Tito - Jože Pirjevec - E-Book

Tito E-Book

Jože Pirjevec

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Beschreibung

Partisan und Revolutionär, Staatspräsident Jugoslawiens, Diktator und Architekt eines alternativen sozialistischen Modells – bis heute entzieht sich Tito (1892–1980) jeder politisch und historisch eindimensionalen Zuordnung. Jože Pirjevec, Professor für Geschichte und ausgewiesener Tito-Experte, geht in dieser Biografie dem Phänomen Tito nach. Pirjevec folgt der Politisierung Josip Broz', wie Tito mit bürgerlichem Namen hieß, und seinem raschen Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und zeigt, wie er aus einer zerstrittenen Partei eine schlagkräftige Partisanenarmee geformt hat, die Hitlers und Mussolinis Truppen besiegt hat. Er legt dar, mit welcher Weitsichtigkeit Tito schon bald nach dem Krieg in Opposition zu Stalin ging, wie er für Jugoslawien einen anderen sozialistischen Weg suchte und wie entscheidend er an der Gründung der Bewegung der Blockfreien Staaten beteiligt war. Aber er zeigt Tito auch als Diktator, der seine politischen Gegner gnadenlos verfolgte, sich als Held eines nationalen Mythos verehren ließ und den Personenkult genoss. Er sorgte nicht für einen Nachfolger, und als Tito 1980 starb, hinterließ er ein Machtvakuum, das innerhalb weniger Jahre zum gewaltsamen Zerfall des Vielvölkerstaates führte. Diese erste umfassende Tito-Biografie, die zahlreiche Quellen erstmals zugänglich macht, liefert das lebendige Porträt der faszinierenden und oft widersprüchlichen Persönlichkeit eines der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts.

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Partisan und Revolutionär, Staatspräsident Jugoslawiens, Diktator und Architekt eines alternativen sozialistischen Modells – bis heute entzieht sich Tito (1892–1980) jeder politisch und historisch eindimensionalen Zuordnung. Jože Pirjevec, Professor für Geschichte und ausgewiesener Tito-Experte, geht in dieser Biographie dem Phänomen Tito nach.

Pirjevec folgt der Politisierung Josip Broz’, wie Tito mit bürgerlichem Namen hieß, und seinem raschen Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und zeigt, wie er aus einer zerstrittenen Partei eine schlagkräftige Partisanenarmee geformt hat, die Hitlers und Mussolinis Truppen besiegt hat. Er legt dar, mit welcher Weitsichtigkeit Tito schon bald nach dem Krieg in Opposition zu Stalin ging, wie er für Jugoslawien einen anderen sozialistischen Weg suchte und wie entscheidend er an der Gründung der Bewegung der Blockfreien Staaten beteiligt war. Aber er zeigt Tito auch als Diktator, der seine politischen Gegner gnadenlos verfolgte, sich als Held eines nationalen Mythos verehren ließ und den Personenkult genoss. Er sorgte nicht für einen Nachfolger, und als Tito 1980 starb, hinterließ er ein Machtvakuum, das innerhalb weniger Jahre zum gewaltsamen Zerfall des Vielvölkerstaates führte.

Diese erste umfassende Tito-Biographie, die zahlreiche Quellen erstmals zugänglich macht, liefert das lebendige Porträt der faszinierenden und oft widersprüchlichen Persönlichkeit eines der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts.

Über den Autor

Jože Pirjevec wurde am 1. Juni 1940 in Triest geboren, promovierte 1977 an der Universität Ljubljana in Geschichte und forschte und unterrichtete an den Universitäten von Pisa, Triest und Padua. Er ist heute Professor für Geschichte an der Universität von Koper und Mitglied der slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Die vorliegende Biografie ist die Zusammenfassung seines dreißigjährigen Forschungsschwerpunkts.

Jože Pirjevec

TITO

Die Biografie

aus dem Slowenischenvon Klaus Detlef Olof

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

Einführende Worte

1892–1939Der junge Broz – Erster Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft und Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ)

1939–1945Zweiter Weltkrieg und Partisanenkampf

1945–1953Die Nachkriegszeit – Konsolidierung der Macht und Auseinandersetzung mit Stalin

1953–1973Die Präsidentenjahre – Entdeckung der Blockfreiheit, Suche nach einem Sozialismus mit »menschlichem Antlitz« und Kampf um die Einheit Jugoslawiens

1973–1980Die späten Jahre – Jugoslawien in der wirtschaftlichen und politischen Krise

EXKURSTito und die Frauen

1980Titos Tod und sein politisches Vermächtnis

Anhang

EINFÜHRENDE WORTE

»Nichts ist wünschenswerther als daß die Leute, die an der Spitze der Bewegungs-Parteien standen, sei es vor der Revolution oder in der Presse, sei es später in offiziellen Stellungen, endlich einmal mit derben rembrandtschen Farben geschildert werden, in ihrer ganzen Lebendigkeit. Die bisherigen Darstellungen malen uns diese bekannten Persönlichkeiten nie in ihrer wirklichen, nur in ihrer offiziellen Gestalt, mit dem Kothurn am Fuß und der Aureole um den Kopf. In diesen verhimmelten raphaelschen Bildern geht alle Wahrheit der Darstellung verloren.«1 So haben es sich Marx und Engels gewünscht. Sie waren Optimisten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass die Revolution, die sie verkündeten, auch scheitern könnte und dass ihre Träger am Schandpfahl enden würden. Etwas Derartiges geschah auch mit Tito, der noch gestern auf dem Altar stand, nach dem Zerfall Jugoslawiens aber oft zum Gegenstand von Karikaturen wurde. Versuchen wir, ihn in rembrandtschen Farben zu porträtieren.

TITOS AUGEN

Von dem Augenblick an, da er mit seinem selbstbewussten und herausfordernden Auftreten vor dem Gericht in Zagreb, das ihn wegen kommunistischer Umtriebe Ende 1928 zu einer Zuchthausstrafe verurteilte, in die Geschichte eintrat, hat Tito mit seinen ausdrucksvollen Augen die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen geweckt. Der Korrespondent der Zeitung Novosti beschrieb ihn bei dieser Gelegenheit mit den Worten: »Sein Gesicht scheint wie aus Stahl gemeißelt. Mit den hellen Augen hinter dem pince-nez blickt er sehr kühl und zugleich energisch und ruhig.«2

Und Miroslav Krleža, Dichter, Schriftsteller, Chronist der kroatischen und jugoslawischen Provinz, erinnert sich in einem kurzen, mit »Titos Rückkehr im Jahre 1937« überschriebenen Essay wie folgt: »Ich sitze im Dämmerlicht in meinem Zimmer und beobachte die Wolken. Wie sie hoch über der Stadt der Wind von Westen heranträgt. […] In dieser Stille surrt an der Eingangstür die Glocke. Unruhiges Läuten in leeren, grauen, unbeleuchteten Zimmern bringt immer eine böse Vorahnung von abergläubischer Ungewissheit mit sich. […] Ich erhebe mich, gehe durch die Wohnung, öffne die erste, dann die zweite Tür, mache Licht im Vorzimmer, das Sicherheitsschloss knirscht, und vor der Glastür steht ein Fremder. […] Nach neun Jahren stand Tito wie ein Schatten längst vergangener Tage vor dieser Glastür und schien auf den ersten Blick äußerlich der Gleiche geblieben zu sein, und doch: Er hatte sich sehr verändert, mehr als das, er hatte sich völlig verändert. […] Sechs Jahre in der Strafanstalt Lepoglava und drei Jahre Ausland hatten aus seinem Gesicht jenen Ausdruck naiver und unmittelbarer Heiterkeit weggewischt, und anstelle eines lachenden jungen Mannes stand dort ein ernster, stiller Fremder, dessen Augen durch das Glas seines Zwickers dunkel leuchteten, fast streng.«

Mit diesem neuen alten Bekannten plauderte Krleža fast bis zum Morgen und hörte manches über sein stürmisches Leben und seine umstürzlerischen Ideen. Tito erzählte ihm auch von dem Heimweh, das ihn nach der Rückkehr aus Moskau eines Nachts in seinen Geburtsort Kumrovec getrieben hatte, obwohl klar war, dass er viel riskierte, da er in der Illegalität lebte. Er war zum Haus seines Vaters gegangen, und es war ihm so vorgekommen, dass trotz der großen Veränderungen, von der die Welt draußen erfasst worden war, in diesem abgelegen Ort, seit seinem letzten Besuch alles unverändert geblieben war. »Im leisen Schlussteil dieses lyrischen Monologs wechselte Titos Stimme den Glanz, das helle Taubengrau seiner Augen verschmolz mit dem dunkelblauen, metallenen Widerschein des Brillenrahmens und dunkelte wie Tinte. Das gutmütige weiche Spiel der Lippen verhärtete sich zu einer trotzenden, festen, wie in Stein gemeißelten Linie, und in diesem Blick, in dieser Stimme zeigte sich ein unbestimmter, aber suggestiver Ausdruck voller Schmerz und Unruhe. ›Kumrovec, Gott habe es selig, schnarcht, aber wie lange noch wird bei uns alles schnarchen?‹, fragte Tito ärgerlich, fast nervös, mit jenem aggressiven Ton, mit dem in unserer Sprache alle Götter höheren und niederen Ranges vom Himmel gestürzt werden.«3

Titos Augen fesselten auch Milovan Đilas, als er ihm zum ersten Mal begegnete: »Das war ein Mann mittlerer Größe, ziemlich kräftig, hager. Er war lebhaft, etwas nervös, aber er wusste sich zu beherrschen. Sein Gesicht war fest, ruhig, doch auch zart, die Augen blau und zugleich sanft.«4 Er hatte einen unwiderstehlichen natürlichen Charme. Gojko Nikoliš, ein Serbe aus Kroatien, Arzt und Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, beschrieb in einem Tagebucheintrag vom November 1941 seine erste Begegnung mit Tito so: »Tito fand ich am nächsten Tag in einem geräumigen und einfach eingerichteten Zimmer. […] Nach Gruß und Rapport erfasste ich den Mann mit einem Blick und erkannte in ihm sofort ganz bestimmte Züge, in ihm, der das Schicksal unseres Kampfes lenkte und auf den wir so lange gewartet hatten. Zuerst sah ich die blauen, ein wenig verschleierten Augen, dann ein bis ins Detail gemeißeltes Gesicht; das Gesicht eines idealen klassenbewussten Arbeiters, eines Proletariers. Als wäre er einem russischen Bild aus der Zeit des Proletkults entstiegen.«5

Aber Tito verstand es nicht nur, seine Anhänger zu begeistern. Der Leiter der britischen Militärmission bei seinem Obersten Stab notierte über den Eindruck, den Tito bei einer Begegnung im Jahre 1943 auf ihn machte, Folgendes: »Was die äußere Erscheinung betrifft, so ist Tito eine imposante Persönlichkeit: er war 52 Jahre alt, von kräftiger Statur, das Haar von stahlgrauer Farbe. Sein ebenmäßiges Gesicht, wie aus Stein gemeißelt, war ernst und sonnengebräunt, die Gesichtszüge unbestreitbar entschlossen. Dem Blick seiner hellblauen Augen blieb nichts verborgen. In ihm war die Energie eines Tigers konzentriert, der zum Sprung ansetzt.«6 Der westdeutsche Botschafter betonte nach seinem ersten Empfang bei Tito in der Villa Bled im Jahre 1951, dass er keine Ähnlichkeit mit Hermann Göring, Hitlers Luftwaffenminister, habe, wie böse Zungen behaupteten: »Obwohl nur von mittlerer Größe, ist er nicht korpulent, sondern nur sehr kräftig, wie aus einem Stück gebaut. Sein Gesicht ist ernst und überhaupt nicht aufgedunsen, sehr energisch, aber nicht brutal. Am auffallendsten sind die hellblauen Augen, die bei seinem auf Brioni von der Sonne gebräunten Teint noch heller wirken.«7

Zehn Jahre später haben während einer Afrikareise Titos Augen den serbischen Romanschriftsteller Dobrica Ćosić, der ihn begleitete, fasziniert, aber auch beunruhigt. »Ein stets wechselnder Gesichtsausdruck«, schrieb er, »einmal sentimental, nachdenklich, introvertiert; einmal drohend, streng und gefährlich; einmal heiter und gutmütig. Manchmal, als würde er dösen oder um jemanden trauern. Und dann blitzt eine Drohung in den grünlichen Augen auf, Trotz, Selbstvertrauen. Weder die Anstrengung noch das Alter sind zu bemerken. Noch bei keinem Menschen habe ich solche Augen gesehen …«8

Anfang der siebziger Jahre weilte eine französische Delegation mit Premier Chaban-Delmas an der Spitze bei Tito. Eugène de la Fournière, eines ihrer Mitglieder, fasste seine Eindrücke von der Begegnung mit Tito in der Feststellung zusammen, dass dieser eben alt sei und sich diese Tatsache nicht übersehen lasse. »Noch immer erweckte er den Anschein guter physischer Kondition, mit einem lebhaften Sinn für Humor – wie ein Gargantua aß und trank er und war stets zu Scherzen aufgelegt. Aber wie das bei alten Menschen oft der Fall ist, neigte er dazu, sich zu wiederholen oder den Faden zu verlieren. […] Wie alle Kommunisten der älteren Generation hatte er unstete Augen. Anfangs sah er zu Boden oder weg von seinem Gesprächspartner. Aber von Zeit zu Zeit kam ein gerader Blick, und ich wäre nicht gern der Feind eines Menschen mit solchen Augen gewesen«.9

Der Erste, der über das Gefährliche in Titos Blick sprach, war Louis Adamič, ein amerikanischer Schriftsteller slowenischer Herkunft, der 1949 in die Heimat zurückgekehrt war. In seinem umfangreichen Buch The Eagle and the Roots berichtet er von zahlreichen Gesprächen mit Tito. Sie sprachen insgesamt an die dreißig Stunden miteinander. Es entwickelte sich eine kameradschaftliche Beziehung, die ihm erlaubte, ihm manches zu sagen, was ihm sonst niemand in seiner Umgebung hätte sagen dürfen. So machte er zum Beispiel keinen Hehl aus seiner kritischen Einstellung gegenüber Titos »Bonapartismus« und seiner Manie für Uniformen. Nach einer politischen Sitzung, die für Tito in einer wahren Apotheose geendet hatte, verhehlte Adamič seine Reserviertheit nicht. Als dieser im Begriff war zu gehen, bemerkte er, dass der Schriftsteller ihn beobachtete: »Urplötzlich und mit einem Aufblitzen in den Augen – das nicht nur Schalkhaftigkeit war – sagte er: ›Wissen Sie, Herr Adamič, zufällig bin ich der Oberbefehlshaber der bewaffneten Streitkräfte.‹ Das war also seine Antwort auf meine Kritik an seiner Marschallsuniform.«10

Henry Kissinger, Außenminister unter dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon, meinte: »[Tito war ein Mensch,] dessen Augen nicht immer gleichzeitig mit seinem Gesicht lachten«.11 Wusste er, dass man Ähnliches auch von Stalin behauptete?12 Stalin jedenfalls hat, vielleicht deshalb, weil sie einander ähnlich waren, dieses Merkmal Titos sofort bemerkt. Bei einer ihrer ersten Begegnungen im September/Oktober 1944 sagte er zu ihm: »Weshalb haben Sie Augen wie ein Luchs? Das ist nicht gut. Sie müssen mit den Augen lachen. Und dann mit dem Messer in den Rücken!«13

1892–1939

Der junge Broz – Erster Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft und Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ)

 

 

 

LEHR- UND WANDERJAHRE

Josip Broz, wie Tito mit bürgerlichem Namen hieß, wurde am 7. Mai 1892 (zu seinem Geburtsdatum machte er unterschiedliche Angaben)1 als Untertan von Kaiser Franz Joseph I. im Zagorje im Dorf Kumrovec an der Grenze zwischen dem Königreich Kroatien-Slawonien und dem Herzogtum Steiermark geboren. Zwar waren beide Verwaltungseinheiten Teil der Habsburger Monarchie, doch erstere gehörte zu den Ländern der Stephanskrone, während letztere Erbland der Habsburger Dynastie war. Franz Joseph war in Wien Kaiser, in Budapest aber nur König, was nicht nur von formaler Bedeutung war, vor allem nicht ab 1867, als die innerhalb seines Herrschaftsgebietes entstandenen zwei Staaten außer dem Monarchen selbst nur drei Schlüsselministerien gemeinsam hatten: das Kriegs-, das Finanz- und das Außenministerium. Während sich die österreichische Hälfte langsam aber stetig im Rhythmus der industriellen Revolution modernisierte, verblieb die ungarische Hälfte im Würgegriff der konservativen Feudalklasse, die kein Interesse an nationalen und sozialen Fragen hatte. Wäre Josip Broz nur wenige Kilometer von seinem Dorf entfernt im Bistrica-Tal im Haus seiner Mutter Marija geboren und aufgewachsen, wäre sein Schicksal wahrscheinlich anders verlaufen. Wegen des weit verzweigten Netzes der katholischen Kirche im Bistum Ljubljana hätte der örtliche Pfarrer sicherlich seine Begabung bald bemerkt und ihn aller Wahrscheinlichkeit nach zum Studium an den Bischöflichen Lehranstalten in die Hauptstadt Krains geschickt. Von dort hätte ihm der Weg in ein Priesterseminar und an die theologische Fakultät offengestanden, oder sogar auf die Universität, wenn es ihm gelungen wäre, sich der geistlichen »Berufung« zu entziehen. (Seine gläubige Mutter hoffte, dass er Pfarrer würde.) Da er jedoch im Zagorje geboren wurde und aufwuchs, wo die Kirche nicht so präsent war wie in den slowenischen Landen, kümmerte sich niemand so recht um seine Erziehung. Er absolvierte gerade einmal vier Klassen der Grundschule und einige Jahre der Berufsschule. Außerdem hatte der häufig betrunkene örtliche Pfarrer den zwölfjährigen Ministranten wegen seiner Ungeschicklichkeit beim Ausziehen des Messgewands geschlagen und beschimpft, was ihm der kleine Joža sehr übelnahm: »Ich ging zwar sonntags immer noch zur Messe, weil die Mutter es so wollte, aber ich denke, dass ich von diesem Augenblick an für immer mit der Kirche abgeschlossen hatte.«2 Seine Familie gehörte nicht zu den ärmsten im Dorf, doch da sie mit fünfzehn Kindern »gesegnet« war, von denen acht früh verstarben, und sein Vater Franc, ein Mann von schwachem Charakter, – »schwarz wie der Teufel« – dem Alkohol verfallen und gezwungen war, sein bisschen Land zu verkaufen3, musste er schon an der Schwelle zur Pubertät sein Brot in der Fremde verdienen.4 Von seinem Vater sprach er zeitlebens nicht gern, und auch von den Bauern seiner Heimatregion Zagorje hatte er nicht die beste Meinung. So beschrieb er seine Landsleute Jahre später: »Diejenigen, die mit dir nicht einverstanden sind, stehen abseits, den Hut in die Stirn gedrückt, die Hände in den Taschen. Sie sind sehr passiv und unintelligent.«5 Andererseits wusste er seit seiner Kindheit von den Bauernaufständen, die seine Heimat in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfasst hatten; und er wusste auch um den tragischen Tod von Matija Gubec und seiner Anhänger nach der Niederlage von 1573. Die siegreichen Feudalen hatten ihn auf dem Zagreber Hauptplatz mit einem weißglühenden Reif gekrönt und anschließend gevierteilt. Daher verwundert es auch nicht, dass in seinem Arbeitszimmer in Belgrad ein großes Bild des Malers Krsta Hegedušić hing, das die aufständischen Bauern in der epischen Schlacht bei Stubica zeigt, in der sie endgültig besiegt wurden.6

Zunächst wollte Broz Schneider werden, weil er schöne Anzüge liebte, doch der Lehrer der örtlichen Schule meinte, als ein unruhiger Bursche sei er für einen sitzenden Beruf nicht geeignet. Stattdessen fing er in einer Gastwirtschaft in Sisak an – diese Arbeit hatte er sich ausgesucht, weil die Kellner in seinen Augen elegant waren –, doch nach kurzer Zeit sattelte er um und begann als Schlosserlehrling. Er war tatsächlich ein unruhiger Geist: Gleich nachdem er 1910 ausgelernt hatte, wechselte er mehrfach den Arbeitsplatz, er arbeitete in Kroatien, in Krain, in Böhmen, in Bayern, im Ruhrgebiet und in der Wiener Neustadt. Er spielte sogar mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, kam aber nur bis Triest, wo es ihm schlecht ergangen wäre, wenn die lokalen Sozialdemokraten nicht eine Armenküche unterhalten hätten.7 In Zagreb trat er 1910 dem Verband der Metallarbeiter und im darauffolgenden Jahr dem Bund der Sozialistischen Jugend bei, womit er automatisch auch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei wurde.8 »Unsere Jugend«, erinnerte sich sein Zeitgenosse Miroslav Krleža, »spielte sich in jenen hoffnungslos langweiligen und grauen Straßen der Zagreber Unterstadt ab […], wo die Kneipen armselig sind und stinken, wo die Läden nach Mehl und Stockfisch riechen wie in der hintersten Provinz und wo in den öden zweistöckigen Häusern schlecht bezahlte graue Beamte eines grauen und langweiligen Kaiserreichs auf dem Totenbett wohnen.«9

Im Herbst 1913 wurde er zum Militär einberufen, wo er es im Regiment rasch zum Zugführer brachte. Mit einundzwanzig Jahren war er einer der jüngsten Unteroffiziere der k.u.k. Armee.10 Als ehemaliges Mitglied des »slawisch« ausgerichteten Jugend- und Sportverbands Sokol war er ein guter Turner, ein ausgezeichneter Skiläufer und Fechter. Nach eigener Überzeugung erhielt er bei einem in Budapest von der Armee organisierten Fechtturnier lediglich deshalb nur die Silbermedaille, weil er Kroate und weil sein Gegner gräflicher Abstammung war.11

Gegenüber der Habsburger Monarchie hegte er auch in späteren Jahren keine feindseligen Gefühle, denn er sah in ihr einen wohlgeordneten Staat, wenngleich er sich schon zu dieser Zeit für die jugoslawische Idee begeisterte. Als einmal in einem Gespräch die Rede auf König Nikola von Montenegro kam und Milovan Đilas ihn verächtlich eine Operettenfigur nannte, widersprach Tito: »Ach nein. Uns jungen Leuten war er sympathisch – er war mutig, ein Patriot, ein Jugoslawe …«12 Zugleich blieb er seiner Heimat bis an sein Lebensende verbunden. 1971, während eines heftigen Konflikts mit den Zagreber »Liberalisten «, die seiner Meinung nach gegenüber den kroatischen Nationalisten allzu nachgiebig waren, sagte er – schon ein wenig angetrunken – zu Savka Dabčević-Kučar, der Präsidentin des Kroatischen Zentralkomitees: »Ihr glaubt in Wirklichkeit, ich hätte kein Nationalgefühl, dass ich mich überhaupt nicht als Kroate fühlen würde, dass ich als junger Proletarier in die Welt hinausgegangen wäre und mir der proletarische Internationalismus jedes Nationalgefühl ausgetrieben hätte. Ich bin auch Internationalist, weil wir Kommunisten sind, und wir müssen auch alle Internationalisten sein! Aber ich bin auch Kroate!«13

IM ERSTEN WELTKRIEG

Als Ende Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, kam Broz’ Regiment zunächst an die serbische Front an der Drina, wo er von August bis Dezember als Feldwebel des 25. Domobranen-Infanterieregiments diente, und später in die Karpaten an die russische Front. Zuvor hatte man ihn noch in Petrovaradin bei Novi Sad für mehrere Tage ins Gefängnis geworfen. Man beschuldigte ihn, Antikriegshetze zu betreiben. Er selbst bezeichnete das später als Irrtum der Militärbehörden.14

Bei den schweren Kämpfen gegen die Russen in Ostgalizien, wohin er im Februar 1915 versetzt worden war, tat er sich als Kommandant eines Spähtrupps hervor und wurde sogar für eine Auszeichnung vorgeschlagen. »In der Nacht vom 17. auf den 18. März 1915 leitete er als Anführer einer Infanterie-Patrouille (vier Mann) einen Überfall auf eine feindliche Feldwache in Stare Krzywotulije, nahm alle elf Russen gefangen und brachte sie zu seiner Einheit«, heißt es in einem Dokument. »Dieser Unteroffizier meldet sich stets freiwillig zu jedem gefährlichen Einsatz […] und hat in den feindlichen Reihen schon mehrfach für ein Durcheinander gesorgt.«15 Für diesen Erfolg erhielt er eine beträchtliche Geldsumme, denn die Kommandantur bezahlte fünf Kronen für ein erbeutetes Gewehr.16 Doch bevor Broz die »kleine silberne Tapferkeits-Medaille « entgegennehmen konnte, wurde er zu Ostern in der Bukowina bei einem Gefecht mit Tscherkessen, Angehörigen der Wilden Division, die für ihre Grausamkeit bekannt waren, schwer verwundet.17

An jenem schicksalhaften Tag stieß sein Zug zunächst auf Russen, die sie sofort angriffen. Aber Broz hatte seinen Untergebenen befohlen, nicht zu schießen, weil er sich ergeben wollte. Doch nach den Russen stürmten Tscherkessen an und umzingelten seine Einheit. »Wir hatten das Herannahen der Tscherkessen nicht einmal bemerkt, bis sie auftauchten und sich in unsere Schützengräben stürzten.« Obwohl Broz beide Hände hob, wurde er von einem Tscherkessen mit einer zwei Meter langen Lanze angegriffen, während er selbst sich mit dem Bajonett zu verteidigen suchte. Doch dann stieß ihm ein zweiter Soldat eine Lanze mehrere Daumenbreit unters rechte Schulterblatt. »Als ich mich umdrehte, sah ich das entstellte Gesicht eines zweiten Tscherkessen und seine riesigen schwarzen Augen unter den buschigen Brauen.«18 Er stürzte zu Boden. Das Letzte, was er mitbekam, war ein russischer Soldat, der sich auf den Tscherkessen warf, als dieser Broz den Todesstoß versetzen wollte. Er wurde zusammen mit seinem gesamten Bataillon gefangen genommen. Zu Bewusstsein kam er erst wieder im Lazarett.19

Während sein Name auf die Verlustliste gesetzt wurde, begann in seinem Leben ein neues Kapitel.

Er war einer von zwei Millionen österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen, den voennoplennyj, die von den Russen im ganzen riesigen Zarenreich auf Lager verteilt wurden. Zunächst lag er für fast ein Jahr, von Mai 1915 bis März 1916, in einem improvisierten Lazarett des Uspenski-Klosters in dem Ort Svijažsk an der Wolga (Gouvernement Kazan), dann wurde er in ein Lager nahe der Stadt Alatir am Fluss Sura bei den Tschuwaschen verlegt. Dort lernte er die Tochter eines Arztes und ihre Freundin kennen, die die Kriegsgefangenen besuchten und den Kranken kleine Gefälligkeiten erwiesen. Sie liehen ihm Bücher und luden ihn mehrmals zu sich nach Hause ein: »Ständig drängten sie mich, ich solle (Klavier) spielen.« Und so erlernte er es auch.20 Zwar hätte er sich aus der Gefangenschaft retten können, wenn er dem Freiwilligenkorps beigetreten wäre, für das die Serben »Landsleute« aus Österreich-Ungarn für die Front in der Dobrudscha rekrutierten, doch gemeinsam mit siebzig Kameraden lehnte er es ab, in den Kampf zurückzukehren. Da er Unteroffizier war, hätte er gemäß der Genfer Konvention nicht zur Arbeit eingesetzt werden dürfen, er meldete sich indes freiwillig, woraufhin man ihn zu einem Großbauern in das Dorf Kalasejewo nahe der Stadt Ardatow im Gouvernement Simbirsk schickte, wo er Mechanikerarbeiten in einer Dampfmühle verrichtete. Im Herbst 1916 verlegte man ihn gemeinsam mit anderen Kriegsgefangenen an den Ural, in die Stadt Kungur, unweit von Jekaterinburg. Dort arbeitete er an einer Eisenbahnstrecke als Übersetzer und »älterer« Gefangener, d. h. als Aufseher. Im Mai 1917 schickte man ihn weiter zu der kleinen Bahnstation Ergatsch in der Nähe von Perm. Als er dort mit dem Lagerkommandanten aneinander geriet, wurde er zweimal eingesperrt und von drei Kosaken derart brutal verprügelt, dass er diese Schläge niemals vergaß.21

Im Chaos im Gefolge der Februar-Revolution floh er im Sommer 1917 aus dem Lager und schlug sich bis nach Petrograd durch, in der Hoffnung, in der Putilow-Fabrik Arbeit zu finden, wo er für zwei oder drei Tage tatsächlich eingestellt wurde. Er hatte sogar Gelegenheit, Lenin zu hören und den Schriftsteller Maxim Gorki zu sehen. Lenin gegenüber hegte er sein ganzes Leben lang tiefen Respekt, wovon die Tatsache zeugt, dass in all den Jahren, die er an der Macht war, auf seinem Arbeitstisch in Belgrad seine Fotografie und auf dem Schrank eine kleine Lenin-Büste standen.22

Als es am 13. Juli zu Demonstrationen kam, bei denen die Bolschewiki versuchten, die Macht zu übernehmen, schloss er sich diesen an. Doch als die Demonstrationen im Keim erstickt wurden, sah er die Revolution als gescheitert an. Nur dem Zufall war es zu verdanken, dass er nicht vom MG-Feuer der Polizisten niedergemäht wurde. Anfangs versteckte er sich an den Brücken der Newa, dann floh er nach Finnland, damals autonomes Fürstentum innerhalb des Russischen Reichs. In der Nähe der Stadt Oulu wurde er verhaftet, und weil er nicht Finnisch sprach, hielt man ihn für einen »gefährlichen Bolschewiken«. Schließlich konnte er die Polizei davon überzeugen, dass er ein österreichischer Kriegsgefangener war, und wurde freigelassen. Er kehrte nach Petrograd zurück, wo er erneut verhaftet und für drei Wochen in die Peter-und-Paul-Festung eingesperrt wurde.23 Wer diese Gefängnisse kennt, kann nicht daran zweifeln, dass er sich erleichtert fühlte, als man in ihm einen voennoplennyj, einen Kriegsgefangenen, erkannte und ihn wieder in den Ural schickte. Doch noch vor der Ankunft in Kungur gelang es ihm, nach Sibirien zu fliehen. Bei einem Halt sprang er aus dem Eisenbahnzug für Deportierte, und obwohl ihn ein Wärter aus einem seiner früheren Lager erkannte, gelang ihm die Flucht. Er bestieg einen Personenzug, ohne Geld und ohne Fahrkarte, was aber den Schaffner nicht kümmerte, da an diesem Tag Lenin die Macht ergriffen hatte. »Wir fuhren lange. Im Zug kam es zu Prügeleien. Soldaten warfen Offiziere der Weißen aus dem Waggon.«24 Schließlich gelangte Broz nach Omsk, wo er sich der Internationalen Roten Garde anschloss, bei der er von Spätherbst 1917 bis Frühjahr 1918, also während der Zeit des Bürgerkriegs zwischen den Roten und den Weißen, als Wachmann und Mechaniker Dienst tat. In dem Dorf Michailowka nahe Omsk, wo er erneut in einer Dampfmühle arbeitete, lernte er die kaum dreizehn- oder vierzehnjährige Pelagija D. Belousowa kennen, die Polka gerufen wurde, und ging mit ihr die erste seiner insgesamt fünf ernsthaften Verbindungen ein. Von denen keine einzige glücklich endete.25

1918 ersuchte er um die sowjetische Staatsbürgerschaft und um Aufnahme in die Kommunistische Partei, wobei er Erstere nie erhielt und Letztere erst zwei Jahre später, nachdem sich die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) gegründet hatte.

Jedenfalls war seine Zeit bei der Internationalen Brigade keine besonders heroische, denn entgegen der späteren offiziellen Geschichtsschreibung war er nie »Soldat der Revolution«. Infolge seiner Kriegsverletzung war er noch zu schwach, um an die Front zu gehen, und spuckte noch immer Blut. Doch das sibirische Omsk, wo seine Einheit stationiert war, wurde bald von der Weißen Garde des Generals Alexander W. Koltschak eingenommen, die eine systematische Jagd auf mögliche Gegner bzw. Deserteure einleitete. Vor den »Weißen« und ihrem Terror, vor allem aber vor der drohenden Zwangsmobilisierung in die tschechoslowakische oder serbische Legion, die sich beide auf die Seite der Konterrevolution geschlagen hatten, versteckte sich Broz in einem kirgisischen »Aul« (Dorf) etwa siebzig Kilometer von Omsk entfernt. Hier arbeitete er erneut als Mechaniker in einer Dampfmühle, die dem reichen Bauern Isaija Džaksenbajev gehörte. Aber die Tschechen besetzten auch dieses abgelegene Gebiet und versuchten, ihn zu verhaften, da sie von seinen Kontakten zu Kommunisten aus Omsk wussten. Es ist nicht klar, ob er von Džaksenbajev versteckt wurde, oder ob örtliche Bauern, unter denen er für die Sowjetmacht agitiert hatte, seine Identität verschleierten und bezeugten, dass er schon seit 1915 bei ihnen lebe und somit kein Deserteur sei – jedenfalls gelang es Broz, einer Gefangennahme zu entgehen.

Bei den Kirgisen hatte er sich beliebt gemacht als ein mutiger, einfallsreicher und entscheidungsfreudiger Mann mit einer ungewöhnlichen Gabe für den Umgang mit Tieren. Das war ein Charakterzug, den er sein Leben lang beibehielt. Davon zeugt auch eine Anekdote, die aus dieser Zeit stammt26: Freunde schenkten ihm einen jungen Falken. Broz zog ihn auf und und beschloss, als er herangewachsen war, ihn freizulassen. Doch zwei Tage später kam der Falke wieder zurück und setzte sich auf seine Schulter. Ruhig wartete er darauf, gefüttert zu werden. Als er satt war, flog er fort, kehrte aber nach zwei Tagen erneut zurück. Erst beim vierten Mal flog er für immer davon. Alle, die diese Geschichte gehört hatten, sagten: »Alles, was lebt, muss einen Menschen wie Broz lieben.«27

Nachdem die Rote Armee Koltschak und seine Truppen Ende 1919 aus Omsk vertrieben hatte und der Eisenbahnverkehr mit Petrograd wieder hergestellt war, entschloss sich Broz, mit seiner Frau die Heimreise anzutreten. In Petrograd, wo er ca. drei Wochen blieb, erfuhr er, dass auf den Trümmern des Habsburger Kaiserreichs das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) gegründet worden war und in dem neuen Staat die Revolution ausgebrochen sei. (Diese Meldung war allerdings übertrieben.) Die sowjetischen Behörden ernannten ihn zum Kommandanten einer Einheit von Kriegsgefangenen aus den ehemals österreichischen Ländern, die nun Staatsbürger der neuen Monarchie waren.28 Mit dieser kehrte er im September 1920 über das Baltikum in die Heimat zurück, wobei die jugoslawischen Repräsentanten in Wien seinen Grenzübertritt zu verhindern suchten, weil ihn zwei serbische Kameraden beschuldigten, Kommunist zu sein. In Maribor wurde er zusammen mit seiner Frau tatsächlich in Quarantäne gesteckt, doch bereits nach einer Woche erlaubte man ihm, nach fünf Jahren Kriegsgefangenschaft in sein Heimatdorf zurückzukehren.29 Aber Russland und Sibirien mit der Taiga, dem Mondlicht und den Pferden bewahrte er bis an sein Lebensende tief in seinem Herzen. Zum Land der Sowjets bewahrte er bis ins hohe Alter eine tiefe emotionale Beziehung.30 Als 1952, auf dem Höhepunkt des Konflikts mit Stalin, einer seiner Generäle in vulgären Worten auf die Sowjetunion schimpfte, sagte er in höchst erregtem Ton: »Jeder Wolf hat sein Rudel, das er niemals verlässt. So ist es auch mit mir.«31 Trotz aller Enttäuschungen, Zweifel und Konflikte war für Tito klar, »dass der sozialistische Kontinent real existiert, dass er ein Sechstel unseres Planeten ausmacht und dass er den Beginn eines Prozesses bedeutet, der nicht aufzuhalten ist«.32 Wie Veljko Mićunović, einer seiner wichtigsten Diplomaten, bezeugt, hinterlegte er zu Beginn der siebziger Jahre sogar sein Testament in der Sowjetunion, weil »er den Leuten rings um sich nicht traute«.33

ANFÄNGE DER PARTEITÄTIGKEIT

Zuhause erfuhr Josip Broz, dass seine Mutter zwei Jahre zuvor an der Spanischen Grippe gestorben war. Er selbst bezeichnete diesen Tag als den »schmerzlichsten meines Lebens«.34

In der Heimat fand er völlig veränderte politische und soziale Verhältnisse vor – die Habsburger Monarchie gab es nicht mehr, und die Leerstelle, die dieses Jahrhunderte alte Staatsgebilde hinterlassen hatte, wurde von einer seltsamen Chimäre ausgefüllt: dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, in dem sich unter dem Zepter der Karađorđevićs Südslawen aus dem mitteleuropäischen und dem levantinischen Kultur- und Geschichtskreis zusammengeschlossen hatten. Außer den drei ethnischen Hauptgruppen sowie den Mazedoniern, Montenegrinern und muslimischen Bosniern, denen Belgrad nicht den Status selbstständiger Nationen zuerkannte, lebten in diesem Staat noch mindestens siebzehn Minderheiten (Albaner, Ungarn, Deutsche und andere), was ihm den Charakter des vielfältigsten Staates Europas verlieh. Achtzig Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Lande, wo sich seit der osmanischen Herrschaft nicht viel verändert hatte – wenn die Verhältnisse aufgrund des entsetzlichen Elends, das der Krieg verursacht hatte, nicht noch schlechter waren.35

Es zeigte sich bald, dass sich über eine so buntgemischte und potenziell zum Umsturz neigende Gesellschaft nur mit harter Hand herrschen ließ. So erließ die Belgrader Regierung schon Ende Dezember 1920 ein Staatsschutzgesetz (die sogenannten Obznana), mit dem die gerade gegründete Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) verboten und in die Illegalität getrieben wurde. Die Partei, die ihre Wurzeln in den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien der Vorkriegszeit mit jeweils unterschiedlicher Tradition und Kultur hatte, wurde dadurch natürlich stark geschwächt: Von den 65 000 Mitgliedern, die sie 1920 zählte, schrumpfte sie bis 1924 auf 688 Mitglieder.36 Josip Broz schloss sich der Partei zwar an, trat aber in den wüsten Fraktionskämpfen zwischen den Führern der KPJ, diesen Generälen ohne Armee, politisch nicht hervor.

Er engagierte sich stattdessen in Gewerkschaften, auf die die Kommunisten starken Einfluss hatten. Doch auch diese Aktivitäten sorgten dafür, dass er schikaniert, aus dem Dienst entlassen, ins Gefängnis geworfen und dort misshandelt wurde.37 Wie schon vor dem Krieg hielt er es nie lange an einem Arbeitsplatz aus: Er arbeitete in Zagreb, in Bjelovar, auf einer Werft in Kraljevica, in Veliko Trojstvo und in einer Waggon-Fabrik in Smederevska Palanka. Für kurze Zeit kehrte er auch in seinen ersten Beruf zurück und arbeitete als Kellner, wurde jedoch bald entlassen, weil er unter den Kollegen einen Streik organisiert hatte.38

1926 wollte er sich in Belgrad einer der lokalen Parteizellen anschließen. Aber die rechtsgerichtete Fraktion, die in der Stadt an der Macht war, wollte ihn nicht aufnehmen, weil ihre Führer der Meinung waren, er gehöre weder zu ihnen noch zu den Linken. »Dieser Fraktionismus erreichte ein solches Ausmaß, dass es für anständige Kommunisten unmöglich wurde, den Parteiorganisationen beizutreten. Nur damit die Führer ihre Stellung sichern konnten […], denn sie bekamen Unterstützung von der Komintern. Das heißt, nicht nur Unterstützung, sondern vielmehr ein monatliches Gehalt […], deutlich höher als das hoher Beamter. […] Auch das bewog mich neben anderen Erkenntnissen, den Kampf gegen den Fraktionismus aufzunehmen.«39 Zurück in Zagreb begann Broz 1927 als Sekretär des Bundes der kroatischen Metall- und Lederarbeiter und später als Sekretär des Stadtkomitees der KP mit der Agitationsarbeit, wobei er sich sowohl der linken als auch der rechten Fraktion widersetzte. Erstere betonte das föderalistische, Letztere das zentralistische Konzept der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, worin natürlich auch die unterschiedliche politische Kultur Belgrads und Zagrebs zum Ausdruck kam. Wie Miroslav Krleža später festhielt, »drehte sich die Diskussion in einem Teufelskreis nach dem Motto: ›ohne vollständige Demokratie keine Lösung der nationalen Frage‹ bzw. ›ohne Lösung der nationalen Frage keine vollständige Demokratie‹«.40

Da sie von Mitte der Zwanziger bis Mitte der Dreißiger im Königreich SHS, »diesem künstlichen Versailler Gebilde«, nur ein mögliches Sprungbrett der imperialistischen Mächte zum Angriff auf die Sowjetunion sah, sprach sich das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen (EKKI), jene Organisation, die alle kommunistischen Parteien der Welt miteinander verband und sie Moskau unterordnete, für die Zerstückelung des Staatsgebildes und die Gründung einer Föderation sozialistischer Republiken auf dem Balkan aus. In einer im Frühjahr 1925 veröffentlichten Resolution einer Sonderkommission der Komintern heißt es in einer Anweisung an die KPJ: »Die Partei muss mit einem Höchstmaß an Propaganda und Agitation die werktätigen Massen in Jugoslawien davon überzeugen, dass der Zerfall eines solchen Staates der einzige Weg zur Lösung der nationalen Frage ist. […] Solange Jugoslawien nicht untergegangen ist, ist eine ernsthafte kommunistische Aktivität nicht möglich. Wir müssen folglich Jugoslawien mit Unterstützung der separatistischen Bewegungen im Lande zerschlagen.«41 Deshalb griff die Komintern die rechte Fraktion und ihren Führer, den Serben Sima Marković, Sekretär der KPJ, scharf an. Marković lehnte das leninistische Prinzip der Selbstbestimmung der Völker ab, wurde dafür von Stalin höchstpersönlich kritisiert und 1929 aus der Partei ausgeschlossen. Gleichzeitig nahm die Komintern auch gegenüber der von Rajko Ivanović geführten linken Fraktion eine kritische Haltung ein. Die hatte unter anderem behauptet, die Bauern seien ihrer Natur nach unweigerlich Verbündete der Bourgeoisie, nicht aber der Arbeiterklasse. 1928 charakterisierte das Provisorische Exekutivkomitee der Komintern in einem offenen Brief an die Mitglieder der KPJ den Konflikt zwischen beiden Gruppen folgendermaßen: »Die lebenswichtigen Fragen des proletarischen Kampfes wurden an die letzte Stelle gedrängt, während die scholastische Kasuistik, die das fraktionistische Gezänk nur noch schürte, an die erste Stelle gerückt war.«42

Schließlich schien sich die »Zagreber Linie« durchzusetzen. Diese forderte eine Überwindung des Fraktionen-Streits und dass die Intellektuellen an der Parteispitze durch Arbeiter ersetzt werden müssten. »Wir suchten«, erinnerte sich Tito, »einen Ausweg aus der schwierigen Situation, in der sich die kommunistische Bewegung Jugoslawiens befand. Wir kamen zu der Erkenntnis, dass wir als Erstes die Partei gesundmachen und ihre Einheit erkämpfen mussten.« Dieser Kampf war nicht ohne Wagnis, denn die Führung der KPJ war gern bereit, gegen Kritiker schwerste Sanktionen zu verhängen und sie als parteifeindliche Elemente abzustempeln.43

Ohne selbst Position zu beziehen stellte Josip Broz fest, dass der langjährige interne Kampf die Parteiführung gelähmt und jede wirklich revolutionäre Aktion verhindert habe, und mithilfe von Andrija Hebrang gelang es ihm 1928 auf der VIII. Konferenz Ende Februar das Sekretariat des Zagreber Stadtkomitees zu übernehmen, wenngleich manche aufgrund seiner mangelnden Bildung Zweifel an seiner Eignung hatten. Eigentlich war Hebrang für diese Position vorgesehen, dieser hatte aber zugunsten von Broz verzichtet, da er der Meinung war, dass der Sekretär ein Proletarier sein müsse, während er selbst Bankbeamter war. Es handelte sich um die zahlenmäßig stärkste kommunistische Organisation im Königreich Jugoslawien mit ungefähr 180 Mitgliedern, und zwei Monate später wurde sein Standpunkt in einem offenen Brief auch von der Komintern bestätigt: »Die Auftritte in der Organisation der Stadt Zagreb zeigen, dass die KPJ eine gesunde Mitgliederbasis hat, die mit fester Arbeiterhand in der Partei für Ordnung zu sorgen versteht.« Diese »bolschewistische« Ausrichtung, die der Partei eine innere Kohäsion leninistischen Typs geben, sie vom »Alptraum des Fraktionismus« befreien und sich der Arbeit unter den Massen44 widmen wollte, konnte sich in den folgenden Jahren zwar nicht durchsetzen, lenkte jedoch die Aufmerksamkeit auf Broz und Hebrang, allerdings auch die der Polizei.45 »Genosse Georgijević«, wie Broz damals in der Partei hieß, war bereits 1927 wegen revolutionärer Tätigkeit zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden, am 1. Mai 1928 wurde er erneut verhaftet wegen der Ausschreitungen, die die Kommunisten im Kino Apollo gegen eine Versammlung der städtischen Sozialistischen Partei organisiert hatten. Unter den Störenfrieden, die während der Festveranstaltung »Nieder mit den Sozialpatrioten! Nieder mit den Dienern der Kapitalisten!« schrien und sich mit den Versammelten prügelten, befand sich auch Broz. Man verhaftete ihn und verurteilte ihn gemeinsam mit den Genossen zu vierzehn Tagen Gefängnis. Bei dieser Gelegenheit wurde eine Personenbeschreibung angefertigt, in der es heißt, dass er 170 cm groß sei, graue Augen habe, dass ihm Zähne fehlten, dass er aufgrund von Kurzsichtigkeit ständig eine Brille trage und bisher unbescholten sei.46 Offenbar wusste man auf der Polizeiwache nicht, mit wem man es zu tun hatte. Im Juli und August des folgenden Jahres wurde er erneut verhaftet, diesmal unter der Anschuldigung, einen Aufstand organisiert zu haben, der das verhasste Regime der Karađorđevićs stürzen sollte. In Zagreb brachen tatsächlich Streiks, Massendemonstrationen und Unruhen aus, die auch mehrere Todesopfer forderten.47

Der Augenblick für eine Revolution schien äußerst günstig, denn am 20. Juni 1928 war es im Belgrader Parlament zu einem Attentat gekommen, dem mehrere kroatische oppositionelle Abgeordnete zum Opfer gefallen waren. Der Attentäter war Puniša Račić, ein montenegrinisches Mitglied der regierenden Radikalen Partei, das in den Vertretern der Kroatischen Bauernpartei (HSS) Todfeinde eines geeinten und streng zentralisierten Staates sah. Unter seinen Opfern war auch der charismatische Führer der Partei Stjepan Radić, der Ende August nach mehreren qualvollen Wochen seinen Wunden erlag. Diesen Krisenmoment wählte die KPJ gemäß den Anweisungen der Komintern für eine Aktion: Ihre Führer, die keinen Rückhalt in den Massen hatten, unternahmen sie mit dem ganzen Enthusiasmus ihrer Unerfahrenheit.48 Doch infolge eines Verrats aus den eigenen Reihen war die Gendarmerie schneller. Fünf Tage vor Radićs Tod lauerten zwei Gendarme Broz auf und nahmen ihn fest. »Hätte ich nur ein Prozent Möglichkeit gehabt«, erzählte er später einem Freund, »wäre ich geflüchtet und hätte geschossen.« Bei Broz fand man am 4. August 1928 eine geladene Browning, für die er keinen Waffenschein besaß; in seiner konspirativen Wohnung entdeckte man – neben marxistischer Literatur – unter dem Bett auch einen Korb mit Munition und vier deutsche Handgranaten aus dem Ersten Weltkrieg (später behauptete er zu seiner Verteidigung, man habe sie ihm untergeschoben, was aber nicht der Wahrheit entsprach).49 Man sperrte ihn ein, prügelte ihn und verlangte von ihm, dass er gegen seine Genossen aussagte. Dem verweigerte er sich und trat stattdessen wie auch bei seinem letzten Gefängnisbesuch in einen Hungerstreik. Sein Brief aus dem Gefängnis, in dem er seine Haft-»Qualen« übertrieben schilderte, wurde am 24. August 1928 von dem Organ der Komintern Internationale Presse Korrespondenz unter dem Titel Ein Schrei aus der Hölle der jugoslawischen Kerker veröffentlicht.50

Anfang November stand er vor Gericht, das ihn in einem aufsehenerregenden, effekthascherisch als »Bombenleger-Affäre« bezeichneten Prozess am 14. November 1928 auf der Grundlage des Staatsschutzgesetzes, das »jede kommunistische Propaganda« verbot, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilte. Bei der Verhandlung verhielt er sich so, wie es die Komintern den Kommunisten für solche Gelegenheiten vorschrieb: »Habe nur eines vor Augen. Nicht dass deine Strafe möglichst gering ausfällt, sondern dass du mit deinem Verhalten das Ansehen der Partei in den Augen der werktätigen Massen hebst.«51 Gemäß dieser Anweisung erklärte Broz, er fühle sich nicht schuldig und erkenne das »bourgeoise « Gericht, das die reaktionären Kräfte repräsentiere, nicht an. »Es lebe die Kommunistische Partei! Es lebe die Weltrevolution!«52 Und tatsächlich wurde diese Haltung von den Zeitungen vermerkt und auch in Moskau registriert.53 August Cesarec, einer der führenden linken Intellektuellen in Kroatien, schrieb kurz darauf in der illegalen Zeitung Proleter: »Sollte dieser junge und krankhaft ambitiöse Kommunist an die Spitze der KPJ gelangen, wird das eine Tragödie für die Partei.«54

Nach dem Urteil blieb Broz noch einige Tage in den Zagreber Gefängnissen: die Genossen versuchten ihn zu befreien, indem sie mithilfe eines sympathisierenden Wächters eine in einem Brotlaib versteckte Säge in die Zelle schmuggelten. Mit ihr durchsägte Broz fünf der sechs Eisenstangen am Fenster seiner Zelle, ohne dass das jemand bemerkt hätte. Doch bevor er die sechste in Angriff nehmen konnte, wurde er zuerst in eine andere Zelle und kurz darauf nach Lepoglava im kroatischen Zagorje verlegt, wo sich seit 1854 die wichtigste Strafanstalt der Banschaft befand. Der Wächter, der ihm geholfen hatte, geriet bei den Behörden in Verdacht und flüchtete mithilfe der Kommunistischen Partei in die Sowjetunion. Einige Jahre später verdächtigten ihn die Sowjets, ein Agent der jugoslawischen Polizei zu sein und verurteilten ihn zum Tode.55 Unter den Kommunisten, mit denen Broz in Lepoglava und Maribor (Letzteres stand in dem Ruf, »Aleksandars schlimmstes Gefängnis« zu sein) einsaß, erwarb sich Broz rasch Respekt. Vor allem durch sein aufrechtes Verhalten und durch die Disziplin, mit der er sich den Studien des Marxismus-Leninismus widmete. Durch Hungerstreiks hatten die Kommunisten nämlich erstritten, dass sie in Gemeinschaftszellen untergebracht waren, was ihnen die Möglichkeit gab, »den Kerker zur Schule zu machen«. Die benötigte Literatur schmuggelten sie ins Gefängnis. So begann sich in diesem und in anderen Strafanstalten eine neue Generation von politischen Führern herauszubilden – Josip Broz, Moša Pijade, Andrija Hebrang, Aleksandar Ranković, Milovan Đilas –, die sich intensiv marxistisch schulten, sich aber auch mit praktischen Fragen auseinandersetzten, etwa mit Militärtaktik.56 In den Jahren der Gefangenschaft – an die er sich gern mit lockerem Witz erinnerte57 – wurde Broz zum Berufsrevolutionär, wie man im Gefängnis von Maribor richtigerweise bemerkte. Dort schrieb man in seinen Personalbogen unter der Rubrik Fachausbildung (Spezialgebiet): »verbrecherisch: Kommunist«.58

Trotz aller Widrigkeiten hat das Gefängnis Josip Broz wahrscheinlich das Leben gerettet. Nur wenige Wochen nach seiner Verurteilung, am 6. Januar 1929, löste König Aleksandar das Parlament auf, hob die sogenannte Vidovdan-Verfassung aus dem Jahr 1921 auf und führte ein diktatorisches Regime ein, an dessen Spitze er General Petar Živković einsetzte. Der König und sein Premierminister verboten alle Parteien und kündigten einen unerbittlichen Kampf gegen alle oppositionellen Kräfte an: von den Kosovo-Albanern bis zu den mazedonischen Separatisten, von den kroatischen Nationalisten – den gemäßigten wie den radikalen (Ustascha) – bis hin zu den Kommunisten. Zwischen 1929 und 1931 landeten an die zehntausend Linke und andere Angehörige der Opposition in den verschiedenen Polizeigefängnissen. An die hundert KPJ-Mitglieder wurden allein in der Belgrader »Glavnjača« zu Tode gequält.

Nachdem er seine Haftstrafe verbüßt hatte, kehrte der zweiundvierzigjährige Josip Broz im März 1934 ins heimatliche Kumrovec zurück, wie es das Gesetz für ehemalige Häftlinge vorschrieb. Jedoch nahm er sehr bald wieder die illegale politische Arbeit in Zagreb und Bjelovar auf. Bereits im Juli ging er mit dem Auftrag nach Österreich, die gestörten Beziehungen zwischen den Führern der kroatischen Kommunisten und dem Zentralkomitee der KPJ in Ordnung zu bringen, das wegen der polizeilichen Repression unter Aleksandar I. seit 1929 im Wiener Exil arbeitete. Die Grenze überschritt er bei Tržič, als Bergsteiger verkleidet und mit einem Ausweis des Kroatischen Alpenvereins.

Doch in Kärnten geriet er in den Nazi-Putsch gegen die klerikale Regierung von Kanzler Engelbert Dollfuß.59 Als er sich von Klagenfurt endlich mit dem Zug bis Wien durchgeschlagen hatte, »stürzten sich die dortigen Genossen auf mich wie die Bienen auf den Honig«, weil sie wissen wollten, wie die Lage in der Heimat und in den Parteiorganisationen war. Er traf sie in einem Kaffeehaus und bekam es, als er sie vor sich sah – »ein halbes Dutzend hinterhältig blickender Männer« –, fast mit der Angst zu tun. Broz erklärte, dass in Jugoslawien keiner der wahren Kommunisten, die er im Gefängnis oder in Freiheit kennengelernt habe, Vertrauen zum ZK der KPJ habe. »Gorkić – der Generalsekretär der Partei – zwirbelte seinen roten Schnurrbart. Der stand ihm nicht gut; er betonte die Blässe seines Gesichts.« Er fiel Broz ins Wort und überschüttete ihn mit einem Schwall grober Schimpfwörter.60

Trotz dieses unfreundlichen Empfangs kooptierten ihn die Wiener Genossen am 1. August 1934 ins Politbüro, und Ende Dezember wurde er auf der in Ljubljana abgehaltenen IV. Staatskonferenz ins Zentralkomitee gewählt.61 Für dieses Gremium hatte ihn der junge kroatische Kommunist Ivan Krajačić-Stevo vorgeschlagen, Mitglied des Stadtkomitees in Zagreb, mit dem Broz sein ganzes Leben eng verbunden bleiben sollte.62 Wie erwähnt stand zu diesem Zeitpunkt Josip Čižinski, besser bekannt unter dem Pseudonym Milan Gorkić (Sommer) an der Spitze der KPJ; er war tschechisch-polnischer Herkunft, aber in Bosnien geboren. Die jugoslawischen Verhältnisse kannte er nur unzureichend, denn 1922 war er als Neunzehnjähriger nach Moskau gegangen, wo er bis 1932 in verschiedenen Büros der Komintern arbeitete und enge Kontakte zum Innen ministerium (NKWD) unterhielt, die ihm auch Zugang zu den »höheren Kreisen« verschafften. Er hatte sogar eine Frau aus diesem geschlossenen und privilegierten Kreis geheiratet, die Direktorin des berühmten Kulturparks. Unweigerlich wurde Gorkić so zu einem (selbst-) überzeugten Parteibürokraten, der 1932 sozusagen per Investitur zum Sekretär der KPJ ernannt wurde, ohne dass die Mitglieder der Partei mitzureden gehabt hätten. Er sah sich an der Spitze einer Partei, die kaum 3000 Mitglieder zählte, von denen die meisten im Gefängnis saßen oder im Exil lebten und unter denen es nicht an Provokateuren, Verrätern und Polizeispitzeln mangelte. All das machte die Parteiführung zu einem wahren Schlangennest. Jeder verdächtigte jeden und man schwärzte sich gegenseitig bei der Komintern an, wobei alle sehr wohl wussten, dass man in Moskau auf neugierige Ohren stoßen würde. Aufgrund dieser Verhältnisse zirkulierte in der Komintern der Witz, »dass zwei Jugoslawen drei Fraktionen bilden, deren Angehörige sich untereinander so sehr befeinden und bekämpfen, dass sie den Klassenfeind völlig vergessen«.63

Broz war sehr daran gelegen, diese Verhältnisse in der Partei zu beenden und schrieb am 2. August 1934 einen Bericht für das Zentralkomitee, in dem er betonte, dass man das abstrakte Politisieren überwinden, die Kontakte zu den werktätigen Massen stärken und zur Aktion schreiten müsse. Dieses Dokument unterschrieb er erstmals mit dem Pseudonym Tito, einem Namen, der in seiner Heimat Zagorje ziemlich verbreitet ist.64

Broz wollte nach Moskau weiterreisen, um seine Frau (und seinen Sohn) zu sehen, die nach seiner Verurteilung in die Sowjetunion zurückgekehrt war, um sich an der Internationalen Lenin-Schule einzuschreiben, doch Gorkić entschied anders. Er schickte ihn in die Banschaft Drau, wo er gemeinsam mit den slowenischen Genossen die Landes- und die IV. Staatskonferenz organisieren sollte. Erstere fand am 16. und 17. September in der Sommerresidenz des Laibacher Bischofs statt, dessen Halbbruder mit den Kommunisten sympathisierte.65 An der zweiten, die Ende Dezember in der slowenischen Hauptstadt tagte, nahmen elf Delegierte teil. Broz war nicht anwesend, denn es galt die Regel, dass derjenige, der eine Konferenz organisiert, aus Sicherheitsgründen nicht an ihr teilnimmt. So behauptete zumindest der Generalsekretär, während Broz dahinter einen Vorwand argwöhnte, um ihn auszuschalten. Beide Konferenzen waren von den Versuchen gekennzeichnet, das Sektierertum der letzten Jahre zu überwinden und die Partei in ihr reales Umfeld einzubinden. Zu dem Zweck wurde (auf Initiative der Komintern) beschlossen, innerhalb der KPJ in Slowenien und Kroatien autonome Parteien zu gründen.66

Schon im September kehrte er nach Wien zurück, von wo ihn Gorkić bald nach Jugoslawien zurückschickte, diesmal nach Zagreb. Erneut mit dem Auftrag, sich mit den Kroaten über die Parteikonferenz zu beraten. Diese Aufträge belasteten Broz’ Beziehung zu Gorkić, denn er hegte den Verdacht, dass ihn der Generalsekretär so kurz nach seinem Gefängnisaufenthalt absichtlich Gefahren aussetze. Trotz seiner musterhaften Lebensführung erschien ihm Gorkić allzu vertrauensselig gegenüber seinem Umfeld und eigentlich unfähig zu konspirativer Tätigkeit. Zudem behandelte er seiner Meinung nach die Genossen, die sich in Jugoslawien zu formieren suchten, geringschätzig und versuchte sie zu diskreditieren, damit sie keinen Zugang zu den Geldern bekämen, die die Komintern der KPJ überwies.67 »Mich hat das furchtbar angewidert …«68 Trotzdem unterhielt er eine formal korrekte Beziehung zu Gorkić.69 Jahre später erst vertraute er Louis Adamić an, was er wirklich von Gorkić hielt: »Das Einzige, was rot an ihm war, waren seine Haare und sein Bart.«

Ende 1934 schickte er im Namen des Politbüros, das sich damals in Brünn aufhielt, eine Anleitung für den bewaffneten Aufstand an alle Provinzkomitees der KPJ und des Bundes der kommunistischen Jugend Jugoslawiens (SKOJ). Denn der jugoslawische Staat befand sich erneut in einer schweren Krise: Am 9. September war König Aleksandar I. bei einem offiziellen Besuch in Marseille von einem bulgarisch-mazedonischen Attentäter erschossen worden, der mit dem Führer der kroatischen Ustascha, Ante Pavelić, in Verbindung stand. Da das Ende der Karađorđević-Dynastie gekommen schien, schreckte Broz auch nicht vor der Empfehlung zurück, die bewaffneten Gruppen der KPJ mögen sich auch mit den radikal chauvinistischen Organisationen verbünden. Er war überzeugt, das verhasste monarchistische Regime nur auf diese Weise stürzen zu können.70

Doch Prinz Pavle, der nach dem Tod seines Cousins die Regentschaft im Namen des minderjährigen Sohns Peter II. übernahm, gelang es, Herr der Lage zu werden, und es setzte sich die Überzeugung durch, dass den Kommunisten schwere Jahre bevorstehen würden und dass der Terror noch schlimmer werden könnte als in den Jahren 1929–1931. Daher sollten die leitenden Kader, unter ihnen auch Broz, wenn möglich das Land Richtung Sowjetunion verlassen, um sich dort auf kommende Staatskrisen vorzubereiten.71

Vor seiner Abreise wäre Broz fast noch der Wiener Polizei in die Hände gefallen. Denn er wohnte illegal bei einer älteren Jüdin, deren Tochter versuchte, sich mit Gas zu vergiften. Broz rettete sie zwar in letzter Minute, doch die herbei gerufenen Gendarmen verlangten, seinen Ausweis zu sehen. Er entkam ihnen nur um Haaresbreite.72

IN MOSKAU

Das Land des siegreichen Proletariats, in dem er »Liebe, Kameradschaft und Aufrichtigkeit«73 am Werk sah, betrat er mit einem schmeichelhaften Empfehlungsbrief von Gorkić, der an Vladimir Ćopić–Senjko gerichtet war, einen der Gründer der KPJ und Vertreter der Partei bei der Komintern: »Er stellt den besten Teil unseres Arbeiteraktivs dar, und nach einiger Zeit (6–9 Monate) werden wir ihn zu Führungsarbeiten ins ZK aufnehmen.«74Obwohl Ćopić in ihm einen möglichen Konkurrenten sah, beschaffte er ihm im fünften Stock des Hotel Lux, das im Stil der russischen Sezession gebaut war und dem vom einstigen Luxus nur der Name geblieben war, das Zimmer 275. Seit der Revolution hatte man in dem Hotel nach Moskau geflüchtete ausländische Kommunisten einquartiert. Hier wimmelte es von Ratten und es herrschte ein unangenehmer Kohlgeruch, der aus den zwei Gemeinschaftsküchen in jeder Etage kam.75 Broz’ erste Aufgabe bestand darin, seinen Lebenslauf niederzuschreiben, wie das bei der Komintern üblich war.76 Er musste ihn mehrmals schreiben, sodass die Beamten in der Kaderabteilung anhand der verschiedenen Versionen seine Glaubwürdigkeit überprüfen konnten. Auf Anordnung eines gewissen Jakubowitsch, Vertreter der sowjetischen Geheimpolizei (GPU) beim EKKI, und des bulgarischen Kommunisten Ivan Karaivanov–Špiner, Mitglied der Kaderabteilung, verfasste er anschließend detaillierte Charakterisierungen von sieben prominenten jugoslawischen Parteifunktionären, Gorkić eingeschlossen. Darin beschreibt er betont offenherzig die Tugenden, aber auch die Schwächen der zu beurteilenden Genossen, wobei er darauf achtete, über Ćopić, von dem er abhängig war, nur Positives zu sagen. (In Wirklichkeit hielt er ihn für einen »Waschlappen und Wichtigtuer«.)77 Zum Dank schlug Ćopić seinen Vorgesetz ten vor, Broz zur Erholung in ein Sanatorium zu schicken. Nach V. N. Bondarew, einem Historiker, der sich intensiv mit Titos Moskauer Jahren befasst hat, könnte mit »Sanatorium« allerdings auch die Lubjanka, der berüchtigte Sitz der Geheimpolizei, gemeint sein, wo die Agenten des NKWD neue Kader an warben.78

Als Broz zurückkehrte, verbürgte sich Karaivanov am 21. Mai 1935 schriftlich dafür, »dass Broz im politischen Sinne volles Vertrauen verdient«.79Das bestätigten sowohl Ćopić als auch der mächtige Direktor der Kaderabteilung, der Bulgare Georgi Damjanow, besser bekannt unter dem Parteidecknamen Below, obwohl dieser Broz gegenüber von allem Anfang an keine Sympathie hegte. Das Exekutivkomitee der Komintern empfahl daraufhin dem ZK der KPJ vor, den »Genossen Walter« – wie sie ihn tauften – als ihren »Politreferenten« im Balkansekretariat einzusetzen, das von dem bekannten deutschen Kommunisten Wilhelm Pieck geleitet wurde. Das ZK der KPJ stimmte diesem Vorschlag zu.80

An der Spitze der Komintern stand zu dieser Zeit der legendäre Georgi Dimitrow, ein bulgarischer Revolutionär, der im Prozess um den Reichstagsbrand in Berlin angeklagt, aber wegen seines mutigen und wirkungsvollen Auftretens vor den deutschen Richtern freigesprochen worden war. Broz konnte sich bald Dimitrows Unterstützung gewiss sein: er galt ihm als durch und durch loyaler Kommunist, einer der wenigen Jugoslawen, der für die praktische Arbeit geeignet, wenngleich in der Theorie des Marxismus-Leninismus eher wenig beschlagen war.81

Trotzdem wurde Broz vorübergehend Dozent im jugoslawischen Sektor der Internationalen Lenin-Schule und an der Kommunistischen Universität der Nationalen Minderheiten des Westens, und bald darauf auch Mitglied der Vertretung der KPJ bei der Komintern.

Die jugoslawische Diaspora in Moskau, die annähernd 900 Menschen zählte (allein die Mitglieder des ZK der KPJ brachten es in unterschiedlichen Gruppierungen auf nahezu fünfzig), war ähnlich zerstritten wie die Partei in der Heimat, es herrschten die gleichen Verhältnisse wie im »Zuchthaus«.82 Er mied, wie er später selbst erzählte, ihre Gesellschaft, teils weil er im Gefängnis die Einsamkeit liebgewonnen hatte, teils weil er sich bewusst war, dass man ständig darauf achten musste, was man sagte. »Besonders in Räumen mit einem Telefonapparat.«83 Er widmete sich voll und ganz seiner Arbeit und besuchte unter anderem auch Seminare in Führungstechnik und Konspiration, die die Komintern in Moskau abhielt.84 »Diese Zeit nutzte ich auf bestmögliche Weise zum Studium: Mein einziger Weg führte vom Hotel Lux zum Gebäude der Komintern, und vielleicht hat mich das davor bewahrt, unter Stalins Messer zu geraten.«85 Sein zurückhaltendes Auftreten bestätigt auch Ruth von Mayenburg, die Ehefrau des österreichischen Kommunisten Ernst Fischer, in ihren Erinnerungen an das Leben im Hotel Lux: »Tito bewegte sich durch die langen Korridore allem Vernehmen nach wie eine unscheinbare Maus. Keiner von den Nachbarn beachtete den stillen, bescheidenen Genossen, der mit kaum jemandem ein Wort wechselte, allein seiner Wege ging. Die Jugoslawen waren ohnehin eine konspirative Welt für sich, die fremden Genossen nur selten Einblick gewährte; selbst das Balkan-Sekretariat im Kominterngebäude an der Mochowaja arbeitete hinter verschlossenen Türen.«86

Kaum drei Monate nach Broz’ Ankunft in Moskau war ein Attentat auf Sergei Kirow, den Leningrader Führer der WKP (B), verübt worden, was Stalin zu einer Welle von Säuberungen gegen die »Verschwörer«, führende Bolschewiken, nutzte. Es ist fraglich, ob Broz die Überzeugung der jüngeren jugoslawischen Kommunisten teilte, die im sicheren heimischen Untergrund dem Chefankläger bei den Moskauer Prozessen A. J. Wyschinski naiv jedes Wort glaubten und mit ihm jeden Verdächtigen zum Klassenfeind und trotzkistischen Spion erklärten.87 Broz selbst entging jedenfalls dem Verderben, obwohl einige »Charakteristiken «, die er über die Genossen verfasst hatte, sich nicht mit denen, über die der NKWD verfügte, deckten.88

Vielmehr zog er Lehren aus Stalins Terror, vor allem in Hinblick auf den Mechanismen der Revolution und der Macht. Da er ihn als notwendiges Mittel zur Realisierung der neuen Gesellschaftsordnung sah, kompromittierte er sich moralisch und gab zugleich einen Ausblick auf die Leitlinien seines kommenden Wirkens. Milovan Đilas, der zunächst über viele Jahre Wegbegleiter Titos war und später zu einem seiner schärfsten Kritiker wurde, beschreibt die Metamorphose, die Broz in seiner frühen Moskauer Periode durchlebte, wie folgt: »Der Revolutionär Josip Broz […] begriff erst jetzt, dass revolutionäre Institutionen und Methoden, obwohl sie von der Idee nicht zu trennen sind, wichtiger sind als diese, ja sogar wichtiger als die Revolution selbst.«89 Savka Dabčeviċ-Kučar meint sogar, dass er sich im Namen der kommunistischen Moral in ihrer machiavellistischen Variante, nach der das Ziel die Mittel heiligt, den traditionellen Werten entfremdet hatte und sie mit Füßen trat: Anständigkeit, Loyalität, Freundschaft, Fair Play, Ehre – alles das sei für ihn nur kleinbürgerlicher Plunder gewesen.90

Man muss Tito allerdings zugutehalten, dass er in einem Interview für die Zeitschrift Komunist im April 1959 sagte, Stalin habe mit Hilfe der Komintern »die revolutionäre Physiognomie der Kommunisten zerstört und aus Kommunisten Schwächlinge gemacht«.91 Und natürlich auch das Zeugnis Edvard Kardeljs, der Mitte der Dreißiger mit Broz in Moskau zusammenarbeitete. Seinen Erinnerungen zufolge hat sich Tito in der Zeit des großen Terrors bemüht, möglichst viele jugoslawische Emigranten aus der Sowjetunion zur illegalen Arbeit in die Heimat zu schicken, oder – wenn sie jünger waren – in die internationalen Brigaden nach Spanien, wo Mitte Juli 1936 der Bürgerkrieg ausgebrochen war, um sie auf diese Weise vor dem Tod zu retten.92 Die Sowjetunion hatte nämlich beschlossen, die republikanische Regierung in Madrid gegen die rechtsgerichteten Generäle mit Francisco Franco an der Spitze zu unterstützen.

Broz machte sich diese Politik mit großem Eifer zu eigen, auch weil er der Meinung war, dass Spanien eine hervorragende Schule für Militär- und Politkader sein könne. So traten annähernd 1650 Jugoslawen in die Internationalen Brigaden ein, von denen fast die Hälfte bei der Verteidigung der Republik fiel. Damit konnte die KPJ auf ein größeres Kontingent an Spanienkämpfern zählen als alle anderen kommunistischen Parteien, und viele von ihnen stellten sich später an die Spitze des Partisanenaufstandes.93

Im Juli und August 1935 nahm Broz am VII. »Weltkongress« der Komintern teil, und zwar als Delegierter mit beratender Stimme, obwohl nicht alle in der Führung der KPJ damit einverstanden waren. In dem mehrsprachigen Formular, das die Teilnehmer ausfüllen mussten, führte er auf die Frage, unter welchem Pseudonym er in der Partei arbeite, zwei Decknamen an: »Tito« und »Rudi«, und auf die Frage, unter welchem Pseudonym er am Kongress teilnehme, antwortete er: »Walter Friedrich«. »Tito« und »Walter« blieben unter den dreißig Pseudonymen, die er in seinem Leben benutzte, die wichtigsten für ihn. Er gab ein falsches Geburtsjahr an – 1893 statt 1892 – und schwindelte auch, als er auf die Frage nach seiner Bildung »niedere, teilweise mittlere« schrieb, und angab, seit 1910 »Mechaniker« zu sein. Auf diesem Kongress sah er zum ersten Mal auch Stalin, wenn auch nur von Weitem und flüchtig. Der zeigte sich nämlich nur ein- oder zweimal im Tagungssaal und saß hinter einer Marmorsäule. »Jetzt siehst du mich, jetzt siehst du mich nicht«, erinnerte sich Tito später belustigt an diese »Begegnung«.94

Auf dem VII. Kongress der Komintern vollzog sich eine politische Wende: Moskau hatte nämlich beschlossen, dass man sich von der Doktrin, nach der die Kommunisten, die internationale Arbeiterbewegung keine politischen Verbündete haben könne, auch nicht unter den Sozialisten oder den Sozialdemokraten (die man bisher als »Sozialfaschisten« beschimpft hatte), verabschieden müsse. Angesichts des Aufstiegs der Nationalsozialisten in Deutschland war Moskau der Meinung, dass man nicht ohne Verbündete auskomme, sondern Allianzen schmieden müsse, sowohl mit den sozialdemokratischen wie auch mit katholischen und sogar nationalistischen und konservativen Parteien. Angestrebt werden sollte eine »Volksfront«, ein einheitlicher Block antifaschistischer Kräfte, in der Hoffnung, dass eine solche die Sowjetunion vor der von Hitler ausgehenden Gefahr schützen und die Voraussetzungen für die nächste Etappe der Revolution schaffen werde. In diesem Zusammenhang entstand auch die Überzeugung, dass für die Verteidigung der Heimat des Proletariats auch Jugoslawien von Nutzen sei. Das Land wurde nicht länger als Teil des Cordon sanitaire gegen den Bolschewismus, sondern gemeinsam mit den anderen jungen Staaten Mittelund Südosteuropas als Bollwerk der UdSSR gegen Hitler angesehen.

Obwohl man in der KPJ auf der Staatskonferenz im Dezember 1934 noch überwiegend der Meinung gewesen war, das Königreich der Karađorđevićs gehöre zerschlagen, akzeptierte die KPJ die neue Linie ohne Murren. Ihr ZK stellte fest, dass man dem Recht der Selbstbestimmung der Völker und dem Recht auf Abspaltung prinzipiell treu bleibe, dass es aber »in Hinblick auf die gegenwärtige internationale Lage« geboten sei, Jugoslawien am Leben zu erhalten. Jegliche entgegengesetzte Bestrebungen würden nur dem Faschismus und seinen Kriegsplänen zuarbeiten.95 Diesen Standpunkt erläuterte das Politbüro in einem Rundbrief, der an alle führenden Strukturen der KPJ gerichtet war, wobei es keinen offenen Widerspruch gab. Allerdings ließen sich die Vorbehalte gegenüber Jugoslawien im Bewusstsein zahlreicher »Genossen« nicht ohne weiteres ausräumen.96

Für Broz kam es auf dem VII. Kongress zu einer unangenehmen Komplikation. Mitte August wurde die Frage diskutiert, wer der neue ständige Vertreter der KPJ im Exekutivkomitee der Komintern werden solle. Eine Gruppe von Delegierten, die unerwartet aus Jugoslawien nach Moskau gekommen waren, schlug Broz für diesen prestigeträchtigen Posten vor, obwohl er nach Dienstjahren das jüngste Mitglied des ZK war. An der Parteispitze kam es zu einer hitzigen Debatte, die damit endete, dass alle, einschließlich Gorkić, Broz’ Kandidatur unterstützten. Das stellte sich allerdings als taktisches Manöver heraus. Gorkić und seine Leute protestierten nämlich gleich nach der Wahl bei Dmitri S. Manuilski, dem Vertreter Stalins in der Komintern, und erklärten, dass die Wahl von Broz den »Fraktionismus« in der Partei stärke. Manuilski, der ein Freund von Gorkić war, reagierte äußerst wütend und weigerte sich, das Wahlergebnis zu akzeptieren. »Da ihr nicht Gorkić gewählt habt, zu dem die Komintern als Einzigem Vertrauen hat, denn zu euch hat sie es nicht«, erklärte er, »werden wir euch kein ständiges Mitglied in der Komintern zugestehen, sondern nur einen Kandidaten [der kein Stimmrecht hatte]; und dieser Kandidat wird Gorkić sein. Das soll euch eine Strafe sein.«97 Dieses Vorgehen zeigte, wie gering das Ansehen der KPJ unter den Führern der Komintern war. »Damals wurde mir klar«, erzählte Tito später, »dass etwas in ihrem Verhältnis zu uns nicht in Ordnung war. Irgendwie steckte der Wurm drin. Dimitrow hat mich einmal gefragt: ›Sag, Walter, habt ihr bei euch überhaupt Parteiorganisationen?‹ Ich antwortete, dass wir welche hätten. Daraufhin sagte er, dass aus Berichten, die er erhalte, hervorgehe, dass es in unserem Staat keine Parteiorganisationen gebe. Sie hatten unsere Partei anhand der Führung in Wien beurteilt. In Wien aber war man so zerstritten, dass es eine wahre Schande war.«98

AUSEINANDERSETZUNG MIT GORKIĆ UND ARBEIT IM UNTERGRUND