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Jeffery Deaver

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Beschreibung

Wenn irgendwo in der amerikanischen Provinz ein großer Hollywoodfilm gedreht wird, kämpfen die Einheimischen normalerweise um eine winzige Rolle – um einen Augenblick des Ruhms. Als die Filmemacher John Pellam und Marty Jacobs im verschlafenen Städtchen Cleary eintreffen, wird ihnen jedoch ein ganz anderer Empfang zuteil: Nach einem offensichtlich gezielten Schuss stirbt Marty in seinem brennenden Auto! Erschüttert versucht John, die scheinbar sinnlose Tat aufzuklären. Dabei wird ihm aber bald klar: Im Gewehr des Mörders befindet sich auch noch eine Kugel für ihn ...

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Jeffery Deaver

Todesstille

Roman

Deutsch von Helmut Splinter

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Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »Shallow Graves« bei Pocket Books, Simon & Schuster, Inc., New York.
E-Book-Ausgabe 2016 Copyright der Originalausgabe © 1992 by Jeffery Deaver Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright dieser Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Buch

Wenn irgendwo in der amerikanischen Provinz ein großer Hollywoodfilm gedreht wird, kämpfen die Einheimischen normalerweise um eine winzige Rolle – um einen Augenblick des Ruhms. Als die Filmemacher John Pellam und Marty Jacobs im verschlafenen Städtchen Cleary eintreffen, wird ihnen jedoch ein ganz anderer Empfang zuteil: Nach einem offensichtlich gezielten Schuss stirbt Marty in seinem brennenden Auto! Erschüttert versucht John, die scheinbar sinnlose Tat aufzuklären. Dabei wird ihm aber bald klar: Im Gewehr des Mörders befindet sich auch noch eine Kugel für ihn ...

 

 

Autor

Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Seit seinem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat der von seinen Fans und den Kritikern gleichermaßen geliebte Jeffrey Deaver sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht.

 

 

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»Ein Mann sollte zu seinem Wort stehen.« James Stewart als Rupert Cadell in Cocktail für eine Leiche von Alfred Hitchcock

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyright… Eins… Zwei… Drei… Vier… Fünf… Sechs… Sieben… Acht… Neun… Zehn… Elf… Zwölf… Dreizehn… Vierzehn… Fünfzehn… Sechzehn… Siebzehn… Achtzehn… Neunzehn… Zwanzig… Einundzwanzig… Zweiundzwanzig… Dreiundzwanzig… Vierundzwanzig… Fünfundzwanzig… SechsundzwanzigHinweis des Autors

… Eins

»Irgendwann mal habe ich diese gruselige Geschichte über dich gehört«, sagte Marty. »Aber ich hatte keinen Schimmer, ob sie wahr ist oder nicht.«

Pellam sah nicht zu ihm hinüber. Er saß am Steuer des Winnebago Chieftain 43 und fuhr zurück in die Stadt. Sie hatten gerade zwei Kilometer die Straße hinauf ein altes Farmhaus gefunden und dem erstaunten Besitzer 1300 Dollar geboten, um zwei Szenen auf seiner vorderen Veranda drehen zu können, sofern er nichts dagegen hätte, dass statt seines rostigen orangefarbenen Nissans ein paar Tage lang ein Mähdrescher in der Einfahrt stehen würde. Für so viel Geld, hatte der Farmer gemeint, würde er, falls gewünscht, den Wagen sogar aufessen.

Pellam hatte ihm gesagt, das sei nicht nötig.

»Du hast mal als Stuntman gearbeitet?«, fragte Marty mit seiner hohen Stimme und dem leichten Mid-West-Akzent.

»Ein bisschen, ja. Nur für ein Jahr oder so.«

»Ah, ja. Der Film, den du gemacht hast?«

»M-hm.« Pellam nahm seine alte schwarze Hugh-Hefner-Sonnenbrille ab. Am frühen Morgen dieses Herbsttages hatte sich ein stahlblauer Himmel von Horizont zu Horizont gespannt. Vor einer halben Stunde hatte sich der Himmel bezogen, und jetzt, am frühen Nachmittag, sah er aus wie zur Abenddämmerung im Winter.

»Es war ein Spielberg-Film«, sagte Marty.

»Für Spielberg habe ich nie gearbeitet.«

Marty überlegte. »Nein? Also, ich habe aber gehört, dass es ein Spielberg-Film war. Egal, jedenfalls gibt’s eine Szene, in der der Hauptdarsteller mit dem Motorrad über eine Brücke fährt und hinter ihm Granaten hochgehen. Der Typ fährt wie der Henker, hinter ihm immer die Granaten. Dann wird er von einer getroffen und in dem Moment durch die Luft gewirbelt, in dem die Brücke unter ihm zusammenkracht. Okay? Man wollte aber eine Puppe nehmen, weil der Stunt Supervisor niemand von seinen Jungs ranlassen wollte. Dann kommst du und sagst dem zweiten Aufnahmeleiter, er soll die Kameras laufen lassen. Und du, na ja, hast es einfach gemacht.«

»Hm-hm.«

Marty sah zu Pellam hinüber und wartete. Dann lachte er. »Was meinst du mit ›hm-hm‹? Hast du oder hast du nicht?«

»Ja, ich erinnere mich daran.«

Marty verdrehte die Augen und beobachtete in der Ferne einen Vogel. »Oh, er erinnert sich …« Er wandte sein Gesicht wieder Pellam zu. »Dann habe ich noch gehört, dass du nicht richtig durch die Luft geflogen bist, sondern dich an einem Kabel festklammern musstest, während die Brücke unter dir zusammengekracht ist.«

»M-hm.«

Marty wartete immer noch. Es machte keinen Spaß, jemandem Kriegsgeschichten zu erzählen, von dem man sie eigentlich zu hören bekommen sollte. »Und?«

»Ziemlich genau so ist es passiert.«

»Hattest du keine Angst?«

»Klar hatte ich die.«

»Warum hast du’s dann gemacht?«

Pellam griff nach unten zu der Flasche Bier, die zwischen seinen ausgelatschten Cowboy-Stiefeln klemmte. Er blickte in die rotgelbe Herbstlandschaft auf der Suche nach New-York-State-Polizisten, dann hob er die Flasche an die Lippen und leerte sie. »O ja, damals habe ich lauter verrückte Sachen gemacht. War dumm von mir. Der Aufnahmeleiter hat mich rausgeschmissen.«

»Aber die Aufnahme haben sie verwendet?«

»Ging nicht anders. Sie hatten keine Brücke mehr.«

Pellam drückte das ausgeleierte Gaspedal durch, um eine Anhöhe zu nehmen. Der Motor reagierte nicht gerade prompt, ließ von irgendwo aus seinen Tiefen ein Klopfen hören, wie man es halt bei einem alten Wohnmobil gewohnt sein sollte, das ächzend bergauf fährt.

Marty war neunundzwanzig und dünn und trug in seinem linken Ohr einen goldenen Ring. Er hatte ein rundes, glattes Gesicht, und seine Augenlider waren direkt mit seinem Herz verbunden – sie öffneten sich ganz weit, sobald sein Puls einen Zahn zulegte. Pellam war älter. Auch er war dünn, aber eher sehnig, und hatte einen dunklen Teint; den schütteren, grau gesprenkelten Bart, den er sich seit einer Woche wachsen ließ, konnte er schon nicht mehr sehen. Die Lider über seinen graugrünen Augen öffneten sich niemals sehr weit. Beide Männer trugen Bluejeans und Jeansjacken, Marty ein schwarzes T-Shirt, Pellam ein blau kariertes Arbeiterhemd. Mit solchen Klamotten und seinen spitzen Stiefeln sah Pellam eher wie ein Cowboy aus, und wenn jemand – vor allem eine Frau – einen Kommentar darüber abgab, antwortete er stets, er sei mit Wild Bill Hickok verwandt. Das entsprach zwar der Wahrheit, aber in einer solch komplizierten Weise, dass er sich heute nicht mehr genau erinnerte, wo auf seiner Ahnentafel der Revolverheld angesiedelt war.

»Ich würde gerne als Stuntman arbeiten«, sagte Marty.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, gab Pellam zurück.

»Doch, das würde mir Spaß machen.«

»Nein, das würde dir wehtun.«

Die beiden Männer schwiegen eine Weile.

»Dann haben wir also einen Friedhof, einen Marktplatz, zwei Scheunen und ein Farmhaus«, zählte Pellam schließlich auf. »Wir haben kilometerweise Straßen. Was brauchen wir noch?«

Marty blätterte durch ein großes Notizbuch. »Ein ganz, ganz großes Feld, ich meine echt tierisch groß, ein Beerdigungsinstitut, ein Haus im viktorianischen Stil mit einem Garten, in dem man eine Hochzeit feiern kann, einen Eisenwarenladen, so viele Innenräume, dass einem schlecht wird … oh, Mist, das dauert bestimmt zwei Wochen, bis ich wieder nach Manhattan komme. Ich kann keine Kühe mehr sehen, Pellam. Ich habe diese Viecher so verdammt satt.«

»Bist du schon mal auf einer Kuh geritten?«, fragte Pellam.

»Ich bin aus dem mittleren Westen. Jeder reitet dort auf Kühen.«

»Das habe ich noch nie gemacht. Würde ich aber gerne mal.«

»Pellam, du bist noch nie auf einer Kuh geritten?«

»Nö.«

Mit scheinbar echter Bestürzung schüttelte Marty den Kopf. »O Mann …«

Es war schon drei Tage her, seit sie von der Interstate abgebogen und hier nach Cleary im Staat New York gefahren waren. Der Winnebago hatte dreihundertfünfzig Kilometer zurückgelegt, sich über Hügel mit knorrigen Pinien gequält, vorbei an verschlafenen Farmen, kleinen, einfachen pastellfarbenen Häusern mit Pick-ups, aufgebockten Wagen ohne Räder und steifer, an langen Leinen aufgehängter Wäsche davor.

Drei Tage Nebel, Septemberstürme, umherwirbelnde gelbe Blätter und Regen, nichts als Regen.

Marty blickte aus dem Fenster, schwieg fünf Minuten lang. Pellam dachte: Schweigen ist Platin.

»Weißt du, woran mich das hier erinnert?«, fragte Marty schließlich.

Der Junge hatte eine Phantasie, die umherschweifte wie eine hungrige Krähe. Pellam hatte keine Ahnung, woran Marty dachte.

»Ich war beim Dreh von Echoes of War dabei«, erklärte Marty.

Das war ein Dreiundsechzig-Millionen-Dollar-Vietnamkriegsfilm, für den Pellam keine Lust gehabt hatte, als Location-Scout die Drehorte auszukundschaften. Jetzt hatte er keine Lust, sich den Film im Kino anzuschauen, und er würde auch keine Lust haben, ihn sich in seinem Videoladen in L. A. auszuleihen.

»Du weißt, dass sie ihn aus irgendwelchen Gründen nicht in Asien gedreht haben?«, meinte Marty.

»Ist das ’ne Frage?«

»Nein, ich erzähl’s dir nur.«

»Hört sich aber an, als würdest du mich das fragen.«

»Nein. Sie haben beschlossen, den Film nicht in Asien zu drehen.«

»Warum nicht?«

»Ist nicht wichtig. Sie haben es halt nicht getan.«

»Na gut«, gab sich Pellam zufrieden.

»Sie haben ihn in England gedreht, in Cornwall.« Martys dickes, ovales Gesicht wirbelte mit einem breiten Grinsen in Pellams Richtung. Pellam mochte es, wenn jemand begeistert war. Aber begeistert waren immer nur Menschen, die viel redeten. Na ja, man kann eben nicht alles haben. »He, wusstest du, dass es in England Palmen gibt? Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Palmen … Egal, der Setdesigner hat beim Truppenstützpunkt unglaubliche Arbeit geleistet mit Einschlaglöchern von Granaten und allem Drum und Dran. Wir sind um fünf Uhr aufgestanden, um zu drehen. Ich hatte echt immer ein komisches Gefühl. Ich meine, ich wusste, dass wir in England sind und dass es nur ein Film ist. Aber alle Schauspieler waren verkleidet, hatten Uniformen an, haben in Erdlöchern geschlafen und Armeeproviant gegessen. Der Regisseur wollte es so haben. Ich kann dir sagen, wenn ich da so rumstand, war mir ganz … unwohl.« Er überlegte, ob dies der richtige Ausdruck war. Er entschied sich für ein Ja und wiederholte es. »Unwohl. Ja, genauso fühle ich mich auch jetzt.«

Er verfiel in Schweigen.

Pellam hatte bei mehreren Kriegsfilmen mitgearbeitet, aber im Moment fiel ihm keiner davon ein. Woran er dachte, war das Muster der gesprungenen Scheibe am Seitenfenster seines Wohnmobils. Winnebagos haben dicke Fenster, und man muss schon kräftig zuschlagen, um eine Flasche hindurchwerfen zu können. Auf dem Zettel darin hatte gestanden: »Lebt wohl«. Das Wohnmobil war im Lauf der Jahre schon mehrmals Opfer kreativer Zerstörungswut gewesen, aber nie auf eine so zweideutig beunruhigende Art. Die Vandalen hatten offensichtlich absichtlich die Windschutzscheibe verschont; Pellams Blick sollte wohl durch nichts getrübt werden, wenn er aus der Stadt hinausfahren würde.

Pellam hatte auch bemerkt, dass es eine Flasche gewesen war, kein Stein, und sie hätte genauso gut Benzin statt der sorgfältig geschriebenen Nachricht enthalten können.

Genau daran dachte John Pellam im Moment. Nicht an Stunts, Kriegsfilme oder unheilvolle Sonnenaufgänge über England.

»Es wird kalt«, stellte Marty fest.

Pellam streckte seine Hand zum Armaturenbrett aus und drehte die Heizung zwei Stufen höher. Feuchte, nach Gummi riechende Luft machte sich im Führerhaus breit.

Auf dem Boden knirschten Glassplitter unter Pellams Stiefeln. Er schob sie zur Seite.

Lebt wohl …

 

Cleary hatte nicht viel zu bieten.

Zwei Waschsalons, eine Filiale der Chase Manhattan Bank, eine städtische Bank. Zwei praktisch gleich eingerichtete Bars. Ein Dutzend Antiquitätenläden, deren Schaufenster gerammelt voll waren mit Beistelltischchen, Werbeansteckern von Präsidentenwahlkämpfen, Leuchtern, Dreifüßen, Zinngeschirr, verblichenen Teppichen und ein paar eleganten viktorianischen Gerätschaften. Daneben gab es zwei Immobilienmakler, einen Musikinstrumentenladen mit Schwerpunkt auf Instrumenten für Blaskapellen und einen Eisenwarenladen. Der kleine Teeladen, der eher an eine gemütliche englische Zwergenhütte erinnerte, machte ein Wahnsinnsgeschäft mit Muffins: Muffins mit Ballaststoffen, Müsli und Honig.

Ein alter Ramschladen mit Holzfußboden. Ein paar Drugstores, einen mit einer Theke aus den Fünfzigern, die so authentisch aussah, dass sie ein Setdesigner nicht besser hinbekommen könnte. Mehrere Häuser waren zu kleinen Geschäften umgewandelt worden. Crystalmere – Original Schmuckdesign von Janine. Schottischer Import – unsere Spezialität: Shetland-Wolle.

Zwei Jugendliche mit stoppeligen Gesichtern und frech herausforderndem Grinsen standen unter der Markise des Eisenwarenladens. Die Hemden über ihren kräftigen Oberkörpern hatten sie aufgeknöpft, als würde ihnen der frische Wind nichts anhaben können. Einer von ihnen hob den Mittelfinger in Richtung des Wohnmobils.

»Arschlöcher«, meinte Marty.

In Mexiko, wo Pellam und Marty einen Monat zuvor gewesen waren, waren die Einwohner freundlicher gewesen – aber das konnte auch am Dollar gelegen haben, der in punkto internationaler Brüderschaft und Verständigung einen großen Beitrag leistet.

Pellam zuckte mit den Schultern.

Marty hielt seinen Blick immer noch nach draußen gerichtet und beobachtete die Bürgersteige. »Hier in der Stadt gibt’s wohl nicht viele Frauen.« Er runzelte die Stirn, als wäre er enttäuscht, dass er in den Schaufenstern keine Damen mit Badeanzügen aus der Sports Illustrated sah.

»Die haben sie im Wald versteckt, als sie gehört haben, dass du kommst.« Pellam suchte einen Parkplatz.

»Ein Kino habe ich auch noch nicht entdeckt.«

»Ja, ein Kino wäre besser für dich«, sagte Pellam. »Mit Filmen hast du mehr Glück als mit Frauen.«

Diesen Kommentar ignorierte Marty. »He, meinst du nicht auch, dass es nichts Besseres gibt, als mit einer Frau vom Lande in einem komischen Hotelzimmer Liebe zu machen?«, fragte er stattdessen beinahe ehrfurchtsvoll.

»Statt in einem normalen Hotelzimmer?« Eigentlich dachte Pellam tatsächlich, dass es gut war, wenn auch nicht das Beste, aber er sagte nicht »Liebe machen« dazu. Er entwickelte auch nicht eine derart ungestüme Jungmännerlust wie Marty. Pellam musste den Burschen im Auge behalten. Er verlor leicht die Kontrolle und schäkerte in den Cocktailbars kleiner Städte schonungslos mit Blondinen – Frauen, die Lichtjahre härter drauf waren als die meisten aalglatten Schönheiten aus Manhattan oder Los Angeles mit ihren stahlharten Augen.

Die Wolkendecke hätte nicht dichter sein können, als sie die Stadtmitte erreichten. Es goss wie aus Eimern, der Regen überspülte die Straßen, riss die Blätter von den Bäumen und nahm ihnen jede Sicht. Das Wohnmobil schwankte wie ein Boot im Sturm.

»Puh«, stöhnte Marty. »Ich würde sagen, es wird langsam Zeit, dass wir uns betrinken.«

Pellam suchte einen geeigneten Parkplatz. Im dichten Regen übersah er den Bordstein, an dem er mit metallischem Knirschen entlangschrappte. Er wusste nicht mehr, ob im Zentrum von Cleary Parkuhren standen. Wenn ja, gab es jetzt eine weniger.

Der Regen hörte nicht auf, trommelte aufs Dach wie ein Dutzend umherwirbelnder, durchgedrehter Breakdancer. Auf den Scheiben waren keine Tropfen mehr zu erkennen, das Wasser rann als gleichmäßige Schicht die Fenster hinab.

Pellam kletterte von seinem Sitz und sah zu Marty hinüber. »Auf drei.«

»Oh, nee, Pellam, da draußen ist es nass.«

»Du wolltest was trinken.«

»Warte, bis es …«

Pellam öffnete die Tür und sprang hinaus. »Drei!«

»… nachlässt.«

Bis unter das nächste Vordach brauchten sie nur acht Schritte, trotzdem waren sie nass bis auf die Knochen.

Unter dem hohlen Schlag einer Kuhglocke öffneten sie die Tür. Marty blieb wie angewurzelt stehen. »Das ist das Speiserestaurant, Pellam.«

»He, Mann, mach die Tür zu.«

»Das ist das Speiserestaurant.«

»Es ist noch viel zu früh zum Trinken«, erwiderte Pellam. »Mir ist eher nach Kuchen zumute.«

»Kuchen? Oh, Scheiße.«

Marge’s Café war ganz in Türkis und Plastik gehalten und schlichtweg ungemütlich. Die Neonröhren schimmerten grün, ein Licht, das einen gefühlsmäßig sofort in den Flur einer Highschool zurückversetzte.

Sie setzten sich an den Tresen und zogen Papierservietten aus einem Halter, um sich Gesicht und Arme abzutrocknen.

Zwei schmuddelige, stämmige Männer – beide über fünfzig, vielleicht Erntehelfer oder Farmer – mit schwarzem Dreck in den Poren saßen gebeugt über ihren kugelsicheren weißen Kaffeebechern. Sie unterbrachen ihr Gespräch nicht, folgten aber Pellam und Marty mit ihren Blicken wie Retriever, die Vögeln hinterherspähten.

»Genau, hatte sich mit seinem Traktor fast auf den Kopf gestellt.«

»Auf der Interstate? Hätte Eintritt bezahlt, um das zu sehen.«

»Hat eine Menge anderer Fahrer völlig aus dem Konzept gebracht … hab ich dir schon mal erzählt, wie ich meinen Harvester über den Bach gesetzt habe?«

Marty bestellte ein Bier, doch das Mädchen, so um die dreißig mit hübschem Gesicht und breiten Hüften, meinte, sie würde ihm gerne eins geben, doch leider hätten sie keine Genehmigung dafür. »Tut mir wirklich Leid«, wiederholte sie und überlegte krampfhaft, was sie zu ihrer Entschuldigung noch sagen könnte. Ihre Entscheidung fiel auf: »Darf ich Ihnen was anderes bringen?« In ihrer Stimme klang Bewunderung mit. Marty warf Pellam einen triumphierenden Blick zu, dann lächelte er das Mädchen an und bestellte eine Portion Chili und dazu eine Cola. Pellam nahm Kaffee und ein Stück Schokoladenkuchen.

»Ist der auch wirklich selbst gemacht?«, fragte er.

»Wenn Sie meinen, dass man bei A&P was selber macht, dann ja.« Zu ihrer Bewunderung gesellte sich Vernarrtheit, als sie Marty fragte: »Zwiebeln?«

»Ja, Ma’m.«

»Nein«, fiel ihm Pellam ins Wort. Das Wohnmobil war ziemlich klein.

Marty seufzte. Sie sah ihn an, und er schüttelte den Kopf.

»Möchten Sie ihn à la mode?«

»Alamo?«

Sie blickte sich um. »Mit Eiscreme, meine ich.«

»Äh, nein. Nur den Kuchen.«

»Euer Wohnmobil sieht ganz okay aus.« Sie rührte sich nicht von der Stelle. »Mein Paps hatte früher einen Travel-All, hat aber mal beim Rückwärtsfahren Mist gebaut – wir waren auf dem Weg zum Lake Webster –, und die Achse ist gebrochen.«

»Ja, man muss schon vorsichtig sein«, meinte Pellam.

»Man konnte sie nie wieder richtig zusammenschweißen.«

»Tja, da hat man den Salat.«

Nach einer Weile kam Bewegung in die Frau. Mit schwingenden Hüften ging sie auf die andere Seite der Theke.

Marty war aufgeregt. »Hast du den Ramschladen da drüben gesehen, Pellam?« Er blickte aus dem Fenster. »Ich war gestern drin. Der Laden ist hervorragend. Die verkaufen Perücken da drin, reihenweise stehen die da rum. Ich meine, wo auf der Welt gehst du einfach in einen Laden, bezahlst neunzehn neunundneunzig und gehst mit einer Perücke wieder raus? Und? Findest du so was auf dem Rodeo Drive? Oder auf der Michigan Avenue?«

»Stimmt, du kriegst echt schon langsam eine Glatze.«

Plötzlich prasselte der Regen gegen die große Glasscheibe, gefolgt von einigen Donnerschlägen. Als Pellam sich zum Fenster drehte, sah er, wie eine Frau aufs Restaurant zugerannt kam, die Tür aufriss und die Kuhglocke ertönen ließ. Angewidert streifte sie ihren grünen Regenumhang ab und entpuppte sich als etwa gleich alt wie Pellam, vielleicht ein, zwei Jahre älter, und trug ein ausgeblichenes rotes Kleid mit hoher Taille, die genau unter ihrer üppigen Brust ansetzte. »Omakleid« fiel ihm dazu nur ein. Das lange Haar – braun mit leichtem Silberschimmer – war in der Mitte gescheitelt.

Ihr Blick streifte sowohl Pellam als auch Marty. Pellam warf sie so etwas wie ein Lächeln zu, dann wandte sie sich zum Tresen und wischte sich den Regen vom Gesicht.

Auch Pellam und Marty drehten sich zurück. Sie zogen die Polaroidbilder heraus, legten sie nebeneinander auf den Tresen und begannen, über die Einstellwinkel der Kamera zu reden.

Die Frau in dem Omakleid ließ beiläufig ihren Blick auf ihnen ruhen, dann bestellte sie bei der Kellnerin einen Kräutertee und einen Kleie-Muffin. Zwischendurch schaute sie immer mal wieder zu den beiden Männern rüber.

Die Kellnerin stellte den Kaffee und die Cola vor die beiden und hob ein Stück schaumigen Kuchen aus einem Karton mit Cellophanfenster. Dann verschwand sie wieder, um das Chili zu holen und Marty wieder voller Bewunderung für ihn zu servieren.

Sie machten sich ans Essen. Die Frau im Omakleid beachtete sie nicht mehr, selbst als Pellam zweimal in einem Satz das Wort »Hollywood« verwendete.

»Wie ist der Kuchen?«, fragte Marty.

Nach drei Bissen konnte Pellam nicht mehr. Er schob den Teller zu Marty, der mit seiner Gabel zustach, obwohl noch etwas von dem fetten Chili daran klebte.

Wieder laute Donnerschläge und rappelnde Scheiben.

»In welchen Projekten hat Lefkowitz derzeit noch seine Finger drin?«, fragte Pellam.

Marty dachte nach. »Der Film in Europa?«

Pellam schüttelte den Kopf.

»Ach ja, ich weiß«, sagte Marty. »Der Western.«

Pellam lächelte. Er stand auf und ging zum Telefon. »Jetzt guck dir das mal an«, rief er überrascht Marty zu. »Ein Anruf kostet immer noch zehn Cent.« Die Frau im Omakleid drehte ihren Kopf in seine Richtung. Lächelnd. Er lächelte zurück. Sie wandte sich wieder ihrem Tee zu.

Pellam tippte die Telefonnummer ein, wurde aber in die Warteschleife gesetzt. Es sollte nicht das letzte Mal sein.

Nach einer Weile meldete sich endlich der Produktionsassistent. »Johnny, mein Junge, wo warst du?«

Pellam wusste, dass der Mann am anderen Ende noch jung war, konnte ihn sich aber nicht vorstellen. »Unterwegs.«

»Ha, ›unterwegs‹«, wiederholte er. »Ha.«

»Und?«, begann Pellam träge. »Wie ist das Wetter in Tinsel Town? Hier ist es tierisch heiß. Fast vierzig Grad.«

»Johnny, wie klappt’s?«

»Es klappt schon.«

»Freundchen, ich bin nicht zu Witzen aufgelegt. Unser Junge hier dreht schon fast durch mit dem Projekt. Wenn wir die Drehorte nicht bald unter Dach und Fach haben, ist hier die Kacke am Dampfen. Wo, zum Teufel, steckst du?«

»Ich glaube, ich habe gerade das Passende für dich gefunden.«

»Oh, das klingt wie Musik in meinen Ohren. Heirate mich.«

»Ja, es ist perfekt.«

»Sprich mit mir, Johnny, sprich mit mir. Wir stehen unter Druck, hombre. Ich meine richtigen Druck, kapiert?«

Pellam fragte sich, wo man lernte, sich wie ein Producer aufzuführen. Vielleicht auf der University of California in Los Angeles. Er zwinkerte Marty zu. »Lefkowitz wird wahnsinnig vor Begeisterung werden«, fuhr er fort. »Die Aufnahme im Morgengrauen wird wunderbar … kilometerweit nur Wüste. Nirgends ein Baum zu sehen. Ich meine, man sieht nur einen, wenn man ein Teleskop hat und nach Westen schaut, und …«

»Wüste?«

»Dann haben wir eine kleine Hütte gefunden … man kann zwar innen nicht drehen …«

Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Stille wie am Rande des Universums. Dann: »Hütte?«

»… aber keine Angst«, fuhr Pellam fort. »Einen Pferch gibt es. Oh, und ich dachte, ein bisschen von der Inneneinrichtung könntet ihr ja mitbringen. Die Szene, wo …«

»Du verarschst mich, John.«

Pellam klang verletzt. »Dich verarschen? Nein, wenn ich sage, es ist perfekt, dann ist es perfekt. Ich würde nie …«

»Du verarschst mich.«

»Erzähl ihm von den arroyos«, rief Marty aus dem Hintergrund.

»Ah, ja, die Wasserläufe. Du weißt schon, die Szene, wo sich die Komantschen an die Hütte anschleichen.«

»John, das ist nicht lustig.«

»Was meinst du damit?«, wollte Pellam wissen.

»Es ist kein Western.«

»Was meinst du damit: Es ist kein Western?« Pellam machte eine Pause, während der er so tat, als würde er im Drehbuch nachschlagen. »Wie würdest du ›Arizona im Jahre 1876‹ denn sonst nennen?«

»DubistinArizona?« Die Stimme hörte sich an wie ein Autoalarm. »ManhatdirdasfalscheDrehbuchgeschickt?«

»Oh«, machte Pellam.

Er versuchte es, konnte sich aber nicht mehr zurückhalten. Marty, der den Schrei des Produktionsassistenten gehört hatte, hatte sich mit dem Kopf zur Theke hinuntergebeugt und schüttelte sich vor Lachen. Auch Pellam brach in wildes Wiehern aus.

»Du verdammter Hurensohn, Pellam«, brüllte der Produktionsassistent. Pellam fiel, unbeweglich vor Lachen, gegen die Wand der Telefonzelle und versuchte wieder Luft zu bekommen. »Tut mir Leid«, keuchte er.

»Das – ist – nicht – lustig.«

Obwohl alles auf das Gegenteil hinwies. Als Pellam sich endlich wieder beruhigt hatte, sah er zu Marty hinüber. Wieder brach er in Lachen aus. »Wir sind in einem Ort namens Cleary«, brachte er schließlich heraus. »Im Norden vom Staat New York. Sieht gut aus. Ich denke, es ist perfekt hier. Wir haben siebenundzwanzig von einundfünfzig Einstellungen, aber die wichtigsten Drehs haben wir zuerst gemacht, alles andere ist Nebensache. Wir schießen noch die letzten Fotos, dann schicken wir dir in ein paar Tagen den Bericht.« Er machte eine kurze Pause. »Ich habe das Drehbuch durchgesehen. Kann ich dich zu ein paar Änderungen überreden?«

»Nichts drin. Es ist in Stein gemeißelt.« Jetzt war es der Produktionsassistent, der lachte, ein nachsichtiges Glucksen, mit dem er zeigte, dass er kein Spielverderber war, jetzt aber die Zeit gekommen sei, mit den Albereien aufzuhören und zur Sache zu kommen. »Also, John, du meinst, es sieht gut aus?«

»Es ist …«

»Wir können nicht mehr warten. Der große Mann wird meine Eier zum Frühstück verspeisen, wenn wir nicht bald vorankommen. Was wolltest du sagen?«

»Wann?«

»Gerade eben. Ich habe dich unterbrochen.«

»Nur, dass die Stadt gut ist. Alles da, was wir brauchen.« Langsam und deutlich suggerierte er ihm: »Jetzt komm mal wieder runter von deinem Trip.«

»Ha, ha.«

»Jetzt werde ich mal kurz ernst«, meinte Pellam.

»Wir hören, mein Lieber.«

»Das Drehbuch. Dir wird’s zwar nicht gefallen, aber ich habe ein bisschen dran rumgedoktert und …«

»Es geht hier nicht um gefallen oder nicht gefallen – ich werde es einfach ignorieren.«

»Die Geschichte muss ein bisschen aufgepäppelt werden.«

»Vergiss es. Lefty wird auch dir die Eier abschneiden, wenn du nur davon anfängst.«

Pellam erinnerte sich an eine andere Redensweise aus Hollywood. »Die Sache ist, dass das Drehbuch zwar gut, aber nicht hervorragend ist.«

»Aber es ist das Drehbuch von Lefkowitz.«

»Dein Problem«, erwiderte Pellam.

»Nein, meine Eier.«

»Gut, ich habe es versucht. Oh, bevor ich auflege, sollte ich noch erwähnen …«

»Was? Probleme?«

»Probleme sind das eigentlich nicht. Glaube ich jedenfalls. Aber einen Flugplatz zu finden ist schwieriger, als wir dachten.«

»Einen …«

»Marty und ich fliegen morgen nach London. Gegen fünf sind wir in Dover.«

»Dover?«

»Das ist Londoner Uhrzeit.«

»Was für einen Flugplatz?«

»Du weißt schon, die Szene mit den Fallschirmjägern …«

»John, du bist ein Arsch. Hat dir das schon mal jemand gesagt?« Er legte auf.

»Der Typ hat einfach keinen Humor«, stellte Pellam fest, als er zu Marty ging.

Marty machte sich wieder über den Kuchen her.

 

Eine halbe Stunde später war aus dem Regen feiner Nebel geworden, und das Gewitter war vorübergezogen. Nachdem die Frau im Omakleid ein paar sentimentale Blicke in Pellams Richtung geworfen hatte, musste sie wieder in ihre Salzmine, wie sie es der Kellnerin gegenüber ausdrückte, die ihrerseits Schwerstarbeit leistete, um Marty zu bewundern.

»Machen wir uns vom Acker«, sagte Pellam. Die beiden Männer erhoben sich.

»Tschü-hüss«, rief die Kellnerin.

»Bis später«, verabschiedete sich Marty. »Danke für die nette Bedienung.«

»Gern geschehen«, rief sie zurück.

Als sich die Tür hinter Pellam schloss, flüsterte er: »Aber gerne doch, Süße – wann, wo und wie du willst.«

»Pellam, es ist nicht meine Schuld, dass ich so ein toller Hecht bin.«

»Die ist echt scharf auf dich, Junge. Sie will dich als Vater ihrer Kinder. Von allen zwölf. Sieh dich doch an – ein süßer Fratz mit roten Wangen. Oh, sie wird von dir träumen heute Nacht.«

»Hör auf, Pellam.«

»Vielleicht solltest du überlegen, dich hier niederzulassen«, fuhr Pellam mit ernster Miene fort. »Du könntest einen Franchise-Laden mit Wein aufmachen, dir eine Schildkappe aufsetzen, um deine angehende Glatze zu verstecken, einem Wohltätigkeitsverein beitreten …«

»Na, du hast gut reden, Alter. Die andere Frau, die dich dauernd angeglotzt hat, erinnert mich sehr an meine Mutter.«

»Die haben am meisten Erfahrung.«

»Sie …«

Fünf Meter vor dem Wohnmobil blieben Marty und Pellam wie angewurzelt stehen.

»Jesses, was ist das denn?«, fragte Marty.

Pellam war überrascht, dass der Junge es nicht erkennen konnte, dachte sich aber, dass es wie mit den optischen Täuschungen in wissenschaftlichen Büchern war, bei denen einige Menschen auf Anhieb erkannten, worum es sich handelte, andere es sich aber erklären lassen mussten.

Für Pellam war die Sache klar. Auf der ihnen zugewandten Seite des Wohnmobils hatte jemand mit schwarzem Lack grob das Bild von zwei Grabhügeln mit Kreuzen aufgesprüht. Darunter stand wieder: Lebt wohl.

»Oh, verdammt«, flüsterte Marty, als er es endlich erkannte.

… Zwei

»Man hätte doch erwarten können, dass sie ein bisschen mehr Geld dafür springen lassen«, sagte Pellam zu Janine, der Frau mit dem Omakleid. »Wenn sie was symbolisieren soll, sollte sie auch etwas Klasse haben.«

Er blickte auf die kleine, überlackierte schwarze Kanone, die der Stadt vom Verein der Übersee-Kriegsveteranen geschenkt worden war. Sie sah nicht so aus, als könnte sie eine Kugel weiter als drei Meter schießen. Pellam hatte auf dem Marktplatz gesessen und seine Polaroid-Bilder beschriftet, als sie zufällig vorbeigekommen war und sich auf die Bank neben seiner gesetzt hatte. Er hatte Pfefferminztee gerochen – das, was sie am Tag zuvor in Marge’s Café getrunken hatte –, und als er aufgesehen hatte, hatte sie ihn angelächelt. Er war die eineinhalb Meter über das unebene Holz gerutscht, und sie hatten angefangen zu reden.

»Vielleicht taugt sie ja doch was«, meinte Janine. »Der Schein trügt manchmal.«

Pellam fand, dass sie heute geschmackvoller angezogen war – sie trug einen langen Rock, Stiefel und einen grob gestrickten Pullover. Ihr Haar – in der Sonne schimmerte es leicht rötlich – war immer noch in der Mitte gescheitelt. Aus der Nähe betrachtet sah sie älter aus, um die vierzig, obwohl sie es wahrscheinlich nicht war. Das war bei vielen dieser armen Blumenkinder so; vielleicht sind sie gelenkiger und werden älter als andere, aber Sonne und frische Luft können der Haut eine Menge Böses antun.

»Wo ist Ihr jungenhafter Partner mit dem knackigen kleinen Hintern, derjenige, der wahrscheinlich ein oder zwei Jahre zu jung für mich wäre?«

»Er hat sich einen Wagen gemietet und ist ins Hinterland gefahren, um ein paar Parks auszukundschaften. Wir müssen noch für eine Menge Szenen die passenden Drehorte finden, deswegen haben wir uns die Arbeit aufgeteilt.«

»Für welche Gesellschaft arbeiten Sie?«

»Big Mountain Studios.«

»Haben die nicht Night Players gedreht? Und Ganges… Oh, das war ein toller Film. Sind Sie dafür nach Indien gefahren?«

Pellam schüttelte den Kopf.

»Wow, kennen Sie William Hurt? Haben Sie ihn schon mal getroffen?«

»Habe ihn einmal im Restaurant gesehen.«

»Und Willem Dafoe? Glenn Close?«

»Zweimal nein.« Pellam ließ seinen Blick über die in der Hitze flimmernde Stadt schweifen. Elf Uhr vormittags. Heute war es sieben Grad wärmer als am Tag zuvor. Altweibersommer.

»Erzählen Sie mir von dem Film, an dem Sie gerade arbeiten.«

»Wir halten uns vorher immer gerne etwas bedeckt.«

Sie schlug ihn spielerisch auf den Arm. »Bitte? Halten Sie mich etwa für eine Spionin? Meinen Sie, ich würde die Geschichte an MGM verkaufen?«

»Er heißt Todesstille.«

»Oh, wie gruselig. Mir gefällt der Titel. Wer spielt mit?«

»Die Rollen sind noch nicht vergeben.« Location-Scouts stand es nicht zu, allzu viel auszuplaudern.

»Ach, kommen Sie schon«, drängelte sie. »Das glaube ich Ihnen nicht.« Sie neigte scheu den Kopf vor, so dass ihr Haar über ihr Gesicht fiel und nur noch die Augen frei ließ wie bei einer verschleierten Mohammedanerin. »Sie können doch wenigstens Andeutungen machen.«

»Es sind nur unbekannte Schauspieler dabei.« Er nippte an seinem Kaffee.

Immer wollten sie alle Einzelheiten hören. Wer spielte in Hollywood »Reise nach Jerusalem« – aber mit Betten? Welche Schauspielerinnen hatten sich was implantieren lassen? Wer schlug seine Frau? Oder ihren Mann? Wer stand auf Jungs? Wer trieb sich in Beverly Hills auf Orgien herum?

Einige wollten sogar was über den Film wissen.

»Es geht um eine Frau, die zum Begräbnis ihres Vaters in ihre Heimatstadt zurückkehrt. Aber sie bekommt heraus, dass er vielleicht gar nicht ihr Vater war, sondern womöglich sogar ihren leiblichen Vater getötet hat. Er spielt in den Fünfzigern in einer kleinen Stadt mit Namen Bolt’s Crossing.«

Pellam stand auf und warf den Pappbecher in den mit Tulpen bemalten Abfalleimer.

»Sie trinken zu viel Kaffee«, stellte sie mit finsterem Blick fest. »Koffein – pfui Teufel. Haben Sie keine Probleme beim Einschlafen?«

»In welcher Richtung liegt der Friedhof? Ich will noch ein paar Roids schießen.«

»Ein paar …?«

»Polaroids. Kommen Sie mit?« Sie machten sich auf den Weg nach Osten. »Erzählen Sie mir noch ein bisschen über den Film«, bat sie.

»Mehr gibt’s im Moment nicht.«

Sie verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Wenn Sie nicht nett zu mir sind, mache ich vielleicht nicht die Führerin für Sie.«

»Oh, ich brauche eine Führerin? Schaffe ich es sonst nicht mehr zurück in die Zivilisation?«

Mit theatralischer Miene deutete sie mit den Armen auf das Zentrum des Städtchens. »Schlechte Nachrichten, Charlie: Das hier ist die Zivilisation. Besser als das, was Sie hier sehen, wird es nicht.«

 

Nach einer halben Stunde standen sie auf dem Friedhof.

Seine Reaktion auf den Ort war genauso wie am Tag ihrer Ankunft in Cleary, als Marty den Friedhof vom Highway aus entdeckt hatte – er war perfekt für den Film. Hohe, schwarze Bäume um eine Lichtung herum, auf denen zerborstene Grabsteine schief aus der Erde ragten. Keine großen Denkmäler, keine Mausoleen. Nur Steine, die aus dem Wald herauspurzelten.

Pellam zog die Kamera aus der Tasche und machte drei oder vier Bilder. Auf dem Friedhof herrschte ein seltsames Zwielicht, das die bauchigen, tief hängenden Wolken auszustrahlen schienen. Das Licht unterstrich die Gegensätze: Rinde war dunkler als in direkter Sonne, Gras und die Stiele der Wolfsmilch waren heller, die Steine bleicher, weiß wie alte Knochen. Viele Grabsteine waren ziemlich verwittert. Pellam und Janine schlenderten durchs Gras auf den Wald zu. Ein straff gespannter, rostiger Stacheldrahtzaun trennte den Friedhof vom Unterholz.

Moment mal … was war das? Pellam blieb plötzlich stehen und blickte zwischen die Bäume. Er war sicher, dass sie beobachtet wurden, doch als er zur Seite trat, war niemand mehr zu sehen – sofern jemand dort gestanden hatte.

»Aber wenn Redford oder Newman mitspielen und Sie sagen es mir nicht, dann rede ich kein Wort mehr mit Ihnen.«

»Tun sie nicht.«

»Zwei Banditen habe ich zwölfmal gesehen, Let it Be nur achtmal.«

»Waren Sie in Woodstock?«

Sie lächelte überrascht. »Klar. Und Sie?«

»Nein, aber wäre ich gerne gewesen. Erzählen Sie mir von dem Friedhof.«

»Was gibt’s da zu erzählen? Hier wurden tote Menschen begraben.«

»Was für eine Art von toten Menschen? Reiche, Arme, Schmuggler, Farmer?«

Sie verstand nicht so ganz, was er wissen wollte. »Sie meinen, was die Toten über die Geschichte der Stadt aussagen?«

Pellam blickte zu einem Grabstein.

Adam Gottlieb1846-1899Ein Seemann auf Deinem Ozean, o Herr.

»Ein Mann, der die Jahrhundertwende verpasst hat. Pech. Im Prinzip ja, die Geschichte der Stadt, die Atmosphäre.«

Mädchenhaft tanzte sie über ein Grab. »Können Sie sich vorstellen, wie Cleary vor einem Jahrhundert ausgesehen hat? Wahrscheinlich haben nur fünf- oder sechshundert Menschen hier gelebt, wenn überhaupt.«

Pellam schoss mehrere Bilder.

Janine nahm seinen Arm und hakte ihn bei sich ein. Er spürte ihre Brust an seinem Ellbogen. Wie mochte wohl ihr Oberkörper aussehen, fragte er sich. Ob sie viele Sommersprossen hatte? Pellam mochte Sommersprossen.

Ein paar Minuten gingen sie so weiter. »Ich sehe keine neuen Grabsteine«, stellte er fest.

»Ist das schlimm?«

»Nein. Ich bin nur neugierig.«

»Außerhalb der Stadt gibt es einen neuen Friedhof. Aber das ist nicht die Antwort auf die Frage. In Cleary stirbt niemand. Hier sind nämlich alle schon tot.«

Sie wurde ernst. »Ich muss Ihnen was sagen: Ich bin verheiratet.« Sie sah auf. »Aber wir leben getrennt. Wir kommen immer noch gut miteinander aus, mein Alter und ich, aber auf körperlicher Ebene haben wir nichts mehr miteinander, wissen Sie? Er lebt mit einer Schwarzen zusammen und hat in der Nähe von Fishkill eine Reparaturwerkstatt für Motorräder. Sie ist auch von ihrem Mann getrennt. Ihr Mann hat sie auch verlassen. Er kommt hin und wieder vorbei, aber nicht sehr oft.«

Pellam versuchte die Infos zu sortieren. Es gab also zwei Ehemänner, oder? Einer kam immer mal wieder zurück. Aber welcher? Und zu wem?

»Ich wollte die Sache nur geklärt haben«, fuhr Janine fort. »Nur für den Fall, dass Sie was hören … na ja, Sie wissen, wie das ist.« Sie sah ihn an. Ihr Blick lastete so schwer auf ihm wie ihre Brust auf seinem Arm. Eine Antwort war fällig.

»Klar weiß ich das«, meinte er.

Damit schien sie zufrieden zu sein. Als sie ein paar vertrocknete Blätter vor sich herkickte, hoffte er, dass sie keine Schlacht damit anfangen wollte. Es gab nichts Schlimmeres als einen Menschen kurz vor den Wechseljahren, der sich zum Hanswurst machte.

»Erzählen Sie mir von Hollywood. Da geht’s auf den Partys ziemlich wild zu, was?«

»Ich gehe nicht oft nach Hollywood.«

»Sind da nicht die Filmstudios?«

»Century City.«

»Wo ist das?«

»Jetzt gibt’s dort nur noch Bürogebäude. Früher waren da die Twentieth Century Fox.«

»Aber hallo! Super!«

Sie gingen zurück zum Marktplatz. Nachdem Pellam einen neuen Film in den Apparat eingelegt hatte, sah er auf. Aus drei Fenstern blickten ihm Neugierige entgegen, die aber schnell ihre Köpfe wieder abwandten. Eine Frau schob ihre sechs Jahre alte Tochter vor sich her. »Das ist Josey«, sagte sie. Pellam grinste das Mädchen an, ohne stehen zu bleiben.

Die Nachricht war rasch bis in den letzten Winkel von Cleary vorgedrungen – jemand wollte hier einen Film drehen. David Lynch, Lawrence Kasdan, Tom Cruise, Meryl Streep, Julia Roberts waren gesichtet worden. Eine Truppe mit Tausenden von Schauspielern würde aufkreuzen. Man würde eine Menge Statisten brauchen. Und Stuntmen. Ein Freifahrtschein nach Hollywood. Gewerkschaftsverträge. Stell dich an für deine fünfzehn Minuten, in denen du berühmt wirst.

Keiner derjenigen, die sich in seiner Nähe herumtrieben, hatte ihn bisher nach einer Rolle gefragt, doch Pellam bekam eine Unmenge schweigender Vorstellungsgespräche aufgezwungen.

»Was treibt man denn hier so in seiner Freizeit?«, fragte er. »Wenn man nicht gerade versucht, eine Rolle in einem Kinofilm zu ergattern.«

»Uns macht es tierischen Spaß, Touristen das Geld aus den Taschen zu ziehen. Bleiben Sie noch bis Samstag hier in der Gegend?«

»Vielleicht.«

»Dann warten Sie mal ab. Es ist Blättersaison. Hunderte von Autos, und alle schielen zu den Bäumen, als hingen dort Mandalas. Total durchgedreht. Sie geben irrsinnig viel Kohle aus. Ein paar Jahre lang hatte ich einen Teeladen, bevor es mit dem Schmuck losging. Ich habe zwei Dollar für ein Stück Teegebäck genommen. Ein Müsli-Muffin hat zwei Dollar fünfundzwanzig gekostet. Die Leute haben bezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Und was macht ihr, wenn ihr keine turistas ausplündert?«

Sie überlegte. »Wir hocken zusammen. Ich treffe mich mit meinen Freunden, und wir schlagen die Zeit tot. Spielen Trivial Pursuit oder Monopoly. Leihen uns viele Videos aus. Es gibt Volksfeste, Paraden, Veranstaltungen der Agrarstudenten. Heimisches Leben im Amerika des Mittelstands. Die Arbeiter – ich neige immer noch dazu, in Klassen zu denken; früher war ich mal Marxistin –, also die Arbeiter begeistern sich für Kindererziehung, für den Kiwani-Club, um sich als bessere Menschen zu fühlen, für Pfannkuchenfrühstück, Truthahnschießen und für eine der Kirchen protestantischer Konfession, die sie alle in einen Sack stecken können. Aber wir sind sehr tolerant – beide jüdische Familien in der Stadt sind sehr angesehen.«

Sie gingen noch ein paar Minuten weiter. Pellam sah zu ihr hinüber; angestrengt überlegte sie, mit welchem Satz sie ihre Ausführungen zusammenfassen konnte. »Es ist schwer, hier als Alleinstehende zu leben.«

Er ließ die Bemerkung eine Weile auf sich wirken. »Der Film hat auch eine dunkle Seite: Gewalt in der Kleinstadt. Wie sieht’s damit aus?«

»Oh, ja. Jede Menge häusliche Gewalt. Letztes Jahr hat ein Mann seine ganze Familie mit dem Gewehr erschossen. Man hat ihn zu Hause angetroffen, als er gerade Glücksrad angeschaut hat, während die Leichen um ihn herumlagen. Dann hat die Polizei ein paar Typen aus New York City gefunden, die nicht weit vom Zentrum entfernt ermordet worden waren.«

»Was war passiert?«

»Das weiß man bis heute nicht genau. Es waren wohl ganz normale Geschäftsleute. Sah wie Raubüberfall aus, aber wer weiß? Dann gibt es noch verschiedene Fälle von Tod durch Ertrinken, Auto- oder Jagdunfälle. Eine ganze Menge.«

Pellam schoss noch ein paar Polaroidfotos. »Schauen Sie, diese Straße hier wird Main Street genannt. Toll, was?«

»Ja. Habe ich noch nie darüber nachgedacht. War mir entgangen.«

Er blieb stehen und blickte ins Schaufenster der Dutchess Realty Company. Das Licht der Morgensonne glänzte auf der Scheibe, und er meinte zu bemerken, dass dahinter jemand saß, eine blonde Frau, die ihn anstarrte. Aber sie war nicht wie die anderen Bittsteller; die Art, wie sie ihn beobachtete, hatte etwas Drängendes und Beunruhigendes.

Dann dachte er, dass er vielleicht langsam paranoid wurde.

Lebt wohl …

Er sah zur Seite, dann wieder in die Scheibe. Die Blonde war verschwunden. Wie der Spion im Wald, den er sich eingebildet und der den Friedhof beobachtet hatte. Den er sich vielleicht eingebildet hatte.

»Ich muss jetzt meinen Laden aufmachen, aber wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen einmal das einzige Gebäude, das den großen Brand von 1912 überlebt hat.«

»Das würde ich gerne mal sehen.«

»Meinen Sie das ernst?«

»Klar«, erwiderte Pellam.

 

Nein, wir werden den Wurm teilen …

Pellam ging eine Nebenstraße entlang, in der Hand das Manuskript mit rotem Einband. Er machte sich Notizen und schoss hin und wieder ein Bild.

Nein, John, echt … ich bestehe darauf.

Er dachte über den Auftrag in Mexiko von letztem Monat nach.

Marty und er hatten außerhalb von Puerto Vallarta einen großen Dschungel gefunden, und nach dem Beginn der eigentlichen Dreharbeiten hatten sich die beiden Männer mit der Mannschaft herumgetrieben, Mescal getrunken und den Regisseur dabei beobachtet, wie er 25 000 Meter Film durch einen Softar-Filter verdreht hatte, damit das leicht nebulöse Ergebnis wie eine Nike- oder IBM-Werbung aussah. Die Geschichte hatte etwas mit Fälschern, Schweizer Geschäftsleuten und einer dunkelhaarigen Frau zu tun, die Trudie ähnlich sah, mit der sich Pellam hin und wieder in L. A. traf. Oh, verdammt, er hatte vergessen, sie anzurufen. Das letzte Mal war vor fünf Tagen gewesen. Jetzt muss ich es aber tun. Unbedingt.

In Mexiko hatte Marty dem Kameramann über die Schulter geschaut, weil er eines Tages selbst mal Kameramann werden wollte. Pellam war schon auf vielen Sets gewesen, auf zu vielen, wie er schon vor Jahren gemerkt hatte, so dass er meistens in eine der Bars in der Stadt ging, in der sich nicht die Handlanger herumtrieben, wie die Mannschaft in der Eröffnungsszene von Der Schatz der Sierra Madre, sondern die amerikanischen Touristen, die mit einem Sechs-Tage-Pauschalangebot unterwegs waren. Pellam mied sie wie das örtliche Wasser und verbrachte seine Zeit mit einem Oberbeleuchter, einem alten Typen mit Bart, der zwei Vorlieben hatte – alte Generatoren und ausgemergelte, braunhaarige Frauen.

Die zweite Vorliebe teilte Pellam mit ihm. Er stand auf sportstudiogeformte Körper, hatte aber keine Chance, an so eine Frau ranzukommen, da er zur Kaste der bloßen Mietlinge gehörte. Ja, ein schnippisches Garderoben- oder Make-up-Mädchen würde sich Pellam schon zur Verfügung stellen, aber von einer Frau, die einen Vertrag mit der Schauspielergewerkschaft hatte, konnten Männer wie Location-Scouts oder Elektriker nur träumen – sie hatten keine Chance.

Zwei Wochen lang hatten die Männer eine Flasche Schnaps nach der anderen geleert, in denen Agavenwürmer wie Astronauten auf einem Weltraumspaziergang umherschwammen. Sie hatten sie immer miteinander geteilt. Den letzten hatten sie mit Pellams Messer zerschnitten und in den Rest des rauchigen Schnapses fallen lassen. Der Oberbeleuchter schwor, dass die Würmer halluzinogene Wirkung hätten, und murmelte irgendeinen Hokuspokus vor sich hin, bevor er das Glas kippte.

Pellam meinte, er hätte eine Meise, und er selbst würde nichts merken, außer dass er verdammt betrunken war.

Der Film war miserabel, aber Pellam hatte eine herrliche Zeit. Und schließlich war er in Mexiko. Wie konnte es einem da schlecht gehen? In den Schlussszenen – ach was, in den Schlussszenen! Im ganzen Film! – gab es mehr Explosionen und Maschinengewehrgeballere als Schauspielerei, doch Pellam war zufrieden, wenn er sah, dass der Schnaps in der Flasche immer weniger wurde und bald den fetten Wurm freilegen würde, während er den Explosionen lauschte. In Wirklichkeit knallte es viel leiser als in der Endfassung, nachdem die Soundeffekte hinzugefügt worden waren.

Wumm wumm wumm.

Nach einer Weile war es im Paradies langweilig geworden, und Pellam, der wahrscheinlich nicht viel gelächelt und seine Augen längst nicht so weit aufgerissen hatte wie Marty, aber immer zu einem Streich aufgelegt war, hatte sich ein paar gute Nummern mit den unzähligen ausgestopften Gila-Krustenechsen und Klapperschlangen aus Latex ausgedacht. Sein bester Gag war die Nummer mit dem Stuntman. Er hatte ihn dazu überreden können, an Stiefeln, die an der Decke festgeschraubt waren, kopfüber nach unten zu hängen. Als der Regisseur, bekifft von irgendwelchem starken Gras, ins Zimmer kam, hatte der Stuntman gerufen: »He, du hängst ja an der Decke! Wie machst du das nur?« Der Regisseur hatte ihn schockiert angeglotzt und war erstarrt wie James Arness in der Originalversion von Das Ding aus einer anderen Welt, wo er in einem großen Eisklotz eingefroren ist. Der Stuntman war vom Lachen und vom Blutstau im Kopf fast ohnmächtig geworden. Pellam hatte alles gefilmt und sich überlegt, zu Weihnachten das Video an ausgewählte Freunde zu verschenken.

Pellam konnte sich viel erlauben. Drehortsuche ist für das Filmgeschäft dasselbe, was die Schweiz für den Krieg ist. Egal, was sich in Sitzungssälen und beim Casting an Katastrophen, Machenschaften oder Siegen ereignet – von Location-Scouts hält niemand viel. Produzenten sind Diebe, Schauspieler sind hirngeschädigt, Kameramänner sind Künstler, die Leute vom Verkauf sind Gorillas. Und die Autoren hasst sowieso jeder.

Aber Location-Scouts? Das sind Cowboys.

Sie machen ihre Arbeit, dann sind sie weg.

Entweder das, oder sie sitzen am Drehort im Hintergrund, saufen Schnaps, schnappen sich die Skriptgirls, versuchen sich die Schauspielerinnen zu schnappen, und dann sind sie weg. Niemand verschwendet einen überflüssigen Gedanken an sie. Pellam hatte noch nie woanders als beim Film gearbeitet, und dort in verschiedenen Bereichen, aber die Drehortsuche war der einzige Job, bei dem er mehrere Jahre durchgehalten hatte.

Mexiko letzten Monat, Georgia letzte Woche.

Und jetzt Cleary in New York. Mit dem milchbärtigen Marty, der auf Blondinen stand. Mit der ehemaligen Hippie-Tante mit kräftiger Oberweite. Mit hundert Hochglanz-Polaroids. Und einem Friedhof.

Mit einigen Leuten, die nicht froh über ihre Anwesenheit waren.

Lebt wohl …

Auf einer kleinen Straße, die scheinbar zu einem Stadtpark führte, blieb er stehen. Es konnte auch Privatgelände sein; die Grundstücke in Cleary waren riesig. Er dachte an sein Grundstück in Beverly Glen, dessen Grenzlinie sich in Zentimetern messen ließ und nicht im Grundbuch mit einer schier unendlichen Zahl an Metern eingetragen war. Pellam blieb stehen und besah sich das riesige, in hellem Grünblau gestrichene Haus im Kolonialstil. Also befand er sich nicht in einem Park, sondern auf einem Privatgrundstück. Und das Haus stand zum Verkauf, wie auf dem Schild davor zu lesen war.

Pellam überlegte, was es für ein Gefühl sein mochte, ein so großes Haus in einer so kleinen Stadt zu besitzen. Er musterte die Fensterfront. Es musste mindestens sechs oder sieben Schlafzimmer haben. Ihm fielen keine fünf Menschen ein, die er gerne bei sich übernachten lassen würde. Jedenfalls nicht alle gleichzeitig.

Er ging über die Straße. Wie viel würde ein solches Haus kosten?

Wie sah es von hinten aus?

Das fand er nicht mehr heraus.

Pellam hatte die Straße halb überquert, als ein kleiner grauer Wagen über die Hügelkuppe geschossen kam, über Blätter fuhr, die so rutschig wie Öl waren, und ins Schleudern geriet. Pellam versuchte auszuweichen, doch der Wagen traf ihn mit einem lauten Knall der scheppernden Karosserie an der Hüfte.

… Drei

»Wo haben Sie denn die Narbe her?«

Pellam öffnete die Augen, konnte aber nur daran denken, dass er sich gerne übergeben hätte.

Das sagte er dem Mann im weißen Kittel, der über ihm stand. Dieser war kräftig, über vierzig. Und nachdem der Arzt gesagt hatte, das sei normal, tat Pellam sich keinen Zwang an.

Wie aus dem Nichts tauchte rechtzeitig eine Bettpfanne auf, und während Pellam beschäftigt war, fuhr der Arzt mit seinem beruhigenden Monolog fort. »Wenn jemand nach einer Gehirnerschütterung aufwacht, muss er sich immer erbrechen. Ich meine kein vorübergehendes Weggetretensein, sondern eine richtige Ohnmacht. Tja, dann ist das eine völlig normale Reaktion.«

Der Mann sah aus wie der Tierarzt, zu dem Pellam einmal einen Pudel gebracht hatte. Einen Pudel? Sicher war er sich nicht. Er mochte Pudel, aber er glaubte nicht, dass er jemals einen besessen hatte. Es beunruhigte ihn, dass er sich nicht klar erinnern konnte. Vielleicht litt er unter Gedächtnisschwund. Oder an einem Gehirnschaden?

Er stöhnte. Nach dem völlig normalen Erbrechen spürte er, dass seine Bauchmuskeln brannten, und ein stechender Schmerz in der Kehle gesellte sich zu den Höllenqualen in seinem Schädel. Sein Gehirn fühlte sich wie ein Ballon an, der immer weiter aufgepumpt wurde, bis die Schädeldecke platzen und die Luft wie bei einem undichten Gasrohr zischend ausströmen würde.

Mit einem Schluck Wasser spülte er sich den Mund aus und spuckte es in die Bettpfanne. Es war keine Krankenschwester da, so dass der Arzt die Bettpfanne wegbrachte und mit einer sauberen zurückkam, die er neben Pellam auf den Tisch stellte.

Nein, es war kein Pudel gewesen, sondern ein Terrier. Einer von Trudies Hunden, glaubte er – ach, Trudie, Trudie … hatte er sie schon angerufen?

»Das dürfte es dann gewesen sein«, sagte der Arzt, ohne weitere Erklärungen abzugeben.

Pellam nahm eine kurze Untersuchung seines Körpers vor. Er trug nur seine Jockey-Unterhose und einen blauen Bademantel. Langsam hob er die Decke und überprüfte die Körperteile in absteigender Reihenfolge ihrer Wichtigkeit. Abgesehen vom Verband um seinen Kopf war das einzige Zeichen eines Schadens ein Fleck an der Hüfte in der Farbe und Größe einer mutierten Aubergine.

»Ich würde eine Weile gar nichts trinken«, meinte der Arzt.

Pellam sagte brav ja. »Ich wurde von einem Auto angefahren«, fügte er hinzu. Er war enttäuscht, dass es die einzige bedeutsame Aussage war, die ihm einfiel.