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Im November 1981 wird in der Stippbach, einem Tälchen nahe des mittelhessischen Ortes Sinn, die grausam zugerichtete Leiche eines unbekannten Mannes gefunden. Trotz einer Fülle von Spuren auf Täter und Opfer blieben beide nach langwierigen Ermittlungen der Kripo Dillenburg namenlos. Der rekonstruierte Kopf des Toten wird Jahre später in der ZDF-Fernsehfahndung "Aktenzeichen XY... ungelöst" gezeigt. Auch die daraus resultierenden Hinweise führten bis heute nicht zur Aufklärung des schrecklichen Verbrechens. Der Cold Case bleibt auch heute ungelöst. Der Autor hat die Ermittlungen als junger Kriminalbeamter begleitet und schildert hier die kleinteilige Arbeit der Polizei und die Enttäuschung der Ermittler, wenn sich eine, zunächst vielversprechende Spur wiederum im Nichts auflöst. Dem realen Verbrechen stellt er die frei erfundenen Lebensgeschichten von zwei Menschen gegenüber, die zwangsläufig zu Täter und Opfer werden.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für die Menschen in Polizei und Justiz, die, oft auch unter
Missachtung ihrer Gesundheit, versuchen, schwere und
schwerste Straftaten aufzuklären und zu ahnden. Passt auf
euch auf und kommt gesund nach Hause.
»Das Schlimmste, was Hitler uns angetan hat – und
er hat uns viel angetan –, ist doch dies gewesen,
dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm
und seinen Gesellen gemeinsam den Namen Deutsche zu tragen.«
Theodor Heuss, 1. Bundespräsident
DIE HANDELNDEN PERSONEN
Ralf Gumbert
macht mehrfach Karriere und geht über Leichen, dabei sehnt er sich nach einem beschaulichen Leben an der Adria.
Skender Berisha
verliert Familie und Heimat. Er unterwirft danach sein gesamtes Leben den Gesetzen der Blutrache.
Johann Panschegger
büßt die Ähnlichkeit zu seinem Kameraden mit dem Verlust seines Lebens.
Jakob Hansmann
der Chefmordermittler steht vor dem größten Rätsel seiner Laufbahn als Kriminalist.
Johannes Eberbach
der Leiter der kleinen hessischen Kriminaldienststelle und seine Mitarbeiter
Dietmar Feller
Rudi Ulmer
Hans-Günther Coliné
und Erich Münzenberg
versuchen, ihrem Kollegen Hansmann bei der Aufklärung eines ungelösten Falles zu helfen.
VORWORT
PROLOG: BERLIN (OST), NORMANNENSTRAßE – OKTOBER 1981
SINN, STIPPBACH – NOVEMBER 1981
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
HERBORN, AUSTRAßE – NOVEMBER 1981
SINN, STIPPBACH – NOVEMBER 1981
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
SINN, STIPPBACH – NOVEMBER 1981
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
EIFEL, VOGELSANG – MAI 1939
SPESSARTAUTOBAHN – NOVEMBER 1981
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
TAUBERBISCHOFSHEIM – NOVEMBER 1981
EIFEL, VOGELSANG – MAI 1939
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
EIFEL, VOGELSANG – AUGUST 1939
BERLIN-CHARLOTTENBURG – SEPTEMBER 1939
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
TRIER – ANFANG MAI 1940
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1981
DUBROVNIK (KROATIEN) – OKTOBER 1941
DILLENBURG, FRANKFURTER STRAßE – NOVEMBER 1981
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – ENDE NOVEMBER 1981
NIŠ, OSTSERBIEN – NOVEMBER 1941
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – DEZEMBER 1981
KASTRATI, NORDALBANIEN – SOMMER 1943
PEČ, SÜDOSTSERBIEN (KOSOVO) – OKTOBER 1943
DILLENBURG, EUOPAPLATZ – DEZEMBER 1981
KONOVEP, SÜDOSTSERBIEN (KOSOVO) – OKTOBER 1943
SÜDLICH VON PEČ, SÜDOSTSERBIEN (KOSOVO) – OKTOBER 1943
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – DEZEMBER 1981
KONOVEP, SÜDOSTSERBIEN (KOSOVO) – OKTOBER 1943
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – DEZEMBER 1981
PEČ, SÜDOSTSERBIEN (KOSOVO) – OKTOBER 1943
DILLENBURG, BAHNHOF – DEZEMBER 1981
DUBROVNIK (KROATIEN) – APRIL 1945
BERLIN, HARDENBERGSTRAßE (BAHNHOF ZOO) – DEZEMBER 1981
DUBROVNIK (KROATIEN) – APRIL 1945
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – DEZEMBER 1981
IM NIEMANDSLAND (BOSNIEN) – MAI 1945
MALIGRAD – KROATIEN (SLAWONIEN) – JUNI 1945
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – DEZEMBER 1981
LAGER MALIGRAD – KROATIEN (SLAWONIEN) – JULI 1945
KONOVEP, SÜDOSTSERBIEN (KOSOVO) – JULI 1945
LAGER MALIGRAD – KROATIEN (SLAWONIEN) – AUGUST 1945
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – FEBRUAR 1982
LAGER MALIGRAD – KROATIEN (SLAWONIEN) – DEZEMBER 1945
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – AUGUST 1982
BERLIN (OST) – JUNI 1953
BELGRAD – JULI 1953
BERLIN (OST) – AUGUST 1961
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – NOVEMBER 1982
BERLIN (OST) – APRIL 1962
BELGRAD – MAI 1962
BELGRAD (SPORTDELEGATION DER DDR) – 16. MAI 1962
BELGRAD (WOHNUNG MIROSLAV STIPIC) – 16. MAI 1962
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – OKTOBER 1983
BELGRAD – SOMMER 1975
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – OKTOBER 1984
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – FEBRUAR 1985
INSELN BRIJUNI (JUGOSLAWIEN) – JULI 1979
INSELN BRIJUNI (DDR-DELEGATION, JUGOSLAWIEN) – JULI 1979
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – ENDE JUNI 1985
MÜNCHEN, UNTERFÖHRING – 04. JULI 1985
HANSESTADT LÜBECK, KRIMINALWACHE – NACHT ZUM 06.07.1985
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – 06. JULI 1985
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – JULI 1985
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – AUGUST 1985
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – DEZEMBER 1985
DILLENBURG, EUROPAPLATZ – DEZEMBER 1986
RÜCKBLICK: BERLIN (OST), FLORASTRAßE – NOVEMBER 1981
BERLIN (OST), LENINALLEE – OKTOBER 1981
BERLIN (OST), NORMANNENSTRAßE – OKTOBER 1981
BERLIN (OST), NORMANNENSTRAßE – NOVEMBER 1981
SINN – NOVEMBER 1981
EPILOG: SINN, FRIEDHOF – APRIL 2008
Dies ist die Geschichte eines unaufgeklärten Mordes, wobei nicht der Umstand ungewöhnlich ist, dass der Täter nicht ermittelt werden konnte. Dies passierte und passiert leider häufiger in der Kriminalhistorie und bei Mordermittlungen. Nicht ungewöhnlich ist auch, dass es, wie im vorliegenden Fall, den Ermittlern nicht gelingt, das Opfer zu identifizieren. Das passiert auch hin und wieder. Ungewöhnlich ist das Zusammentreffen beider Umstände.
Die Geschichte rund um das Auffinden der Leiche und der Versuche, das Kapitalverbrechen aufzuklären, beruht auf Tatsachen, wobei aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen die Namen der handelnden Personen sowie einige wenige Namen der Schauplätze verändert wurden.
Mord verjährt nicht ist einer der Grundsätze unseres Strafrechts. Wenn neue Ermittlungshinweise vorliegen oder kriminaltechnische Untersuchungen neue Beweise erbringen, können Täter von Kapitaldelikten in Deutschland noch nach Jahrzehnten wegen einer begangenen Straftat angeklagt und verurteilt werden.
Es handelt sich also bei dem hier beschriebenen Tötungsdelikt um eine sogenannte offene Akte oder einen Cold Case. Jederzeit können die Ermittlungen wieder aufgenommen werden. Das Interesse an solchen ungeklärten Mordfällen ist hoch, sowohl aufseiten der Strafverfolgungsbehörden als auch in den Medien und der Öffentlichkeit.
Ich bin Herrn Leitenden Oberstaatsanwalt Michael Sagebiel von der Staatsanwaltschaft Limburg und Herrn Bernd Paul, dem Polizeipräsidenten des Polizeipräsidiums Mittelhessen in Gießen, unendlich dankbar, dass ich Teile der Ermittlungsakten in diesem Roman verwenden durfte. Obwohl es sich um einen Kriminalfall handelt, ist dieses Buch kein Kriminalroman im engeren Sinne, denn die üblicherweise dort zu erwartenden spektakulären Actionszenen fehlen ebenso wie Verfolgungsjagden oder ein Kommissar, der im Vorbeigehen und nur mit Intuition den Fall löst.
Ich möchte hier die kleinteilige Ermittlungsarbeit der Polizeibeamten schildern und die alltägliche Enttäuschung der Kriminalisten wiedergeben, wenn sich eine zunächst vielversprechende Spur nach intensiver Ermittlungsarbeit im Nichts auflöst, möchte beschreiben, wie unermüdlich die Ermittler nach Ansätzen suchen, den eigentlich unlösbaren Fall doch noch aufzuklären.
Die geschilderten Lebenswege des Opfers und des Täters sowie die in diesen Zusammenhängen skizzierten Verbrechen sind fiktiv und frei erfunden.
Der Ermittlungsarbeit und den imaginären Lebenswegen zu folgen, könnte Sie fordern, liebe Leserinnen und Leser; nicht nur wegen der verschiedenen Zeitebenen, in denen die Geschichte erzählt wird, sondern auch wegen der unüblichen Sicht auf den Alltag von ermittelnden Kriminalbeamten.
Skender Berisha erwachte nur langsam aus seiner Ohnmacht. Es fiel ihm schwer, sich zu erinnern und zu realisieren, wo er war. Der Raum war nur spärlich beleuchtet. Obwohl er sich nicht umschauen konnte, weil er seinen Kopf nicht zu bewegen vermochte, spürte er, dass er alleine war. Mühsam und schleppend kehrte sein Erinnerungsvermögen zurück. Ja, er war gestern Abend festgenommen worden, als er sich rächen wollte, eine Rache vollstrecken wollte, die er sich als Kind geschworen hatte.
Er saß festgeschnallt auf einer Art Stuhl, der wiederum fest mit dem Boden verankert war. Seine Beine waren an den Stuhlbeinen fixiert, die Arme mit Riemen an den Armlehnen festgezurrt. Sein Kopf war in ein Gestell aus Metall gezwängt, das es ihm unmöglich machte, seine Kopfhaltung auch nur einen Zentimeter zu verändern. Er bemerkte, dass seine Kleider feucht waren. Sie hatten ihm eine Stelle auf der Mitte der Kopfhaut rasiert und den Kopf in das Gestell gezwängt. Aus einem nicht sichtbaren Behälter, der oben an der Decke über ihm befestigt sein musste, war Wasser auf die rasierte Stelle getropft, stetig und stetig, ein Tropfen nach dem anderen. Er hatte sich nicht vorstellen können, was sie damit bezwecken wollten. Immer und immer wieder hatten sie ihn gefragt, wer außer ihm von seiner Mission wisse. Skender wollte ihnen darauf noch keine Antwort geben. Der, dem er es hätte offenbaren wollen, hatte sich noch nicht wieder blicken lassen.
Sie waren wegen seines Schweigens unsicher und vermuteten, dass er im fernen Jugoslawien Hintermänner habe. Vertreter einer ihnen unbekannten politischen Vereinigung, die die instabilen Verhältnisse in ihrem Heimatland nach dem Tode Titos ausnutzen wollten und ihn mit einem ihnen bisher unbekannten Auftrag nach Berlin geschickt hatten.
Zunächst hatten ihm die unausgesetzt und stetig auf seine Kopfhaut treffenden Wassertropfen nichts ausgemacht. Es war anfangs nach dem langen Verhör sogar erfrischend. Gerne hätte er schon nach wenigen Minuten die Kopfhaltung verändert, den Kopf nur ein wenig gedreht oder geneigt, aber das Gestell machte es unmöglich. Nach etwa einer Viertelstunde hatte es sich angefühlt wie leichte Hammerschläge, immer auf die gleiche Stelle und immer im gleichen Zeitabstand von wenigen Sekunden. Nach und nach wurde es unerträglich und war nicht mehr auszuhalten.
»Wer hat Sie geschickt?« Der Vernehmungsoffizier sprach gutes Serbokroatisch, wusste aber offenbar nicht, dass er eigentlich Albaner war. Er konnte ihm dauernd nur die gleiche Antwort geben. Er sei von sich aus nach Berlin gekommen. Auf die Fragen nach dem Zweck seines Besuchs bei dem Oberst gab er keine Antworten.
Er schwitzte, konnte bald nicht mehr klar denken und schmeckte Blut. Er fürchtete, wahnsinnig zu werden. Wegen der unerträglichen Kopfschmerzen wurde er bald darauf ohnmächtig.
Jetzt, wo er wieder wach war, merkte er, dass das tropfende Wasser abgestellt war. Er fühlte den Schaum vor seinem Mund mit seiner Zunge und hoffte, noch eine Zeit alleine zu bleiben, um seine Gedanken ordnen zu können.
Er stellte sich erstmals die Frage nach der Rechtmäßigkeit seines Tuns. Durfte er den Menschen, der für schreckliche Verbrechen verantwortlich war, überhaupt töten? War dies human und wog hier die Moral mehr als die Verantwortlichkeit eines Täters für seine Tat?
Sein Racheplan war gescheitert, das musste er sich jetzt eingestehen. Als er seiner Zielperson nach endlosen Jahren der Verfolgung endlich gegenübersaß, hatte er begonnen zu frösteln. Das Gespräch mit dem Oberst war, wie wenn sich eine Eisschranktür öffnet und frostklirrende Stille über alle gesprochenen Sätze kriecht.
Tief im Innern überkam ihn das Wissen, dass er hier sterben würde.
Frierend standen die vier Kriminalbeamten auf der Anhöhe oberhalb des lang gezogenen Talgrundes der Stippbach. Trotz der Sonne, die von einem wolkenlosen Novemberhimmel strahlte, war ihnen kalt. Nur wenige Minuten war es her, dass der Wachhabende sie aus ihrer frühmorgendlichen Lethargie gerissen hatte.
In einer Jungfichtenschonung abseits vom Waldweg lag die Leiche eines Mannes auf der linken Körperseite, der Rücken ruhte an einem Fichtenstämmchen, bei dem sämtliche Zweige abgebrannt waren. Der Tote war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Er trug einen beigefarbenen Pullover mit V-Ausschnitt sowie eine weiße, kurze Unterhose mit blauem Karomuster. Der Mann war zwischen 20 und 45 Jahre alt und von eher schmächtiger Gestalt. Das Haupthaar war verbrannt, die Schädeldecke lag teilweise frei. Auch von Weitem waren an der linken Seite des Schädels leichte Einrisse der Schädeldecke erkennbar. Im Nasenbereich klebte ein abgerissener Fingernagel. Das Muskelfleisch des linken Unterarmes fehlte fast völlig, Elle und Speiche waren erkennbar. Im Bereich der Oberschenkel war die Oberhaut aufgeplatzt und Fettgewebe ausgetreten. Der Platz, auf dem die Leiche lag, war in der Größe von etwa einem Meter im Umkreis schwarz verbrannt. Im Bereich der Füße des toten Mannes lag ein schwarzer, großer Koffer mit dem Deckel nach unten, ebenfalls mit starken Brandspuren.
Leichenfundort
Der Montag hatte wie üblich mit der Frühbesprechung begonnen. Kriminalbezirkskommissar Johannes Eberbach, der Leiter der kleinen Dienststelle Dillenburg in der hessischen Provinz, kam wie jeden Morgen mit schwungvollen Schritten in den Sitzungsraum der Kriminalstation. Er ließ es sich nicht nehmen, alle seine Beamten mit einem Handschlag zu begrüßen. Es war ein Ritual. Jeder der Männer hatte seinen Platz an der U-förmigen Tischformation, und vorne, am Kopfende, war der Platz des Chefs. Eberbach war ein jovialer Vorgesetzter, der bei allen einen natürlichen Respekt genoss. Seine Beamten wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten.
Eberbach schlug das Diensttagebuch auf, in dem sämtliche Einsätze und Vorkommnisse eines jeden Tages handschriftlich mit Sachverhalten und getroffenen Maßnahmen eingetragen wurden. Er las die aufgelisteten Fälle des Wochenendes vor. Jeder einzelne Fall wurde besprochen und es wurde überlegt, ob alle Maßnahmen getroffen waren und die erforderlichen Sofortermittlungen durchgeführt wurden. Oft gab es aus dem Kreis der Kollegen neue Ermittlungsansätze oder Hinweise auf die Täterschaft bestimmter Personen.
Mehrere Einbrüche waren gemeldet worden, außerdem eine Leichensache, die Erich Münzenberg, den Bereitschaftsbeamten vom Samstag, beschäftigt hatte.
»Münzenberg, tragen Sie bitte vor, was es Besonderes an dem Fall gab. Nur mit Ihrer Eintragung außergewöhnlicher Freitod kann ich wenig anfangen.«
»Es ist in der Tat nicht alltäglich gewesen, Chef«, begann Münzenberg. »Samstagnachmittag rief mich die Autobahnpolizei Herborn an. An der Ambachtalbrücke der Sauerlandlinie hing außen am Geländer ein Toter, den Ermittlungen zufolge seit zwei Tagen. Es war schwierig, die Leiche zu bergen. Bei der Leichenschau wurde festgestellt, dass der Mann sich nicht nur erhängt, sondern zudem noch in die Schläfe geschossen hatte.« Münzenberg fuhr fort: »Vermutlich hat er sich außen auf die Brüstung der Brücke gesetzt, einen Strick um den Hals gelegt, den er am Brückengeländer befestigte, und hat sich dann in den Kopf geschossen, wonach er automatisch in die Schlinge fiel. Es sollte mich nicht wundern, wenn zusätzlich noch festgestellt würde, dass er vorher eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Eberbach.
»Etwa dreihundert Meter hinter der Brücke ist der Parkplatz Burger Hain. Dort war das Auto des Toten unverschlossen abgestellt, vermutlich bewusst unverschlossen. Im Auto lag nicht nur ein Abschiedsbrief, sondern daneben ein leeres Päckchen Benzodiazepam«, führte Münzenberg weiter aus.
»Wenn Sie diesen dreifachen Suizid in der Kriminalistik veröffentlichen, kommen Sie groß raus«, warf Eberbach mit einem leichten Lächeln ein.
»Na ja, jedenfalls will die Staatsanwaltschaft eine Obduktion«, meinte Münzenberg. »Finde ich auch sinnvoll.«
»Ist die Waffe gefunden worden?«, fragte Jakob Hansmann, der Kollege, der unmittelbar neben Münzenberg saß.
»Ja, eine Walther PPK. Sie lag situationsgerecht etwa zehn Meter unterhalb des Toten im Gebüsch, der Fundort war seitlich am Rand der Brücke. Wir haben Schmauchspuren an der rechten Hand des Toten gefunden.«
»Das war ja ein heftiger Einsatz«, stellte Hansmann fest.
Nach Abhandlung des aktuellen Geschehens kam Eberbach auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen: die angebliche Personalknappheit der vorgesetzten Dienststelle und damit einhergehend eine Anforderung von Personal zu deren Unterstützung. Dabei war seiner Meinung nach der Personalkörper in der Kriminalabteilung des Polizeipräsidiums von Gießen sowieso übermäßig aufgebläht. Ein Großteil der dortigen Kriminalbeamten befasste sich ausschließlich mit administrativen Angelegenheiten und fehlte damit bei der täglichen Arbeit.
»Männer«, so begann er immer, wenn etwas Unangenehmes zu verkünden war, »die Kriminalabteilung sucht personelle Verstärkung für einen Einsatz am übernächsten Wochenende. Die polizeiliche Räumung zweier durch linksautonome Gruppen besetzter Häuser in der Südanlage in Gießen steht an.«
Erwartungsvoll blickte er in die Runde. Keiner seiner dreizehn Beamten meldete sich, keiner hob die Hand. Den meisten war das Thema nur allzu gegenwärtig. Fast alle schimpften auf die vorgesetzte Abteilung, die sich mit Beamten vollgesogen hatte, wohingegen die beiden kleinen und nachgeordneten Dienststellen in Wetzlar und Dillenburg unter ständiger Personalnot litten.
Rudi Ulmer, der altgediente Kriminalhauptmeister, der nie ein Blatt vor den Mund nahm, machte seinem Ärger Luft.
»Die können mich mal, ich nicht!«
Eberbach überhörte den Einwurf und blickte auf seine beiden jüngsten Mitarbeiter. Matze Schieder, der noch in der Ausbildung war, konnte den Sondereinsatz ebenso wenig ablehnen wie Münzenberg, der in Kürze auf eine Beförderung hoffte.
»Da muss ich mich wohl melden, Chef«, sagte Letzterer.
»Das hatte ich auch erwartet, Herr Münzenberg«, war die Antwort.
Eine halbe Stunde später beendete Eberbach die Frühbesprechung mit der Verteilung der wenigen Fahrzeuge, die der Dienststelle zur Verfügung standen. Dieser Ritus, den er sich nicht nehmen ließ, hatte im Laufe der letzten Jahre fast groteske Züge angenommen. Akribisch listete Eberbach auf einem leeren DIN-A4-Blatt die Namen der Beamten auf, die am jeweiligen Arbeitstag ein Fahrzeug für Außenermittlungen brauchten. Mit großer Sorgfalt zog er mit seinem Kugelschreiber waagerechte und senkrechte Linien und schrieb am oberen Ende der Tabelle die Kennzeichen der sieben Dienstfahrzeuge auf und ließ darunter Platz für die Namen der Beamten.
»Wer braucht heute einen Wagen?«, fragte er in die Runde. Gönnerhaft teilte er die Fahrzeuge zu. Vermutlich wusste er genau, dass es bei den geäußerten Bedürfnissen für Außenermittlungen nicht immer mit rechten Dingen zuging und so manche Fahrt mit privatem Hintergrund kaschiert wurde. Schrottelfahrten nannten sie diese »Ermittlungen«, oder ganz einfach Mittagspause.
Pit Osenkamp, der als Fallanalytiker fast ausschließlich mit Büroarbeiten im Innendienst betraut war, brauchte jeweils um die Mittagszeit ein Auto für eine Fahrt nach Herborn. Jedem, vermutlich auch Eberbach, war klar, dass Osenkamp das Auto lediglich zur Fahrt zum Mittagessen in den eigenen vier Wänden nutzte.
»Können Sie Automatik fahren, Herr Osenkamp?«, fragte er.
»Ach, Herr Eberbach, das ist doch lächerlich, jeden Morgen stellen Sie mir die gleiche Frage. Nein, ich kann keine Automatik fahren.«
Alle blickten sich gegenseitig an. Das war jetzt neu. Das hatte so noch keiner gewagt. Eberbach ging über die Äußerung hinweg, als wäre sie nie gefallen.
»Gut, dann nehmen Sie den NT 70.«
Alle feixten. DIL-NT 70 war der alte weiße Passat, das einzige Dienstauto überhaupt mit Automatikgetriebe.
Kurz darauf war die Besprechung beendet.
Die Mehrzahl der Beamten strebte anschließend mit aufatmendem Seufzen in den kleinen Sozialraum der Dienststelle. Es hatte sich eingebürgert, dass hier nach dem Ende der Dienstbesprechung bei einer Tasse Kaffee ein kleiner Plausch gehalten wurde. Man arbeitete hier sowohl die dienstlichen als auch die privaten Ereignisse des Vortags und des Wochenendes auf. Eberbach nahm offiziell keine Notiz von dieser nicht arbeitsrechtlich geregelten Kaffeepause. Alle wussten, dass ihm diese zusätzliche Auszeit nicht passte.
»Kommst du zurecht mit deinem dreifachen Suizid?«, wollte Hansmann von Münzenberg wissen, »oder brauchst du noch Hilfe?«
»Nein, alles gut«, antwortete der. »Die Leichensache ist geschrieben und der Bericht noch am Samstagabend an die Staatsanwaltschaft gegangen. Die Obduktionsanordnung wird im Laufe des Tages per Fernschreiben kommen. Dann noch die Obduktion und es ist fertig. Die Angehörigen sind schon am Samstag verständigt worden.«
»Prima. Deine Bayern haben ja Samstag in Stuttgart gewonnen«, wechselte Hansmann, der auch im Sozialraum neben Münzenberg saß, das Thema. »Vielleicht kommen sie ja wieder in die Spur.«
»Na ja, die Niederlagen gegen Hamburg und Köln tun noch weh«, antwortete Münzenberg. »Ich glaube, diesmal ist der HSV dran und wird Meister.«
Das war eine Steilvorlage für Hans-Günther Coliné, den Kriminaltechniker, der ein glühender Anhänger der Eintracht aus Frankfurt war. Der wollte gerade die Chancen seines Clubs beschreiben, als sich die Tür zum Flur öffnete. Friedhelm Schlosser störte die Diskussionsrunde. Er war Bereitschaftsbeamter des Tages und somit zuständig für die Besetzung der kleinen Kriminalwache. Dort war ein Anruf der Polizeistation aus Herborn bei ihm eingegangen. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, hastete er aufgeregt in den Sozialraum nur zwei Türen hinter der Wache.
»Ihr müsst sofort raus! Im Wald bei Sinn ist eine verbrannte Leiche gefunden worden, es sieht nach Mord aus!«
Was nun folgte, war Routine. Jakob Hansmann, der erfahrene Sachbearbeiter für Kapitalverbrechen und als solcher die »Ein-Mann-Mordkommission« der Dienststelle, holte seine Einsatztasche. Er wurde im Flur von Coliné erwartet, der in der Zwischenzeit bereits den betagten VW-Bus mit Spurensicherungsgerät beladen hatte. Dieses war in diversen Koffern und Taschen verstaut.
»Jetzt mach los, alter Mann«, feuerte er Hansmann freundschaftlich an. Mit quietschenden Reifen verließen die beiden kurz darauf im Bus den Hof der Dienststelle.
Ulmer und Münzenberg folgten im weißen VW-Passat, der vorhin Osenkamp zugeteilt worden war. »Der wird sich wundern, wenn er heute Mittag zum Essen fahren will«, meinte Ulmer mit einem leichten Grinsen.
Im Wald zwischen Sinn und Kölschhausen wartete Polizeihauptmeister Walter Kupfer in seinem Streifenwagen auf das Eintreffen der Kripo. Er fror und ahnte, dass dies nicht nur von den Minustemperaturen des Novembermorgens, sondern auch vom Anblick der Leiche herrührte. Seit ihn vor einer Stunde der Anruf einer Spaziergängerin erreicht hatte, wusste er, dass mit dieser Sache etwas nicht stimmte. Direkt danach war er mit der Anruferin und ihrem Vater zum Leichenfundort gefahren. Die beiden waren am frühen Montagmorgen auf die Suche nach einem gestern im Wald verlorenen Schlüssel gegangen. Dabei hatten sie am Wegrand die Leiche gefunden. Zunächst hatten sie den Leichnam noch für eine weggeworfene Schaufensterpuppe gehalten. Erst bei näherem Hinsehen entdeckten die beiden Zeugen, dass es ein verbrannter Mann war. »Das ist ja schrecklich. Das ist ja ein Mensch!«, hatte die junge Frau gerufen, als sie mit ihrer Stiefelspitze gegen den Leichnam stieß. Beide waren am gestrigen Sonntag exakt auf dem gleichen Spazierweg unterwegs gewesen wie heute. Dabei hatte die Tochter vermutlich ihren Autoschlüssel verloren. Gestern war ihnen nichts Verdächtiges am Wegesrand aufgefallen, da, wo jetzt die Leiche lag. Deswegen ließ sich sicher sagen, dass die Leiche erst in der vergangenen Nacht abgelegt und verbrannt wurde.
Kupfer hatte nach dem Anruf beide zu Hause abgeholt und war mit ihnen in den Sinner Wald gefahren. Den Streifenwagen parkte er vor einer Schranke, die den Waldweg von der Verbindungsstraße zwischen den beiden Ortschaften Sinn und Kölschhausen abtrennte. Die Tochter hatte er im Polizeiauto zurückgelassen. Zu Fuß war er mit dem Vater zur beschriebenen Fundstelle gegangen. Abseits vom Waldweg lag die Leiche eines Mannes, die starke Verbrennungen aufwies. Neben dem Körper lag ein großer Koffer, der ebenfalls angebrannt war. Soweit er von Weitem erkennen konnte, war der Mann lediglich mit einem Pullover und einer Unterhose bekleidet. Beide Kleidungsstücke waren ebenfalls angebrannt.
Kupfer hatte genug gesehen. Er ging schnellen Schrittes zurück zum Streifenwagen. Der Vater eilte hinter ihm her.
»Oranien 23/01 von Oranien 23/17«, funkte er die Polizeiwache in Herborn an. »Am Verbindungsweg zwischen Sinn und Kölschhausen ist eine Leiche gefunden worden. Es sieht nach einem Kapitaldelikt aus.«
»Moment warten, ich verständige Karin 24/01«, antwortete sein Dienstgruppenleiter. Es dauerte eine Weile, bis es im Funkgerät knackte. »Bleiben Sie vor Ort, Karin übernimmt«, krächzte die Stimme aus dem Lautsprecher des Streifenwagens.
Endlich trafen die Kollegen der Kriminalpolizei am Fundort ein. Kupfer stellte ihnen die Zeugen vor, die anschließend von Ulmer befragt wurden. Mehr als das, was er bereits von dem Kollegen wusste, erfuhr er allerdings nicht. Zeitgleich führte Kupfer Hansmann, Münzenberg und Coliné zum Fundort. Dort wies er die drei ein.
»Die Schranke war geschlossen«, sagte er, »einen Schlüssel haben nur die Gemeinde, der Forst und wir.«
»Dann wollen wir mal sehen, was uns der Mann erzählt«, murmelte Hansmann mehr zu sich selbst als zu den Kollegen und meinte den Toten.
Schon nach kurzer Besichtigung des Leichenfundortes waren sich alle darüber einig, dass ein Verbrechen vorlag.
»Wir sollten die Spurensicherung vom LKA kommen lassen«, wandte sich Hansmann jetzt an seine Mitarbeiter. Bei diesem Kapitaldelikt schienen jede Einzelheit und jede Spur von größter Bedeutung.
Die vier Beamten gingen zurück zur Schranke. Ulmer, der die Befragungen der Zeugen zwischenzeitlich beendet hatte, und Münzenberg machten sich Notizen, suchten den weiteren Fundort der Leiche ab und hielten alle Beobachtungen schriftlich fest.
Hansmann bedankte sich bei dem jungen Mädchen und dessen Vater und bat Kupfer, sie nach Hause zu fahren.
»Es kann sein, dass wir Sie noch mal brauchen«, gab er ihnen zum Abschied mit auf den Weg.
Über ein Funk-Drahtgespräch verständigte Hansmann seinen Chef Eberbach und bat ihn, beim Landeskriminalamt die Spurensicherung anzufordern und gleichzeitig den Gerichtsmediziner sowie die Staatsanwaltschaft zu verständigen. Dabei musste er sehr auf seine Worte achten, denn das Gespräch über Funk zum Telefon im Büro konnte von allen mitgehört werden, die ihr Funkgerät eingeschaltet hatten. Nun warteten sie auf das Eintreffen der Spezialisten.
Jakob Hansmann war 46 Jahre alt und mit Leib und Seele Kriminalbeamter. Er gehörte zum Urgestein der Dienststelle und war seit deren Aufbau vor 10 Jahren Sachbearbeiter für Tötungsdelikte. Auch in den Jahren vorher, als der jetzige Dienstbezirk noch vom weit entfernten Limburg betreut wurde, war er für die Ermittlungen bei Todesfällen verantwortlich gewesen. Nicht selten hatten sich anfänglich klare, vermeintlich natürliche Leichensachen als Tötungsdelikte herausgestellt. Noch immer war ihm der Anblick eines toten Menschen nicht einerlei und er musste jedes Mal mit sich kämpfen, um nach außen abgeklärt und sachlich zu erscheinen. Erst vor kurzem war er zum Kriminaloberkommissar befördert worden, nachdem er, bereits über vierzig Jahre alt, nochmals die neunmonatige Ochsentour einer Ausbildung zum Kommissar in der Polizeischule der Landeshauptstadt Wiesbaden auf sich genommen hatte. »Aktion Abendsonne« hatte mancher Kollege gespöttelt. Jetzt war Hansmann stellvertretender Leiter der Ermittlungsgruppe 1, die für alle Kapitalverbrechen zuständig war. In der Ermittlungsarbeit konnte er vollständig aufgehen, wenn es aber darum ging, Ermittlungsergebnisse öffentlich zu machen, beispielsweise in einer Pressekonferenz, tat er sich hingegen schwer. Dann überließ er lieber seinem Ermittlungsgruppenleiter Feller das Feld.
Bei Münzenberg hatte sich in der Zeit, in denen er mit Hansmann zusammenarbeitete, das Gefühl durchgesetzt, dass der sich vielleicht zu sehr unter Druck setzte, weil er sich überfordert fühlte. Trotzdem konnte niemand an seiner Arbeit mäkeln, denn die war hervorragend. Für Münzenberg stand fest, Hansmann war ein guter Kriminalist.
Neben dem Leiter Feller und seinem Vertreter Hansmann gehörten Ulmer und Münzenberg zur Ermittlungsgruppe 1. Die Kollegen bildeten ein Team, das sich auch privat verstand. Regelmäßig besuchten die vier einen gemeinsamen Stammtisch, an dem der Kriminaltechniker Coliné ebenfalls ein gern gesehener Gast war.
Hansmann trug heute die Verantwortung alleine, denn Feller hatte dienstfrei. Darüber war Hansmann froh. Obwohl er sich mit Dietmar Feller gut verstand, gab es im dienstlichen Bereich manche Reibungspunkte. Feller war erst vor wenigen Jahren von der Großstadtkripo in Frankfurt zu der kleinen Dienststelle in der Nähe seines Heimatortes versetzt worden. Obwohl erst 35 Jahre alt und damit weit jünger als Hansmann, war er bereits zum Hauptkommissar befördert worden und galt als ehrgeizig.
»Wir sind hier auf dem Land und nicht in der Großstadt«, sagte Hansmann manchmal, wenn Feller nicht im Dienst war, »und hier ticken die Uhren anders.«
Eberbach war zwischenzeitlich im Sinner Wald eingetroffen. Er ließ sich den Tatort zeigen und stimmte nach reiflichem Überlegen den getroffenen und noch vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen zu. Er konnte es sich nicht verkneifen, bereits eigene Theorien über das Verbrechen zu entwickeln und diese seinen Mitarbeitern näher zu erläutern.
»Es ist noch nicht lange her, dass der Mann verbrannt wurde«, theoretisierte er. »Alles ist weiß gefroren, nur rund um die Brandstelle ist kein Eis und kein Reif mehr.«
»Das ist bei Feuer so«, sagte Coliné und verdutzte Eberbach damit.
Die drei anderen Ermittler ließen ihn reden, brummten zu seinen Theorien ab und zu eine Zustimmung und waren froh, als er von dannen zog, um seinen kriminalpolizeilichen Meldepflichten nachzukommen und vorgesetzte Dienststellen zu verständigen.
Nach etwa einer Stunde, die Münzenberg nutzte, um den Entwurf eines Tatortberichts zu erarbeiten, trafen fast gleichzeitig Oberstaatsanwalt Winkelmaier von der Staatsanwaltschaft in Limburg und der Pathologe, Professor Schmitz vom Gerichtsmedizinischen Institut in Gießen, ein.
OStA Winkelmaier, ein drahtiger, sachlicher Mann, der sich den Sachverhalt kurz erläutern ließ, ordnete sofort eine Obduktion der Leiche an.
»Herr Hansmann, ich bin froh, dass ich sofort verständigt wurde. Hier müssen wir das große Besteck auspacken.«
Derweil nahm Professor Schmitz eine erste Untersuchung des Leichnams vor. »Das ist ja interessant«, befand er, »und noch gar keine Maden sichtbar.« Er bestimmte den Obduktionstermin, der von der Staatsanwaltschaft noch schriftlich bestätigt werden musste, auf den folgenden Tag, einen Dienstag. Professor Schmitz war ein kauziger Mann und wirkte mitunter zerstreut. Die vier Ermittler kannten ihn schon lange und schätzten sein fachliches Können. Er war nachgewiesenermaßen ein erstklassiger Rechtsmediziner. Wegen einer offensichtlich starken Sehbehinderung vermochte er nur durch eine kapitale Hornbrille überhaupt etwas detailliert zu
erkennen. »Brille mit Glasbausteinen«, hatte Coliné kürzlich mal bemerkt. Der Professor musste sich deswegen bei Leichenschauen auch unansehnlichen Leichen sehr dicht nähern. Es hatte für den Betrachter oft den Anschein, er könne »seinen« Toten nicht nah genug sein.
Sein vorläufiger Befund lautete: »Tod durch stumpfe Gewalt.« Offensichtlich habe der Tote längere Zeit, wahrscheinlich mehrere Wochen, in trockener Umgebung gelegen, sei dort teilweise mumifiziert und erst hier am Leichenfundort verbrannt worden. »Das ist eine interessante Sache, hat man nicht oft«, lautete sein Schlusssatz.
Dem stimmten alle Anwesenden vorbehaltlos zu.
Leichenfundort Waldweg
Es war Mittag geworden. Obwohl die Sonne vom Novemberhimmel strahlte, war allen kalt. Im Moment gab es wenig zu tun, alle warteten auf das Eintreffen der Spurensicherungsgruppe des LKA.
»Wir könnten ja in der Zeit was essen«, schlug Münzenberg vor. Hansmann stimmte spontan zu.
»Fahrt ihr mal los«, warf Eberbach, der zum Fundort zurückgekehrt war, überraschenderweise ein und erklärte sich bereit, am Tatort zu bleiben und hier die Stellung zu halten. »Herr Coliné, Sie bleiben auch hier«, bestimmte er. »Falls in der Zwischenzeit das LKA kommt, können Sie die Kollegen einweisen«, fügte er hinzu.
Allen war klar, dass das die kleine Rache für die vorlaute Antwort wegen des Feuers in vereister Umgebung war.
Hansmann, Münzenberg und Ulmer stiegen in den VW-Passat. Ulmer wollte zunächst in den Bürgerkeller fahren, in dem auch der gemeinsame Stammtisch besucht wurde. Dort war man bekannt und würde gut bedient werden.
Der Weg schien Hansmann jedoch zu weit. Er rekelte sich zufrieden im Fond des Dienstwagens. »Fahr mal links und danach rechts ab nach Dreisbach, Rudi. Das sind nur wenige Hundert Meter. Dort gibts in Susi’s Bergschänke ein gutes Mittagessen«, hörte man ihn von hinten.
Das Essen war ausgezeichnet. Während der Mahlzeit wollte sich zunächst kein Gespräch entwickeln. Jeder hing seinen eigenen Gedanken und Theorien nach. Münzenberg brach das Schweigen als Erster.
»Nur zwanzig Meter weiter ist die Kreisgrenze, konnten sie ihn nicht dort ablegen?« Jeder wusste, was das bedeutet hätte. Es wäre das Gebiet der benachbarten Kriminaldienststelle aus Wetzlar gewesen und man wäre selbst nicht mehr zuständig.
»Tja, Jacko, das gibt viel Arbeit«, wandte sich Ulmer an Hansmann, gebrauchte dessen Spitznamen und beendete damit alle Spekulationen.
Bei ihrer Rückkehr zum Leichenfundort hatten Eberbach und Coliné Verstärkung bekommen. Der stellvertretende Leiter der Kriminalabteilung aus Gießen war eingetroffen. Auch die vorgesetzte Dienststelle war an dem spektakulären Leichenfund interessiert, und Anfragen der Presse waren dort zu erwarten. Da machte es sich gut, wenn ein leitender Beamter mitteilen konnte, selbst am Tatort gewesen zu sein.
Coliné beschwerte sich bitter bei den drei Rückkehrern, dass man ihn mit den Chefs in der Kälte zurückgelassen hatte, noch dazu ohne Essen.
»Das merke ich mir. Drecksäcke, Kameradenschweine«, meinte er, jedoch eher freundschaftlich als böse.
Die Spurensicherungsgruppe aus der Landeshauptstadt traf fast zeitgleich ein. Deren Leiter, Kommissar Mattner, war den heimischen Ermittlern persönlich bekannt. Erst vor wenigen Monaten hatte er im Rahmen seiner Ausbildung für den gehobenen Dienst in Dillenburg hospitiert und sich als guter Kriminalist und patenter, verlässlicher Kollege präsentiert. Dementsprechend war das Verhältnis untereinander locker und unkompliziert.
Man machte sich mit den anderen Kriminaltechnikern der Spurensicherungsgruppe bekannt, und die Kollegen aus Wiesbaden gingen an die Arbeit. Routiniert und akribisch wurden alle gefundenen Spuren, die Lage der Leiche und des Koffers vermessen und in eine Tatortskizze übertragen.
Tatortskizze
Der Fotograf hatte seine liebe Not mit den Minusgraden. Andauernd beschlug die Linse seines Fotoapparates. Mattner benutzte ein Diktiergerät und war vertieft in das Diktat der exakten Beschreibung des Leichenfundorts und der Leiche, deren Bekleidung und der festgestellten Verletzungen. Dann ging er auf die Witterungsverhältnisse, die festgestellten Spuren und deren Sicherung ein.
Erstmals wurde jetzt auch die Lage der Leiche verändert und die noch vorhandene Kleidung näher begutachtet. Nach einer Untersuchung des Koffers war erwiesen, dass der Tote keinerlei Ausweispapiere bei sich hatte.
»Das gibt Arbeit«, wiederholte Ulmer.
Insgesamt gab es nur wenige Spuren. Vor der Schranke des Waldweges waren Reifenspuren mittels Gipsabdrücken gesichert worden, und ungefähr 30 Meter von der Leiche entfernt lag eine Zigarettenkippe. Neben dem Kopf des Toten fand sich ein Kronenkorken, außerdem ein bedruckter Kassenzettel mit dem Fragment eines Schuhabdrucks. Daneben gab es den fast völlig verbrannten Koffer und die Kleidung des Leichnams. Aschereste wurden von den Beamten der Spurensicherung ebenso eingesammelt wie verschiedene Erdproben.
Darüber war es Nachmittag geworden. Es begann zu dämmern. Mattner und seine Männer packten ihre Sachen.
»Sieh mal zu, Karl-Heinz, was ihr mit den Spuren und Spurenträgern anstellen könnt«, wandte sich Hansmann bei der Verabschiedung der Männer aus Wiesbaden an Mattner.
»Wir tun unser Bestes, Jakob, wie immer«, antwortete Mattner. Es klang zwar wie eine eingeübte Floskel, aber Hansmann spürte, dass es ernst gemeint war.
Zwischenzeitlich war die Lokalpresse vor Ort eingetroffen. Für Eberbach eine willkommene Gelegenheit, sich zu profilieren. Bei solchen Anlässen gab er gern den erfahrenen Kriminalisten und betonte dabei nachdrücklich seine Leitungsfunktion. Die beiden Reporter der konkurrierenden Zeitungen interessierten sich allerdings viel mehr für den Fundort und die Arbeit der Spurensicherung. Sie fotografierten nicht Eberbach bei seinem Interview, sondern Coliné beim Ausgipsen einer Reifenspur.
Nachdem die sichergestellte Leiche abtransportiert worden war, überlegte Hansmann laut, was weiter zu tun sei. »Wir müssen dringend die Umgebung und die möglichen Zufahrtswege absuchen lassen«, wandte er sich an Eberbach.
»Ich fahre sowieso gleich zurück und werde einen Zug Bereitschaftspolizei anfordern«, antwortete der.
»Lass dir Zeit, Johannes. Bis die da sind, wird es dunkel sein. Fordere sie für morgen früh an.«
»Ja, ich gebe dir über Funk Bescheid«, versprach Eberbach und fuhr zurück nach Dillenburg.
Mehrere weitere Zeugen, die zwischenzeitlich am Fundort erschienen waren, gaben an, gestern ebenfalls im Bereich des Fundortes spazieren gegangen zu sein. Es waren vorwiegend Neugierige aus Sinn, die den vielen Polizeifahrzeugen durch das Stippbachtal gefolgt waren. Keiner hatte die Leiche am Vortag dort gesehen oder etwas Auffälliges bemerkt. Offenkundig war der Tote erst in der Nacht zum Fundort gebracht und hier angezündet worden. Das stand fest.
Alle Spuren waren gesichert, die Leiche abtransportiert und der Tatort war abgesperrt. Die Ermittler fuhren zurück zur Dienststelle.
»Was glaubst du, Rudi, was da vorliegt?«, fragte Münzenberg seinen Mitfahrer.
»Da will ich gar nicht spekulieren, warten wir morgen die Obduktion ab. Vielleicht ist ja etwas unter den Vermisstenmeldungen«, erwiderte der.
Eberbach hatte in der Zwischenzeit ein Fernschreiben abgesetzt, das bundesweit an alle Polizeidienststellen gesteuert worden war:
Fund einer unbekannten männlichen Leiche am 16.11.81, gegen 08.00 Uhr, in der Gemarkung Sinn.
Von Spaziergängern wurde heute Morgen in einem ausgedehnten Waldgebiet zwischen Sinn und Kölschhausen eine unbekannte männliche Leiche aufgefunden. Die Leiche wies starke Verbrennungen auf, Identifizierungsmerkmale sind kaum vorhanden. Nach der Fundsituation scheint ein Verbrechen vorzuliegen, da der Fundort nicht Tatort sein dürfte. Bei der Leiche sind Reste eines ebenfalls verbrannten Koffers vorhanden, dessen Verformung den Schluss zulässt, dass die Leiche in diesem Koffer zum Fundort gebracht wurde. Der Koffer wurde an der Ablagestelle in Brand gesetzt. Offensichtlich wurde hier nochmals eine brennbare Flüssigkeit über Leiche und Koffer ausgeschüttet und angezündet. Nach vorsichtiger Schätzung könnte es sich bei der Leiche um einen Mann im Alter zwischen 18 und 40 Jahren handeln. Ein kräftiger Oberlippenbart ist vorhanden. Die Leiche war teilweise mit kurzer Unterhose (Karomuster) und Pulli mit V-Ausschnitt bekleidet. Oberbekleidung (auch keine Reste davon) konnte nicht festgestellt werden, so auch insbesondere weder Schuhe, Schmuckstücke, Uhr oder dergleichen. Nach Zeugenaussagen muss die Leiche erst in der Nacht zum 16.11.81 am Fundort abgelegt worden sein.
Am Fundort: Prof. Schmitz, Gerichtsmedizin, OStA Winkelmaier, Spurensicherungsgruppe LKA. Bei der hiesigen Dienststelle und den telefonisch abgefragten Nachbardienststellen werden keine Personen vermisst, auf die die erkennbare Personenbeschreibung zuträfe. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wird am 17.11. Obduktion durchgeführt. Erkenntnisse über eventuell vermisste Personen bitte per Fernschreiben an die hiesige Dienststelle. KSt Dillenburg, Eberbach, EKHK.
»Na ja«, meinte Hansmann, als er das Fernschreiben gelesen hatte. Mehr ließ er sich nicht entlocken. Er und Eberbach kannten sich viele Jahre, hatten lange gemeinsam Dienst versehen und waren privat befreundet. Darum sparte er sich korrigierende Hinweise auf die geltenden kriminalpolizeilichen Melderichtlinien. Offensichtlich hatte Eberbach seit längerer Zeit kein Telex mehr verfasst und verschickt, denn in einem Fernschreiben wurden nie Mutmaßungen geäußert und auch das Wörtchen »Bitte« tauchte nie auf.
Eigentlich war schon lange Dienstschluss. Außer Hansmann, Münzenberg, Ulmer und dem Kriminaltechniker Coliné war nur noch der Bereitschaftsbeamte Schlosser im Haus. Tagsüber hatte er als Wachhabender die Stellung gehalten und war das Ohr der Ermittlungsbeamten am Tatort zur Außenwelt gewesen. Die Polizei hinkte der allgemeinen technischen Entwicklung meilenweit hinterher. Autotelefone oder sonstige technische Neuerungen suchte man vergebens. Man konnte sich lediglich über Funk verständigen. Oftmals war auch dieser einzige Kommunikationsweg gestört.
Während des Tages waren bei Schlosser keine entscheidenden Hinweise auf das Verbrechen eingegangen. Neugierig erkundigte er sich nach den Einzelheiten der Feststellungen am Tatort.
Die Männer der Ermittlungsgruppe, Schlosser und Coliné saßen noch im Sozialraum bei einem Kaffee zusammen und sprachen über den Mordfall.
»Lasst uns noch ein Bier trinken«, schlug Hansmann vor.
Das war nicht unüblich, wenn man weit über Dienstschluss hinaus geblieben war, weil noch unaufschiebbare Ermittlungen zu führen waren. Bei einem »Einsatzbier« konnte man die Ereignisse des Tages in Ruhe Revue passieren lassen. Schon häufig hatten sich hier in lockerer Gesprächsrunde neue Aspekte für weitere Ermittlungen ergeben.
»Für mich nicht«, lehnte Schlosser das Angebot ab. »Ich habe noch Bereitschaftsdienst, und wer weiß, vielleicht kommt heut Nacht ja was Wichtiges in eurer Sache.«
»Oben bei uns im Kühlschrank sind noch ein paar Flaschen«, bot Ulmer an.
»Eigentlich habe ich auch Hunger«, warf Hansmann ein. »Lasst uns in den Bürgerkeller fahren.«
Als sie zu viert in das Lokal kamen, drehten sich die Gespräche an der Theke und an dem voll besetzten Stammtisch fast ausschließlich um den Fall. Alle Gäste und natürlich die Wirtsleute wussten von dem Verbrechen in der Nachbargemeinde. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer in der engeren Umgebung verbreitet.
Es fiel dem Quartett schwer, unter sich zu bleiben. Jeder wollte wissen, was passiert war, und mancher gab ungefragt seine Meinung zum Besten.
Die hektische Situation beruhigte schließlich Oma Lisbeth, die betagte Mutter der Wirtin und gute Seele des Hauses. »Jetzt lasst die Jungs erst mal was trinken und was essen, sie haben’s verdient«, erklärte sie den neugierigen Thekengästen und stellte jedem der vier Ermittler ein frisch gezapftes Pils auf den Tisch.
Als das Essen kam, war Ruhe eingekehrt. »Wenn Alf jetzt hier wäre, hätten wir schon mindestens eine Runde Quälgeist getrunken«, unterbrach Coliné die Stille nach dem Essen.
Schlagartig wurde allen schmerzlich bewusst, dass ihr Kollege Alfons Wieber keinen Quälgeist mehr mit ihnen trinken würde. Er war im Sommer bei der Festnahme eines Räubers erschossen worden. Der Mann hatte an einem Samstagmorgen den Sparkassenbus in einem Stadtteil von Dillenburg überfallen. Im Zuge der Fahndung hatte eine Polizeistreife den Täter, von dem eine gute Beschreibung vorlag, an einer Bushaltestelle im benachbarten Siegerland festnehmen können. Wieber war zusammen mit einem Kollegen zur Bushaltestelle geschickt worden, um den Festgenommenen dort abzuholen und nach Dillenburg zu transportieren.
Offensichtlich hatte er hierbei mehrere Fehler gemacht. Der schwerste war, den Mann nicht akribisch zu durchsuchen. Verständlich zwar, weil die Menschenmenge an der Haltestelle wegen der Festnahme schon angefangen hatte zu murren. Worte wie Polizeiwillkür waren zu hören gewesen. Wieber hatte den Mann, dessen Hände vor dem Körper mit Handschellen gefesselt waren gepackt und schnell auf die Rückbank des Einsatzwagens gesetzt. Dann setzte er sich selbst auf den Beifahrersitz und sein Kollege fuhr los. Nach wenigen Minuten Fahrt hatte der Täter trotz der Handschellen eine Kleinkaliberpistole ziehen können, die er in seiner Unterhose im Schritt versteckt hatte. Die Waffe hatte er auf Wieber gerichtet und ihn aufgefordert, seine Dienstwaffe vorsichtig zu ziehen und nach hinten auf die Rückbank zu geben. Wieber hatte zwar vorsichtig seine Pistole gezogen damit aber auf den Räuber gezielt, der hatte sofort geschossen. Das kleine Projektil war durch Wiebers linken Oberarm direkt in den Körper und ins Herz gedrungen. Er war sofort tot gewesen, hinterließ eine Ehefrau und eine minderjährige Tochter.
Wiebers Kollege auf dem Fahrersitz war völlig überrascht. Der Täter konnte den Dienstwagen verlassen und fliehen, wurde aber wenige Stunden später erneut gefasst. Der Prozess gegen den Mann hatte noch nicht begonnen. Wiebers Kollegen hofften jetzt auf ein Urteil mit langjähriger Freiheitsstrafe und anschließender Sicherungsverwahrung.
»Oma Lisbeth«, rief Münzenberg, »wir hätten gerne eine Runde Himbeergeist.«
Die gute Seele brachte vier Schnapsgläser, die randvoll gefüllt waren.
»Prost ihr Jungs, wohl bekomm’s«, sagte sie, als sie die Gläser abstellte.
»Auf Alf«, prostete Münzenberg den anderen zu.
Er hatte den etwas älteren Wieber gut leiden können und viele Gemeinsamkeiten mit ihm geteilt. Beide Ehefrauen waren Erzieherinnen und beide hatten je eine Tochter. Hin und wieder spielten sie am Sonntagmorgen in einer Hobbymannschaft zusammen Fußball. Die Beerdigung war mehr als schlimm gewesen. Die Stimmung im Kreis der vier Ermittler hatte sich geändert, war gedrückt und fast melancholisch geworden.
Münzenberg erhob sich als Erster vom Tisch. Während Hansmann und Coliné noch bleiben wollten, machten sich Ulmer und Münzenberg auf den Heimweg. Beim Bezahlen hegte Letzterer die vage Hoffnung, dass der für das übernächste Wochenende geplante Einsatz in der Gießener Südanlage für ihn wegen des aktuellen Geschehens und der daraus resultierenden zusätzlichen Arbeit ausfallen könnte.
Am nächsten Morgen, einem Dienstag, wachte Münzenberg mit einem leichten Kater auf. Dies lag nicht nur am Vorabend und dem konsumierten Alkohol. Schon immer war ihm unwohl gewesen, wenn eine Obduktion bevorstand und er daran teilnehmen musste. Da halfen die üblicherweise lockeren Sprüche zwischen Obduzenten und Kriminalbeamten wenig. Den größten Kampf focht er jeweils mit dem bestialischen Leichengeruch aus, der unvermeidbar war, wenn »ältere« Leichname geöffnet wurden.
Wie hatte Professor Schmitz gestern gesagt? »Der liegt schon einige Wochen.«
Seine Frau bemerkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte. »Wirst du krank?«, fragte sie.
»Nein. Heute ist die Obduktion von dem unbekannten Toten von gestern, und wenn ich Pech habe, muss ich übermorgen noch zu der Obduktion von der Leiche am Wochenende.«
Mit gemischten Gefühlen fuhr Münzenberg in seinem alten BMW zur Dienststelle. Die knappe halbe Stunde Fahrzeit verkürzte er mit Radio hören. Der Hessische Rundfunk berichtete auf seinem Regionalsender bereits von dem Verbrechen. Er schaltete um auf seinen Lieblingssender WDR2. Nachdem ein alter Stones-Titel gedudelt wurde und hier von Verbrechen keine Rede mehr war, sah die Welt wieder anders aus. Ruby Tuesday – passend zum Wochentag. Manche Textpassagen kannte er auswendig und sang sie laut mit. Als er in Dillenburg ankam, war die trübe Stimmung verflogen.
Die Frühbesprechung dauerte heute länger. Feller war nach seinem freien Tag wieder im Dienst und lauschte aufmerksam den Ausführungen Hansmanns, die von Eberbach ergänzt wurden. Auch die anderen Kollegen der Dienststelle waren begierig, Einzelheiten des Kapitalverbrechens zu erfahren.
Hier tat sich insbesondere Emil Schmittner, Eberbachs Stellvertreter, hervor. Er war bekannt dafür, dass er zu vielen Sachverhalten Zusatzfragen hatte. Dies lag daran, dass er früher selbst in der Landeshauptstadt Leiter eines Kommissariats für Kapitalverbrechen gewesen war. Nach einer Beförderung nahm er jetzt nur noch administrative Aufgaben wahr und bekleidete den neu geschaffenen Posten eines Leiters der Statistik- und Analyseabteilung. Mit dem täglichen Ermittlungsgeschehen hatte er nichts mehr zu tun.
»Habt ihr auch alle Spuren gesichert und wirklich nichts vergessen?«, fragte er in die Runde.
»Wenn es dich beruhigt, Emil, die Spurensicherung vom LKA war da, aber das hatte ich ja schon gesagt«, antwortete Hansmann pikiert.
Feller verlängerte die Frühbesprechung für seine Mitarbeiter, indem er sie anschließend zu einer Zusammenkunft in sein Büro bat. Unterschwellig war ihm die Verärgerung darüber anzumerken, dass ausgerechnet er an dem so ereignisreichen Vortag dienstfrei gehabt hatte.
»Ihr hättet mich ruhig anrufen können. Ich war zu Hause«, warf er vorwurfsvoll ein.
Die Presse berichtete groß über das Kapitalverbrechen, das die ländliche Idylle gestört hatte. Die Berichte waren überraschenderweise sachlich, und man hatte sich offensichtlich bemüht, jeglichen Sensationsjournalismus zu vermeiden. Die Runde machte sich über ein Foto lustig, das beide Heimatzeitungen abgedruckt hatten und das Coliné beim Ausgipsen von Reifenspuren zeigte, während Ulmer, Hansmann und Münzenberg ihm zusahen, alle drei mit tief in den Taschen ihrer Winterjacken vergrabenen Händen.
»Ich sag ja immer, dass ich der Einzige bin, der was Richtiges schafft«, meinte Coliné.
Dem war in Anbetracht der abgedruckten Fotos wenig zu entgegnen.
Bei einer Tasse Kaffee besprachen die Ermittler die Aufgabenverteilung des neuen Tages. Hansmann vertrat die Auffassung, dass eine Sonderkommission zu bilden sei, wenn nicht innerhalb weniger Tage mindestens die Identität des Toten geklärt werde.
»Gut, machen wir vielleicht«, meinte Feller zustimmend, »wir warten die heutige Obduktion ab. Dann werden wir weitersehen.«
Es stand außer Frage, dass Hansmann verantwortlicher Sachbearbeiter des Falles war. Vordringlich sollte ihn Münzenberg unterstützen, und die Mitarbeit des Kriminaltechnikers Coliné war sowieso selbstverständlich.
»Die Obduktion wird heute um 14.00 Uhr im Sektionsraum des Psychiatrischen Krankenhauses durchgeführt«, gab Hansmann bekannt. »Oberstaatsanwalt Winkelmaier wird auch da sein, er hat angerufen.«
Es war selbstverständlich, dass alle anderen Beteiligten ebenfalls anwesend sein wollten.
»Rudi, wir beschaffen uns am besten gute Zigarren«, schlug Münzenberg seinem Kollegen vor, »ich bezahle auch.«
Der alte Trick hatte oft funktioniert. Der Geruch des Zigarrenrauchs überdeckte den Gestank des Leichnams.
»Wenn du meinst, dass es hilft, dann mach mal.«
»Ich bring ein paar mehr mit, sicher ist sicher.«
Der Vormittag verging mit schriftlichen Arbeiten. Alle vier gestern am Tatort anwesenden Ermittler hatten umfängliche Berichte zu Papier zu bringen. Ulmer schrieb Vermerke über die Zeugenbefragungen, Münzenberg tippte seinen Tatortbefundbericht und Coliné den Spurensicherungsbericht. Hansmann begann damit, eine ordentliche Papierakte zusammenzustellen.
Feller fuhr zum Tatort nach Sinn und kümmerte sich um den Zug der Bereitschaftspolizei, der aus Wiesbaden angereist war. Die aufwendige Durchsuchung der näheren und weiteren Umgebung einschließlich der Zufahrtsstraßen förderte außer Müll, der offenkundig länger dort gelegen hatte, keine Beweise oder brauchbare Spuren zutage.
OObbdduukkttiioonnsspprroottookkoollll ddeerr SSttaaaattssaannwwaallttsscchhaafftt LLiimmbbuurrgg:: Zur Durchführung der Obduktion der am 16.11.1981 in der Gemarkung Sinn aufgefundenen Leiche fanden sich am 17.11.1981, 14.30 Uhr, in der Leichenhalle des Psychiatrischen Krankenhauses Herborn ein:
1. Prof. Dr. Schmitz als 1. Obduzent,
2. Dr. Schuhmacher als 2. Obduzent,
3. Oberpräparator Ermelt als Obduktionsgehilfe, alle Institut für Rechtsmedizin,
4. KHK Feller, KOK Hansmann, KHM Ulmer, KOM Münzenberg, KTA Coliné, alle Kriminalstation Dillenburg,
5. ferner ein Filmteam des Hessischen Landeskriminalamtes Wiesbaden, das die Obduktion mit meiner Zustimmung zu Unterrichtszwecken auf Videoband aufnahm.
Auf dem Sektionstisch lag eine angekohlte Leiche, die ich als diejenige wiedererkannte, die am Vortage bei Sinn gefunden und von mir in Augenschein genommen worden war. An der Leiche fehlten die Hände, die die Spurensicherungsgruppe des LKA Wiesbaden am Vortage abgenommen hatte, um zu versuchen, Fingerabdrücke zum Zwecke der Identifizierung des Unbekannten zu nehmen. Dr. Schmitz diktierte die Befunde der Sektion auf Band. KTA Coliné und Oberpräparator Ermelt fertigten Lichtbilder.
Folgende Teile der Leiche wurden sichergestellt:
a) der Schädel zwecks Zahnstatus und Nachzeichnung des Gesichts,
b) 1 Stück des rechten Oberarmknochens zur genaueren Altersbestimmung des Toten,
c) in Ermangelung von Blut Gewebeteile, um zu versuchen, die Blutgruppe des Toten zu ermitteln.
Sodann erstattete Dr. Schmitz ein vorläufiges Gutachten:
1. Bei dem Toten handelt es sich um einen Mann, der etwa 1,74 m groß und 40 - 45 Jahre alt war. Im Oberkiefer trug der Tote eine Zahnprothese mit Gaumenplatte aus Metall.
2. Nach der Entstellung der inneren Organe und dem fortgeschrittenen Verwesungsgeruch zu urteilen, ist der Tod vor mindestens 4 Wochen eingetreten.
3. Todesursache ist eine Schädelfraktur links mit Hirnquetschung, die Bruchzone reicht bis zur rechten Schädelseite und dem rechten Felsenbein. Zu der Schädelfraktur hat ein massiver Schlag mit einem stumpfen, breiten Werkzeug geführt. Weitere Knochenverletzungen fanden sich nirgends, auch nicht am Brustkorb und den Extremitäten.
4. Die Leiche weist Brandspuren auf. Da in Mund, Schlund und Luftröhre keine Rußspuren gefunden wurden, muss der Mann schon tot gewesen sein, bevor er in Brand gesetzt wurde.
5. An der immerhin mindestens 4 Wochen alten Leiche wurden keine Insektenlarven festgestellt; dies spricht für eine Lagerung der Leiche unter relativ dichtem Verschluss. Auffällig ist eine fünfmarkstückgroße, eventuell kurz vor dem Ableben rasierte haarlose Stelle an der oberen Mitte des Schädels.
Ende der Obduktion: 17.30 Uhr. Winkelmaier, OStA.
Schädel des Toten
Bei der Obduktion war lediglich eine zusätzliche Spur von möglicher Bedeutung gefunden worden. Am linken Unterschenkel des Toten klebte ein rotes, teilweise verbranntes Streichholz, das aus einem Streichholzbriefchen stammte. Auch die Zahnprothese hatte man dem Toten aus dem Mund entnommen und sichergestellt.
»Herr Professor, Sie haben gewiss eine eigene Meinung zu der Sache?« Oberstaatsanwalt Winkelmann stand dem Ersten Obduzenten gegenüber.