Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat - Derek Penslar - E-Book

Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat E-Book

Derek Penslar

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Beschreibung

Wie wurde aus dem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der wichtigste Anführer der zionistischen Bewegung? Theodor Herzl (1860-1904) ist als Begründer des politischen Zionismus weltberühmt geworden. Dennoch wirft sein kurzes Leben viele Fragen auf: Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann sein, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch getrieben von tiefen, manchmal dunklen, Leidenschaften? Und warum wurde er von so vielen – auch traditionellen – Juden als Führungsfigur verehrt? Anhand eines umfangreichen Korpus der privaten, literarischen und politischen Schriften zeigt Derek Penslar, dass Herzls Weg zum Zionismus nicht nur vom grassierenden Antisemitismus angetrieben wurde, sondern sich auch aus persönlichen Krisen erklärt. Einmal dem Zionismus verschrieben, zeichnete sich Herzl als vollendete Führungspersönlichkeit aus – voller unermüdlicher Energie, organisatorischem Geschick und mitreißendem Charisma. Er wurde zu einer Projektionsfläche für viele Juden seiner Zeit, für ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte.

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Israel-StudienKultur – Geschichte – Politik

Band 5

Herausgegeben von Michael Brenner,

Johannes Becke und Daniel Mahla

Derek Penslar

Theodor Herzl

Staatsmann ohne Staat

Eine Biographie

Aus dem Englischen vonNorbert Juraschitz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022

www.wallstein-verlag.de

© der Originalausgabe: Derek Penslar 2020

Erschienen bei Yale University Press (USA) unter dem Titel »Theodor Herzl. The Charismatic Leader«

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

© des Coverfotos: ullstein bild – Heritage Images

ISBN (Print) 978-3-8353-5204-9

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4879-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4878-3

Inhalt

1. Einleitung

2. Theodor Herzls Weg

3. Unser Mann in Paris

4. Das Organisationsgenie

5. Der Griff nach den Sternen

6. Wenn ihr wollt, ist es doch ein Traum

7. Epilog: Der Blick vom Herzlberg

Dank

Abkürzungen

Abbildungsverzeichnis

Anmerkungen

Register

Kapitel 1

Einleitung

Theodor Herzls Leben (1860–1904) war ebenso erstaunlich wie kurz. Wie wurde aus diesem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der Anführer der zionistischen Bewegung? Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch von tiefen, bisweilen gar abgründigen Leidenschaften besessen sein? Und warum begrüßten Zigtausende von Juden, darunter unzählige mit einem traditionellen, frommen Hintergrund, Herzl als ihren Führer? Dieses Buch versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben.

Herzls Leben veranschaulicht, dass politische Führer von ihrer Gefolgschaft abhängig sind und auf sie Rücksicht nehmen müssen. Das Buch untersucht Herzls Persönlichkeit, illustriert aber auch, wie er von anderen wahrgenommen wurde und wie diese Wahrnehmungen wiederum auf sein Selbstgefühl wirkten. Die Geschichtstheorie eines »großen Mannes« meide ich bewusst, gerade weil diese Herangehensweise nicht die Geheimnisse von Herzls Größe enthüllt.

Mein Werk ist das jüngste in einer langen Reihe von Herzl-Biographien. Manche haben ihn als überlebensgroße Lichtgestalt, einen Propheten und Märtyrer für sein Volk oder als bedeutende Figur in der Geschichte jüdischen politischen Denkens beschrieben. Andere haben einen dezidiert kritischen Ton angeschlagen und sich auf Herzls psychische Leiden, gestörte Familienverhältnisse und Rivalitäten mit anderen Zionisten konzentriert.[1] Aus all diesen Büchern habe ich viel gelernt, aber ich habe einen anderen Ansatz gewählt, der die Hagiographie ebenso wie die Dekonstruktion der Person vermeidet. Ich betrachte Herzl nicht als großen Denker, sondern als großen Führer, und ich lese seine zionistischen Schriften als Manifeste, nicht als Traktate – als Aufrufe zum Handeln, nicht als theoretische Diskurse. Herzl war ein zutiefst beunruhigter Mensch, und diese Sorgen erklären sicher nicht zuletzt, weshalb er sich dem Zionismus zuwandte, aber Herzls innere Dämonen beantworten eben nicht die Frage, wie und weshalb es ihm gelang, die Massen anzusprechen und die jüdische Welt zu verändern. Herzl stellte für verschiedene Leute etwas völlig Anderes dar: wie ein Bildschirm, auf den Juden ihre jeweiligen Sehnsüchte und Hoffnungen projizierten. Herzls Status als assimilierter Jude, der zu seinem Volk zurückkehrte, zugleich Zugehöriger und Außenseiter innerhalb der europäischen ebenso wie der jüdischen Gesellschaft, steigerte noch seine Anziehungskraft auf die jüdischen Massen. Zu guter Letzt besaß er ein elektrifizierendes Charisma.

Die frühe zionistische Bewegung war besonders stark auf eine charismatische Führung angewiesen, weil sie klein, schwach und verstreut war und über keinerlei strukturelle Schirmherrschaft oder Sanktionsmöglichkeiten verfügte. Herzl hatte seinen Anhängern nur die nackte Hoffnung anzubieten – und nichts als Vertrauen, um sich ihre Unterstützung zu bewahren. Herzl besaß ein beeindruckendes Charisma, und er war sich seiner Macht durchaus bewusst. Aber Charisma ist kulturell bedingt. Wäre Herzl in eine andere Ära oder auf einen anderen Kontinent geraten, dann hätte er womöglich überhaupt nicht charismatisch gewirkt. Unter anderen Rahmenbedingungen wäre er möglicherweise nicht mehr als ein fanatischer Halb-Intellektueller gewesen, der viel Zeit in Kaffeehäusern verbrachte und eifrig Notizen in sein Tagebuch kritzelte.

Neben der Aufmerksamkeit für den kulturellen Kontext hebe ich auch Herzls starken Willen und sein Talent zur Selbstinszenierung hervor. Seine provokativen, ausgefallenen und bisweilen empörenden politischen Reden und Aktionen waren sorgsam inszeniert. In dieser Hinsicht kann Herzl mit einem anderen großen Anführer jüdischer Herkunft verglichen werden: Benjamin Disraeli, dessen Anspruch auf die Führungsrolle des englischen Adels sogar noch haltloser und wagemutiger war als Herzls Ambition, der selbsternannte Wächter des jüdischen Volkes zu sein.

Die vorliegende Biografie konzentriert sich auf drei miteinander verflochtene Themen: Herzls Innenleben, seine Beziehung zur zionistischen Bewegung und seine Stellung in der Welt als professioneller Reporter und amateurhafter Staatsmann.

Das erste Thema bringt unweigerlich Herzls psychische Instabilität zur Sprache. Er litt an periodischen Anfällen von Depression und unberechenbaren Stimmungsumschwüngen. Er war egozentrisch und von Zweifeln geplagt. Distanziert und zurückhaltend wie er war, hatte Herzl nur wenige Freunde, und er führte keine einzige gesunde Liebesbeziehung. Seine Ehe war beklagenswert, er war ein abwesender Vater und alle drei Kinder litten unter psychischen Störungen. Herzls Hagiographen haben diese Themen stets umschifft oder bemäntelt, seine Kritiker hingegen haben sich darin gesuhlt. Ich habe jedoch die Absicht, weder das eine noch das andere zu tun. Vielmehr möchte ich zeigen, wie Herzls psychisches Leiden seine politische Leidenschaft schürte. Herzl brauchte unbedingt ein Projekt, um sein Leben mit Sinn zu erfüllen und die Finsternis seiner Depressionen in Schach zu halten. Der Zionismus war dieses Projekt, das ihn eindämmte, stützte und inspirierte. Von einer erstaunlichen Arbeitsmoral getrieben, ließ Herzl jedes Gramm seiner enormen Energie in seine zionistischen Aktivitäten fließen, die ihn physisch und psychisch erschöpften und zu seinem frühen Tod beitrugen.

In seinem Buch A First-Rate Madness schreibt der Psychiater Nassir Ghaemi, dass viele große politische Führer der neueren Geschichte unter psychischen Störungen gelitten hätten. Indem er Persönlichkeiten wie Abraham Lincoln, Winston Churchill, Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. analysiert, schildert er deren Ringen mit Ängsten und Depressionen bis hin zu Selbstmordversuchen (wie im Fall Gandhis und Kings). Eine schwere Depression entzieht zwar dem Körper Kraft, doch bei milderen Verläufen kann sie einen Sinn für Realismus und die Fähigkeit zur Widerstandskraft und Empathie verleihen. Diese Führer hatten darüber hinaus einen Hang zur Hyperthymie, einem Überschwang der Gefühle, der beinahe einer manischen Psychose gleichkommt und unter Umständen Energie, Kreativität und charismatische Anziehungskraft erzeugt.

Ich bin kein Psychotherapeut, und hier wird keineswegs der Versuch unternommen, Herzl noch postum zu diagnostizieren. Ich habe versucht, Herzl durch seine eigenen Augen zu verstehen, indem ich mich auf seine eigenen Aussagen und die der Menschen stütze, die ihn kannten. Aber auch ohne die sichere Diagnose, dass Herzl unter einer, wie man heute sagen würde, Gemüts- oder Persönlichkeitsstörung litt, ist gut dokumentiert (in erster Linie durch Herzl selbst), dass er häufig zwischen Depressionen und manischer Erregung hin und her schwankte. Darüber hinaus trifft Ghaemis Hauptthese allem Anschein nach außerordentlich gut auf Herzl zu: »Unsere größten Führer rackern sich in Krisen traurig ab, während die Gesellschaft glücklich ist. … Mal sind sie aufgedreht, mal niedergeschlagen, aber es geht ihnen nie richtig gut. Doch sobald ein Unglück eintritt, dann richten sie, sofern sie in einer geeigneten Position sind, den Rest von uns auf, sie sind imstande, uns den Mut zu geben, den wir zeitweilig womöglich verloren haben, die Stärke, die uns festigt.«[2]

Sowohl in seinen depressiven Neigungen als auch in seiner Anlage zur Größe ähnelt Herzl stark einem anderen Führer der neueren Geschichte: Winston Churchill. In einem klassischen Aufsatz mit dem Titel »Churchill’s Black Dog« merkt Anthony Storr an, dass Churchill, »wenn er ein stabiler und ausgeglichener Mann gewesen wäre, niemals die Nation hätte inspirieren können«. Churchills Triumph im Jahr 1940 trat, genau wie Herzls im Jahr 1896, nur deshalb ein, weil er »sein Leben lang einen Kampf gegen seine eigene Verzweiflung geführt hatte, der es ihm ermöglichte, anderen die Botschaft zu vermitteln, dass Verzweiflung überwunden werden kann«. Beide Männer schwankten zwischen Selbstverachtung und -verherrlichung: Churchill schrieb sicher auch ganz im Sinne Herzls, als er behauptete: »Wir sind alle Würmer. Aber ich glaube, dass ich ein Glühwurm bin.«[3]

Bei Menschen wie Herzl und Churchill geht der Anspruch auf politische Führung auf etwas Tieferes als das Streben nach Macht oder materiellem Gewinn zurück. Vielmehr ist der Glaube an die eigene heroische Mission Ausdruck eines tiefsitzenden psychischen Bedürfnisses. Doch der Möchtegern-Held kann seine Größe ohne eine Anhängerschaft nicht verwirklichen. Diese Beobachtung führt zum zweiten Thema des Buches: dass die zionistische Bewegung Herzl ebenso sehr brauchte, wie Herzl sie brauchte, und dass Herzls Charisma ebenso sehr von seinem Innersten ausging wie es von außen konstruiert wurde.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird »Charisma« mit Charme, Anziehung und Sexappeal assoziiert, aber nach dem Soziologen Max Weber sind wirklich charismatische Menschen per definitionem politische oder religiöse Führer, keine Schauspieler, und sie ziehen Anhänger an, nicht Fans. Weber nennt Charisma »eine als außeralltäglich … geltende Qualität einer Person [des charismatischen Führers] …, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] … gewertet wird«.[4] Charismatische Autorität behauptet sich erst in Zeiten kollektiver Bedrängnis und in Umgebungen, wo traditionelle oder bürokratisch-staatliche Machtstrukturen schwach oder überhaupt nicht vorhanden sind. Der charismatische Führer reagiert nicht nur auf die Erwartungen der Menschen, sondern richtet sie auf, bringt sie dazu, auf etwas zu hoffen, das sie andernfalls für unmöglich gehalten hätten. Der oder die Charismatische lindert die Sorgen der Ängstlichen, steigert das Selbstwertgefühl der Unterdrückten und kanalisiert ihren Zorn zu einem zielgerichteten, kollektiven Handeln.

Herzl passt perfekt in das Schema eines charismatischen Führers. Die zionistische Bewegung kam zu einer Zeit auf, als die traditionelle Autorität der Rabbiner abnahm und der moderne Staat es versäumt hatte, die physische Sicherheit und das psychische Wohl großer Teile des europäischen Judentums zu schützen. Herzl kam von außerhalb der traditionellen jüdischen Machtzentren: dem Rabbinat und der jüdischen Finanzelite. Er beanspruchte eine Vollmacht dafür, als Akteur im Namen des gesamten jüdischen Volkes zu handeln, und schuf die zionistische Organisation mit sich als selbsternanntem Oberhaupt. Eine Option, ihn abzuberufen, war nicht vorgesehen. Er griff die Sehnsüchte der Juden auf und vertrat sie durch die jährliche Einberufung von Zionistenkongressen, die Herzls Stellvertreter, der berühmte Schriftsteller Max Nordau, einmal leidenschaftlich als »bevollmächtigte[n], rechtmäßige[n] Vertreter des jüdischen Volkes« bezeichnete – sozusagen das autonome Parlament des jüdischen Risorgimento.[5]

Herzls Charisma äußerte sich in einem imposanten Auftreten, seiner Baritonstimme sowie einem eloquenten Deutsch und, vor allem, in seinem einnehmenden Äußeren. In einem Aufsatz von 1937 mit dem Titel »Wie hat Herzl ausgesehen?« schreibt Samuel Bettelheim über Herzls Gesicht, es vereine Züge eines englischen Lords und eines osteuropäischen Rabbis »mit seiner jerusalemitischen Glorie«. Der erste Zionistenkongress hätte, so Bettelheim, wohl kaum Einfluss genommen, wenn auf dem Stuhl des Vorsitzenden nicht ein Mann gesessen hätte, der nicht weniger als »ein Mirakel« gewesen sei, »als ob König Salomon seinem Grabe entstiegen wäre, weil er das Leid seines Volkes und seine Erniedrigung nicht länger ertragen konnte«.[6] Viele Beobachter waren von Herzls »assyrischem« Bart fasziniert, der ihm das Aussehen eines semitischen Monarchen verlieh. Der Künstler Ephraim Lilien schilderte Herzl als Moses, jenen ägyptischen Prinzen, der sich wieder seinem Volk anschloss und es aus der Gefangenschaft erlöste, oder auch als die biblischen Figuren Jakob, Aaron, Joschua, David, Salomo und Hiskia. Bettelheim hingegen war, wie die meisten, die uns ihre Eindrücke von Herzl hinterließen, besonders von Herzls Augen fasziniert: »groß und kreisrund«, dunkel und doch mit einem mysteriösen Leuchten ausgestattet, das Staatsmänner und einfache Leute gleichermaßen in den Bann zog. »Herzls Auge war von ganz besonderer Ausdrucksfähigkeit. Er verlor sich beim Gespräch oft in unendliche Fernen, als sähe er Dinge, die uns allen unfühlbar waren, und heftete sich im nächsten Moment bezwingend auf sein Gegenüber.« Es war ein Blick, der von »Adel, Tatkraft, Geist, Genie und Güte« erfüllt war. »Niemals hat er Unentschlossenheit oder Resignation ausgedrückt: je größer das Hindernis oder die Gefahr war, desto kühner war dieser Adlerblick.«[7]

Es gibt zwei Arten charismatischer politischer Führer: jene, deren Herzlichkeit und Charme ihren Anhängern das Gefühl vermitteln, sie seien wichtig und wertgeschätzt, und jene, die kühl und distanziert sind, aber dennoch Bewunderung und Verehrung hervorrufen, was dann wiederum Solidarität und Hoffnung erzeugt. Herzl zählte zum zweiten Typ. Wie der böhmische Zionist Berthold Feiwel einmal sinngemäß sagte: In seiner frühen Jugend habe Herzl für ihn die ganze Schönheit und Größe bedeutet. Sie alle, die Jugendlichen, hätten sich nach einem Propheten, einem Führer gesehnt und ihn durch die eigene Sehnsucht erschaffen.[8] Seine Stellung als säkularer, assimilierter, westlicher Jude, der der Welt der traditionellen jüdischen Bräuche und Kultur fremd war, förderte seine charismatische Anziehungskraft auf die osteuropäischen Juden noch, die wohl niemals jemand aus den eigenen, vertrauten Reihen akzeptiert hätten. Herzl wurde als ein moderner Moses angesehen, ein Prinz, der am Hofe des Pharao aufwuchs und aufgerufen wurde, zu seinem Volk zurückzukehren und es aus der Knechtschaft zu führen. Langjährige zionistische Aktivisten aus Osteuropa ärgerten sich über Herzls Unkenntnis des Judentums und seinen autokratischen Habitus, aber letztlich war es Herzl, nicht sie, der Zehntausende von osteuropäischen Juden in den Bann schlug, sie zwar mit seiner Fremdheit verwirrte, aber ihr Selbstwertgefühl hob.

Doch Herzls charismatische Anziehungskraft hatte auch ihre Grenzen. Zum Zeitpunkt seines Todes war nicht einmal ein Prozent der weltweiten Juden offiziell Mitglied der zionistischen Organisation, und der Herzlsche Zionismus provozierte beträchtlichen Widerstand. Die meisten orthodoxen Juden lehnten ihn als gotteslästerlich ab. Jüdische Sozialisten nannten ihn utopisch, und sie zogen das in ihren Augen weit realistischere Szenario einer Revolution vor – eine Revolution, die jede wirtschaftliche Unterdrückung und jeden dadurch geschürten Antisemitismus beenden würde. Assimilierte Juden, die behaupteten, sie seien fest in ihren Heimatländern verwurzelt, hielten Herzl für lächerlich und sogar peinlich. Aber seine Botschaft von der jüdischen nationalen Befreiung, die er mit geradezu hypnotisierender Redekunst verkündete oder in fein gedrechselte Prosa kleidete, traf bei vielen Juden einen Nerv – und es fällt nicht schwer zu verstehen, woran das lag.

Eine weit größere Herausforderung ist es, zu erklären, wie es Herzl gelang, ein Akteur auf der internationalen Bühne zu werden, dem es in einem Zeitraum von nur wenigen Jahren gelang, Zugang zum deutschen Kaiser, zum osmanischen Sultan, zu den Königen Italiens und Bulgariens, zum britischen Außen- und Kolonialminister, zum russischen Innen- und Finanzminister und sogar zum Papst zu erhalten. Das führt uns zum dritten Thema des Buchs: Herzls Präsenz auf der Weltbühne und seine geopolitischen Strategien.

Mit Blick auf seinen Zugang zu Staatsoberhäuptern war Herzls Charisma nur einer von mehreren Faktoren. Herzl bezauberte zwar den deutschen Botschafter in Wien, Philipp zu Eulenburg, geradezu, doch die meisten Staatschefs waren weniger von seiner Person vereinnahmt, sondern stärker an dem praktischen Nutzen interessiert, den er für sie hatte. Dem osmanischen Sultan bot Herzl riesige Summen jüdischen Kapitals an, mit dessen Hilfe die horrenden Auslandsschulden des Reiches umverteilt werden konnten. Dem deutschen Kaiser und der russischen Regierung versprach Herzl, ihnen die unerwünschten Juden und die revolutionären Bewegungen, mit denen Juden eng identifiziert wurden, vom Hals zu schaffen. Der britischen Regierung offerierte Herzl die Juden als loyale Kolonialbeamte im britischen Protektorat Palästina, auf der nahe gelegenen Sinai-Halbinsel und sogar in Britisch-Ostafrika. Alle diese Versprechungen basierten auf Fantastereien bezüglich der Macht der Juden – Fantastereien, an die Herzl wohl selbst glaubte.

Ob die Geschichten, die Herzl ersann, nun etwas mit der Realität zu tun hatten oder nicht, er befand sich in einer ausgezeichneten Stellung, sie an den Mann zu bringen, zählte er doch zu den prominentesten Journalisten Europas. Von 1891 bis 1895 war Herzl der Pariser Korrespondent der renommiertesten Zeitung Mitteleuropas, Neue Freie Presse, und von 1895 bis zu seinem Tod im Jahr 1904 war er deren Feuilleton-Redakteur. In einer Ära, als Zeitungen das meistgenutzte Medium waren, in dem sich die politische Elite der Öffentlichkeit präsentierte, waren wohlgesonnene und einflussreiche Journalisten ein kostbares Gut. Herzl verstand sich mit zwei österreichischen Ministerpräsidenten hervorragend, die ihn über die Nationalitätenkonflikte des Reiches auf dem Laufenden hielten und seinen Beistand bei deren Niederschlagung suchten. Zu Beginn seiner Laufbahn als Zionist führte Herzl mit dem osmanischen Großwesir ein schmeichelhaftes Interview, in dem Herzl es seinem Gesprächspartner auch gestattete, die Gräueltaten an den Armeniern herunterzuspielen.

Dank seines Berufs und seiner breit gefächerten Belesenheit kannte Herzl die geopolitischen Machenschaften der europäischen Mächte nur zu gut. So sehr er es liebte, in der Diplomatie mitzumischen, beherrschte er sie doch nicht allzu gut. Immer wieder wurde Herzl manipuliert oder zurückgewiesen, wenn sein Gesprächspartner zu dem Schluss kam, dass er das, was er versprach, nicht würde halten können, oder dass eine Massenmigration von Juden nach Palästina gar nicht zum eigenen Vorteil wäre. Herzl selbst war durchaus zu Doppelzüngigkeit und Opportunismus fähig, da er zum einen versuchte, die Protektion einer europäischen Großmacht über Palästina zu erreichen, während er zum anderen zugleich die Osmanen um Unterstützung bat.

Herzl war stolz auf die Eroberung Afrikas und Asiens durch europäische Mächte und überzeugt davon, dass die Juden in Palästina eine zivilisierende Mission übernehmen könnten. Seine Haltungen bezüglich der Araber in Palästina und bezüglich indigener Völker allgemein waren komplex und widersprüchlich: durchsetzt von paternalistischen und kolonialistischen Empfindsamkeiten, bisweilen überheblich und hart – und dann wieder empathisch und menschenfreundlich. Bisweilen gab sich Herzl fantastischen Vorstellungen einer Kanonenbootdiplomatie hin, aber im Kern drehte sich sein Zionismus um die Schaffung einer Modellgemeinschaft, die, wie in seinem Roman Altneuland geschildert, Einheimische als Gleichberechtigte betrachtet und kein Militär kennt. So sehr Herzl danach trachtete, die verfolgten Juden Europas in Sicherheit zu bringen, wollte er sie doch in einem Land wissen, das über den Wohlstand Europas verfügte – ohne dessen Hass und Ungleichheiten. Es sollte von seinen nahöstlichen Nachbarn und von den europäischen Ländern, die zuvor ihre Juden verhöhnt hatten, bewundert und geachtet werden.

Ein Wort zu den Quellen, auf die sich dieses Buch stützt: Für einen Biographen ist eine Flut von Quellen Segen und Fluch zugleich. Zusätzlich zu Hunderten von journalistischen Beiträgen, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, führte Herzl von 1882 bis 1885 ein Tagebuch, und rund 6000 von ihm verfasste Briefe blieben erhalten. (Das Tagebuch und die Briefe wurden in einer siebenbändigen deutschsprachigen Ausgabe von 1983 bis 1996 veröffentlicht.) Die am häufigsten von Herzls Biographen zitierte Quelle ist sein »zionistisches Tagebuch«, wie Herzl es nannte, das er in der Zeit von seiner Bekehrung zum Zionismus im Jahr 1895 bis zu seinem Tod im Jahr 1904 führte. Das zionistische Tagebuch ist eine wichtige, aber problematische Quelle. Einerseits bietet das Tagebuch Einblicke in die innerste Gefühlswelt Herzls, andererseits steckt es voller erfundener Dialoge und Entwürfe oder Kopien politischer Stellungnahmen. Im Jahr 1898 schrieb Herzl in einer »Autobiography« für die Zeitschrift The Jewish Chronicle, dass er hoffe, seine Notizen würden eines Tages als Zeugnis dafür veröffentlicht werden, »welche Kämpfe ich zu bestehen hatte, wer die Gegner meines Planes waren und wer, andererseits, mich unterstützt hatte«.[9] Bei der Lektüre der Tagebücher behielt ich die Beobachtung von Georges Gusdorf im Hinterkopf, wonach sich Autobiographen »nicht einer objektiven und neutralen Beschäftigung widmen, sondern einem Werk der persönlichen Rechtfertigung«. Wie eine Autobiographie erweckt Herzls Tagebuch den Anschein, die getreue Schilderung eines Menschenlebens zu sein, vermittelt diesem Leben jedoch eine Struktur und einen moralisch aufgeladenen Handlungsbogen. »Die Wahrheit der Fakten«, schreibt Gusdorf, »ist der Wahrheit des Menschen untergeordnet«.[10] In einer Biographie hingegen hängt, im Gegensatz zur Autobiographie, die Messlatte deutlich höher, weil der Biograph danach trachten muss, sowohl der Wahrheit der Fakten als auch der Wahrheit der Person gerecht zu werden. Ich hoffe, auf den folgenden Seiten zeigen zu können, dass Menschen, auch große Führer, ihre eigene Wahrheit nie aus dem Nichts erschaffen, sondern immer in Reaktion auf ihr inneres Ich, ihre Umgebung und auf Interaktionen mit anderen.

Theodor Herzl als Gymnasiast. Fotografie (um 1875).

Kapitel 2

Theodor Herzls Weg

Für Menschen, die an Schicksal glauben, dürften schon die Namen, die Theodor Herzl bei seiner Geburt gegeben wurden, angezeigt haben, dass er einmal ein großer Führer würde. Herzls deutscher Rufname Theodor und dessen ungarische Entsprechung Tivadar bedeuten »Geschenk Gottes« (theos »Gott« und doron »Geschenk«). Mit der Zeit sollten viele Anhänger Herzls, und sogar er selbst, Herzl als eine Art Messias ansehen. Herzls hebräischer Name, Benjamin Zev, verweist auf das jüngste Kind des biblischen Patriarchen Jakob, der in der biblischen Genesis beim Segen auf dem Totenbett Benjamin mit einem »reißenden Wolf [zev]« gleichsetzt. In der jüdischen Tradition steht der Name Zev für Stärke und Mut, nicht für eine zerstörerische Kraft. Doch Herzls Widersacher sollten Herzl zeit seines Lebens, und bis heute, als eine Gefahr für das darstellen, was sie am meisten verehren: sei es das heilige jüdische Recht, die Integration der Juden in ihre Heimatländer, der Triumph des Universalismus über den Partikularismus oder seien es die Rechte der Palästinenser in ihrem Kampf gegen Israel.

Ungeachtet der Legenden, die sich zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod um ihn rankten, war Herzl nur allzu menschlich. Er war intelligent und begabt, aber er litt auch unter einer psychischen Unruhe, die er mit einer demonstrativen Zurschaustellung von Energie, Witz und Charme kompensierte. Herzl war attraktiv und besaß ein außergewöhnliches Charisma, doch sein Aufstieg war eher das Ergebnis eines Zufalls als planvoller Absicht. Denn in den ersten dreißig Jahren seines Lebens war Herzl ein recht gewöhnlicher und typischer Vertreter der mitteleuropäischen, jüdischen oberen Mittelschicht.

Herzl kam zu einer verheißungsvollen Zeit für Mitteleuropa und seine Juden auf die Welt. Er wurde am 2. Mai 1860 in der ungarischen Stadt Pest geboren, von Buda aus gesehen am anderen Donauufer. Nur etwas mehr als ein Jahrzehnt vor seiner Geburt war Ungarn, wie große Teile Europas, von Revolutionen erschüttert worden, die nationalistische mit liberalen Ideen kombinierten und davon kündeten, dass die Rechte des Einzelnen ausschließlich innerhalb unabhängiger und vereinigter Nationalstaaten realisiert werden konnten. Die gleichen Bewegungen, die danach trachteten, ein modernes Italien, Deutschland und Ungarn zu erschaffen, traten auch für das Recht ein, dass der Einzelne so leben, arbeiten und denken können sollte, wie er wollte. Ein wesentliches Element dieser Revolutionen war die Emanzipation der Juden, deren Freiheit bei der Wahl des Wohnorts und des Arbeitsplatzes seit Jahrhunderten massiv eingeschränkt war. Die Revolutionen scheiterten zwar, aber nichtsdestotrotz befanden sich der Liberalismus und die Rechte für Juden weiterhin auf dem Vormarsch. Als Herzl sieben war, wurde das Habsburger Reich eine konstitutionelle Union, in der die Königreiche Österreich und Ungarn gleichberechtigt waren. In diesem neuen Staatswesen, das als Österreich-Ungarn oder die Doppelmonarchie bekannt war, waren die Juden voll emanzipiert. Im Jahr 1873 verschmolzen Buda und Pest und bildeten die Metropole Budapest, Heimat von fast 200.000 Menschen, von denen 16 Prozent Juden waren. Die Stadtbevölkerung wuchs rasch, doch die jüdische Gruppe nahm noch rasanter zu, und die Budapester Juden erfreuten sich des wachsenden Zugangs zu höherer Bildung und Berufsfeldern wie Justiz und Medizin.

Die Geschichte der Vorfahren Herzls erzählt auch die Bewegung von der Peripherie des Habsburger Reiches ins Zentrum, von Armut zu Wohlstand und von einem strengen zu einem gelockerten Einhalten der religiösen Gebote. Die Wurzeln der Familie Herzls liegen in Böhmen, Mähren und Schlesien. Im 18. Jahrhundert zogen die Vorfahren von Herzls Großvater väterlicherseits, Simon Loeb Herzl, in eine Region, die im Lauf der Zeit zwischen türkischer, österreichischer und zuletzt serbischer Herrschaft wechselte. Simon stammte aus Semlin, einem Ort an der Save gegenüber von Belgrad. Simons Sohn Jakob verließ im Alter von siebzehn Jahren Semlin, und mit dreiundzwanzig war er ein etablierter Geschäftsmann in Pest mit ausreichendem Vermögen und Berufschancen, um erfolgreich um die Hand Jeanette Diamants anzuhalten, der Tochter Hermann Diamants, eines wohlhabenden Textilkaufmanns aus Pest. Jakob ging ins Bankwesen, wo er beachtliche Erfolge feierte, allerdings verlor er einen großen Teil seines Vermögens infolge des Börsenkrachs von 1873. Doch auch danach noch waren Jakob und Jeanette wohlhabend, und ihre Kinder Pauline und Theodor wuchsen in luxuriösen Verhältnissen auf.

Theodor Herzl erzählte gerne eine andere Version seines familiären Hintergrunds. Seinem ersten Biographen Reuven Brainin teilte er mit, dass er väterlicherseits von spanischen Juden abstamme, die im Zuge der Inquisition gezwungen worden seien, zum christlichen Glauben überzutreten und Mönche zu werden. Sie seien in ihrem Orden aufgestiegen, insgeheim aber dem Glauben ihrer Väter treu geblieben. Als sie den Auftrag erhielten, wegen klösterlicher Angelegenheiten nach Innsbruck zu reisen, seien sie den Klauen der Kirche entkommen und in den Schoß ihrer jüdischen Herde zurückgekehrt. Diese Geschichte sagt viel über Herzl als Mensch aus – seine Fähigkeit zur Selbstinszenierung und seine eigenen Erfolge in der heidnischen Welt, die hier von der Zeitung auf die Welt des Klosters übertragen wurden. Doch die Story sagt auch viel über Herzls Milieu aus, das Milieu gesellschaftlich aufsteigender aschkenasischer Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die meisten mitteleuropäischen Juden gingen zwar nicht so weit, einen Stammbaum zu erfinden, doch sie verehrten das mittelalterliche sephardische Judentum als Vorbild der Integration und kulturellen Adaption. Auf eine ferne sephardische Vergangenheit zu verweisen, war ein Mittel, um von den unmittelbaren Vorfahren abzulenken: nämlich einfache, Jiddisch sprechende Handwerker, Hausierer und Viehhändler aus den Provinzen Osteuropas.

Jakob Herzl war ein phlegmatischer, etwas steifer, aber gutmütiger Mann, der Jeanette und seine Kinder verehrte. Er hatte Ehrfurcht vor Jeanette, die eine viel höhere Bildung als er hatte und tief in die deutsche Kultur eingetaucht war. Wie so oft im Fall bürgerlicher, insbesondere jüdischer Familien jener Zeit und Region überließ Jakob die Leitung des Haushalts und die Erziehung der Kinder der Mutter. Ehrgeizig und willensstark wie sie war, sorgte Jeanette dafür, dass die Kinder eine makellose Bildung und Erziehung genossen. Als Theodor fünf und Pauline sechs war, stellte Jeanette einen Hauslehrer ein, um die Kinder ein ganzes Jahr lang auf die Grundschule vorzubereiten. Sein Leben lang sollte Jeanette ihm, Theodor, als starke, ja dominierende Präsenz ständig über die Schulter schauen.

Herzls erstes Zuhause lag in der Nähe der Synagoge an der Dohanystraße, ein eindrucksvoller neomaurischer Bau, der im Jahr vor Herzls Geburt vollendet worden war. Später verwies Herzl darauf, dass er die Synagoge zusammen mit seinem Vater besucht habe. Doch es ist bis heute unklar, wie stark Herzl in seiner Kindheit mit dem jüdischen Glauben und Bräuchen in Berührung kam. Von seinem sechsten bis zum zehnten Lebensjahr besuchte Herzl eine jüdische Schule, wo er Hebräisch und Religion neben Mathematik, Naturwissenschaften und modernen Sprachen lernte. Vermutlich schickten seine Eltern ihn eher wegen ihres guten akademischen Rufes als wegen des Fokus auf das Judentum in diese Schule. Jeanette hatte den konsequenten Antiklerikalismus ihres Vaters übernommen, auch wenn ihr Onkel Samuel Bilitz, höchstwahrscheinlich aus religiöser Überzeugung, nach Jerusalem auswanderte. Als Kind hatte Jakob in Semlin seinerseits eine traditionelle jüdische Erziehung genossen, doch als Erwachsener war seine Frömmigkeit oberflächlich und gründete stärker auf der Ehrerbietung gegenüber den Eltern als auf einem passionierten Glauben. Jakobs Vater Simon ist ein interessanterer Fall. Anders als seine beiden Brüder, die zum Christentum konvertierten, blieb Simon streng orthodox. Hinzu kam: Simon wurde von dem berühmten Rabbiner der Semliner Gemeinde inspiriert, dem proto-zionistischen Yehuda Alkalai. Dieser war überzeugt, dass das Zeitalter des Messias unmittelbar bevorstehe, aber damit es anbrechen könne, müssten die Juden aktiv darauf hinarbeiten, also in Scharen nach Eretz Israel zurückkehren. Da Simon regelmäßig den Haushalt Herzls aufsuchte und starb, als Theodor neunzehn war, kann man davon ausgehen, dass Simon seinem Enkel von Alkalai und der Rückkehr nach Zion erzählt hat. Doch Herzl erwähnt in seinen umfangreichen Schriften den eigenen Großvater kaum, geschweige denn dessen proto-zionistische Ideen.

Ebenso wenig schreibt Herzl darüber, ob er eine Bar Mitzwa hatte. Es existieren Archivquellen von Einladungen zu einer »Confirmation«, die im Haus der Familie Herzl am 10. Mai 1873 stattfinden sollte. Zu der Zeit grassierte in Budapest die Cholera, sodass Menschen Versammlungen an öffentlichen Orten mieden. Jakobs finanzielles Unglück mag ebenfalls eine Rolle dabei gespielt haben, die Bar Mitzwa im Kreise der Familie zu feiern, statt sie im Rahmen eines Gottesdienstes in der Synagoge zu begehen. Und doch schrieb Herzls Onkel väterlicherseits, Max, im Jahr 1910, dass Theodor Herzl anlässlich seiner Bar Mitzwa in der Synagoge an der Dohanystraße die Haftara (eine Lesung aus den biblischen Propheten) gesungen und einen Text vorgetragen habe. In Anbetracht der Vorliebe Herzls für Dramatik ist wohl anzunehmen, dass er, hätte es sich wirklich so zugetragen, zu einem späteren Zeitpunkt auf das Ereignis, das sozusagen sein erster öffentlicher Auftritt gewesen wäre, hingewiesen hätte. Wenn er den üblichen Kommentar zur Tora und die prophetischen Lesungen für diese Woche vorgetragen hätte, so hätte er beträchtliche Mühe gehabt, sie zusammenzustellen. Die Tora-Lesung Tazria-Metzora (im Buch Leviticus) geht bis ins kleinste Detail auf Hautkrankheiten und rituelle Unreinheit ein, und die Stelle für die Haftara, die dem zweiten Buch der Könige entnommen ist, erzählt die Geschichte eines aramäischen Kriegers, der eine Hautkrankheit hat, aber auf wundersame Weise geheilt wird, nachdem er in Gegenwart des Propheten Elischa im Jordan gebadet hatte. Herzl hätte sich nicht nur mit einem der undurchsichtigsten Abschnitte der Tora auseinandersetzen müssen, er hätte auch unter beträchtlichem Druck gestanden, seiner Mutter zu gefallen, die eine Rationalistin und Skeptikerin war und diese biblischen Geschichten als atavistischen Aberglauben betrachtet hätte.

Herzls Tagebücher im Erwachsenenalter enthalten unzählige Details und stecken voller enthüllender persönlicher Bekenntnisse, deshalb sagt das Schweigen über religiöse Einflüsse oder Kenntnisse viel aus. Zu Beginn seiner Karriere als Zionist stieß Herzl wegen seines Pamphlets Der Judenstaat auf Kritik seitens des Wiener Oberrabbiners Moritz Güdemann, der rabbinische Texte verfasste, die einer organisierten Rückkehr der Juden in das Land Israel eine klare Absage erteilten. Herzl vermochte lediglich die schwache Antwort zu erwidern, »dass sich mindestens ebenso viele [Zitate] für den Zionismus würden finden lassen. Ich bin freilich zu unwissend, um sie zu liefern.«[1] Herzl erzählte Reuven Brainin, dass er als Schuljunge zum ersten Mal vom Exodus gehört habe, später aber in einem Buch jüdischer Legenden darüber gelesen habe, das er als Geschenk zur Bar Mitzwa bekommen habe. Eben diese Fassung, nicht die biblische, fand Herzl fesselnd und spannend. In seinem Kopf vermischte er Aspekte der Exodus-Geschichte mit der des Messias und fühlte einen Drang, ein Gedicht darüber zu schreiben. Er hatte jedoch Angst, seinen Schulfreunden von diesen leidenschaftlichen Gedanken zu erzählen, damit sie ihn nicht als »Träumer«, wie Herzl selbst es ausdrückte, neckten. Einige Zeit danach, so Herzl, habe er geträumt, dass er den Messias, ehrwürdig und majestätisch, erblickt habe, der ihn auf dem Arm in den Himmel entführte, wo sie Moses begegneten (der in Herzls Beschreibung eine auffallende Ähnlichkeit mit Michelangelos berühmter Statue des Propheten aufwies). Der Messias habe zu Moses gesagt: »Um dieses Kind habe ich gebetet!«[2]

Man fragt sich, sofern Herzl diesen Traum tatsächlich geträumt hatte, wie er sich nach so langer Zeit, dreißig Jahren, noch so deutlich daran erinnern konnte und ob er als Kind wirklich mit biblischen Wendungen wie der »Träumer« (Joseph wie er von seinen eifersüchtigen Brüdern beschrieben wird; 1. Mose 37,19) oder »um dieses Kind habe ich gebetet« (aus der Begegnung zwischen Hanna und dem Priester Eli vor der Geburt von Hannas Sohn, dem Propheten Samuel) so vertraut gewesen war. Wir haben bereits gesehen, dass Herzl die Tendenz hatte, Geschichten über sich selbst zu erfinden. Und weil Herzl von seinen Kritikern als Mann lächerlich gemacht wurde, der von verrückten Träumen besessen war, von seinen Anhängern hingegen als derjenige gefeiert wurde, um den sie gebetet hatten, erscheint es hier durchaus möglich, dass er eine bewusste Fälschung in die Welt gesetzt hatte. Vielleicht aber auch nicht. Im Lauf der Zeit verblasst die Erinnerung, aber sie kann auch die Erfahrung schärfen und umgestalten. Herzl selbst, der sein Leben der Erfüllung eines Traums widmete, vermochte womöglich nicht so ohne Weiteres zwischen einem Ereignis und dessen Ausschmückung zu unterscheiden. Hinzu kommt, große Führer und Befreier faszinierten den jungen Herzl. Als Teenager schrieb Herzl Aufsätze, in denen er Mohammed, dem florentinischen Demagogen Girolamo Savonarola, Martin Luther und Napoleon huldigte, von denen jeder Einzelne, auf seine Weise, ein Revolutionär war. Herzls Traum von seiner Begegnung mit Moses und dem Messias ist von orthodoxen Zionisten als Beweis für Herzls tief verwurzelte Religiosität angeführt worden, aber womöglich ist er eher ein Hinweis auf einen rebellischen Geist und eine Sehnsucht nach Erfolg, die sich schon früh in seinem Leben herausbildeten.

Mit dreizehn Jahren schrieb Herzl auf Ungarisch einen Aufsatz mit dem Titel »Soziale Beziehungen der Völker im Altertum«, in dem er die Funktion von Religion aus sozioökonomischer und psychologischer Sicht schilderte. In altertümlichen Gesellschaften seien, so Herzl, »zivile Stellungen eng mit deren Beziehung zur Religion verknüpft gewesen. Die Mitglieder einer Religion verfolgten die Gläubigen einer anderen Religion und gestatteten es ihnen nicht, ihre Posten im Staatsdienst zu behalten.«[3] Religion biete, so erkannte der altkluge Jugendliche, rationale Begründungen für gesellschaftlichen Ausschluss, aber sie verlieh Einzelnen und Gruppen auch die Kraft, Widrigkeiten zu überwinden.

Herzls erste Aufsätze, die entweder für die Schule oder zum Vergnügen geschrieben wurden, waren – auf Ungarisch ebenso wie auf Deutsch – sorgfältig komponiert, mit mehreren Entwürfen und erheblichen textlichen Abweichungen. Der junge Herzl versuchte sich auch an so vielfältigen Genres wie Literaturkritik, Satire, Übersetzungen und Dichtung. Selbst wenn man eine Kontinuität zwischen dem Inhalt dieser altklugen Ergüsse und Herzls intellektueller Entwicklung als Erwachsener bestreitet, so ließen die Sorgfalt, die geschliffene Sprache und die Bandbreite der Themen, die Herzl in seine Schriften einbrachte, doch mit Sicherheit Herzls künftigen literarischen Erfolg und seine erstaunliche Redegewandtheit als Sprecher des Zionismus schon erahnen.

Herzl saugte Informationen wie ein Schwamm auf, auch wenn seine akademischen Stärken und Erfolge alles andere als einheitlich waren. Im Jahr 1870 schloss er den ersten Abschnitt seiner förmlichen Schulbildung ab und wechselte auf eine technisch ausgerichtete Schule, eine sogenannte förealtanoda. Herzl war jedoch in Wissenschaft und Technik ein höchst mittelmäßiger Schüler, und im Fach Kunst war er ein echter Ausfall. Nach zwei unglücklichen Jahren an dieser Schule erhielt er ein Jahr lang zuhause Unterricht, blieb aber eingeschrieben und legte seinen Lehrern die Hausaufgaben vor. Im Herbst 1873 kehrte Herzl an die Schule zurück, versäumte allerdings aus unbekannten Gründen im Frühjahr einen großen Teil des Unterrichts. Mitte des Schuljahres 1874/75 nahmen Jakob und Jeanette den leidenden Knaben ganz aus der Schule und schickten ihn, nach einer weiteren Phase des Hausunterrichts, in eine sprachlich-geisteswissenschaftlich orientierte Einrichtung: das Evangelische Humanistische Obergymnasium des Augustinischen Bekenntnisses von Pest. (Ungeachtet des Namens der Schule war die Schülerschaft größtenteils jüdisch.) Herzls Noten verbesserten sich, vor allem in Ungarisch, Deutsch, Latein und Algebra. Auch in Griechisch, Geschichte und Geographie war er ein guter Schüler. Am Gymnasium verbesserte Herzl auch sein Französisch so weit, bis er es fast fließend sprach, und erwarb auch Kenntnisse in Italienisch und Englisch. Allerdings rutschten Herzls Noten insgesamt allmählich ab, als er sich zunehmend der literarischen Tätigkeit und dem Journalismus widmete. Mit siebzehn Jahren veröffentlichte er im Pester Lloyd, einer angesehenen, deutschsprachigen Zeitung, einen Aufsatz, und danach schrieb er mehrere Buchrezensionen für das Pester Journal.

Schon in seinen frühen Teenagerjahren ließ Herzl sowohl Führungsqualitäten als auch einen Hang zum Journalismus erkennen. Mit gerade mal vierzehn Jahren gründete er einen Literaturzirkel, zu dessen Mitgliedern seine Schwester, sein Cousin und ein paar Freunde zählten. Herzl nannte ihn großspurig »Wir«, erklärte sich selbst zum Präsidenten und arbeitete umfangreiche und detaillierte Statuten aus. Sowohl in diesem speziellen Fall wie auch im Allgemeinen war Herzls Haltung gegenüber seinen Altersgenossen herzlich, jedoch immer ein wenig herablassend; er wirkte ausgeglichen und beherrscht, aber auch unnahbar und wachsam. Einen Einblick in das, was sich hinter Herzls distanzierter Pose verbarg, vermittelt sein Stück Die Ritter vom Gemeinplatz, das Herzl im Sommer nach Abschluss des Gymnasiums zu schreiben anfing. Der Held des Stücks ist ein Mann von großer Integrität und Courage, der seine Leidenschaften unter Kontrolle hat und selbst unter schwierigsten Bedingungen eine, wie Herzl es nannte, »eisige Ruhe« ausstrahlte. Das Bestreben, die eigenen Gefühle derart zu kontrollieren, ist weit verbreitet unter Heranwachsenden, die vor Emotionen und physischen Bedürfnissen nur so kochen. Die Sehnsucht hormonell geleiteter Jugendlicher, die Kontrolle zu behalten, Gefühle zu unterdrücken, damit sie nicht zurückgewiesen oder verletzt werden, bedingt die Beliebtheit moderner fiktiver Figuren – von Sherlock Holmes bis zu Mr. Spock. Es ist sicher hilfreich für unser Verständnis des jungen Herzl, der in den späteren Teenagerjahren zwei verheerende, emotionale Schicksalsschläge hinnehmen musste: zum einen die nicht erwiderte Schwärmerei für ein Mädchen, das später starb, und zum anderen den Tod seiner geliebten Schwester Pauline.

In einem Tagebuch, das Herzl in seinen Zwanzigern führte, schreibt er von der Liebe als Teenager zu einer gewissen Madeleine Kurz. Er notiert, er habe es nicht gewagt, sie anzusprechen, sie stattdessen aus der Distanz verehrt: »Ich verbarg meine Liebe vor ihrem Gegenstand mit größerer Furcht als ein Wilderer das Reh vor den Augen des Försters.«[4] (Das ist in der Tat eine seltsame Metapher für Liebe, die zu einer Quelle für Schuld- und Schamgefühle wird, wenn Herzl der Wilddieb, Madeleine der Jäger und seine Gefühle für sie das erlegte Tier sind.) Der Umstand, dass die Familien Kurz und Herzl sich gut kannten und häufig bei gesellschaftlichen Anlässen trafen, machte Herzls Liebe zu Madeleine mit Sicherheit noch schmerzlicher für ihn. Herzl und Madeleine lernten sich im Jahr 1875 kennen, kurz nachdem er auf das Evangelische Humanistische Gymnasium gewechselt war. Sie waren beide fünfzehn; sie war blond, blauäugig und bezaubernd. Bei einer Familienfeier hielt Herzl Madeleines zweijährige Nichte Magda in den Armen. Madeleine und Pauline standen miteinander in Kontakt, als Herzls erster journalistischer Beitrag im Pester Lloyd veröffentlicht wurde. Madeleine zog im Jahr 1878 nach Wien, im gleichen Jahr, in dem auch die Herzls in die Reichshauptstadt zogen, aber es ist nicht bekannt, ob sie sich weiterhin sahen. Die unerfüllte Beziehung verstärkte Herzls romantische, poetische und melancholische Ader. Herzl verlor seine Liebste schließlich ganz, als Madeleine tragisch im Alter von zwanzig Jahren starb. Sechs Jahre später schrieb Herzl, nach der Begegnung mit Madeleine sei er »zum ersten und einzigen Mal verliebt gewesen. Von damals bis heute dumme eingeredete Gefühlchen ohne rechten Zug. Mein Herz hat seit damals nicht so befangen und laut geschlagen.«[5]

Noch stärker traf Herzl der Verlust Paulines, die im Februar 1878 an Typhus starb. Paulines Tod vernichtete Herzl, wie er in einem eilig geschriebenen Aufsatz von 1882 gestand. Es war für ihn die erste echte große Trauer seines Lebens. Bei der Beerdigung seien sein Vater, seine Mutter und er selbst dem langsam fahrenden Leichenwagen gefolgt. In dem Sarg lag seine tote Schwester, deren Mund er nie wieder mit einem brüderlichen Kuss verschließen würde, um sich nach einem neckischen Streit wieder mit ihr zu versöhnen. Demnach spürte er die Schwere kaum, doch die Leute am Wege blieben stehen, um dem Zug nachzusehen, und irgendwie schien ihn das ein wenig zu trösten, als er seinen Vater am Arm führte. Der Vater stolperte vor sich hin, fast schon gekrümmt, und so sei er seither geblieben. Acht Tage später seien sie aus der Stadt fortgezogen und hätten sich in einer großen Stadt niedergelassen, nach der er sich stets gesehnt habe. Dort habe seine Mutter endlich die Tränen gefunden, die sie so lange zurückgehalten habe. Auch seinem Vater und ihm gelang es schließlich, ihre Seufzer in Schluchzer zu verwandeln, ihre Schluchzer in ein unaufhörliches Weinen, das jahrelang anhalten sollte. Herzl fragte sich, was sein Vater unterdessen wohl mit seinen eigenen Tränen gemacht habe. Aber nun, da seine Mutter sich allmählich ein wenig beruhigt habe, sei er an der Reihe. Jetzt flossen seine Tränen, und er trauerte um seine Schwester, die es sicherlich verdiente, betrauert zu werden.[6]

In einer 1898 geschriebenen autobiographischen Notiz gab Herzl den Kummer seiner Mutter als den ausschließlichen Grund für den plötzlichen Umzug seiner Familie von Budapest nach Wien kurz nach Paulines Beerdigung an. Da er selbst inzwischen eine Person des öffentlichen Lebens und ein aufstrebender Staatsmann war, ließ er sich mit einer »eisigen Ruhe« den Kummer nicht anmerken, den er sechzehn Jahre zuvor noch geäußert hatte. Doch die Trauer hörte nie ganz auf, und in seinem Gedächtnis vermischten sich die Erinnerungen an Pauline mit denen an Madeleine, und damit auch die der familiären und der erotischen Liebe. Herzl datierte Madeleines Tod fälschlich auf Februar 1878, um die gleiche Zeit wie Pauline, doch in Wirklichkeit starb Madeleine am 16. November 1880, wie aus ihrer Todesanzeige am Tag darauf in der Ausgabe der Neuen Freien Presse hervorgeht.[7]

Tatsächlich hatte die Familie Herzl schon vor Paulines Tod mit Blick auf die Bildungs- und Karriereaussichten ihrer Kinder einen Umzug nach Wien geplant. Pauline war eine talentierte Schauspielerin, und das ungarische Theater bot weniger Möglichkeiten als Wien. Auch konnte Theodor Herzl in Wien besser seinen literarischen Ambitionen nachgehen. Er hatte ferner die Absicht, an der Universität Jura zu studieren, und die juristische Fakultät in Budapest war bereits von antisemitischen Tendenzen durchdrungen, was man von Wien damals nicht sagen konnte. Durch Paulines Tod jedoch wurde aus einer rationalen Überlegung ein emotionaler Ausbruch, und Jeanette bestand darauf, dass die Familie bei der ersten Gelegenheit Budapest verließ. Die Herzls ließen sich in einer komfortablen Wohnung in der Praterstraße im Zweiten Bezirk nieder, östlich der Innenstadt gelegen und die Heimat von rund 80.000 Juden. Gustav Mahler lebte nur wenige Häuser entfernt, und sowohl Arthur Schnitzler als auch Sigmund Freud verbrachten ganz in der Nähe ihre Kindheit.

Weil Herzl vor Abschluss des Gymnasiums aus Budapest herausgerissen worden war, musste er seine Studien selbstständig beenden und drei Monate nach dem Umzug nach Budapest zurückkehren, um das Abschlussexamen abzulegen, das er knapp bestand. Unter den gegebenen Umständen war sein schlechtes Abschneiden begreiflich. Doch als Vorzeichen für die künftige Weigerung Herzls, ein Scheitern einzugestehen, und für seine Fähigkeit, eine schreckliche Belastung zu bewältigen und unter widrigen Bedingungen Ruhe zu bewahren, schnitt Herzl bei der landesweiten Reifeprüfung, der Matura, weit besser ab, einer siebentägigen Reihe schriftlicher und mündlicher Prüfungen. Aufgrund seiner Leistung wurde er für das Studienjahr 1878/79 an der juristischen Fakultät der Universität Wien angenommen.

Trotz des tragischen Ereignisses, das ihn so überstürzt nach Wien geführt hatte, war Herzl begeistert über den Umzug in die Kulturhauptstadt des deutschsprachigen Europas, und als er sich an der Universität einschrieb, hatte er weit mehr als eine akademische Laufbahn im Sinn. Er war ein aufstrebender Bühnenautor und Journalist, und seine Veröffentlichungen waren bislang alle auf Deutsch erfolgt. Erstaunlicherweise gab Herzl in seinem ersten Semester zwar Deutsch als Muttersprache an, wechselte aber im folgenden Semester auf Ungarisch und beließ es zwei Jahre lang dabei, ehe er wieder zu Deutsch zurückkehrte. Als Kind hatte Herzl seine allerersten Briefe an die Eltern auf Deutsch wie auf Ungarisch geschrieben, doch als Teenager schrieb er ihnen nur noch auf Deutsch, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich mit ihnen hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich in dieser Sprache unterhielt. Herzl sprach Ungarisch an der Schule, doch es gibt kaum einen Grund zu der Annahme, dass er es als seine Muttersprache ansah. Deshalb kann man wohl annehmen, dass rein zweckdienliche oder bürokratische Gründe den Ausschlag dafür gaben, dass Herzl während des größeren Teils seiner Universitätslaufbahn Ungarisch als Muttersprache angab.

Kaum war er an der Universität eingeschrieben, identifizierte sich Herzl öffentlich und kontinuierlich mit dem deutschen Nationalismus. Bei einem Besuch in Budapest im Jahr 1881 schrieb er, dass er sich von der Stadt und ihrer Sprache entfremdet habe. Budapest erschien ihm klein und provinziell: »In der Zeit meines Fernseins ist Ungarn noch viel ungarischer geworden.« Herzl machte sich über deutschsprachige Juden lustig, die entschlossen waren, sich zu magyarisieren, deutsche Namen gegen ungarische eintauschten und sich beim Erlernen der Sprache die Zunge abbrachen. »Ich habe hier«, merkte Herzl nüchtern an, »mit grosser Consequenz keine Silbe Ungarisch geredet.«[8] Es gibt jedoch Hinweise, die darauf schließen lassen, dass Herzl der ungarischen Sprache dennoch tief verbunden blieb. In seiner Jugend sprach er seine Eltern in Briefen mit Mama und Papa an, doch als Erwachsener wechselte er zu den ungarischen Kosenamen mamakam und papakam.

An der Universität besuchte Herzl hauptsächlich Vorlesungen in Rechtsgeschichte und Philosophie. Er belegte vier Kurse bei Lorenz von Stein, einem gemäßigten Konservativen, der möglicherweise Herzls spätere Ansichten zu den verheerenden Auswirkungen der Industrialisierung und zur Notwendigkeit, einen Mittelweg zwischen einem ungehemmten Kapitalismus und einem revolutionären Sozialismus zu steuern, beeinflusst hat. Darüber hinaus belegte Herzl auch Kurse bei einem weiteren Sozialreformer: Anton Menger. Bezeichnenderweise endet Herzls »Jugendtagebuch« mit einer Sammlung von Aphorismen, die Steins Vorlesungen entnommen sind, unter Verweis auf Platon und den Versuch, aus höheren Zielen der öden Realität gesellschaftlicher Praxis zu entfliehen: »Allem Erscheinenden liegt eine Idee zu Grunde, und diese suche ich!«[9] Diese recht nichtssagende Erklärung bezeugt, dass sich Stein der idealistischen Philosophie verpflichtet fühlte, insbesondere Hegel, mit dem er studiert hatte. Doch für Herzl glichen Ideen Träumen; sie waren keine abstrakten Wahrheiten, die von menschlichem Handeln erzeugt wurden, sondern Mythen, die Menschen antreiben, beispiellose, nie dagewesene und wundersame Dinge zu tun. Während seiner Zeit an der Universität hatte sich dieser Aspekt von Herzls Charakter noch nicht voll ausgebildet, aber angelegt war er bereits.