Tod, wir kennen deinen Stachel - Tanja Fuchs - E-Book

Tod, wir kennen deinen Stachel E-Book

Tanja Fuchs

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Beschreibung

Eine Familie kämpft gegen die Trauer

Als der 10jährige fröhliche und bisher kerngesunde Jonas an einem Gehirntumor erkrankt, wirft dies das Leben seiner Eltern und seiner jüngeren Brüder völlig aus der Bahn. In bewegenden Briefen berichtet seine Mutter Tanja den Freunden und Verwandten vom Verlauf der Krankheit bis hin zu Jonas‘ Tod, nur ein Jahr nach der Diagnose.

Es ist weit mehr als nur ein Bericht über eine heimtückische Krankheit: die Briefe und Rückblicke der Familie veranschaulichen, wie es ihnen gelingt, Jonas mit viel Liebe und Fürsorge durch die Krankheit in einen würdevollen Tod zu begleiten und die Erinnerung an sein kurzes Leben lebendig zu halten. Dieser aufwühlende und zugleich Mut machende Erfahrungsbericht zeigt, wie eine Familie durch Zusammenhalt, viel Kreativität und Glaube auch nach dem schlimmsten Schicksalsschlag wieder zurück ins Leben findet.

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Seitenzahl: 288

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Vorwort
 
Geteiltes Leid ist halbes Leid
 
Familienglück
 
Mittsommer
Markus
Niklas
 
Sommerferien 2000
Markus
Lukas
Markus
Tanja
Tanja
 
Kampfansage
Tanja
Lukas
Niklas
Tanja
 
Rückschläge
Niklas
Markus
Tanja
Niklas
Lukas
 
Warten auf den Tod
Niklas
Tanja
Markus
 
Neue Hoffnung
Tanja
Tanja
Tanja
 
Wunder gibt es immer wieder
Tanja
 
Familie auf Reisen
Niklas
Tanja
Markus
 
Selbstwahrnehmung – Fremdwahrnehmung
Niklas
Lukas
Markus
Tanja
 
Sommerferien 2001
 
Abschied
Markus
Lukas
Niklas
 
Nachruf
 
Worte zum Jahreswechsel
 
Lebendige Erinnerungen
Niklas
Lukas
Tanja
 
Copyright
Für unseren geliebten Sohn und Bruder Jonas Peter Hemstege
Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Jesaja 53,11
Vorwort
Kaiserswerth am 4.10.01
 
 
Jonas war das älteste Enkelkind unserer Familie. So war er auch der Stolz und die Liebe seiner Großeltern. Zwölf Jahre haben wir ihn begleiten dürfen.
Vier Jahre lang, bis er nach Serm zog, hatte ich noch einen besonderen Weg mit ihm gemeinsam – einen Teil seines Schulwegs. Anfänglich brachte ich ihn bis zur nächsten Ampel. Bald darauf brachte er mich manchmal auch dann pünktlich zur Arbeit, wenn er erst zur zweiten Stunde Schule hatte.
Nun ist er uns vorausgegangen wie schon ein paar Jahre zuvor sein Opa Hemstege.
Ich vermisse unsere gelegentlichen Gespräche, seine Wissbegier, seine Nachdenklichkeit, seine Zärtlichkeit und seine Freude am Lernen, an der er uns immer teilnehmen ließ.
Jonas war ein Mensch, der in unvergleichlicher Weise seine Freude und Liebe anderen mitteilen konnte, zuletzt weitgehend auch ohne Sprache. Erinnert Ihr Euch, wie glücklich sich im letzten Jahr manchmal das verzweifelte Raten, was er wohl sagen wollte, auflösen konnte?
Die vielen Erinnerungen, die wir heute austauschen und die unseren Schmerz bestimmen, sollen uns aber auch trösten, denn sie bleiben uns erhalten. Was Jonas uns war, hat er uns auch hinterlassen.
Mich trösten seine Sterne und Planeten.
Ihr kennt vielleicht die Geschichte vom kleinen Prinzen und dem Flieger, die sich in der Wüste trafen, als sie beide vom Himmel gefallen waren. Bevor der kleine Prinz auf seinen Planeten zurückkehrte, tröstete er den Flieger, der sein Flugzeug repariert hatte und einstweilen auf dieser Erde blieb, und sagte: »Du wirst Sterne haben, wie sie niemand hat (…) Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können (…) Und wenn du dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst Lust haben, mit mir zu lachen. Und du wirst manchmal dein Fenster öffnen, geradeso zum Vergnügen. Und deine Freunde werden sehr erstaunt sein, wenn du den Himmel anblickst und lachst. Dann wirst du ihnen sagen: Ja, die Sterne bringen mich immer zum Lachen! Und sie werden dich für verrückt halten. Du wirst Sterne haben, wie sie niemand hat. Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können...«1
Ich glaube, das ist derselbe Gedanke wie die fraglose Gewissheit für Niklas und Lukas, dass Jonas jetzt ein Engel ist, der uns begleitet.
 
Ulrich Fuchs
Geteiltes Leid ist halbes Leid
Tanja
Mehr als sechs Jahre sind vergangen, seitdem Jonas gestorben ist. Sechs Jahre, in denen unsere Familie versucht hat, sich an die veränderte Lebenssituation zu gewöhnen. Zeit ist bekanntlich relativ. Manchmal kommt es uns vor, als sei es eine Ewigkeit her, dass wir mit ihm zusammen gelebt, gelacht und geweint haben. Mitunter erscheint es uns, als wenn es noch gestern gewesen wäre, so lebendig ist die Erinnerung an ihn.
 
 
Zu ermessen, was es bedeutet, den Sohn und Bruder zu verlieren, ist eine Angelegenheit des Herzens und nicht der Worte. Das haben wir schon bald nach der Beerdigung erkannt, eigentlich schon im Juni 2000, als wir von dem bösartigen Tumor erfuhren, der sich in Jonas’ Kopf ausbreitete. Trotzdem haben wir seitdem viel über Jonas, über seine Krankheit und seinen Tod und unsere Trauer gesprochen und manches sogar aufgeschrieben. Wir haben unsere Herzen nicht verschlossen. Auf diese Weise muss keiner mit seiner Trauer alleine bleiben.
Es ist nicht leicht, sich den eigenen Gefühlen zu stellen und auch die der anderen wahrzunehmen. Aber auf diese Weise können wir bis heute an den unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien und Trauerprozessen innerhalb der Familie teilnehmen, sofern es denn zugelassen wird.
Allein das Zulassen ist schon schwer genug, denn Trauern tut richtig weh. Dass wir mit unserem Kummer nicht allein sind, haben wir in den letzten Jahren eindrücklich erfahren. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Eine Lebensweisheit, die uns auch jetzt noch – Jahre nach Jonas’ Tod – hilft, auf unserem Lebensweg tapfer voranzuschreiten. In unseren Herzen lebt Jonas weiter. Wir freuen uns über Gelegenheiten, zu denen wir von Jonas erzählen können. Die Worte, die wir finden, um Erlebnisse und Anekdoten zu schildern oder Gefühle und Gedanken zu beschreiben, halten die Erinnerung an Jonas und unser Leben mit ihm wach.
Dieses Buch macht es möglich, dass auch Menschen Jonas kennen lernen können, die ihn zu Lebzeiten gar nicht gekannt haben. Er hätte das mit Sicherheit großartig gefunden, wollte er doch – wie alle kleinen Jungs – gerne berühmt werden. Außerdem hatte er schon immer das dringende Bedürfnis, sich der Welt mitzuteilen. In den letzten Monaten seines kurzen Lebens, als er kaum noch Worte in seinem kranken Kopf finden konnte, hatte er eine ganz besonders wichtige Botschaft im Sinn: Er wollte uns die Angst vor dem Tod nehmen. Durch seine muntere Kommunikation, verbal und nonverbal, hat er uns mitgenommen auf den Weg, auf dem er so jung ganz bewusst dem Tod entgegenlebte. Tatsächlich wollte er unsere Tränen trocknen, die geweinten und die ungeweinten. »Es gibt doch keinen Grund. Ich bin doch dann im Himmel, und da ist es schön«, hat er einmal gesagt. Sein einmaliges Gottvertrauen hat ihm diese Sicherheit gegeben.
Heute sind wir dankbar, dass wir Jonas auf seinem Lebensweg bis zum Schluss begleiten durften, auch wenn es schmerzlich war. Wir haben viel von ihm gelernt. In manchem ist er uns ein Vorbild geworden.
Wir haben genau wie Jonas unsere Scheu verloren, über Tod und Sterben zu sprechen. Das Thema geht uns schließlich alle an.
Auch dürfen andere ruhig wissen, was wir fühlen und denken, selbst die, die wir gar nicht persönlich kennen. Wir können dabei nichts verlieren. Im Gegenteil:
Für uns ist die Auseinandersetzung mit unserer Trauer eine Bereicherung.
Gelegenheiten, sich an Jonas und die Zeit, die wir mit ihm verbracht haben, zu erinnern, sind für uns kostbar. Und einmalig ist die Chance, durch die Arbeit an diesem Buch noch einmal gemeinsam in die Vergangenheit zu reisen und Erlebtes und Gefühltes auszutauschen. Wenn sich hierfür auch andere Menschen interessieren und versuchen, sich in unsere Lage zu versetzen, dann freuen wir uns.
Vielleicht hilft es Menschen in einer vergleichbaren Situation, macht ihnen Mut und schenkt ihnen die Gewissheit, dass sie nicht allein sind. Uns hat es damals sehr geholfen, auf Menschen zu treffen, die uns Wege aus der Krise aufzeigen konnten.
Wir wollen mit unserer Geschichte zeigen, wie wir trotz aller Not das Leben und das gemeinsame Miteinander genießen konnten und uns die Freude am Leben bewahrt haben.
 
 
Unser Buch ist eine Einladung, unsere Familie auf einer kurzen, aber erlebnisreichen Etappe des gemeinsamen Lebensweges kennen zu lernen und die Höhen und Tiefen im Leben mit unserem krebskranken Kind nachzuvollziehen.
 
 
Als bei unserem zehnjährigen Sohn Jonas im Juni 2000 ein Hirntumor diagnostiziert wurde, haben wir versucht, die Verwandtschaft in Amerika mit E-Mails auf dem Laufenden zu halten. Mit kleinen Texten in Internetforen bemühten wir uns um Kontakt zu anderen betroffenen Familien oder wir schrieben Menschen an, von denen wir uns Rat und Hilfe erhofften.
Eine Welle des Mitgefühls kam uns entgegen. Nachbarn, Bekannte und Freunde wollten informiert werden und uns unterstützen, wo sie nur konnten. Aber es war völlig unmöglich, allen, die sich freundlich und mit aufrichtigem Interesse erkundigten, eine befriedigende Auskunft in persönlichen Gesprächen zu erteilen. Dazu fehlte schlicht und ergreifend die Zeit. Allerdings merkten wir bald, wie sehr wir davon profitierten, wenn die Menschen um uns herum informiert waren, denn dann konnten wir in Gesprächen schnell an den aktuellen Stand der Dinge anknüpfen, ohne unsere Geschichte jedes Mal wieder von Anfang an erzählen zu müssen. So kamen wir einfach schneller auf den sprichwörtlichen Punkt. Ideen und Vorschläge anderer brachten uns gerade bei Entscheidungsfindungen oft weiter. Ohne die tatkräftige Unterstützung und die schnelle Hilfe der Menschen in unserer Nähe wären wir verloren gewesen. Deswegen begann ich Infobriefe zu verfassen und an einen stetig wachsenden Verteiler zu verschicken. Bald beschränkte ich mich nicht mehr allein auf medizinische Fakten, sondern bemühte mich, die Situation, in der sich Jonas und auch die anderen Familienmitglieder befanden, möglichst einfühlsam zu beschreiben.
Mit der Zeit entwickelten sich diese Briefe zu ausführlichen und sehr persönlichen Berichten. Sie dienten längst nicht mehr allein der Information Dritter, sondern vor allem auch dazu, diese entscheidende Phase im Leben der Familie Hemstege zu dokumentieren, sich über die eigenen Gefühle klar zu werden und die Krankheit und alles, was sie an Veränderungen mit sich brachte, zu verarbeiten. Markus hat diese Briefe immer als Erster gelesen. Er hat sie kommentiert, gekürzt und abgesegnet, bevor sie versendet wurden. Auf diese Weise kamen auch wir Eheleute ins Gespräch. Das ist in dieser Krisenzeit sehr wichtig für uns gewesen. Eigentlich waren die Gelegenheiten dafür viel zu selten. Meistens waren wir mit uns selbst oder mit den Herausforderungen unseres Alltags viel zu sehr beschäftigt und wollten in den paar ruhigen Minuten, die wir zu zweit hatten, nicht unsere Befindlichkeit zum Thema machen. Da kamen die Briefe gerade recht.
Alle paar Wochen, in unregelmäßigen Abständen, gab es ein Update: »Neues aus Serm« hieß es in der Betreffzeile. Es war die uns eigene Art, mit unserem Schicksal umzugehen: sehr offen und ehrlich. Zuweilen schonungslos offen und ehrlich! Uns ist von Anfang an bewusst gewesen, dass wir damit so manches Tabu brachen. Für uns war es zum einen eine Chance, Ratgeber zu finden und zum anderen eine Gelegenheit, Verwandte, Freunde und Bekannte an dem teilnehmen zu lassen, was für uns gerade bedeutsam war. Manche mögen sich gewundert haben, dass sie zu Empfängern der Briefe wurden. Nicht alle wollten die persönlichen Details wissen, sei es, dass es ihnen zu privat erschien oder aber weil es sie belastete, so tief in unsere Geschichte einzutauchen.
Heute sind wir froh, dass wir diese Briefe haben, denn sie halten durch die Kraft ihrer Worte die Erinnerung an die Zeit, in der sie entstanden sind, lebendig. Diesen wichtigen Abschnitt unseres Lebens geben wir nun den Menschen, die uns kennen lernen und begleiten wollen, an die Hand.
Es ist eine traurige Geschichte, aber auch eine, die Mut macht.
Familienglück
Markus
Auf den folgenden Seiten dieses Buches findet sich die Sammlung der Infobriefe aus den Jahren 2000 und 2001. Im Mittelpunkt steht dabei unser Sohn Jonas. Sieben Jahre nach seinem Tod wurden diese Briefe von der ganzen Familie kommentiert und ergänzt, von seiner Mutter Tanja, seinen Brüdern Niklas und Lukas und von mir, seinem Vater, Markus.
Außerdem haben wir uns entschlossen, auch die Ansprachen, die anlässlich der Trauerfeier am 4.10.2001 gehalten wurden, zu veröffentlichen. Vor allem deshalb, weil sie sich auch den elf Jahren widmen, in denen Jonas gesund und vergnügt Teil unserer Familie war.
 
 
Jonas war unser »Großer«, der Erstgeborene, Stolz der Eltern und Großeltern. Er wurde 1989 in Düsseldorf geboren.
Wir Eltern waren damals 22 und 24 Jahre alt und beide gerade am Anfang unseres Studiums. Ich studierte Medizin in Düsseldorf und Tanja Diplom-Pädagogik in Köln.
Zwei Jahre wohnte unsere kleine Familie in der City von Düsseldorf. Dann zogen wir zurück nach Kaiserswerth, einem Stadtteil im Düsseldorfer Norden, wo Tanja und ich uns 1988 kennen gelernt hatten. In Kaiserswerth ist schon Tanja als Älteste von drei Geschwistern aufgewachsen; hier hat sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester gemacht; hier arbeitet sie auch heute noch.
 
 
1992 wurde Niklas geboren und anderthalb Jahre später kam Lukas zur Welt. Daraufhin brach Tanja ihr Pädagogik-Studium ab und leitete fortan unseren »Familienbetrieb«. Weil man vom BAföG allein keine Familie ernähren kann, arbeitete Tanja aushilfsweise im Krankenhaus und ich nebenbei als Hausmeister. Nach Abschluss meines Medizinstudiums wurde ich der Hauptverdiener der Familie.
Mit finanzieller Unterstützung von Tanjas Eltern konnten wir 1995 ein Reihenhäuschen mieten, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Nami und Apu, wie die Kinder Tanjas Eltern bis heute liebevoll nennen. Jonas besuchte den katholischen Kindergarten, seine Geschwister das Kinderhaus Kaiserswerth. Mit sieben Jahren wurde Jonas eingeschult. Er war ein lebhafter Junge und neugierig auf Gott und die Welt. Vor allem das Schreiben hat ihm Spaß gemacht. Er konnte wunderbare Geschichten erfinden und sehr schön bunt bebildern. Nach der Schule spielte er gerne mit den Nachbarskindern. Ganz selbständig fuhr er auf Rollerblades oder mit dem Fahrrad durch den Ort und verabredete sich nachmittags zum Fußballspielen mit Klassenkameraden auf dem Bolzplatz. Er sang im Kinderchor der evangelischen Gemeinde und spielte Tischtennis im Kaiserswerther Sportverein.
 
1997 entschlossen wir uns, im Duisburger Süden eine Doppelhaushälfte zu kaufen. Duisburg ist meine Heimatstadt. Alle waren heilfroh, als dieses Projekt endlich abgeschlossen war. Ein Hausbau ist reine Nervensache. Im Sommer 1999 zog Familie Hemstege am heißesten Tag des Jahres von Düsseldorf-Kaiserswerth nach Duisburg-Serm. Dazwischen liegen nur acht Kilometer. Für uns bedeuteten sie eine gesunde Mischung aus Nähe und Distanz zur alten Heimat.
Jonas musste die Schule für das letzte Grundschuljahr nicht wechseln. Unser I-Dötzchen Niklas wurde kurz entschlossen auch auf dieser Grundschule eingeschult, weil er hier in eine Montessoriklasse aufgenommen werden konnte, wie wir es uns für ihn wünschten. Also fuhren die beiden Brüder mit Beginn des neuen Schuljahrs morgens gemeinsam mit Bus und Bahn nach Kaiserswerth. Jonas und Niklas konnten im Anschluss an die Schule so manchen Nachmittag bei ihrer heißgeliebten Nami verbringen.
Lukas verabschiedete sich nach vier Jahren vom Kinderhaus und sollte die letzten beiden Kindergartenjahre den Kindergarten an unserem neuen Wohnort besuchen.
Im ersten Jahr haben wir gute Kontakte zu den neuen Nachbarn geknüpft. Trotzdem führten unsere Wege auch weiterhin oft nach Kaiserswerth. Nicht nur der Arbeit oder der Schule wegen, sondern auch, um dort ins Freibad, in die Kindergruppen der evangelischen Gemeinde oder abends in den Kirchenchor bzw. zum Sport zu gehen. Die Kinder vermissten ihre Heimat, lernten aber schnell neue Freunde kennen. Bald konnten unsere Jungs die Weite der Sermer Felder als Spielparadies genießen: Ob Fahrrad fahren, Drachen steigen lassen, im Heu toben, die Kinder waren sehr erfinderisch.
Auch wenn der Kran weiterhin mitten auf dem Grundstück stand und das Wohnen in dem Neubau anfangs ziemlich improvisiert und mit viel Arbeit und Ärger verbunden war: Das Leben mit Häuschen im Grünen und drei quirligen Kindern, die sich prächtig entwickelten, kam unserer Vorstellung von Familienglück sehr nah.
Mittsommer
Tanja
Im Februar 2000 wurde entschieden, dass Jonas nach den Sommerferien auf das evangelische Gymnasium wechseln sollte. Damit ging für ihn ein großer Wunsch in Erfüllung.
In der Klasse 4a herrschte in den folgenden Monaten Abschiedsstimmung.
Die Grundschulzeit neigte sich dem Ende entgegen. Die Kinder freuten sich auf die bevorstehenden Sommerferien und verbrachten die sonnigen Juninachmittage überwiegend im Freibad. Jonas gesund und munter mittendrin. Gesund?
Jonas war selten krank, die Zeit der Kinderkrankheiten war vorbei. So dachten wir. Zwar hatte Jonas in den letzten Monaten hin und wieder über Kopfschmerzen geklagt, aber nicht so, dass wir Eltern es besonders ernst nahmen. Einmal fehlte er in der Schule, weil er direkt nach dem Aufstehen gebrochen hatte. Dann sprach er auf einmal von Sehstörungen. Er hielt sich immer öfter ein Auge zu, weil er ansonsten Doppelbilder sah. Ob das Kind vielleicht eine Brille brauchte?
Am 19. Juni hole ich Jonas nachmittags vom Schwimmbad ab und fahre kurz entschlossen mit ihm zum Augenarzt. Der stellt eine Gesichtsfeldeinschränkung fest: »Vielleicht drückt da was auf den Sehnerv! Das muss genauer untersucht werden!« Das veranlasst ihn, Jonas am nächsten Tag in die Uniklinik Düsseldorf einzuweisen.
 
Ein schrecklicher Verdacht wird Wirklichkeit.
Es ist der Anfang vom Ende.

Markus

Auf Anraten des Augenarztes wurde am 21.6.2000 eine MRT (Magnetresonanztomografie) des Kopfes in der Uniklinik Düsseldorf durchgeführt. Zusätzliche Untersuchungen waren geplant, so dass Jonas für eine Nacht im Krankenhaus blieb. Jonas und ich sind gemeinsam in die Kinderklinik gefahren. Auf dem Weg von der Station der Kinderklinik bis in die Nachbarabteilung, dem radiologischen Institut, wo die Untersuchung des Kopfes geplant war, gingen wir schweigend nebeneinander. Irgendwie schienen wir beide zu ahnen, dass nach der Untersuchung nichts mehr so sein würde wie bisher. Jonas wurde mit dem Kopf in die Röhre geschoben. Ich blieb an seinem Fußende, legte meine Hand auf sein Bein und war während der gesamten Untersuchung bei ihm.
Nach der Untersuchung wurde ich von einem Arzt in einen abgedunkelten Nebenraum gerufen. Jonas wartete währenddessen auf dem Flur. Der Arzt zeigte mir die Bilder von der Untersuchung. In der linken Gehirnhälfte war ein großer weißer sternförmiger Fleck zu erkennen.
Selbst ohne medizinische Vorkenntnisse war er deutlich sichtbar. Meine Befürchtungen waren bestätigt: Jonas hatte einen Hirntumor.
Ich wusste, dass ein derartig großer Tumor an dieser Stelle praktisch unheilbar ist. Irgendwie schien Jonas zu ahnen, dass das Untersuchungsergebnis nicht gut ausgefallen war und stellte keine Fragen an mich. Schweigend gingen wir nebeneinander wieder zur Kinderstation zurück.
Jonas interessierte vor allem, ob er nachmittags wieder entlassen würde und ob er mit seinen Klassenkameraden und deren Eltern im Schwimmbad das lange geplante Abschlussfest seiner Grundschulklasse feiern dürfte.
Er durfte – aber uns Eltern war kein bisschen mehr nach Feiern zumute. Ich fuhr schon mittags mit den Röntgenbildern ins 60 Kilometer entfernte Köln, wo eine Biopsie geplant werden sollte.
Nachmittags regnete es an jenem Mittsommertag in Strömen. Es war, als ob der Himmel mit uns weinte.
Das Lachen über den Witz von Tanjas Onkel Hans Martin und seiner Frau Ina aus Amerika, den wir in unserem E-Mail-Postfach entdeckten, blieb uns im Halse stecken:
Betreff: Heute schon gelacht? – Smile today!
Ein Mann lief am California Beach entlang, tief in sein Gebet versunken. Auf einmal rief er laut: »Herr, gewähre mir einen Wunsch!«
Da verdunkelten plötzlich Wolken den Himmel über seinem Kopf und dröhnend ertönte die Stimme Gottes: »Weil du die ganze Zeit versucht hast, treu an mich zu glauben, werde ich dir einen Wunsch erfüllen!«
Der Mann sagte: »Baue mir eine Brücke nach Hawaii, so dass ich jederzeit hinüberfahren kann!« Gott sprach: »Dein Verlangen ist sehr materialistisch. Bedenke die logistischen Anstrengungen eines solchen Unternehmens: Die notwendigen Maßnahmen, um an den Grund des Pazifiks zu gelangen! Die Mengen an Stahl und Beton, die man dafür benötigt! Ich kann das machen, aber es fällt mir schwer, deinen Wunsch nach derart weltlichen Dingen zu rechtfertigen. Nimm dir ein bisschen mehr Zeit und überlege dir noch einen anderen Wunsch, einen Wunsch, von dem du meinst, dass er mir zu Ruhm und Ehre gereicht.«
Der Mann dachte eine lange Zeit nach. Schließlich sagte er: »Herr, ich war viermal verheiratet und wurde viermal geschieden. Alle meine Frauen sagten, ich sei unbarmherzig und gefühllos. Ich wünschte, ich könnte Frauen verstehen. Ich möchte wissen, wie sie in ihrem Innersten fühlen, was sie denken, wenn sie mich mit Schweigen strafen, warum sie weinen, was sie meinen, wenn sie ›nichts‹ sagen, und wie ich eine Frau wirklich glücklich machen kann!« Nach einer Weile sprach Gott: »Möchtest du die Brücke zwei- oder vierspurig?«

Niklas

Es war ein ganz normaler Tag. Nachmittags waren wir beim Schwimmbadfest. Vorher hatte die ganze Familie mittags Picknick auf der Wiese vor dem Krankenhaus gemacht. Ich habe gar nicht realisiert, dass da was ganz Schlimmes passiert war. Ich kann mich noch nicht einmal erinnern, dass meine Eltern geweint haben.
Heute wäre das bestimmt anders, weil ich mir mehr Gedanken mache, weil ich viel mehr wissen will und mehr Fragen stelle.
Betreff: Re: Smile today!
Datum: Donnerstag, 29. Juni 2000
Von: Familie Hemstege
An: Fuchs, Ina (Tanjas Tante in USA)
 
Liebe Ina,
 
 
uns ist momentan nicht nach Witzen zumute. Jonas liegt mit einem großen Gehirntumor im Krankenhaus. Bitte betet für ihn.
 
 
Tanja
Betreff: Re: Smile today!
Datum: Donnerstag, 29. Juni 2000
Von: Fuchs, Ina
 
 
Das tut mir schrecklich leid; hatte wirklich keine Ahnung; unsere Gebete sind da! Wie lange? Welcher Art Tumor? Mir kommen die Tränen; ich umarme Dich und möchte Euch allen Kraft geben.
 
Deine Ina
Sommerferien 2000
Betreff: Re Smile today! Datum: Mittwoch, 5. Juli 2000 Von: Familie Hemstege
 
Liebe Ina,
 
 
wenn wir können, schicken wir Euch in der nächsten Woche alle Unterlagen zu. Vielleicht kann Hans Martin ja auch noch was dazu sagen. Jonas’ Tumor ist faustgroß und liegt mitten in der linken Gehirnhälfte. Er drückt auf den Sehnerv, daher hat er Gesichtsfeldausfälle und Doppelbilder, die ihn sehr stören. Ansonsten plagt ihn nur hin und wieder ein leichter Kopfschmerz und natürlich die großen Sorgen um sein Leben. Die Mittellinie ist etwas verschoben und es gibt ein Hirnödem, das mit Cortison behandelt wird. Die Histologie ist noch nicht fertig, aber auf Nachfrage handelt es sich wohl um ein Astrocytom. Morgen müssen wir wieder nach Köln, Wiedervorstellung, Fäden ziehen… Wir werden uns auf die Suche nach Spezialisten machen. Ein guter Kinderonkologe sitzt in Düsseldorf. Einen guten Neurochirurgen müssen wir noch finden. Dazu brauchen wir aber die genaue Histologie. Gestern waren wir mit meinen Eltern in Holland segeln. Die beiden Kleinen machen Ferien bei der Oma. Wir versuchen uns die Zeit mit Jonas so schön wie möglich zu machen, solange es noch in unserer Macht liegt.
 
 
Gruß Tanja
Betreff: Re Smile today!
Datum: Mittwoch, 5. Juli 2000
Von: Fuchs, Ina
 
 
Liebe Tanja!
 
Vielen Dank für Deine Zeilen; wir sind in Gedanken sehr bei Euch. Martin war schon im Internet, um Information zu holen, so wie Genaueres über die Histologie bekannt ist, sag ihm/uns Bescheid.
 
Alles Liebe!
Ina

Markus

Alle waren von der furchtbaren Nachricht geschockt.
Eine Woche nach der Diagnosestellung wurde in der Uni Köln von einem Spezialisten der hirnchirurgischen Abteilung in einer mehrstündigen Operation (stereotaktische Biopsie) eine Gewebsprobe aus dem Tumor entnommen, die nun feingeweblich untersucht wurde. Für die weitere Behandlung war es wichtig, den Tumor genauer zu analysieren. Die strahlenförmige Ausbreitung im Gehirn deutete aber schon darauf hin, dass er vermutlich bösartig war. Nach zehn Tagen stand das genaue Ergebnis fest. Es war wie befürchtet ein bösartiger Tumor, der zudem ein aggressives Wachstum zeigte.
Die Kinder spürten unsere Unsicherheit und Verzweiflung. Sie reagierten irritiert auf unsere Tränen. Die Kleinen zogen sich oft auf ihr Zimmer zurück, weil sie merkten, dass wir mit unseren Gedanken meistens nicht bei ihnen waren. Es herrschte ein anstrengendes Durcheinander der Gefühle. Hektische Betriebsamkeit, häufiges Telefonieren und verzweifeltes Surfen im Internet auf der Suche nach Rat in einer verzweifelten Lage füllten unsere Tage. Wir versuchten ein bisschen Ordnung in das Wirrwarr unserer Gefühle zu bekommen, aber es war schwer, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn festzulegen, was als Nächstes und was am dringendsten zu erledigen wäre.
An einem Tag kam ich nach der Arbeit nach Hause und Jonas öffnete mir die Tür. Er sagte, dass sich seine rechte Körperseite ganz anders anfühle als die linke. »Papa, das ist wie eine Grenzlinie, die mitten durch meinen Körper geht, was ist das bloß?« Der Tumor hatte offensichtlich an Größe zugenommen. Ich hatte die Befürchtung, dass Jonas bald sterben könnte.
Ich wusste, was er sich noch alles vom Leben wünschte und wie viel er noch vorhatte.
Ich wollte nicht, dass meine Familie meine Tränen und Verzweiflung sah. Also zog ich mich weinend in mein Zimmer zurück. Ich habe in dieser schweren Zeit nicht oft geweint. Meistens habe ich mich darum bemüht, die Fassung zu bewahren und dafür gesorgt, dass die Stimmung in der Familie trotz allem gefasst blieb und sich alle wohl fühlten. An diesem Tag hatte es mich aber richtig erwischt.
Jonas’ Wünsche zu erfüllen wurde mir zunehmend wichtiger. Wie viel Zeit würde ihm noch bleiben, bis das Unvermeidliche eintrat? Auch wenn ich als Arzt nichts gegen diese Erkrankung ausrichten konnte, so wollte ich die noch verbleibende Zeit so ausgefüllt und sinnvoll wie möglich im Rahmen der gegebenen Umstände mit ihm und meiner Familie verbringen. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass die Zeit drängte.
Ich schlug einen Wochenendausflug nach Belgien vor. Jonas interessierte sich schon seit längerer Zeit für das Atomium in Brüssel. Also machten wir uns kurz entschlossen zwei Tage später dorthin auf den Weg. Wir besichtigten das Atomium, vergnügten uns in einem nahe gelegenen Spaßbad und spazierten durch Mini-Europa, einem Freizeitpark mit allen bekannten europäischen Bauwerken in Kleinformat.
Als wir abends nach einem langen und ausgefüllten Tag im Hotel ankamen, fragte Jonas unvermittelt: »Mama und Papa. Das Gewächs da in meinem Kopf, ist das Krebs? Kann man daran sterben?« Es war das erste Mal, dass er uns so direkt auf seine Erkrankung ansprach. Einen Moment stockte uns der Atem. Was sollten wir ihm auf diese Frage antworten? Aber es war klar, dass er irgendwann von uns wissen wollte, wie es um ihn bestellt war, und dass wir uns dieser Frage stellen mussten. In unserer Familie haben wir es immer so gehalten: Ehrliche Frage – ehrliche Antwort! Deshalb war es zu diesem Zeitpunkt gut, dass wir das Ergebnis der Gewebeprobe noch nicht kannten. Tanja konnte auf diese Frage vorsichtig abwartend, aber ehrlich antworten: »Jonas, an Krebs kann man sterben, aber ob in deinem Kopf ein Krebsgeschwür ist, das wissen wir noch nicht. Wir hoffen das Beste!«
Liebe Sheryl,
 
 
hier schreibt Dir Tanja. Ich bin die Mutter von Jonas(10), Niklas (7) und Lukas (in zwei Tagen 6 Jahre alt). Mein ältester Sohn Jonas hat ein anaplastisches Astrocytom III in seinem Gehirn.
Markus Vogel, der Freund meiner Schwester, gab mir gestern die Kopie Deiner E-Mail. Ich habe gemerkt, dass es mir sehr hilft, wenn ich Kontakt zu Menschen bekomme, die in einer vergleichbaren Situation leben.
Wir kennen die Diagnose AA III seit Freitag letzter Woche. In Köln haben sie am 30. Juli bei Jonas eine Biopsie entnommen.
Ich kann meine Gefühle nicht in Englisch beschreiben, es war einfach schrecklich und das ist es immer noch.
Heute ist mein erster Tag ohne Tränen und heute Morgen bin ich seit langer Zeit zum ersten Mal aufgewacht, ohne als Erstes an Jonas’ Krankheit zu denken, die unser Leben auf den Kopf stellt.
Nein, ich habe an unseren Besuch gedacht, den wir zum Frühstück erwarteten. Diese Tatsache lässt mich hoffen. Und ebenso Deine E-Mail. Jonas stirbt jetzt noch nicht. Er fühlt sich ganz okay. Seine Augen sehen Doppelbilder und im Moment ist er sehr ängstlich.
Ich möchte nach vorne gucken. Heute habe ich mit der Klinik in Köln telefoniert, um alle Unterlagen über die Untersuchungen und die Operation zu bekommen, die sie dort durchgeführt haben. Wie Du uns auch geraten hast, wollen wir mehr als einen Arzt konsultieren, auch wenn uns dadurch Entscheidungen vielleicht schwerer fallen werden. Heute hat Markus Vogel (dessen Englisch sehr viel besser ist als unseres) Kontakt mit Henry Friedman aufgenommen. Er hat uns gebeten, ihm alle Informationen, die wir bezüglich Jonas’ Hirntumor haben, zukommen zu lassen. Vielleicht hat er noch mehr Ideen, wie man Jonas helfen kann und neue Hoffnung für uns. Mein Mann warnt vor zu viel Euphorie. »In Amerika ist nicht alles besser«, sagt er. Die Ärzte, die Jonas in Düsseldorf behandeln, sind sehr nett und einfühlsam und Professor Göbel ist ein berühmter Kinderonkologe. Morgen haben wir einen Termin bei einem Neurochirurgen, um zu fragen, ob es eine Chance für eine Operation gibt. Ich habe große Angst vor einer Operation (wird er seine Sprache verlieren, seine Augen?). Ich habe Angst vor der Verantwortung, diese Entscheidung treffen zu müssen.
Ich danke Dir sehr, dass Du Markus geantwortet hast. Das hat mir viel Kraft gegeben und das ist es, was ich für die Zukunft brauche! (Entschuldige, mein Englisch ist wirklich sehr schlecht, aber ich bin überhaupt nicht in Übung.)
 
Tanja (35 Jahre alt aus Duisburg, Deutschland)

Lukas

Die Stimmung war sehr niedergeschlagen. Es herrschte eine schlechte Atmosphäre bei uns zu Hause. Alle waren am Weinen. Ich wusste damals gar nicht so genau, warum. Nur dass es irgendetwas mit Jonas’ Krankheit zu tun hatte. Er musste oft ins Krankenhaus. Meine Eltern erzählten uns von einem »Gewächs« im Kopf. Später bekam mein Bruder eine Glatze.
Heute bin ich älter und weiß Bescheid. Manchmal erzähle ich meinen Freunden davon, aber nicht so genau.
Wenn sie fragen: »Wie war das damals?«, dann sag ich: »Scheiße!«. Die meisten fragen dann nicht weiter.
Betreff: Re Smile today!
Datum: Sonntag, 9. Juli 2000
Von: Familie Hemstege
 
Liebe Ina!
 
 
Seit Donnerstag kennen wir den histologischen Befund. Es ist ein Astrocytom III, Abkürzung AA III, am Dienstag haben wir einen Termin bei einem guten Neurochirurgen in Duisburg, der uns empfohlen wurde. Er soll seine Meinung zur Operabilität sagen. Wir stehen einer Operation sehr skeptisch gegenüber aus Angst vor den Komplikationen und neurologischen Ausfällen. Markus Vogel ist auch schon sehr rührig im Internet unterwegs (trotz Examen!!!). Er hat die Adresse von einem amerikanischen Kinderonkologen aufgetan. Er heißt Henry Friedman oder Friedberg. Ich hab’s vergessen, ehrlich gesagt. Er arbeitet in North Carolina und Markus wollte mal Kontakt zu ihm aufnehmen, da er von vielen empfohlen wird. Man muss sich schlau machen, um kompetent mitreden zu können und um nix zu versäumen und um gute Entscheidungen fällen zu können. Wo der Weg uns letztlich hinführt, weiß Gott allein.
 
 
Gruß Tanja

Markus

Meine Kenntnisse bezüglich Hirntumoren waren nicht groß, aber aufgrund der riesigen Tumorgröße schien mir eine Operation unmöglich. Wie sollte dieser Tumor aus dem Gehirn herausgeschnitten werden, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen? Das sternförmige Wachstum machte dieses Vorhaben geradezu unmöglich. Wo endete das gutartige und wo das bösartige Gewebe? Der Neurochirurg muss nicht nur die sichtbaren Tumoranteile herausschneiden, sondern auch die für das blo ße Auge unsichtbaren. Er muss um den Tumor herum einen Sicherheitsabstand wählen, um den gesamten Tumor zu erwischen. Doch dadurch entsteht im Kopf ein riesiger Defekt mit unabsehbaren Folgen. Jonas einer Operation mit ungewissem Ausgang auszusetzen, die auch eine Körperlähmung oder den Verlust der Sprache zur Folge haben konnte, kam für mich nicht in Frage.
Es war schwer, sich unter den gegebenen Umständen für eine Therapie zu entscheiden.
Es ging weniger um die Frage, welche Therapie, sondern ob man angesichts der Größe und der ungünstigen Lage des Tumors Jonas überhaupt noch die Strapazen einer aufwendigen Therapie zumuten sollte. Denn unter den gegebenen Umständen war seine Lebenserwartung begrenzt. Ich fragte die behandelnde Oberärztin der Düsseldorfer Kinderonkologie, wie sie entscheiden würde, wenn es ihr Kind wäre.
Sie riet uns zu einer kombinierten Chemo- und Strahlentherapie. Das war eine Entscheidung, die auch mir sinnvoll erschien. Bestand doch mit Hilfe dieser Therapie wenigstens die Möglichkeit, die Wucherung in ihrem Wachstum für eine unbestimmte Zeit zu kontrollieren. Wir hofften, dadurch vielleicht auch eine so starke Tumorverkleinerung zu erreichen, dass eine anschließende Operation möglich sein würde. Ansonsten bestand keine Chance auf echte Heilung.
Aus heutiger Sicht weiß ich, wie wichtig es ist, wenigstens einen Versuch zu unternehmen, einer bösartigen Erkrankung Paroli zu bieten. Das waren wir insbesondere auch Jonas schuldig. Wir wollten uns nicht kampflos geschlagen geben und die Hände in den Schoß legen, sondern dem Feind ins Auge sehen.
Wir wollten uns dem Kampf stellen, schien er auch noch so aussichtslos.

Tanja

Sommerferien 2000. An Urlaub wagte keiner von uns mehr zu denken. Die meisten Familien verabschiedeten sich Richtung Süden oder kamen bereits braun gebrannt zurück.
Wir gehörten noch nie zu den Familien, die Urlaub lange im Voraus buchen und deswegen mussten wir auch keine Reise stornieren. Unser Sommerurlaub fiel in diesem Jahr einfach aus. Stattdessen lernten wir bei der Suche nach den Ärzten unseres Vertrauens so manche Klinik von innen kennen.
Unvergessen sind unsere spontanen Kurzausflüge. Nach dem kleinen Segeltörn mit Jonas und dem Kurztrip nach Brüssel reisten wir am Ende der Ferien mit allen Kindern in meine alte Heimatstadt Heidelberg. Es war mir ein dringendes Bedürfnis, meinen Kindern zu zeigen, wo ich selbst meine Kindheit verbracht hatte. Lange war ich nicht mehr hier gewesen. Trotzdem habe ich alles wiedergefunden: das Haus, in dem ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern Sebastian und Julia gewohnt hatte; auch meine alte Grundschule, das ehemalige Spielzeuggeschäft, in dem jetzt eine Eisdiele war, oder das Gebäude, an dem ich als Kind nur mit Angst vorbeigehen konnte, weil es dort gebrannt hatte. Es gab viele kleine Anekdoten zu erzählen.
Wir liefen zum Schloss hinauf und am anderen Tag den Philosophenweg entlang. Wir mussten viele Pausen machen, denn Jonas war nicht sehr belastbar. Er wurde schnell müde und freute sich, wenn er sich auf eine Bank oder am Neckar auf eine Decke legen konnte.
Immer wieder klagte er über Kopfschmerzen. Wir sparten nicht an Schmerzmedikamenten.
Rückblickend bedeutet es mir heute immer noch viel, dass ich Jonas die Stadt zeigen konnte, in der meine Familie ihre Wurzeln hat. Ich wollte, dass er sie noch kennen lernt, bevor … ja, wenn er denn wirklich …
Oh, wie schwer ließen sich die Gedanken an seinen Tod aus meinem Kopf vertreiben. Ständig musste ich daran denken. Beim Autofahren konnte ich mich deswegen kaum konzentrieren. Ich verfuhr mich ständig.
Es kostete einige Mühe, mit dieser Angst im Nacken Hoffnung zu verbreiten und mutig in den neuen Lebensabschnitt durchzustarten, der mit Beginn der geplanten Chemo- und Strahlentherapie Ende Juli immer näher rückte. Ich suchte Rat und Trost bei Pfarrern und Seelsorgern. Dann erinnerte ich mich auch an Alexa Kriele, jene Frau, die in einer Talkshow im Fernsehen vor einigen Monaten berichtet hatte, dass sie mit Engeln kommunizieren kann. Das hatte mich schon damals neugierig gemacht. Jetzt schrieb ich sie an:
Betreff: Jonas
Datum: Mittwoch, 19. Juli 2000
Von: Familie Hemstege
 
Liebe Frau Kriele!
 
 
Unser zehnjähriger Sohn Jonas ist an einem bösartigen, inoperablen Hirntumor erkrankt. In fünf Tagen wird eine kombinierte Strahlen- und Chemotherapie beginnen. Inwieweit diese Behandlung eine Heilung bewirken kann, ist ungewiss. In dieser schwierigen Situation benötigen wir Ihren Rat und Ihren Kontakt zu Gott und seinen Engeln.
Jonas glaubt sehr fest an Gott und wir Eltern wollen auch auf ihn trauen, denn Gottvertrauen ist das, was uns im Moment am meisten hilft, dieses schwierige Schicksal auszuhalten. Über eine Antwort von Ihnen freuen wir uns sehr.
 
Tanja und Markus Hemstege

Tanja

Die Kinderonkologen der Uni Düsseldorf orientierten sich bei der Therapieplanung an dem Protokoll der so genannten HIT.GBM-C-Studie, dem damaligen Behandlungsstandard für ein Astrocytom 3.Grades.
Jonas sollte zusätzlich zur bisherigen Therapie mit Schmerzmedikamenten und Cortison eine kombinierte Strahlen- und Chemotherapie über insgesamt 288 Tage erhalten. Für Jonas bedeutete der Beginn dieser Therapie Abschied vom gewohnten Leben.