassen.

Hat Michael an jenem Tag unserer ersten Begegnung einen Basketball gedribbelt? Er hatte häufig einen bei sich – so, wie man seinen Hund auf einen Spaziergang mitzunehmen pflegt. Kam er mich besuchen, hörte ich seinen Ball schon, wenn er noch einen halben Block entfernt war.

Selbst heute noch durchfährt mich, wenn ich den dumpfen Widerhall eines auf einer menschenleeren Straße aufprallenden Basketballs und dann einen Sekundenbruchteil später sein gedämpftes Echo wie den Nachimpuls eines Herzschlags höre, die Erinnerung an Michael, wie er mich zu Hause abholen kommt, um mit mir ein paar Körbe zu werfen oder ein Spiel namens H-O-R-S-E zu spielen. Manchmal kickten wir aber einfach nur den Ball hin und her, wenn wir gerade ein wichtiges Gesprächsthema am Wickel hatten oder ich keine Lust hatte, gegen Michael den Kürzeren zu ziehen.

Wenn man Michael neben dem Basketballkorb mit gespreizten Beinen und ausgefahrenen Ellenbogen in die Luft springen sah, traute man ihm eigentlich gar nicht zu, dass er gleich einen Treffer erzielen würde, aber Michael schien den Ball mit der Kraft seines Willens vom Brett abprallen und dann durch das in Fetzen vom Ring herunterhängende Netz flutschen zu lassen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass dies in Wirklichkeit das Ergebnis eines harten Trainings darstellte. Ihm misslang fast nie ein Korbwurf – ob es nun regnete oder schneite und seine Hände ganz rau von der Kälte waren.

Nein, ich kann mich nicht erinnern, ob Michael an dem Tag, an dem er kam, um sich mir vorzustellen, einen Basketball bei sich hatte – ebenso gut hätte es auch ein Buch gewesen sein können. Er trug oft gleich mehrere Bücher gleichzeitig unter den Arm geklemmt mit sich herum, die er dann unsanft einfach am Fuße des Stahlpfostens, an dem auf unserem Schulhof der am höchsten aufgehängte Korb angebracht war, fallen ließ. Es war immer eine recht bunte Mischung, die er bei sich hatte – Ray Bradbury, Hermann Hesse oder auch Westernromane von Zane Grey. Einige waren ihm von seinem Vater als Lektüre »aufgetragen« worden, wie er sagte – Wer die Nachtigall stört etwa oder Gideons Paukenschlag oder auch eine Prosafassung des Beowulf –, aber sie landeten trotzdem auf einem Haufen mit dem Wüstenplaneten-Zyklus und den Abenteuern von Doc Savage.

Dank Michael wurde aus mir ein großer Fan von Doc Savage, dessen Geschichten in den Dreißigerjahren zunächst in Heftchenform erschienen waren und in den Siebzigern dann als erschwingliche Taschenbuchausgaben nachgedruckt wurden. Wir amüsierten uns zwar über die ein wenig archaisch anmutende Sprache und die in den Büchern beschriebenen hypermodernen Errungenschaften – Ferngespräche als neueste technische Errungenschaft! –, aber letzten Endes trug der von seinem Kreuzzug für Recht und Ordnung stets mit Adrenalin vollgepumpte Doc Savage erheblich zu dem geheimen Katalog der erstrebenswerten männlichen Tugenden bei, den ich mir bei Michael abschaute – der diese wiederum als komplettes Sortiment von seinem Vater, seinen Großvätern und aus alten Filmen und diversen Groschenromanen übernommen hatte.

Michael verschlang viel mehr Doc Savage-Geschichten als ich, aber dafür wusste er auch sehr gut Inhalte und bestimmte Situationen – die sich im Grunde alle nur sehr unwesentlich voneinander unterschieden – zusammenzufassen. Doch es waren ja der Held all dieser Geschichten mitsamt seinen fünf Mitstreitern, die es uns so sehr angetan hatten. So konnten wir uns stundenlang an Clark Savage Junior, dem »Mann aus Bronze« mit den goldenen Augen, der Doc genannt wurde, weil er von Beruf Chirurg war, ergötzen. Dabei handelte es sich bei ihm eigentlich um einen ganz normalen Sterblichen, der von Geburt an von einer von seinem philanthropischen Vater handverlesenen Gruppe von fünf Wissenschaftlern – nicht bloß die klügsten Köpfe, die man je auf einem Haufen gesehen hatte, sondern ein jeder auf seine Art gleichzeitig auch ein ziemlich schräger Vogel – auf seine zukünftigen Aufgaben als Superman vorbereitet worden war.

Doc war der stärkste, schlaueste, tapferste, gebildetste und gefährlichste Mensch der Welt. Aber er war auch so gutherzig – »Christusgleich« wurde er in den Büchern genannt, ein Ausdruck, den Michael mir erläutern musste –, dass er, anstatt die bösen Buben in den Kerker zu werfen und sie dort verrotten zu lassen, seine chirurgischen Fähigkeiten nutzte, um an ihnen »hochkomplizierte Gehirnoperationen« vorzunehmen, mittels derer ihre kriminellen Instinkte sowie sämtliche Erinnerungen an früher einmal begangene Missetaten eliminiert wurden, sodass sie in ein normales Leben zurückkehren konnten.

Ich brauchte Doc Savage wie einen erquickenden Vitaminstoß, denn ich war wie ausgehungert durch die intellektuelle Atmosphäre meines Elternhauses und die unbeabsichtigten Konsequenzen der feministischen Bestrebungen meiner Mutter. Diese waren ursprünglich als Kampfansage an ein tief verwurzeltes Patriarchat gedacht gewesen, hatten mich aber quasi als Nebenwirkung nicht nur davon überzeugt, dass Frauen Männern gegenüber gleichberechtigt waren – was für meine Schwester und meine Mutter als Selbstverständlichkeit galt –, sondern auch, dass die natürlichen Neigungen des Mannes die schweinische Folge einer grausam-brutalen chauvinistischen Welt waren und dass ich gut daran täte, Aspekte meines biologischen Selbst – oder zumindest meiner Pubertät – wie ein schändliches Geheimnis verborgen zu halten. Der Tennisspieler Bobby Riggs mochte sich selbst scherzhaft als »männliches Chauvinistenschwein« bezeichnen – obwohl er in dem Jahr, in dem wir nach New Rochelle zogen, vor fünfzig Millionen Menschen gerade sein »Geschlechterkampf«-Match gegen Billie Jean King versemmelt hatte –, aber er war letzten Endes ja auch das Produkt einer anderen Zeit und einer anderen Kultur. Abgesehen davon lebten wir koscher. Bloß hatte Michaels Mutter sonderbarerweise immer ein Glas Schweineschmalz neben ihrem Herd stehen.

Zwar lebten Michael und ich beide in Häusern voller Bücher, aber Michael, der alles gern in Zahlen fasste, bezifferte die Bibliothek seiner Eltern gleich auf Tausende von Bänden – so viele, versicherte er mir, dass Bücher sogar als Stützpfeiler für ihr Haus verwendet wurden, das ansonsten im Boden zu versinken drohe wie Venedig. Um dies unter Beweis zu stellen, nahm er mich mit in den vollgemüllten Keller, wo er mir die provisorischen, aus Büchern und Wagenhebern bestehenden Standbeine zeigte, die sein Vater ersonnen hatte.

Die Bücherstapel wuchsen wie Stalagmiten von Tischen, Stühlen und vom Fußboden bis hinauf zur Decke. Sie dienten als Podeste für die Wagenheber, die nach Bedarf immer weiter hochgekurbelt werden konnten, um dem immer weiter hinuntersackenden Fußboden und den einknickenden Türrahmen Paroli zu bieten. Michael lachte zwar selbst über dieses absurd aufwendige Rettungssystem, aber er war gleichzeitig auch stolz auf die Tatsache, dass Bücher im wahrsten Sinne des Wortes die Grundpfeiler seines Elternhauses darstellten und dass die Bibliothek seines ingeniösen Vaters das Absinken seines Heims auf den Erdmittelpunkt zu verlangsamte.

Mein Vater nahm uns manchmal nach Manhattan mit, wo er uns dann in dem unweit seines Büros im Gebäude des Baruch Colleges gelegenen riesigen Bücherwarenhaus von Barnes & Noble an der Ecke Fifth Avenue und 18th Street uns selbst überließ. Barnes & Noble wurde damals gerade zu einer landesweit operierenden Buchhandelskette ausgeweitet, aber das Hauptgeschäft in der Fifth Avenue verkaufte nach wie vor antiquarische Bücher, und das in einem solchem Umfang, dass man es damit sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft hatte.

Hier gab es Meilen von Bücherregalen und körbeweise Taschenbücher, manche in hervorragendem Zustand und andere wiederum, bei denen schon die Titelblätter fehlten und die für den Preis eines Guppys verscherbelt wurden. Auf großen Tischen lagen stapelweise gebundene Bücher, die auf einen oder zwei Dollar herabgesetzt waren und die meine Mutter sorgenvoll beäugte, wenn ich damit ankam – als hätte ich nicht etwa ein Schnäppchen entdeckt, sondern ein Grab geschändet. Restauflagen, an denen nichts mehr zu verdienen war, wurden verramscht, um Platz für neue und vielversprechendere Titel zu schaffen. Was sich auch so nicht mehr verkaufen ließ und im wahrsten Sinne des Wortes nicht einmal mehr den Wert des Papiers besaß, auf dem es gedruckt war, wurde eingestampft und zu Papierbrei verarbeitet – wie das Pferd in Farm der Tiere, aus dem Klebstoff gemacht wurde.

Michael und ich füllten unsere Einkaufskarren ziemlich wahllos mit Büchern, wobei ich mich auf Klassiker konzentrierte, weil ich die meisten davon ohnehin nicht zu lesen beabsichtigte – aber das behielt ich natürlich für mich. Ich sah meine Einkäufe vornehmlich als Sinnbilder meiner intellektuellen Aspirationen, Vorräte zur Deckung zukünftigen Bedarfs, die in der Zwischenzeit mein metaphorisches Haus im Gleichgewicht hielten. Michael dagegen fing schon im Laden zu lesen an und ließ sich auch auf der Bahnfahrt zurück nach Hause nicht von seiner Lektüre losreißen.

Beim Betreten des Hauses von Michaels Eltern wurde man im Vestibül von dem Bild einer indischen Tänzerin mit üppigen Brüsten in Empfang genommen – und von einer charakteristischen Mischung aus ganz verschiedenartigen Düften: Reinigungsmittel, Heizöl und Hamburger. Gemeinsam mit diversen Büchern, zusammengelegten Wäschestücken und einzelnen Sektionen aus der New York Times stapelte sich auf Stühlen und auf kleinen Tischchen die eingegangene Post – so ähnlich, wie ich es auch von mir zu Hause kannte, bloß in erheblich größerem Ausmaße.

Meistens hörte man die Laudors schon, bevor sie in Erscheinung traten. Es war aber auch für den regelmäßigen Besucher ihres Hauses nicht immer leicht, herauszuhören, ob jemand vor Wut herumschrie oder bloß vor sich hin schimpfte, anstatt schlicht und einfach die Treppe hochzugehen und die Stereoanlage leiser zu drehen, um damit unmissverständlich klarzustellen, wer hier das Sagen hatte. Und im Haus der Laudors gab es ständig jemanden, der das Sagen zu haben meinte.

Vor allem gab es hier drei Söhne, einer größer als der andere – wie die drei Böcke Brausewind aus dem norwegischen Volksmärchen –, die sich permanent wegen irgendwas in den Haaren lagen. Michael, der der jüngste war, mochte in der Schule zwar durch seine Größe imponieren, doch hier war er derjenige, der am ehesten klein beigeben musste.

Eine der ersten Geschichten, die Michael mir von sich erzählte, handelte davon, wie seine Brüder ihn, als er noch klein war, in ein Superman-Kostüm gesteckt und dann vom Dach ihres damaligen Hauses geworfen hatten, um zu schauen, ob er fliegen könne. Es gab allerdings noch eine andere Version dieser Geschichte, in der er bereits in dem Kostüm durchs Haus lief und dann nur noch dazu überredet werden musste, vom Dach zu springen. Beide Versionen endeten freilich mit einem gebrochenen Arm, aber in jedem Fall ging Michael als Held aus der Geschichte hervor – er hatte sich für einen üblen Scherz missbrauchen lassen, war aber nichtsdestotrotz Superman.

Michael war stolz auf seine Brüder – und auf sein Talent, auch als Jüngster der drei stets den Kopf über Wasser zu halten. Wenn er über seine Familie sprach, dann tat er dies einerseits mit sichtlichem Vergnügen daran, kein gutes Haar an ihnen zu lassen. Andererseits merkte man ihm aber auch an, wie stolz er auf sie war – er stellte sie bloß und hob sie doch gleichzeitig in den Himmel.

Ruth, Michaels Mutter, hatte eine wunderschöne Stimme und sang im Haus bisweilen vor sich hin, wenn niemand sie hören konnte. Wenn ihr Mann und ihre Söhne aber wieder am Herumkrakeelen waren, reagierte sie darauf mit einem ganz und gar unpassend erscheinenden Lachen – jede andere Reaktion wäre müßig gewesen.

Ich war so erzogen worden, dass es mehr darauf ankam, etwas im Kopf zu haben als im Bizeps, aber Chuck, Michaels Vater, war zwar einerseits Intellektueller, ließ sich andererseits aber auch von den rauen Gepflogenheiten in seinem Haus anstecken. Michael erzählte mir davon, wie sein Vater einmal beim Gemüseputzen am Küchenfenster gesessen hatte, als er sah, wie ein Mann seinen Hund einen Haufen auf den Rasen vor dem Haus hinterlassen ließ. Ohne daran zu denken, dass er ein langes Küchenmesser in der Hand hielt, stürzte Chuck Laudor zur Vordertür, riss sie weit auf und polterte wild mit den Armen fuchtelnd los. Mann und Hund sahen schleunigst zu, dass sie Land gewannen.

Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der Sportsakkos aus gedecktem Harris-Tweed bevorzugte, wie man sie bei Brooks Brothers kaufte, sah man Chuck oft in einer schwarzen Bomberjacke aus Leder herumlaufen. Er bewegte sich dann mit eben den federnden Schritten, die Michael sich von ihm abgeguckt hatte, war jedoch permanent auf Konfrontationskurs: Wenn Chuck sich jemanden vorknöpfte, nahm er kein Blatt vor den Mund. Mein Vater hingegen bevorzugte indirekte Anspielungen, um danach möglichst unauffällig weiter seiner Wege zu gehen. Selbst im Kino saß er am liebsten auf dem Platz neben dem Gang, falls er zwischendurch mal austreten musste und um nach Ende der Vorstellung nicht ins Gedränge zu geraten.

Ich fand die aggressive Energie, die Michaels Elternhaus durchströmte, aufregend. Wenn meine Schwester und ich Monopoly spielten, kaufte sie nie die Parkstraße, wenn ich bereits die Schlossallee besaß. Ich wiederum überließ ihr stets die gelben Felder, weil sie die am begehrenswertesten fand. Bei den Laudors schrieben die Brüder ihre Namen auf bestimmte Lebensmittel im Kühlschrank, damit nur ja niemand wagte, sich daran zu vergreifen, und wenn etwas dann doch plötzlich nicht mehr da war, wurden lauthals Erkundigungen darüber angestellt, wer es – verdammt noch mal! – aufgegessen oder ausgetrunken hätte. Michael befand sich am untersten Ende der Fresskette, konnte aber zumindest damit drohen, in den Orangensaft zu pinkeln, wenn er den anderen eine Lektion erteilen wollte.

Zur Essenszeit herrschte eine besonders aufgeheizte Stimmung – fressen oder gefressen werden, lautete dann die Devise. Notgedrungen stopfte Michael sich in Windeseile den Magen voll und inhalierte – wie er es ausdrückte – in Rekordzeit eine komplette Pizza. Ich bekam nie mehr als drei Stücke hinunter, gewöhnte es mir aber an, wie Michael ohne Zögern zuzubeißen, wobei allerdings der geschmolzene Käse wie Napalm an meinem Gaumen pappen blieb und ich mir nie sicher sein konnte, ob es nur Mozzarella war, was ich da von meiner Zahnspange abkratzte, oder aber ein Stückchen verbranntes Zahnfleisch.

Michael kam erst richtig zur Ruhe, wenn er allein im Haus war. Er liebte es, in der stillen Küche den Gastgeber zu spielen, machte eine Zeremonie daraus, Weißbrot- und Schmelzkäsescheiben zuzuteilen wie der Croupier die Karten beim Blackjack, um uns dann Käsetoast zu bereiten. Der kleine Minibackofen seiner Eltern kam mir damals vor wie der neueste Schrei der technologischen Innovation, obwohl in den Häusern derjenigen, die es sich leisten konnten, bereits die ersten Mikrowellenherde ihren Dienst taten – neben anderen futuristischen Wunderwerken wie Anrufbeantwortern und dem Videospiel Pong.

Und dann sahen wir durch die kleine Glastür zu, wie der Käse Blasen warf, auf denen sich eine schwarzbraun verbrannte Schicht bildete, die man normalerweise beiseite tat wie die Spitze der Schale eines weichgekochten Eis – die wir aber dann doch mitaßen.

Michael hatte noch seine vier Großeltern – so etwas kannte ich nur aus Charlie und die Schokoladenfabrik, und ich war immer ein wenig neidisch auf diese kleine Extravaganz, zumal unsere beiden Leben bisher doch ziemlich gleich verlaufen waren. Die Eltern meines Vaters waren zwanzig Jahre vor meiner Geburt während des Holocaust ermordet worden, und der Vater meiner Mutter war an einem Hirntumor gestorben, als ich gerade zwei Jahre alt war. Nur die Mutter meiner Mutter lebte noch, um mich zu verwöhnen.

Michaels Großeltern schliefen nicht alle in einem Bett wie die von Charlie und noch nicht einmal unter einem Dach, aber er bekam sie trotzdem oft zu sehen. Wie die bernsteingelbe Farbe seiner Fliegerfiguren verliehen auch sie seiner frühreifen Existenz eine Aura von Geriatrie. Wenn er sich aus einem Sessel erhob, stöhnte Michael manchmal wie ein alter Mann – das hatte er sich von Max Lifshutz, seinem Großvater väterlicherseits, abgeschaut. Max Lifshutz war wie seine Frau Frieda in Russland geboren und bewertete seine Tage auf einer Skala von eins bis drei Oy vey – nach der Menge des Elends, das ihm jeweils widerfahren war.

Diese beiden Großelternteile aus der Alten Welt, die ihren Tee schlürften, während sie einen Zuckerwürfel zwischen ihren Zähnen hielten, verglich Michael gern mit den Eltern seiner Mutter, assimilierten Juden, die sich in eine kleine Stadt in Connecticut zurückgezogen hatten, wo sie wie die WASPs lebten. Ich wusste nicht, was ein WASP war, also erklärte Michael es mir: ein weißer, angelsächsischer Protestant nämlich – eine Phrase, die ihm wie geschmiert von der Zunge ging.

Sein Großvater mütterlicherseits trug den kuriosen Namen Henry James Gediman, wurde aber von allen bloß Jim genannt. In der hegemonischen Blütezeit des Printjournalismus war er ein »Werbemensch« des Pressezaren William Randolph Hearst gewesen, was Michael echte Bewunderung abrang. Während der Depressionsära, als Max und Frieda im hintersten Winkel Brooklyns Tage dreifachen Oy veys durchmachten, hatte Henry James Gediman im Hearst Castle im kalifornischen San Simeon diniert und Marion Davies, die Hollywood-Mätresse Hearsts, kennengelernt.

Ich hatte bis dahin weder von Hearsts Schloss in Kalifornien gehört noch von seiner Geliebten oder gar von Hearst selbst – obschon seine gekidnappte Enkeltochter Patty zu der Zeit doch gerade im Begriff stand, zu Berühmtheit zu gelangen. Michael erzählte so oft von Citizen Kane, dem von dem Leben Hearsts inspirierten Film, dass ich dabei – obwohl ich den Film nie gesehen hatte – jedes Mal, Orson Welles imitierend, »Rosebud« raunte. In Wirklichkeit aber imitierte ich Michael, wie der Orson Welles nachahmte, der Charles Foster Kane verkörperte, die Filmfigur, die einem echten Medienmagnaten nachempfunden war, den sein Großvater viele Jahre zuvor gekannt hatte.

Obwohl Michael den in Russland geborenen Großeltern Max und Frieda sehr zugetan war, war er seinem Vater doch auch dankbar dafür, dass dieser den Namen der Familie noch vor Michaels Geburt von Lifshutz in Laudor hatte ändern lassen. Seine Großeltern hatten diesen Namen beibehalten und lebten noch in Brighton Beach, Brooklyn, wo sein Vater aufgewachsen war und Frieda Lifshutz Geld in ein Loch in der Badezimmerwand stopfte, bis eines Tages ein Klempner im Haus war und es mitgehen ließ. Michael erzählte mit so viel amüsierter Zuneigung Geschichten von der »verrückten Frieda«, dass es wie ein Schock für mich war, als er mir Jahre später anvertraute, dass sie an Schizophrenie litt.

2 Die gute Erde

Doch wenn Quinn, der Eskimo, endlich kommt,

hüpft alles voller Glück im Kreis

Bob Dylan, »The Mighty Quinn (Quinn the Eskimo)«

Ich hatte keine Ahnung, wer Norman Rockwell war, bis Michael und ich in der Junior Highschool den Film Annie Hall sahen und hörten, wie Woody Allen Diane Keaton vorwarf, sie wäre in einem Gemälde von Norman Rockwell aufgewachsen – der typische Ausdruck der Geringschätzung der New Yorker für alle jene anderen Orte, an denen bedauernswerte Menschen das Pech hatten, geboren worden zu sein.

Rockwell selbst war aber in New York City auf die Welt gekommen, als Heranwachsender nach New Rochelle gezogen und hatte dann dort 25 Jahre lang gelebt. Hier, in New Rochelle, hatte er seinen Stil gefunden und die Grundlagen für seine spätere Berühmtheit gelegt, unter den auf der Straße spielenden Kindern Motive für seine Gemälde entdeckt, ein am Wasser gelegenes Ferienhaus im Süden der Stadt und ein Wohnhaus nebst Atelier an deren Nordseite erworben, seinen Sohn Jarvis auf die Theodore Roosevelt Elementary School geschickt und sogar eines der drolligen Schilder gemalt, mit denen New Rochelle seine Besucher willkommen hieß.

Mit anderen Worten: Michael und ich waren wirklich in einem Norman-Rockwell-Gemälde aufgewachsen. Jeden Morgen ging ich ans andere Ende unserer nur aus einem Häuserblock bestehenden Straße, läutete an Michaels Haustür und wartete, bis er, immer noch recht verschlafen, aus dem Chaos des Laudorschen Haushalts auftauchte. Dann erklommen wir die zum Basketballfeld führenden verborgenen Stufen hinter seinem Elternhaus und gelangten über ein paar weitere Stufen zu einer Hintertür des Schulgebäudes, die wir als unseren Privateingang betrachteten.

Eines Morgens – wir waren gerade in die fünfte Klasse gekommen – trat Michael mit einem Filzhut auf dem Kopf und einem lässig über die eine Schulter geworfenen Männersakko aus der Haustür. Zwischen den Zähnen hielt er eine altmodische Zigarettenspitze. Dabei grinste er selbstzufrieden – aber vielleicht war es auch mein Anblick, der ihn so amüsierte. Ich trug nämlich eine schwarze Samtweste über einem zerknitterten weißen Hemd und hatte eine große weiße Feder in der Hand.

In unserem Klassenzimmer herrschte bereits die fröhliche Stimmung eines Kostümfestes, als wir dort eintrafen. Alle hatten sich für den »Biography Day« zurechtgemacht, an dem man sich als eine berühmte Person aus der Geschichte verkleiden sollte, und warteten darauf, den Klassenkameraden Tipps zum Erraten der jeweiligen Persönlichkeit zu geben oder gezielte Fragen zu beantworten. Miss Waldman hatte selbst gebackene Brownies mitgebracht.

Als Michael an der Reihe war, schwang er sich auf Miss Waldmans Schreibtischdrehstuhl, den sie auch ohne Weiteres an ihn abtrat, und ließ sich von mir im Klassenraum umherschieben. Miss Waldman nahm derweil auf ihrem Pult Platz. Sein Sakko trug Michael jetzt wie einen Umhang über beiden Schultern, zog immer wieder seinen Hut und hielt salbungsvoll eine Hand in die Höhe, als würde er einer jubelnden Menge zuwinken.

Dann hob er herausfordernd das Kinn, klemmte die Zigarettenspitze zwischen seine Zähne, sodass sie in spitzem Winkel nach oben gerichtet war, und proklamierte: »Gestern, am 7. Dezember 1941, einem Tag, der schmachvoll in die Geschichte eingehen wird, wurden die Vereinigten Staaten von Amerika unvermutet und vorsätzlich von der Kriegsflotte und den Luftstreitkräften des japanischen Kaiserreiches angegriffen.«

Dann warf er einen triumphierenden Blick in die Runde und ließ sich auch von den ratlosen Blicken um ihn herum nicht aus der Ruhe bringen: Er war der mächtigste Mann der freien Welt und hatte soeben eine Kriegserklärung ausgesprochen, und es war ja nicht sein Problem, dass niemand wusste, wer er war – außer Miss Waldman, die der Klasse dann auch gleich von dem Präsidenten erzählte, der eine Kinderlähmung überstanden und das Land gerettet hatte. Gerade so, als wäre er eine Weile lang gelähmt gewesen, erhob sich Michael steif von seinem Stuhl und schob ihn Miss Waldman wieder hin.

Bei mir wusste auch niemand, wen ich darstellen wollte. Ich war mir dessen auch selbst nicht ganz sicher, aber meine Mutter war richtig Feuer und Flamme gewesen, als sie Nathaniel Hawthorne vorschlug und mir auch gleich ins Gedächtnis rief, wie wir einmal sein Haus in Concord, Massachusetts, besucht hatten und von dort nach Salem weitergefahren waren, wo die Vorfahren des Dichters noch Hexen an den Galgen geliefert hatten – was mich davon überzeugte, über Nathaniel Hawthorne Bescheid zu wissen. Außerdem fand ich, dass die schwarze Weste mir ein wehrhaft-männliches Erscheinungsbild verlieh, dem das wogende weiße Hemd noch einen Mantel-und-Degen-Effekt hinzufügte: ein Pirat des Königs mit einem Federkiel.

Doch erst, als ich vor der Klasse stand und krampfhaft versuchte, mich an die Handlung von Die Blithedale-Maskerade, einem von Hawthornes Romanen, zu erinnern, merkte ich, dass mir plötzlich Schweißtropfen auf die Stirn traten, als ich nämlich einen Hauch von etwas wahrnahm, was aus meinem Hemdkragen oder vielleicht auch aus der Samtweste drang und mich mit Angst und Schrecken erfüllte: Parfüm! Mir wurde schwarz vor Augen, als Miss Waldman vortrat und mich freundlich bat, der Klasse zu sagen, wer ich sei. Sie wusste es natürlich nicht. Wie sollte sie auch? Ich war als meine eigene Mutter verkleidet in der Schule erschienen.

Auf meinen Rundgängen mit Michael durch New Rochelle erfuhr ich eine ganze Menge Neues. Michael liebte es, Geschichten von Personen und Orten zu erzählen. So war der Wykagyl Country Club, ein unserer Schule unmittelbar gegenüberliegendes, großes, an ein Herrenhaus in den Südstaaten erinnerndes Gebäude, nicht nur berühmt für seinen Golfplatz, sondern auch dafür, dass der Zugang selbst zu jener Zeit noch restringiert war. Weil ich den Ausdruck nicht kannte, erklärte Michael ihn mir: »Kein Zutritt für Schwarze oder Juden«, sagte er.

Das entsetzte mich doch sehr, aber als ich meinem Vater davon berichtete, schien ihn das nicht sonderlich zu überraschen. Das gesamte Land wäre früher einmal »restringiert« gewesen – sonst wären ja mehr von meinen Verwandten heute noch am Leben.

Der Gedanke, dass wir im Wykagyl Country Club unerwünscht waren, ließ es nur umso verlockender erscheinen, im Winter auf dessen Gelände vorzudringen. Hier gab es tolle Pisten zum Schlittenfahren, aber allein schon das Pinkeln in den Schnee sei ein Akt des politischen Widerstandes, sagte Michael – wieder so eine Phrase, die er mir erklären musste. Für ihn gab es viele Dinge, die er als Akte des politischen Widerstandes betrachtete.

Ob der Country Club im Jahre 1973 nun immer noch Juden aussperrte oder nicht – das restliche New Rochelle hatte seine Tore auf jeden Fall weit geöffnet. Selbst die Feldsteinkirche neben unserer Schule mit ihrem winzig kleinen Hugenottenfriedhof war inzwischen eine orthodoxe Synagoge. Diese Umwidmung hatte 1960 stattgefunden, aber sowohl der Kirchturm als auch die Hugenotten darunter, deren windschiefe Grabsteine dringend der kieferorthopädischen Dienste der Glideman-Brüder bedurften – den beiden Zwillingen, die in ihrer Praxis in der Quaker Ridge Road abwechselnd meine Zahnspangen zurechtbogen –, hatten davon nicht viel mitbekommen.

Michaels Familie gehörte zur liberalen, reformierten jüdischen Gemeinde, die ursprünglich auch in der Ortsmitte von New Rochelle ihren Sitz gehabt hatte, bevor sie weiter nach Norden, nach Scarsdale, umsiedelte – angeblich, um dem Zuzug »nicht-weißer« Familien auszuweichen. Unsere orthodoxe Synagoge mochte zwar aussehen wie eine Kirche, sagte Michael, aber der Israelitische Tempel ihrer reformierten Gemeinde wäre eine, sodass er ihn »Unsere Heilige Jungfrau des Pinebrook Boulevard« nannte.

Unsere Eltern hatten kein Interesse daran, Mitglieder des Country Club zu werden, auch wenn sie dort inzwischen gern gesehen wären, denn leisten konnten sie es sich sowieso nicht – und selbst wenn sie es sich hätten leisten können, wäre es für sie nicht infrage gekommen.

Sein Vater, erzählte mir Michael, und dies mehr voller Stolz als Bedauern, sei einer jener Volkswirte, die einerseits die Spielregeln des Marktes voll und ganz durchschauten, denen es aber andererseits nie gelang, Profit daraus zu schlagen. Mein Vater war in seiner Jugend Sozialist gewesen und gab Balzac recht, der behauptete, hinter jedem großen Vermögen stehe ein Verbrechen – ein Zitat, das meine Mutter ebenfalls gern in den Mund nahm, obgleich sie nichts dagegen gehabt hätte, Mitglied in einem der mondänen Beach Clubs am südlichen Ende der Stadt zu werden. Sie hielt sich gern am Wasser auf und wäre dann auch ihrer Freundin Cynthia näher gewesen.

Es gab noch etwas, was den Bund zwischen Michael und mir festigte: Viele unserer Schulkameraden hatten Eltern, die an verlängerten Wochenenden mit ihrem BMW oder ihrem Mercedes-Benz zu ihren Zweitwohnsitzen zu fahren pflegten, in Restaurants aßen, auch wenn es nichts zu feiern gab, und aus den Winterferien mit einer Sonnenbräune aus Florida oder von den Reißverschlüssen ihrer Parkas baumelnden Skiabzeichen zurückkamen.

Michael und ich lebten in dem bescheidensten Viertel von New Rochelle und verbrachten unsere Ferien damit, uns gegenseitig zu besuchen und im Haus des anderen herumzuhängen. Mir taten die Kinder leid, die sich nicht mal eben ein Stück Pizza holen oder sich im Tierladen umgucken konnten, aber offenbar passte das nicht in das Denken der Leute aus den Villenvororten – ebenso wenig, wie sie die Wohnblocks ein paar Straßenblöcke hinter unserem Einkaufszentrum als erstrebenswerte Stadtwohnungen erachteten oder gar die Ansicht meines Vaters teilten, nach der öffentlicher Nahverkehr eine bedeutende zivilisatorische Errungenschaft darstelle.

Als ihre Kinder alt genug waren, nahm Michaels Mutter eine Stelle als Bürokraft an, aber sie erledigte nebenbei immer noch einen Großteil der Hausarbeit und schien ständig hierhin und dorthin zu rennen, um irgendwas für ihre Familie zu besorgen. Meine Mutter war den Tag über zu Hause, aber den verbrachte sie mit Schreiben, und sie wäre jedem an die Kehle gesprungen, der sie als »Hausfrau« bezeichnet hätte.

Und sie hätte unser Heim auch nie als »komfortables Konzentrationslager« bezeichnet; eher stimmte sie schon mit Betty Friedan, der Autorin des Buches mit dem Titel Der Weiblichkeitswahn, darin überein, dass an ihren Haushalt gefesselte Ehefrauen nicht nur selbst krank zu werden drohten, sondern auch »atypische« Nachkommen zur Welt bringen könnten. Betty Friedan hatte Psychologie studiert und ging so weit, anzudeuten, dass es bei auf solche Weise an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehinderten Frauen wahrscheinlicher war, dass sie autistische oder schizophrene Kinder bekämen – womit sie Feminismus nicht nur als eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der öffentlichen Gesundheit verstand.

Ich wollte natürlich, dass meine Mutter glücklich war, und machte mir deshalb jeden Morgen selbst mein Schulbrot zurecht – nicht wissend, wie sehr mein geistiges Wohlergehen auf dem Spiel stand. Ich war stolz darauf, eine Schriftstellerin als Mutter zu haben, und liebte es, sie bis spät in die Nacht oben unter dem Dach auf ihrer Schreibmaschine tippen zu hören. »Alles existiert nur, um einmal in einem Buch verewigt zu werden«, hat ein französischer Dichter einmal gesagt – ein Satz, den meine Mutter gern voller Wohlwollen zitierte. Ja, es war eine wichtige Arbeit, die sie da zu erledigen hatte, und so lag ich in meinem Bett und lauschte den Anschlägen ihrer manuellen Schreibmaschine auf dem Papier, die sich anhörten wie dicke Regentropfen auf einem Blechdach.

Der kastanienbraune Chevy Malibu, der vor unserem Haus dahinrostete, passte irgendwie zu dem uralten Plymouth Valiant vor dem Haus der Laudors. Michaels Eltern besaßen außerdem noch einen verbeulten Ford Station Wagon, der vor ihrem Haus lauerte wie ein mit Holztäfelung beschlagener Leichenwagen. Michaels Vater fuhr ihn allerdings, als wäre er ein Ferrari, die ganze Zeit fluchend und wild am Lenkrad kurbelnd und immer auf der Hut vor der Polizei. Er versuchte stets, seine persönliche Bestzeit zu schlagen – so kurz die Strecke auch sein mochte, die es zurückzulegen galt. Wenn er uns zum CVJM gefahren hatte, wo Michael und ich Racquetball spielten, musste ich mich im Umkleideraum immer erst ein paar Minuten lang mit dem Kopf zwischen den Knien hinsetzen, bevor ich mich umzog.

Wenn es an meinem Vater war, uns zum Sport zu fahren, winkelte Michael immer seine langen Beine vor der Brust an und umschlang sie mit den Armen, als bereite er sich auf einen unvermeidlichen Unfall vor. Mein Vater brachte es auch glatt fertig, beim Herausfahren aus einer Parklücke entweder nicht daran zu denken, dass er noch den Rückwärtsgang eingelegt hatte, oder den Blick in den Rückspiegel zu vergessen. Jahrelang gehörte für mich zu einem simplen Spurwechsel eine vierköpfige Familie, die nach allen Seiten die Augen offenhielt.

Meine beiden Eltern hatten erst im Erwachsenenalter Autofahren gelernt – was allerdings auch nur unzureichend erklärt, warum sie geplante Ausfahrten kurzerhand bleiben ließen, wenn Schnee, Regen, Nebel oder Dunkelheit drohten. Bei uns draußen in der Vorstadt lebte man damit wie ein Hunne mit einer Pferdeallergie.

Ich hatte noch nie zuvor Häuser von innen gesehen wie die, in denen unsere Klassenkameraden wohnten. Einer dieser Mitschüler war ein überaus schüchterner Junge, den alle Bremer nannten. Er lebte in einer riesengroßen Tudorstilvilla mit einem Turm, wie er auch das Museum für Naturgeschichte zierte. Einmal hatten wir uns bei Bremer zu Hause verabredet, um Diplomacy zu spielen – ein endlos lang dauerndes Brettspiel, in dem es um die Machtverhältnisse im Europa vor dem Ersten Weltkrieg ging. Um bei dem Spiel voranzukommen, waren die Spieler gehalten, heimliche Absprachen miteinander zu treffen, während sie darauf warteten, wieder mit Würfeln an der Reihe zu sein. Dabei durften sie auch nicht davor zurückschrecken, gegebenenfalls einem Bündnispartner in den Rücken zu fallen. Henry Kissinger wurde nachgesagt, dass er dieses Spiel liebte.

In Bremers Haus gab es fast so viele kaum genutzte Räume wie im Schloss von Versailles. Hierher konnte man sich zurückziehen, um geheime Absprachen zu treffen. So beriet sich Michael etwa in einer Ecke des Solariums im Flüsterton mit Small, während ich mit einem Jungen mit welligem Haar und selbstbewusstem Lächeln, den wir alle Eggo nannten, konspirierte, der aber dann dem zwischen uns geschlossenen Pakt zum Trotz in das Osmanische Reich einfiel und meine Armee vernichtend schlug.

Das große Haus, in dem Eggo wohnte, befand sich gleich neben dem, das durch den Roman Ragtime von E. L. Doctorow zu Berühmtheit gelangt war. Doctorow selbst hatte darin gelebt und es dann in seinem Roman verewigt – so, wie Norman Rockwell Kinder aus seiner Nachbarschaft in seinen Werken abbildete.

Michael und ich waren stolz auf den leicht heruntergekommenen Zustand der Häuser unserer Eltern und auch darauf, dass es so viele Bücher in ihnen gab und dass die Frisöre »Professore!« riefen, wenn einer unserer Väter den Salon betrat – obwohl auch wir den Spruch vom »armen Gelehrten« kannten, der es nie so recht zu etwas gebracht hatte.

Professoren hatten zwar nie viel Geld, dafür aber Zeit. Während unsere Väter in den Sommerferien Sonderkurse unterrichten mussten, um unseren Aufenthalt in einem Ferienlager oder eine Zahnspange bezahlen zu können, waren weder Michael noch ich uns ganz sicher, wann unsere Väter gerade einen Lehrauftrag hatten und wann es nichts für sie zu tun gab. Erst wenn mein Vater tagsüber unter einem Haufen der blauen Arbeitshefte für die Abschlussarbeiten, die er sich zu bewerten vorgenommen hatte und über denen er dann eingeschlafen war, auf der Wohnzimmercouch lag, wusste ich mit Bestimmtheit, dass wieder einmal ein Semester vorüber war.