Thich Nhat Hanh - Ein Leben in Achtsamkeit - Céline Chadelat - E-Book

Thich Nhat Hanh - Ein Leben in Achtsamkeit E-Book

Céline Chadelat

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Beschreibung

Ein leuchtendes Beispiel für menschliche Größe und spirituelle Tiefe
Er hat sein Leben dem Frieden im Inneren und in der Welt verschrieben: Der Zen-Mönch, Meditationslehrer und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh. Geboren 1926 in Vietnam, wird er Zeuge der verheerenden Kriege in seinem Land. Das Leiden der Menschen dort prägt sein Denken und sein ganzes weiteres Leben. »Unsere Feinde sind niemals Menschen«, so lehrt er, »sondern nur menschenverachtende Ideologien und Systeme.« Schnell gerät er zwischen alle Fronten und wird von den kommunistischen Machthabern ins Exil verbannt. Von nun an reist Thich Nhat Hanh durch die Welt, um seine Botschaft des inneren und äußeren Friedens zu verbreiten. So bringt er auch die heutzutage so populäre Praxis der Achtsamkeit in den Westen, die das Leben zahlloser Menschen grundlegend verändert hat.
Diese Biografie zeichnet ein berührendes Bild des weltbekannten buddhistischen Lehrers, der in vieler Hinsicht zum spirituellen, sozialen und politischen Gewissen unserer Zeit geworden ist.

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Das Buch:

Thich Nhat Hanh ist eine der bedeutendsten spirituellen Leitfiguren unserer Zeit. Geboren 1926 in Vietnam, wird er Zeuge der verheerenden Kriege in seinem Land. Das Leiden der Menschen dort prägt sein Denken und sein ganzes weiteres Leben. »Unsere Feinde sind niemals Menschen«, so lehrt er, »sondern nur menschenverachtende Ideologien und Systeme«. Schnell gerät er zwischen alle Fronten und wird von den kommunistischen Machthabern ins Exil verbannt. Von nun an reist Thich Nhat Hanh durch die Welt, um seine Botschaft des inneren und äußeren Friedens zu verbreiten. So bringt er auch die heutzutage so populäre Praxis der Achtsamkeit in den Westen, die das Leben zahlloser Menschen grundlegend verändert hat.

Diese Biografie zeichnet ein berührendes Bild des weltbekannten buddhistischen Lehrers, der in vieler Hinsicht zum spirituellen, sozialen und politischen Gewissen unserer Zeit geworden ist.

Der Autor:

Céline Chadelat ist eine auf Religion und Spiritualität spezialisierte Journalistin und Historikerin.

Bernard Baudouin ist Autor von mehr als 50 erfolgreichen Büchern über verschiedene Religionen und spirituelle Bewegungen.

Céline Chadelat & Bernard Baudouin

THICH NHAT HANH

Ein Leben in Achtsamkeit

Die Biografie

Mit einem Vorwort von Daniel Odier

Aus dem Französischen übersetzt

von Maike und Stephan Schuhmacher

Die französische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Thich Nhât Hanh. Une vie en pleine conscience« bei Presses du Châtelet, Paris.

Alle Zitate wurden von den Übersetzern entsprechend der französischen Originalausgabe übersetzt; die Quellenangaben/Anmerkungen beziehen sich auf die deutschen Ausgaben, in denen diese Zitate stehen.

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Copyright © 2016 by Presses du Châtelet

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Lotos Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Dr. Martina Darga

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG

Satz und E-Book-Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-21880-5 V002

www.Integral-Lotos-Ansata.de

www.facebook.com/Integral.Lotos.Ansata

INHALT

Vorwort

Thich Nhat Hanh, Herz und Geist

Prolog

Erster Teil

Die Realität des Leidens im Buddhismus

Die Rückkehr des erleuchteten Mönchs

Der Spross eines Landes auf der Suche nach sich selbst

Zur eigenen Antwort auf das Leiden finden

Der rebellische Mönch

Sich wandeln, um die Welt zu verändern

Ein wundervolles Zwischenspiel: zwei Frühlinge in Amerika

Die Welt braucht echte Helden

Zweiter Teil

Eine Stimme des Friedens im Vietnamkrieg

Der Lotos im Feuermeer

Ein dritter Weg

Die Wesen und die Herzen miteinander verbinden

Reverend Martin Luther King jr.

1967 im Zeichen des Feuers

Ein neues Bewusstsein für den Okzident

Zeit des Exils, die Augen auf das Höchste gerichtet

Ein Appell für die Natur

Von Vietnam in die Dordogne – die Geschichte einer Sangha

Das Leiden der GIs

Die Führer inspirieren

Zur Rettung des Planeten

Dritter Teil

Der Lotos entfaltet sich

Ein Weg des Friedens, ein Weg der Heilung

Die Werkzeuge des Gärtners

Auf dem Weg des Friedens

Es gibt weder Tod noch Angst

Anhang I

Die Vierzehn Achtsamkeitsübungen des Ordens Intersein

Anhang 2

Manifest 2000 für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit

Anhang 3

Manifest 2000 – sechs Prinzipien für eine Friedenskultur

Anhang 4

Dokumente

Anmerkungen

Bücher von Thich Nhat Hanh

Weiterführende Weblinks

Dank

Bildteil

Sie sind in der Gegenwart mit Ihrem Leben verabredet.

Wenn Sie diese Verabredung versäumen,

laufen Sie Gefahr, Ihr Leben zu versäumen.

THICH NHAT HANH

Vorwort

Thich Nhat Hanh, Herz und Geist

Die Persönlichkeit von Thich Nhat Hanh zu erfassen ist ein komplexes Unterfangen. Es verlangt eine klare Übersicht über zahlreiche Faktoren, die das Leben, das Handeln und die Lehre dieses großen Zen-Meisters bestimmt haben. Thay, wie er von seinen Freunden und Anhängern genannt wird, trennt die politische und soziale Aktion nicht von der Zen-Praxis ab. Er verstand, alle Kostbarkeiten aus der Tradition der Lehren der ihm vorangegangenen Meister zu schöpfen und sich gleichzeitig gegen die Tradition aufzulehnen und tief greifende Veränderungen in ihr herbeizuführen. Thich Nhat Hanh zu verstehen heißt auch, den Menschen hinter der Aktion, den Dichter, den Künstler wahrzunehmen, dessen unermessliches Mitgefühl über jede parteiische Sichtweise hinausreicht. Der Blick Thays umfängt, er trennt niemals. Was Thay »Achtsamkeit« nennt, wird sowohl auf die schlichtesten und alltäglichsten Aufgaben als auch auf die politische Sicht der Welt angewandt. Die tiefgründige Sichtweise, der zufolge wir eng mit allen anderen Menschen wie auch mit der Natur verbunden sind, tritt bei ihm stets an die Stelle einer Anschauung, die den Menschen im Zentrum einer Totalität sieht, die gleichermaßen unermesslich wie komplex ist. Um die Wirklichkeit zu verstehen, genügt es, achtsam hinzuhören und sich von jeder parteiischen, dogmatischen oder vom Glauben geprägten Sicht zu lösen. Auf die Frage »Wenn Sie Osama bin Laden begegnen würden, was würden Sie zu ihm sagen?« antwortete er: »Ich würde ihm zuhören«.

Wie alle Zen-Meister hat Thay auch eine provokative Seite von großer Subtilität und wunderbarer Intelligenz. Er geht den Dingen mit einer erstaunlichen Verschmelzung von Zartheit und Strenge auf den Grund. Seine Präsenz ist intensiv, subtil und anmutig zugleich. Er scheut keinen körperlichen Kontakt, wie es viele Mönche tun, und ich erinnere mich mit tiefer Bewegung an das erste Mal, als er mich in die Arme genommen hat – es war eine Übertragung von Stille durch einen völlig gegenwärtigen und befriedeten Körper-Geist.

Ich bin Thay im Jahre 1995 begegnet. Damals war ich Herausgeber einer Reihe von spirituellen Texten und wollte unbedingt sein wundervolles Buch Wie Siddhartha zum Buddha wurde über das Leben des Buddha veröffentlichen. In den folgenden Jahren bin ich ihm mehrere Male begegnet, habe mehrere seiner Bücher veröffentlicht, wurde zu seinem Schüler und nahm an Wochenretreats des Ordens Intersein in Plum Village teil. Ich lauschte seinen Lehren, fasziniert von seiner Fähigkeit, die Gesamtheit des Buddhismus in zwei Stunden intensiver und großzügiger Lehre zu umreißen, ganz gleich um welches Thema es dabei gehen mochte. Es war eine Übermittlung von Herz zu Herz oder von Geist zu Geist.

Bei Thay ist die Strenge niemals trocken. Sie ist immer durchdrungen von großer Menschlichkeit, von einer Zartheit und einem tiefen Verständnis für die Wesen und die jeweilige Situation. In ihm verbinden sich Subtilität, Bestimmtheit und Mut. Sein ganzes Leben lang hat er in seinen politischen und humanitären Ansichten die gegnerischen Parteien berücksichtigt, als würde er über ihre Zwistigkeiten hinaussehen, als würde er die Möglichkeit erkennen, die Extreme zum Wohle der Menschen zu vereinen, und wolle nicht den Triumph einer bestimmten Politik bestätigen. Mit diesem Ansatz brachte er manchmal beide Seiten gegen sich auf. Mit unglaublicher Zähigkeit hielt er trotz aller Schwierigkeiten an dieser Position fest, und es gelang ihm, in seinem Kielwasser Hunderttausende von Aktivisten aller Lager mit sich zu reißen.

Das Buch von Céline Chadelat und Bernard Baudouin zeichnet sich durch eine sehr gut recherchierte Darstellung der historischen Umstände aus, die Vietnam in Flammen haben aufgehen lassen. Auch die späteren Konflikte, die Thich Nhat Hanh zum Einschreiten bewogen haben, werden sehr differenziert beschrieben. Denn ohne diesen Hintergrund ist es in der Tat unmöglich zu verstehen, wie sich das humanitäre Ideal des jungen Mönchs entwickelt hat. Es wird begreifbar, wie Thays Persönlichkeit im Umfeld des imperialistischen Chaos und der überzogenen Ambitionen verschiedener französischer, japanischer und amerikanischer Interventionen geprägt wurde, wie ein von nur wenigen unerschrockenen Kameraden umgebener Mann sich gegen deren entfesselte und blutrünstige Systeme erheben konnte. Vietnam ist das in der Geschichte am heftigsten bombardierte Land. Wie kann man auf den schrecklichen Folgeschäden wieder Neues aufbauen, wie sich von Hass und Unwissenheit befreien? Darin besteht der Kampf von Thay und seinen Gefährten, darin besteht auch der Kampf seiner Freunde wie etwa Martin Luther King jr. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Thay 1967 von King für den Friedensnobelpreis nominiert wurde (der in diesem Jahr jedoch nicht vergeben wurde). Umso verwunderlicher ist es, dass der Preis 1973 an Henry Kissinger ging, der zwischen Weihnachten und Neujahr 1972 zusammen mit Nixon beschlossen hatte, Tonnen von Bomben auf Hanoi und Haiphong abzuwerfen, um die Friedensverhandlungen vorzubereiten. Bilanz: 1.600 getötete Zivilisten.

Céline Chadelat und Bernard Baudouin ist es gelungen, geschickt die intime Beschreibung der Person Thays mit der Darstellung seines sozialen und politischen Aktivismus zu verbinden, indem sie flüssig von einem zum anderen wechseln. Das Ergebnis ist ein Buch über Thich Nhat Hanh, das für lange Zeit maßgeblich sein wird.

Daniel Odier

Ming Qing Sifu

Prolog

Am Tag dieses Schuljahresbeginns im September ist der Morgen köstlich frisch und sonnendurchflutet. Munter steige ich aus dem Bus, der mich zum Senat im Odéon-Viertel gebracht hat. Es herrscht diese Stille des frühen Morgens, wenn Paris noch nicht ganz erwacht ist. Ich bin auf dem Weg zu einer außergewöhnlichen Pressekonferenz eines vietnamesischen Weisen, dessen Präsenz und spirituelle Qualitäten mir gepriesen wurden: Thich Nhat Hanh. Diese Pressekonferenz ist das Vorspiel zu einem Wochenende der Meditation und einer Gehmeditation in Achtsamkeit, die in dem Viertel La Défense unter Leitung des Weisen organisiert wird.

Außerdem sind zu dieser Konferenz ein Ökonom, ein Psychiater und ein Ökologe eingeladen, die allesamt bekannte Experten auf ihrem Gebiet sind, sowie eine Senatorin. In ihrer Mitte zeichnet sich blendend, aufrecht und bewegungslos die Silhouette des Zen-Meisters ab. Ihm scheint es zu genügen, er selbst zu sein, aufmerksam den Saal, die Wände, die Decke zu betrachten, die ihn für einige Stunden aufnehmen. Seine braune Robe und sein von Sanftheit durchdrungenes Gesicht geben ihm den Anschein, als würde er einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum angehören.

Der Tonfall seiner Worte ist wie ein Murmeln und lässt eine in mir selbst vergrabene Verletzlichkeit zutage treten. So lausche ich schließlich, etwas schutzlos und gar nicht mehr kritisch, den wenigen von diesem buddhistischen Meister gesprochenen Worten. Ich bin einigermaßen erfahren, denn es ist nicht das erste Mal, dass ich mich in Gegenwart eines Weisen solchen Formats befinde. Jedes Mal vollzieht sich die gleiche Alchemie; hier verbreitet sich ein Duft von Sanftmut und Intelligenz, von Kohärenz. Als er vorschlägt, die Abgeordneten sollten vor jeder Parlamentssitzung eine Minute meditieren, begreife ich, dass Thich Nhat Hanh kein Mann ist, der dem Zeitgeist der Gesellschaft unterworfen ist. Er scheint im Fließen seiner eigenen Atemzüge zu schweben.

Im Schneidersitz auf einem Stuhl sitzend, ein Diktiergerät zu meiner Linken, sehe ich aus wie eine Journalistin, bin aber nicht wirklich mehr eine solche. Ich höre zu, ich schweige. Denn hier ist jemand, der uns die Gelegenheit gibt, einfach nur zu sein. Seine Präsenz löscht alles Überflüssige aus, als hätte das Feuer der Liebe alles verbrannt. Die Pressemappe unterrichtet mich, dass das Mitgefühl des Zen-Meisters alles unterschiedslos umfängt: die Menschen und ihre Gewalttaten, ihre Verletzungen, die sie in Theorien, in Konzepten, in politischen Parteien anrichten. So viele Leben unablässigen Kampfes, die den Kreislauf des Leidens immer weiter fortsetzen, aus Mangel an jenem Wissen, zu dem der vor uns sitzende Meister einer der Wege zu sein scheint. Er sagt, dass die blauen Flecken des Lebens entweder in Stein gemeißelt oder in Nektar transformiert werden können. Die Menschen suchten so verzweifelt nach Liebe, sie verwechselten Geld und Erfolg mit dem Glück, sie verlören sich in hypnotischen Spiegelungen und Illusionen. Diesen Schmerz der Menschheit, ich spüre ihn seit meiner Jugendzeit. Der Meister verkörpert die Praxis des Zen, losgelöst und liebevoll, wie eine lodernde Flamme, die die innere Intelligenz erweckt. Gelassen trinkt er auf diesem Podium in einem der Säle des Senats mit behutsam zusammengelegten Händen ein wenig Wasser. Ich könnte mich damit begnügen, zum Thema der Pressekonferenz die Fakten zu berichten, aber ich entscheide mich, seinen Worten eine Chance zu geben.

Wenn er sagt, dass die Rechte und die Linke nicht ohne einander existieren können, gibt er der Realität wieder einen Sinn und eine Tiefe. Thich Nhat Hanh drängt uns aus unserer Komfortzone hinaus. Seine Lehre von der Nicht-Dualität lädt dazu ein, über die bloßen Erscheinungen hinauszublicken. Ohne Waffen und ohne Gewalt reißt er Paradigmen des Denkens, geistige Hirngespinste und erstarrte Vorstellungen ein. Seine Aktion gegen den Vietnamkrieg zeigt, dass er zu jenen höchst seltenen Geistesgrößen gehört, die die Kraft finden, allen Widrigkeiten zum Trotz eine andere Stimme hören zu lassen.

Seine Worte und seine Taten passen sich kaum dem abgehackten Rhythmus der Medien an: kein Lärm, kein Skandal, lediglich Stille, Friede und eine heitere Gelassenheit …

Diese Pressekonferenz wird so gut wie kein Medienecho finden. Das macht nichts, denn die Sanftmut besitzt ihre eigene Kraft, und ein anderer Weg zeichnet sich ab. Achtsamkeit, in den USA bereits weit erprobt, ist ein innovatives Werkzeug im Dienste von Gesellschaften, denen die Luft ausgeht, ein Werkzeug mit ungeahnten Eigenschaften, dessen Thich Nhat Hanh sich seit Jahrzehnten bedient. Als ich mittags den Senat verlasse, fühle ich mich ruhig und berührt.

Am Sonntag beschließe ich, nach La Défense zu fahren und an dem Achtsamkeitsgang teilzunehmen, die Lehren des Meisters zu hören und zu spüren. Unmöglich, nicht dort zu sein.

Es wird ein milder leuchtender Sonntag. Dreitausend Personen gehen in Frieden zwischen den Hochhäusern von La Défense. Im Saal der Grande Arche stimmt eine Nonne einen Gesang mit einfachen Worten an: »Ich brauche nirgendwohin zu gehen, habe nichts zu tun, ich habe alle Zeit der Welt …« Das Publikum stimmt mit ein. Singe ich oder singe ich nicht? Das ist hier die Frage. Wenn ich singe, werde ich mich dann nicht verlieren, einen Teil von mir verlieren? Wenn ich etwas ehrlich zu mir bin, muss ich zugeben, dass dieser Gesang mich mit jenem Anteil in mir konfrontiert, der die Sanftmut nicht so ohne Weiteres auf eine so elementare Weise auszudrücken weiß. Und dann gibt es noch jenen Teil in uns, der an der Vorstellung festhält, dass »diese Leute, die da gerade singen, merkwürdig sind« und dass »man das Ganze nicht wirklich ernst nehmen kann«. Was die Sache noch mehr verkompliziert, ist mein Herz, das mir sagt, ich müsse singen, es habe große Lust dazu. Also murmele ich einige Worte. Ich lasse die Kontrolle los und fühle mich schon bald bestärkt.

Einige Jahre später, als mir ein Verleger anbietet, an einer Biografie von Thich Nhat Hanh mitzuwirken, sage ich mit Freuden zu. Während der ganzen Zeit des Schreibens an dem Buch im Kontakt mit dem Zen-Meister zu sein ist ein Geschenk, das ich einfach nicht abzulehnen vermag.

Céline Chadelat

Erster Teil

DIE REALITÄT DES LEIDENS IM BUDDHISMUS

DIE RÜCKKEHR DES ERLEUCHTETEN MÖNCHS

Das Jahr 2005 sollte das neununddreißigste und letzte Jahr des Zen-Mönchs Thich Nhat Hanh im Exil außerhalb der Grenzen Vietnams gewesen sein. Nach mehrfachen vergeblichen Versuchen wird ihm aus Hanoi endlich die Erlaubnis erteilt, den Boden seiner Vorfahren zwischen dem 12. Januar und 11. April 2005 für einen Zeitraum von drei Monaten zu betreten.

Auch wenn mit der Exilierung beabsichtigt war, den in die USA emigrierten Mönch und seine Friedensbotschaft in seiner Heimat in Vergessenheit geraten zu lassen, haben ihn diese Jahre umso kraftvoller gemacht. Er kehrt als erleuchteter Meister zurück, umgeben von einer Aura der Dankbarkeit.

Während all der Jahre der Trennung von seinem Heimatland hat Thich Nhat Hanh vermittels der Achtsamkeitspraxis unermüdlich Samen des Friedens in Herz und Geist der Menschen gesät. Obwohl Gewalt häufig mit großer Selbstverständlichkeit angewendet wird, haben sich von Paris bis New York Tausende von Menschen um ihn gedrängt, um seine Lehren über den Frieden zu hören. Was seine Berühmtheit als spiritueller Meister angeht, kann man ihn heute wohl gleich hinter dem Dalai Lama ansiedeln. Sein aufrichtiges Engagement im Dienste der Schwächsten, sein ungewöhnlicher Mut sowie seine Entschlossenheit, Liebe und Respekt für alle Lebensformen zum Blühen zu bringen, haben ihm außerordentliche Anerkennung eingebracht. Der Präsident der Weltbank Jim Yong Kim sagte über seine Lehre, sie führe »zu einem tiefen Mitgefühl mit allen Leidenden«1.

Das Wirken von Thich Nhat Hanh als Mönch, Meditierender, Verteidiger des Friedens, Dichter, Schriftsteller und Künstler umfasst alle Aspekte des Lebens. Wie seine tiefe Verbundenheit mit der von ihm verehrten Erde bezeugt, macht er keinen Unterschied zwischen der Liebe für den Menschen, der Liebe für die Natur und der Liebe für das Leben.

Thich Nhat Hanh verbindet die neununddreißig Jahre des Exils vor dem Hintergrund des Kalten Krieges mit der Weisheit des »tiefen Schauens«, das ihm offenbarte, dass Frieden nicht in spektakulären Erklärungen zu finden ist, sondern sich tief im Herzen der Menschen verbirgt und es an ihnen ist, ihn ans Licht zu holen. Dass der Wandel nicht von außen auferlegt werden kann, sondern in einem selbst beginnt. Dass inmitten der großen Konflikte Kräfte am Werk sind, die sehr oft über den Menschen hinausgehen. Doch dass es letzten Endes an ihm ist, in seinem tiefsten Innersten zu entscheiden, auf welche Weise er am Spiel des Lebens teilhaben und es in Aktion umsetzen will. Dem Weisen obliegt es, in Demut die Richtungen zu weisen.

Weit über die Grenzen seines Heimatlandes hinausreichend, widmete sich das Leben von Thich Nhat Hanh der Aufgabe, eine Welt, die mit den Qualen im Ozean des Samsara2 und seinen Wogen von Wut, Hass und Leiden ringt, mithilfe der Kraft von Achtsamkeit zu befrieden. Er lehrte die Achtsamkeit so, wie diese ihn gelehrt hat. Was ist Achtsamkeit? »Sie ist die Energie, sich dessen bewusst zu sein, was im gegenwärtigen Augenblick geschieht. Wenn Sie vollkommen präsent sind, sind Sie vollkommen lebendig. Dies ist eine Weise, jeden Augenblick Ihres alltäglichen Lebens zutiefst zu leben. Diese Energie schützt Sie und erhellt all Ihre Aktivitäten. Achtsamkeit ist das Vermögen, die Dinge als das anzuerkennen, was sie sind.«3

Die Stigmen

Die Jahrzehnte des Exils haben die Erinnerung an Vietnam nicht aus dem Gedächtnis des charismatischen Mönchs mit den harmonischen Zügen, sanftmütigen Gesten und beruhigenden Worten gelöscht. Die buddhistische Gemeinschaft erwartet die Ankunft von Thay mit verhaltener Begeisterung. »Thay« ist ein Diminutiv, der Zuneigung und Respekt zum Ausdruck bringt und auf Vietnamesisch »Meister« bedeutet. Im Allgemeinen werden all jene damit angesprochen, die das Mönchsgewand tragen und die man Bhikshus4 nennt. Die Gemeinschaft, der viele junge Menschen angehören, erhofft sich viel vom Besuch des Zen-Mönchs. Die Religionsfreiheit ist im Land in der Tat äußerst eingeschränkt.

Im Jahre 2005, dreißig Jahre nach Beendigung des Konflikts, in dem es sich den Vereinigten Staaten widersetzte, leidet Vietnam noch immer unter den Nachwirkungen seiner Teilungen. Die von Thay mitbegründete Vereinigte Buddhistische Kirche von Vietnam wird nicht mehr geduldet. Einige ihrer Führer sind seit mehr als zwanzig Jahren im Gefängnis. Offiziell untersagt die kommunistische Partei Vietnams das Praktizieren des Buddhismus außerhalb eines streng reglementierten Rahmens. Das Volk darf die Tempel nicht besuchen, keine Rituale vollziehen oder Räucherwerk opfern.

Die Machthaber sind sich dessen bewusst, dass sie ihr Ansehen in der Welt mit der Besuchserlaubnis für den so populären Mönch vergrößern können. Die Thay zugestandene Erlaubnis, nach einem derart langen Exil in sein Land zurückzukehren, wird von der vietnamesischen Regierung als eine Politik der Öffnung präsentiert. Die Regierung hat es bitter nötig, die Wirtschaft des Landes zu stabilisieren, doch die Klassifizierung Vietnams als eines der Länder, »die die Religionsfreiheit verletzen«, verwehrt es ihm, in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen zu werden.5

Der Tempel von Hue

Thich Nhat Hanh nutzt die von der Regierung bewilligte Aufenthaltsdauer voll aus und unternimmt begleitet von Hunderten von Mönchen und Nonnen sowie neunzig Laien des Ordens Intersein eine Rundreise. Im Rahmen seiner Vorträge und Klausuren begegnet er Zehntausenden von Vietnamesen, die gekommen sind, ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen. Zahlreiche junge Menschen fühlen sich von dem einfachen und heiteren Leben der Mönche und Nonnen der Gemeinschaft dermaßen angezogen, dass viele Teilnahme-Ersuche aus Mangel an Platz nicht positiv beschieden werden können. Mehrere Hunderte von jungen Menschen geben dem Wunsch Ausdruck, seine mönchischen Unterweisungen im traditionellen Plum Village zu empfangen.

Als Höhepunkt seiner Reise begibt sich Thich Nhat Hanh zum Tempel Tu Hieu der Kaiserstadt Hue. 1942 bestätigte er im Alter von 16 Jahren in diesem Tempel seine spirituelle Berufung, indem er den wunderbaren Weg der Bodhisattvas einschlug. Unsere Welt bedarf dringend der Bodhisattvas, dieser Wesen, in deren Worten Liebe, Mitgefühl und tiefes Engagement für alle zum Ausdruck kommen. Der buddhistischen Tradition zufolge sind die Bodhisattvas Wesen, die ihr Karma geläutert und Erleuchtung erlangt haben, die sich aber aufgrund ihres Gelübdes, den anderen Wesen zu helfen, weiter im Samsara manifestieren.

Dank ihrer Energie der Liebe und des tiefen Friedens halten diese Wesen die subtilen Kräfte des Planeten im Gleichgewicht und übertragen die Samen von Liebe, Frieden und Mitgefühl an jene, die ihrer bedürfen. Dem Zen-Meister zufolge sind all jene, die dem Weg der Einsicht und des Mitgefühls folgen, Bodhisattvas. »Die Bodhisattvas werden des Leidens, das sie umgibt, niemals überdrüssig, und sie geben niemals auf. Sie schenken uns den Mut zu leben«6, erläutert Thich Nhat Hanh. Dieser Ansatz zeigt, dass der Zen-Mönch keinerlei Bedenken hat, die buddhistischen Texte zu aktualisieren, indem er sie für alle verständlich macht. Darin liegt die Kraft seiner Botschaft: Selbst der schlimmste Mensch hat einen Wert, er ist ein potenzieller Bodhisattva. Thich Nhat Hanh hat sich niemals gescheut, diese Wahrheit ungeachtet aller Konsequenzen zu bekräftigen.

Und seit jenem Tag im Jahre 1942 hat das Engagement von Thay Tausende Menschen inspiriert und Tausende Bodhisattvas haben sich offenbart!

Von seinem politischen und sozialen Standpunkt her verkündet Thay seine Bereitschaft, jedem zuzuhören und die Realität des Landes zu verstehen, das sich aufs Neue seinen Augen darbietet. Das kolonialistische Erbe Frankreichs und der Indochinakrieg, gefolgt von der ideologischen Instrumentalisierung des Landes durch die Großmächte Russland und die USA haben das Land in einen Schraubstock gepresst, dadurch die innere Teilung verstärkt und schließlich ein ausgeblutetes, starres Vietnam hinterlassen, dessen Machthaber keine anderen Mittel zu kennen scheinen als brutale Repression. Er begreift, wie schwer die Unzufriedenheit der Buddhisten und die Vorstellungen der Regierung miteinander zu versöhnen sind. Doch sein Glaube an das Zuhören und den Austausch bleibt unerschütterlich. Dieses Vermögen, tief zuzuhören, ohne alle Schleier von Urteil und Projektion, ist gewiss einer der Keime der Demut, die so charakteristisch für ihn ist.

Es war der buddhistische Glaube des jungen Mönchs, der ihn unablässig und ohne Umschweife mit den Schwierigkeiten konfrontiert hat, die für die Geschichte Vietnams kennzeichnend sind. Er machte die schreckliche Zerreißprobe seines Landes zu seiner eigenen. Er hat seinen Mitmenschen das Juwel der buddhistischen Weisheit und des universellen Mitgefühls dargebracht. Anstelle des schrecklichen Widerhalls von Maschinengewehrfeuer wählte Thich Nhat Hanh die viel zu sehr vernachlässigte Partitur des Friedens. Wenn es in diesem Drama, das sich an den Grenzen zum Fernen Osten abgespielt hat, einen Gewinner geben muss, dann ist der Zen-Mönch der Siegreiche. Denn der Frieden gewinnt in jedem Augenblick. Im Jahre 2003, in einer Rede vor dem amerikanischen Kongress, erklärte er: »Es gibt keinen Weg zum Frieden. Der Frieden ist der Weg.«

DER SPROSS EINES LANDES AUF DER SUCHE NACH SICH SELBST

»Ich gehöre dem Geschlecht der Drachen an, du stammst aus dem Geschlecht der Unsterblichen. Wasser und Feuer sind unvereinbar: es fällt uns schwer, in Einklang miteinander zu leben. Wir müssen uns nun trennen.« Mit diesen Worten verabschiedete der legendäre König Lac Long Quan, Beschützer und Volksheld Vietnams, seine Ehefrau, die schöne Unsterbliche Au Co. Die Ursprünge des Landes verbergen sich in dieser uralten Mär, die das Innerste der Erde mit den tiefsten Tiefen des Wassers vermischt. Die Vietnamesen glauben, sie seien aus der Vereinigung von Erde und Wasser geboren, dank dieses dem Wasser entstiegenen Mannes mit ungewöhnlichen Kräften aus dem Geschlecht der Drachen und der schönen Bergfee Au Co.

Der Legende zufolge entstanden die Landschaften Vietnams, wie zum Beispiel die Halong-Bucht, durch die Schlachten schrecklicher Ungeheuer gegen Wesen, die halb Gott, halb Mensch waren. In einem dieser Kämpfe rettete der König die schöne Bergfee. Sie hatten zusammen einhundert Kinder. Die Vietnamesen sollen die Nachfahren dieser gemeinsamen Eltern sein. In ihren Adern fließt ein wenig Blut des Drachen und der schönen Fee. Die eine Hälfte der Kinder sei unter dem Schutz ihrer Mutter in die Berge gegangen, während die andere Hälfte mit dem Vater in die Ebenen Richtung Meer zog, um die Dynastie der Hung zu begründen. Die Geschichte offenbart, dass die Bevölkerung, die sich zuerst im Bergvorland niederließ, das Delta des Roten Flusses erst später erobert hat, nämlich als sie groß genug geworden war, um die Deiche entlang der Flüsse und der Küste zu errichten.

Unter dem Zeichen des Feuer-Tigers

11. Oktober 1926. Es ist ein Jahr unter dem Einfluss des Feuer-Tigers. Im Herzen Vietnams in einem Dorf namens Qu’ng Ngai in der Provinz Thua Thien-Hue erblickt ein Kind das Licht der Welt in einer Familie einfacher Dörfler. Sie entstammt der Hauptethnie der Viet, deren Wesen als feinsinnig, geschickt und ausdauernd gilt. Es wird auf den Namen Nguyen Xuan Bao getauft. In dieser trockenen Jahreszeit am Anfang des tropischen Winters herrscht zunehmender Mond. Dies ist ein Glück verheißendes Vorzeichen, das auf ein wohlwollendes und optimistisches Temperament schließen lässt.

Bevor er geboren wurde, hatte seine Mutter eine Fehlgeburt gehabt. Als erster Hinweis auf die künftige Weisheit des Jungen löste dieses Ereignis tiefgründige Fragen bei ihm aus.

»Als ich jung war, fragte ich mich oft: War das mein Bruder, oder war ich es? Wer hat zu jener Zeit versucht, sich zu manifestieren? Dass das Kind verloren wurde, bedeutet, dass die Bedingungen für seine Manifestation nicht gegeben waren, und so hat das Kind sich zurückgezogen, um auf bessere Voraussetzungen zu warten. […] War dies mein Bruder, den meine Mutter bei ihrer ersten Schwangerschaft verloren hatte? Oder war es vielleicht ich, der sich anschickte zu kommen, aber stattdessen sagte ›Der Augenblick ist noch nicht gekommen‹ und sich wieder zurückzog?«7

Die Weisheit, die Thich Nhat Hanh Jahre später lehrte und der zufolge jedes Ereignis sich zu seiner ihm eigenen Zeit nur dann manifestiert, wenn alle Voraussetzungen dafür gegeben sind, ist das Gesetz der Natur selbst.

Das Gesicht des Kindes wird als ernst und gelassen beschrieben. Es wächst im Schutz einer intakten und üppigen Natur auf. Im kollektiven Bewusstsein der Bewohner besitzen die Natur, die Bäume, die Vegetation und die Elemente eine eigene Sensibilität. Das Feuer, das reinigt, das Wasser, das beruhigt und die Erde und die Reisfelder überschwemmt. Der Wind, der die starken und frischen Gerüche der Erde verbreitet.

Dem Wasser kommt in der Geschichte Vietnams eine besondere Rolle zu. Es hat tausend Gesichter und ebenso viele Farben wie Gerüche. Turbulent und unvorhersehbar im Roten Fluss mit seinen alluvialen Ablagerungen in tiefem Rotbraun, Dunkelblau und Türkis entlang der Ufer. Seine zerstörerische Macht, wenn der Fluss über die Ufer tritt und das Land überschwemmt, wie auch seine wohltuende und nährende Kraft haben die Identität der Bewohner des Landes geprägt. Das vietnamesische Volk hat versucht, das Wasser durch die Kanalisierung in Dämmen und Reisfeldern zu zähmen. Vielleicht wird Vietnam deshalb manchmal »das Land aus Wasser und Legenden« genannt.

Die Beziehungen der Menschen verweben sich mit einer unsichtbaren Welt, in der bestimmten Tieren übernatürliche Kräfte zugesprochen werden. Die Beiträge von Konfuzianismus, Daoismus und besonders dem aus China eingeführten Buddhismus, und nicht zu vergessen der Einfluss der katholischen Missionare, sind hier ebenfalls auf eine Weise spürbar, die eher einem spirituellen Synkretismus als einer spezifischen Religion entsprechen.

Zu jener Zeit verschreibt sich das Dorf einer lokalen Kultur, und in dem viele Jahrtausende alten Ahnenkult mischen sich die Einflüsse der buddhistischen, konfuzianistischen und daoistischen Philosophie. Die Ahnenverehrung ist ein Erbe der Epoche der Hung-Könige8, die jedem Haus seinen Altar beschert hat, vor dem der Toten von vier vorangegangenen Generationen gedacht wird. Zur Zeit des kleinen Jungen sind die vietnamesischen Bauern keine feinsinnigen Theologen, doch auch wenn sie nicht fähig sind, ihren Glauben in Worte zu fassen, gibt es nichts, was in ihrem Geist klarer präsent wäre. Das Dorfleben ist vom Rhythmus der religiösen Feste bei Mondschein bestimmt.

Während also in der Ferne die Glocken des Dorftempels erklingen, der Hahn kräht und das langatmige Brüllen der Kühe zu hören ist, begleitet der kleine Nguyen Xuan Bao still seinen Vater zum Familienaltar und rezitiert gemeinsam mit ihm einige Gebete für den Frieden, die für einen Moment im Haus widerhallen. Sein ganzes Leben lang wird er niemals aufhören, diese Ehrerbietung und diesen tiefen Respekt gegenüber den Ahnen zu praktizieren. So wächst er in einer liebevollen und bescheidenen Familie auf. Seine Mutter trägt die schwere Last, für das Haus und die Hausarbeiten zu sorgen. Sein Vater verdient das Geld, mit dem er für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen kann. Thay weiß später zu berichten, dass seine Mutter nicht die Mittel besaß, ihm jeden Tag ein Glas Milch zukommen zu lassen, was sicherlich zu seiner kleinen Statur beigetragen hat. Sie hatten etwas zu essen und konnten sich kleiden, aber kaum mehr. Dennoch war ihre schlichte Existenz bedroht.

»Früher wollten meine Freunde und ich Helden werden, die fähig wären, das Leiden zu beseitigen und Unheil abzuwenden. Wir kannten damals jedoch noch nicht den Preis, den ein Held zu zahlen hat, und sicherlich wollten wir aus diesem Grunde die Ritter in alter Zeit imitieren.«9

Im Alter von sieben Jahren begegnet der Junge dem Buddha durch ein Bildnis, auf dem Siddhartha Gautama im Gras sitzend in Meditation versunken ist, das Gesicht von der ihn kennzeichnenden heiteren Ruhe erfüllt. Er empfindet sofort große Bewunderung für ihn. Von diesem Augenblick an hat er so etwas wie eine Vorahnung seiner Zukunft. Tag für Tag wird er seine Gedanken durch den tiefen Wunsch nähren, es möge auch ihm bald gelingen, in Frieden zu verweilen – während sich die Gesichter der Erwachsenen um ihn herum immer mehr verschließen.

Die bewegte Geschichte Indochinas wird den jungen Nguyen Xuan Bao auf geradem Weg zur Erfüllung seines Dharma als Mann des Friedens führen. Aus diesem Grunde müssen wir uns nun der Vergangenheit Vietnams widmen, insbesondere der Kolonisation, um die Wurzeln zu verstehen, aus denen das Engagement des jungen Mannes erwuchs.

Die Samen der Gifte

Der »schönste Edelstein des Reiches«, so nannten die Schulbücher und anderen Schriften, die der Verherrlichung des Kolonialepos’ Frankreichs gewidmet waren, Indochina. Wenngleich die französische Kolonisation im Vergleich zu der tausendjährigen Geschichte, während der das Land die chinesische Besatzung über sich ergehen lassen musste, nur ein Randphänomen darstellt, ist es doch wesentlich, die Kolonisation zu verstehen, um das Räderwerk des Konflikts zu begreifen, der den Norden und den Süden einige Jahrzehnte später vor dem Hintergrund des Kalten Krieges miteinander konfrontieren sollte.

Die Völker Indochinas kamen zum ersten Mal durch portugiesische, spanische, italienische und französische katholische Missionare, die im 16. Jahrhundert auf der Halbinsel Indochinas eintrafen, mit den Abendländern in Kontakt. Damals ging es nicht um Kolonisation, sondern um Christianisierung. Die vietnamesische Schrift wurde von den Jesuiten latinisiert und sollte die dem Chinesischen nachempfundene Schrift ersetzen. Um die Frohe Botschaft zu verkünden, wurden die katholischen Missionare in die Provinzen entsandt, wo Frankreich zudem noch die Gelegenheit erhielt, einen Zugang zum benachbarten China zu finden.

Die Kolonisation Indochinas begann ab 1858 unter Napoleon III. Als Grund hierfür wurde die Verteidigung verfolgter Christen geltend gemacht. Während der Jahrzehnte der Kolonisation sollten die Reichtümer des Landes von den Kolonisatoren unter dem Vorwand eines »Rechts auf Handel« mit großer Akribie nach Frankreich umgeleitet werden.

Bei der Geburt des Kindes im Jahre 1926 befindet sich Vietnam unter dem Joch des Kolonialreichs Frankreich, dem es 1883 offiziell angegliedert wurde. Die Lebensbedingungen sind sehr schwierig. Unerbittlich zieht der Krake des von dem Kolonialreich etablierten wirtschaftlichen Ausbeutungssystems Tausende von Leben ins Elend, worunter zuerst und vor allem die Schwächsten zu leiden haben. Hat das traditionell friedliche Volk Vietnams als Reaktion auf die vom Kolonialstaat gemachten Versprechen anfangs weitgehend einer Kollaboration zugestimmt, so konnte bald niemand mehr übersehen, was hier gespielt wurde.

Allein die Spekulation auf Kautschuk führt Anfang der 1920er-Jahre zur Rodung großer Waldgebiete und ist mitverantwortlich für die Deportation Tausender von Menschen, um die Nachfrage nach Arbeitskräften durch jene bedienen zu lassen, die man »Jauniers« nennt, da die hier angewandten gewalttätigen Methoden jenen der Sklavenhändler mit den »Schwarzen« gleichen. Diese Wirtschaft bereichert auf direktem Wege Fives-Lille10, die Baugesellschaft der Batignolles, die Banken Comptoir national d’escompte, Société Générale, Crédit Lyonnais, Banque de Paris et de Pays-Bas oder auch das Unternehmen Michelin.

Die traditionelle dörfliche Wirtschaft Vietnams basiert seit jeher auf dem Anbau von Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf. Aber schon bald muss sie der Geldwirtschaft weichen. In einem Zeitraum von wenigen Jahrzehnten wird diese große Umwälzungen in der vietnamesischen Gesellschaft hervorrufen. Die Großgrundbesitzer haben die Ländereien aufgekauft, von denen die Bauern nicht mehr leben können, und so sind diese gezwungen, ihre Arbeitskraft an den Dienstherrn zu verkaufen, meistens zu erbärmlichen Konditionen. Das koloniale Joch hat außerdem allmählich die schwankende Identität Vietnams überdeckt.

Nationalismus als Reaktion auf den Kolonialismus

Als es 1929 zum Börsenkrach kommt, stürzt die Weltwirtschaft in ein nie zuvor da gewesenes Chaos. Der Kolonialstaat verstärkt seinen Druck auf die vietnamesische Bevölkerung, die durch die Jahrzehnte der Ausbeutung bereits heftig gebeutelt ist, noch mehr.11 Viele Familien können nicht mehr für ihre Kinder sorgen und vertrauen sie anderen an. Was die Arbeiter in den Plantagen und Minen angeht, die Kulis, die der französische Staat praktisch als Sklaven einspannt (rund 40.000 pro Jahr allein in Cochinchina, dem Süden Vietnams) oder die er auch in die Kolonien im Pazifik »exportiert« (jeweils 800 Köpfe pro Schiff)12, so leben diese häufig in miserablen Verhältnissen, bis zur Erschöpfung ausgelaugt und weit von ihren Angehörigen und den Altären ihrer Ahnen entfernt, ohne Hoffnung auf eine Rückkehr zu ihrer Familie.

Als Reaktion auf die Exzesse einer imperialistischen Macht bildet das vietnamesische Volk allmählich ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Identität heraus. Die französische Absicht, die lokale Kultur zugunsten kolonialistischer Vorstellungen zu leugnen, die Erniedrigung und die Ausbeutung der Arbeiter sowie das von der Polizei eingesetzte Arsenal an Strafmaßnahmen, die von Rassismus genährt werden, lässt seinen Groll zunehmend anwachsen. Das Kolonialregime verzichtet nicht darauf, die Guillotine und Folter einzusetzen, um seine Ordnung durchzusetzen. Doch so gut wie keinem der Kolonisten scheint bewusst zu sein, dass sie sich in einem Land von großer Kultiviertheit befinden, in dem die Poesie hohes Ansehen genießt. Und so beschreibt der damalige ehrenwerte Korrespondent des Figaro, Paul Bonnetain, die Vietnamesen zur Zeit der Tonkin-Kampagne in den 1880er-Jahren folgendermaßen: »Oberflächlich, voller negativer Tugenden und vulgärer Laster, besitzt der Annamit13 kaum mehr politisches als moralisches Gewissen. Die Abstumpfung durch seine traditionelle Versklavung und die Gesetze sozialer Erbanlagen beherrschen das Gedächtnis dieses Paria Asiens vollkommen. Aufgrund der Vorherrschaft seiner materiellen Instinkte und der Ressourcen seines asiatischen Bodens ausdauernd und fruchtbar, ersetzt dieser Fischfresser die Blutkörperchen und Nerven, die ihm fehlen, durch Phosphor und ist auf fatale Weise von der Domestizierung geprägt.«14

Mit der Gründung der Viet Minh, der Liga für die Unabhängigkeit Vietnams, unter der Leitung von Nguyen Ai Quoc, organisiert sich im Stillen ein geheimer Widerstand. Nguyen Ai Quoc hat in Frankreich gelebt und wurde dort 1921 Mitglied der Kommunistischen Partei; unter dem Namen Ho Chi Minh15 soll er bald zu internationaler Berühmtheit gelangen.

Die mit den kolonialen Verhältnissen verbundenen ökonomischen Verzerrungen und die historische Krise des Nationalismus haben die soziale Basis für den Kommunismus geschaffen und seine Verbreitung im Laufe dieses Jahrzehnts, das durch eine ungleiche Entwicklung der Wirtschaft Indochinas charakterisiert war, erleichtert. Es entsteht ein ziemlich kleines Proletariat (1931 zählt man 221.000 Arbeiter in den einzigen großen Privatunternehmen, die Franzosen gehören), und es kommt zur Zunahme ländlicher und städtischer Unterbeschäftigung, die die außerordentliche Mobilität der vietnamesischen Arbeiter und ihre dauerhafte Bindung an die ländlichen Gebiete deutlich macht. Unter den Auswirkungen des Latifundismus16 im Mekong-Delta und der Erhöhung der Bodenrente durch Steuerabgaben schreitet die Verarmung der Bauern massiv voran.

Zwischen den Jahren 1930 und 1940 schlägt die Stunde der Entscheidung. Einige Vietnamesen wählen den Weg des radikalen Nationalismus, eine Wahl, die sogar die aufgeklärtesten Geister überzeugt.

Nguyen ist ein Jugendlicher, der bald 16 Jahre alt sein wird. Die aufrichtige Absicht, allen leidenden Wesen Hilfe zukommen zu lassen, beseelt ihn noch immer mit Leidenschaft. Trotz der Vorbehalte seiner Eltern, die sich wegen der schwierigen Lebensbedingungen der Mönche Sorgen machen, begibt er sich zum Kloster Tu Hieu in Hue, das der buddhistischen Schule des Linji-Chan (Rinzai-Zen) angegliedert ist. Diese spezielle Linie gehört zu der Lieu-Quan-Zen-Schule, die sich vor allem in der Mitte und im Süden Vietnams entwickelt hat.17 Im Schoße dieser Übertragungslinie empfängt der junge Mönch den Mönchsnamen Thich Nhat Hanh und wird seither von seinen Freunden Thay18 genannt. Im Jahre 1941 wird die Welt in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen.

ZUR EIGENEN ANTWORT AUF DAS LEIDEN FINDEN

»Das tägliche Leben ist eine unerschöpfliche Quelle des Erwachens.« In der geschützten Anlage des Klosters empfängt der junge Novize die Weisheitslehren von seinem Meister.

Auch wenn er sich seinen Studien mit großem Eifer widmet, kann der junge Mann den Blick doch nicht vom Schicksal seiner Mitmenschen abwenden. In jenem Jahr ist das Leiden in allen Dörfern, Städten und Gebieten Vietnams erdrückend und allgegenwärtig. Einige seiner Freunde verschwinden ganz plötzlich, von Soldaten entführt und umgebracht. Vielleicht ist der Blick des Jugendlichen auf die dramatischen Verhältnisse in seinem Land geschärfter als der seiner Meister.

Während ihm die Realität ins Gesicht springt, ist es die friedliche Umgebung des Klosters, wo die Zeit eher im Rhythmus der Mantras abläuft als in dem politischer Informationen, die den Mönch dazu bringt, den notwendigen Abstand zu der Tragödie zu finden. Das Kloster hilft ihm, zu sich selbst zu finden und die Ereignisse losgelöst vom Einfluss negativer Gefühle einzuschätzen.

Eine der ersten Lektionen im Kloster ist die Praxis der Gathas19: Die kleinste Aktivität im Alltag ist eine Gelegenheit zur Achtsamkeit. Keine Aktivität ist wichtiger als eine andere. Die Aufmerksamkeit und der Atem sind auf die Bewegung gesammelt, wenn man den Boden fegen, kochen oder sogar einfach nur den rechten Fuß zum Aufstehen heben oder den Daumen zur Meditation auf den Zeigefinger legen muss.

Eines Tages, als er den Raum seines Lehrers verlässt und achtlos die Tür hinter sich zufallen lässt, ruft ihn sein Meister zurück und sagt: »Novize, du wirst dies wiederholen; du gehst noch einmal hinaus und du wirst die Tür mit voller Achtsamkeit schließen.«20 Thay wird später sagen, dass er seither sein Leben lang verstanden hat, eine Tür zu schließen. Die Liebe seines Lehrers zu ihm wurde nie direkt in Worten zum Ausdruck gebracht.

Diese fortwährende Rückkehr zur Gegenwart verringert die Wirkung äußerer Ereignisse auf die Psyche. Auf diese Weise haben negative Reaktionen wie Zorn oder Angst weniger Einfluss auf den jungen Mönch. Es bleibt ihm überlassen, in seinem Innern seine eigene Antwort auf das Leiden zu finden.

Erfahrungen sammeln

Die Konfrontation mit dem Leiden fördert das Nachdenken über einen selbst. Aus diesem Grunde ist »Leiden« ein Schlüsselbegriff im Buddhismus. Die Konfrontation mit ihm und seinen wesentlichen Merkmalen Alter, Krankheit und Tod ist so etwas wie eine notwendige Initiation für denjenigen, der die Wahrheit des Lebens erkennen will. Ohne sie lebt der spirituell Suchende an der Oberfläche der Dinge und Wesen und darf sich keine Hoffnung auf eine förderliche spirituelle Entwicklung machen. Thays Lehren sind da unmissverständlich:

»Ich möchte weder meine Freunde noch meine Kinder an einen vom Leiden abgeschirmten Ort bringen, denn an einem solchen Ort wäre es ihnen nicht möglich, Verständnis und Mitgefühl zu kultivieren. Der Buddha hat uns im Übrigen gelehrt, dass wir ohne Leiden niemals die Gelegenheit hätten zu lernen. Auch er hat viel gelitten; und genau aufgrund dieses Leidens konnte er Erleuchtung erlangen.«21

Vor 2500 Jahren war die Begegnung mit dem Leiden der Ausgangspunkt für den inneren Weg des jungen Siddhartha, des zukünftigen Buddha. Dem jungen Mann gelingt es, das Leiden in eine wunderbare spirituelle Erfahrung umzuwandeln, die zahllose Menschen inspirieren wird.

Im Alter von 16 Jahren ist er, Mircea Eliade zufolge, Ehemann zweier Prinzessinnen und führt ein sorgloses Leben im väterlichen Palast – bis er dreimal den Palast verlässt. Drei Male, während derer er mit den drei unvermeidlichen Übeln, die die Menschheit bedrücken, konfrontiert wird: Alter, Krankheit und Tod. Als er den Palast ein viertes Mal verlässt, fasst er ein Heilmittel gegen dieses Leiden ins Auge, als er einem bettelnden Asketen begegnet und dessen Frieden und Gelassenheit kontempliert. In Begleitung von fünf Schülern unterwirft er sich daher einer konsequenten Askese und sehr strengem Fasten. Doch als er erkennt, dass diese Form von Askese ihn nicht zu seinem Ziel führt, nimmt er die Gabe von Reis und einer Schale Milch an. Indigniert verlassen ihn seine Schüler. Er setzt sich im wohltuenden Schatten eines Banyan-Baumes nieder und gelobt, sich nicht von diesem Platz zu erheben, bevor er nicht Erleuchtung erlangt habe. Nach einer Nacht, in der Mara22 auf abgefeimte Weise versucht, seinen inneren Frieden zu erschüttern und seine Erleuchtung zu verhindern, geht er als Sieger aus dessen Angriffen hervor und ist bei Sonnenaufgang zu den Vier Edlen Wahrheiten erwacht.