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Verlasse nicht den Bundesstaat. Gerate nicht in Schwierigkeiten. Und verliebe dich auf gar keinen Fall in den Polizeichef. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, zieht Nate Jenkins nach Crystal Lake und versucht dort, sein Leben wieder unter Kontrolle zu bringen und seine Bewährungsauflagen einzuhalten. Dabei trifft er immer wieder auf den attraktiven Polizeichef der Stadt, der zufällig auch noch sein Nachbar ist und ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Quentin hat alles, was ein Mann sich wünschen könnte. Ein Haus, eine Familie und einen sicheren Job in einer netten Kleinstadt. Doch sein Leben ist nicht mal annähernd perfekt. Stattdessen verbirgt er ein schmerzhaftes Geheimnis, denn Quentin lebt seit Jahren in einer Hölle, aus der er nicht ausbrechen kann. Bis er Nate Jenkins trifft, einen Mann, der ihm das erste Mal seit einer langen Zeit das Gefühl gibt, nicht allein zu sein. Zwischen den beiden Männern entwickeln sich unerwartete Gefühle, die nicht sein dürfen und Nate schon bald in ernsthafte Gefahr bringen.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Triggerwarnung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Epilog
Nachwort
Danksagung
Über T.C. Daniels
Alle Touchdowns auf einen Blick
1. Auflage
Copyright © 2022 T.C. Daniels
Covergestaltung: Catrin Sommer / rausch-gold.com
Korrektorat/stilistisches Lektorat: Nina Schneider
T.C. Daniels
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors. Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum der rechtmäßigen Besitzer.
Verlust eines Angehörigen
Häusliche Gewalt
Drogenmissbrauch
Blut
Schnittwunden
Suizid (nicht beschrieben)
Nate
Er sah aus wie ein Gespenst. Wie ein Gespenst, das dem Tod geweiht war.
Nate versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Rileys Anblick erschreckte. Er hatte ihn seit gestern Abend nicht mehr gesehen, das waren achtzehn Stunden, für einen sterbenskranken jungen Mann eine kleine Ewigkeit.
Nate öffnete seinen Rucksack und zog ein Päckchen Pop Tarts daraus hervor. Er wusste nicht mal, ob Riley die im Moment essen konnte. Manchmal war sein Mund von der Chemotherapie so entzündet, dass er durch eine Magensonde ernährt werden musste.
Trotzdem warf er das Päckchen auf Rileys Bettdecke und zwinkerte ihm zu. »Lass sie nicht Dad sehen.«
Riley lächelte leicht und nickte. Weil er keine Anstalten machte, die Süßigkeit zu verstecken, ging Nate um sein Bett herum und verstaute sie in der Nachttischschublade.
»Hast du Durst?«, fragte Nate, nachdem sein Blick auf den Becher mit dem Eiswasser gefallen war, das Riley am liebsten trank.
Sein Bruder nickte und setzte sich vorsichtig auf. Nate hielt ihm den Becher mit dem Strohhalm entgegen. Rileys rissige Lippen schlossen sich darum und er trank zwei Schlucke.
»Danke«, sagte er heiser.
Nate stellte den Becher weg und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die direkt neben Rileys Bett standen. Wahrscheinlich waren seine Eltern heute Vormittag schon hier gewesen. So wie jeden Tag.
Seit zwei Jahren war das Krankenhaus sowas wie ihre zweite Basisstation geworden. Entweder bekam Riley hier seine Chemo, das waren dann die Besuche, die planbar und damit irgendwie okay waren.
Viel zu oft hatten sie aber auch mitten in der Nacht in der Notaufnahme gesessen, weil Rileys Zustand sich plötzlich verschlechtert hatte. Nasenbluten, Übelkeit, bestialische Schmerzen. Nate war sich ziemlich sicher, dass sein Bruder jede einzelne Hölle durchschritten hatte, die man mit Leukämie so betreten konnte.
»Wie war die Schule?«, fragte Riley, wie er es immer tat. Der beste große Bruder der Welt.
»Ganz okay. Mrs. Miller mag meinen Süßkartoffelauflauf«, sagte Nate grinsend.
Riley verzog das Gesicht. Es war lange her, dass er sich über irgendeine Art von Essen gefreut hatte. Hunger und Appetit verschwanden einfach, wenn der Körper mit Gift und Medikamenten vollgepumpt war.
Dumm nur, dass Nate es liebte, zu kochen. Er konnte sich stundenlang in der Küche beschäftigen. Seit Riley krank war, kochte er noch mehr, denn seine Eltern waren häufig und lange außer Haus, sodass er allein war. Mit dem Kochen beschäftigte er sich, außerdem bekamen seine Eltern trotzdem gute Sachen zu essen, wenn sie irgendwann todmüde und angefüllt mit Sorgen nach Hause kamen.
Niemand konnte längere Zeit ausschließlich mit Krankenhausnahrung überleben. Riley war da das beste Beispiel dafür. Seine eingefallenen Wangen, die scharf hervorstehenden Wangenknochen, die dunklen Schatten unter seinen ausgehöhlten Augen. Früher war Riley braungebrannt gewesen, von den vielen Stunden auf dem Spielfeld, heute hatte seine Hautfarbe einen ungesunden Grauton angenommen.
»Mom und Dad kommen gleich, aber ich wollte dich noch um etwas bitten«, sagte Riley. Er schob seine Hand ganz langsam über die Decke, bis er Nates ergriff.
Nate umschloss Rileys Finger und drückte sie sanft. Früher war Riley viel muskulöser als er selbst gewesen. Er spielte Football am College und sein größter Traum war es, in der NFL zu spielen. Er war der Teamkapitän gewesen, ein richtiger Superstar im College-Football. Und jetzt waren seine Hände knochig und kalt, weder Fett noch übermäßig Muskeln waren vorhanden.
Nate schluckte. Er hasste es, seinen Bruder so zu sehen. Er hatte immer zu ihm, seinem Vorbild, aufgesehen. Er war der Beweis dafür, dass man alles schaffen konnte, wenn man es nur genug wollte. Und jetzt war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Eine flüchtige Erinnerung an den Menschen, der er mal gewesen war.
»Ich werde nicht mehr lange durchhalten«, sagte Riley mit brüchiger Stimme.
Nate blinzelte. Seine Augen wurden vollkommen unerwartet von Tränen geflutet. Er sah schnell in Richtung des Fensters, weil er nicht wollte, dass Riley es bemerkte. Er würde ihn nicht auslachen, das hatte er noch nie. Aber Nate wollte seinen Bruder auch nicht traurig machen.
»Sieh mich an, Nate«, bat Riley und drückte seine Hand nochmal ganz leicht.
Nate wartete, bis die Tränen weg waren, dann blickte er zu seinem Bruder zurück. Es tat weh, ihn so zu sehen. Es war unfair. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
»Der Arzt hat mir gestern gesagt, dass die Behandlung nicht angeschlagen hat.«
Nate biss sich auf die Unterlippe, doch dieses Mal verlor er den Kampf gegen die Tränen. »Hat er eine neue Therapie? Er hat doch bestimmt noch eine andere Studie, die …«
»Nate«, unterbrach Riley ihn leise. »Keine Therapie mehr. Keine Studie.«
»Aber … was sagen Mom und Dad dazu?«
»Sie wissen es noch nicht. Ich wollte es ihnen selbst sagen. Ich will nach Hause. Ich halte es keinen Tag länger in diesem Schlachthaus aus.«
Er wird sterben.
Die Erkenntnis brannte sich in sein Herz und seine Seele. Sein Bruder würde sterben, wenn er sich nicht weiter behandeln ließ.
»Bevor ich es Mom und Dad sage, wollte ich mit dir reden. Es gibt da etwas, das du mir versprechen musst.«
Nate nickte hastig. Er würde Riley alles versprechen. Absolut alles. Ohne Einschränkungen.
»Du musst auf die beiden aufpassen. Sie … sie kommen nicht gut klar damit. Mom noch besser als Dad, aber er …«
Riley verstummte, doch er musste nicht weitersprechen. Nate wusste genau, was er meinte. Riley war der Liebling ihres Vaters. Sein Augenstern, sein ganzer Stolz. Nate hatte es nie geschafft, die gleiche intensive Beziehung zu seinem Vater aufzubauen. Die beiden waren wie ein perfekt aufeinander abgestimmtes Uhrwerk, nichts konnte zwischen sie kommen.
Ein Junge, der die meiste Zeit mit Träumen verbrachte, oder in der Küche stand, um neue Rezepte auszuprobieren, war nicht mehr als ein Störfaktor. Es gab keinen Platz für ihn zwischen Spielstatistiken, Wurftechniken und vielen, vielen Siegen.
Riley hatte von klein auf Football gespielt und ihr Dad hatte seine Leidenschaft gefördert. Er war bei jedem seiner Spiele gewesen, war zu Meisterschaften mitgefahren, hatte einen neuen Job mit anderen Arbeitszeiten gesucht, damit er Riley beim Training zusehen konnte.
Nate konnte nicht sagen, dass er die Aufmerksamkeit seines Vaters jemals vermisst hatte, denn irgendwie war es schon immer so gewesen. Riley und Dad, ein unzertrennliches Team.
Er hatte dafür Zeit mit seiner Mutter in der Küche verbracht, hatte tolle Freunde, die Sommer verbrachte er unten am See, während Riley auf dem Feld stand und trainierte.
Nate hatte das nie hinterfragt. Es war einfach ihre Art zu leben. Riley und Dad. Und Mom. Und dann war da auch noch Nate.
»Dad geht es nicht gut. Wenn ich nicht mehr da bin …«
»Riley«, wisperte Nate. Er wollte nicht, dass sein Bruder so sprach. Er hatte eine Endgültigkeit im Tonfall, die Nate erschreckte.
»Ich werde sterben. Bald. Und dann bist nur noch du da. Bitte versprich mir, dass du auf die beiden aufpasst.«
Nate nickte hastig, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er das machen sollte. Wie sollte er auf seinen Dad aufpassen, der ihn zeit seines Lebens nie wirklich wahrgenommen hatte, weil es Riley gab?
»Dad braucht eine Aufgabe. Er muss … du findest bestimmt eine Möglichkeit, ihn abzulenken«, sagte Riley. »Ich weiß nicht, was das …«
»Mir fällt schon etwas ein«, sagte Nate beruhigend und drückte die Hand seines Bruders wieder. Einen Moment überlegte er, ob er Riley von Michael erzählen sollte. Er wollte es. So sehr. Ihn einweihen. Ihn um Rat fragen, was es damit auf sich haben könnte, dass er plötzlich nicht mehr aufhören konnte, an ihn zu denken.
Riley wusste sicher, was das zu bedeuten hatte. Er war zweiundzwanzig. Nate war mit seinen fünfzehn Jahren noch grün hinter den Ohren. Trotzdem pochte sein Herz aufgeregt, wenn er an Michael dachte.
Doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, hörten sie Stimmen, die über den Korridor bis zu ihnen ins Zimmer wehten, ehe ihre Eltern eintraten.
Wie immer waren sie vollbepackt mit Ballons, die fröhlich in der Luft schwebten, und einem zuversichtlichen Gesichtsausdruck, der längst nicht mehr so strahlend und hoffnungsvoll war wie noch am Anfang.
Nate fragte sich, ob er sich auch verändert hatte, seit Riley krank war. Die Haare seines Dads waren weniger und grauer geworden. Er hatte abgenommen und auch seine Haut sah schon lange nicht mehr danach aus, als würde er viel Zeit an der Sonne verbringen. Seine Mom war sorgfältig geschminkt wie immer. Aber die Falten in ihren Augenwinkeln waren tiefer geworden und ihr Lächeln vielleicht ein bisschen schmaler und zaghafter. Als hätte es gelernt, auch dann zu lächeln, wenn es eigentlich keinen Grund dazu gab.
Nate erhob sich von seinem Stuhl und trat zurück, sodass ihre Eltern Riley begrüßen konnten. Seine Mom küsste ihn auf die Stirn, dann trat auch sie zur Seite. Sie wuschelte Nate kurz durch die Haare und lächelte ihn an, ehe sie zurück zu ihrem Mann und seinem Sohn sah.
»… ich wusste, dass es dir gefallen würde!«, triumphierte Nates Dad. Er hielt ein Trikot von Peyton Manning in die Höhe. Nate entdeckte das Autogramm, das sich als schwarzer Schriftzug quer über den vorderen Teil des Trikots zog.
Riley brachte nicht mehr als ein schwaches Lächeln zustande. Sein Blick flog über die Schulter seines Vaters zu Nate. Er war voll ungesagter Worte. Nate sah zurück, den Blick voll ungesagter Versprechen.
* * *
Riley starb zwei Wochen später. Er wurde in seinem Peyton Manning Trikot begraben, das ihm viel, viel zu groß war.
Als Nate dabei zusah, wie sein Sarg in die Erde hinabgelassen wurde, war er nicht in der Lage, zu weinen. Er hatte seinen besten Freund, seinen Bruder, sein Vorbild verloren. Einen der besten Menschen in seinem Leben.
Er blieb zurück mit seinen Eltern, die sich vor Traurigkeit kaum aufrecht halten konnten, und er erinnerte sich an sein Versprechen.
Sie würden wieder glücklich werden.
Nate
Das Haus war okay. Es war groß, riesig, im Vergleich zu der beengten Zelle, die er sich in den vergangenen zwei Jahren mit einem Mithäftling geteilt hatte.
Er hatte bereits einmal die Toilette genutzt, und es war absolut himmlisch gewesen. Er würde noch viel öfter auf die Toilette gehen, bis er wirklich glauben konnte, dass sein Leben endlich wieder ihm allein gehörte.
Er war wieder der dreiunddreißigjährige Nathan Jenkins. Er war zurück im Spiel des Lebens. Ein verdammtes Jahr noch, dann konnte er nach Seattle zurückkehren. Er würde wieder der Liebling der Seattle Pirates werden, der Tight End, der maßgeblich daran beteiligt gewesen war, dass die Pirates den Superbowl zweimal nach Hause geholt hatten.
Er würde zurückkehren, weil er schon einmal in seinem Leben bewiesen hatte, dass man schaffen konnte, was auch immer man sich vornahm. Er würde die Bewährungsstrafe auf einer Arschbacke absitzen und schon bald stünde er wieder auf dem Spielfeld.
Easy.
Es klopfte am morschen Holz seiner Haustür und Nate öffnete. Vor ihm stand sein ehemaliger Teamkollege Austin Perkins, jetzt Foster, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Himmel, es tat so gut, ihn zu sehen.
Auch wenn Austin dem Profifootball längst den Rücken gekehrt hatte, war er für Nate noch immer ein Bindeglied zur NFL. Er hatte zwei Jahre an Austins Seite bei den Seattle Pirates gespielt. Sie waren dabei zu einem fantastischen Team zusammengewachsen, und Nate hatte ihn nach seinem Weggang aus der NFL sehr vermisst.
Es hatte jedoch nicht lange gedauert und er war Austin in die Versenkung gefolgt, nur, dass Austin sich in der Zwischenzeit ein neues Leben mit einem Mann an seiner Seite aufgebaut hatte. Austin hatte etwas aus sich gemacht, während Nate in einer Zelle in Vermont unter besonderen Sicherheitsbedingungen seine Strafe abgesessen hatte.
Nate dachte nicht weiter darüber nach, er riss die Fliegengittertür auf und fiel Austin um den Hals. Er klammerte sich für mindestens eine Minute an ihn, auch wenn das bedeutete, dass Austin ihn für den Rest seines Lebens mit dieser Geste der Zuneigung aufziehen würde.
Es war ihm vollkommen egal.
Nate seufzte, dann ließ er los. Austin grinste ihn fröhlich an, gleichzeitig lag eine Sanftheit in seinen Augen, die er dort noch nie gesehen hatte.
Seit Austin nach Crystal Lake gezogen war, hatten sie überwiegend telefonischen Kontakt miteinander gehabt. Nach seiner Verlegung in ein Gefängnis nach Vermont hatte er ihn dort sogar besucht. Austin war sein einziger Besuch an Weihnachten gewesen, was ihm viel bedeutet hatte, denn die Zeit war besonders hart gewesen.
»Sie haben dich tatsächlich gehen lassen«, sagte Austin und folgte ihm ins Innere des Hauses. »Wissen sie, was sie tun?«
Nate lachte. »Bis zum letzten Moment habe ich befürchtet, dass es sich vielleicht doch nur um einen Irrtum oder schlechten Witz handelt, doch offensichtlich wollten sie mich wirklich loswerden.«
»Kaffee im Anmarsch«, rief jemand von draußen, bevor Nate die Tür schließen konnte. Im nächsten Moment drängte sich ein Hund durch den Türspalt, den er bislang nur aus Austins Erzählungen kannte.
Der gutaussehende Typ, der dem Dalmatiner mit deutlichem Überbiss folgte und freundlich lächelte, war viel zu perfekt. Himmel, Austin, Gabe und der Hund entstammten praktisch einer Vorlage eines perfekten schwulen Pärchens.
»Ich war noch kurz im Marriotts und habe Kaffee für uns alle besorgt«, sagte Gabe und hob die Becherhalterung in die Höhe, in der drei To-Go-Becher standen, dann streckte er Nate seine Hand entgegen. »Es freut mich sehr, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen.«
Okay, das war irgendwie unangenehm.
Trotzdem erwiderte Nate Gabes festen Händedruck. Er deutete den Gang hinunter. »Ich habe nur die Möbel, die bereits hier waren, aber es gibt einen Tisch und Stühle in der Küche.«
Gabe und Austin folgten Nate durch sein mehr als spartanisch eingerichtetes Haus bis in die heruntergekommene Küche. Er besaß nicht mehr als zwei Herdplatten, hässliche, verzierte Fliesen und eine zusammengewürfelte Ansammlung aus Schränken und Kästchen.
»Setzt euch«, sagte Nate und fragte sich gleichzeitig, was Austin wohl von seiner Unterkunft halten mochte. Als sie noch zusammen gespielt hatten, hatten sie oft ihre rare Freizeit miteinander in Nates stylischem Penthouse mit Whirlpool, Breitbildfernseher und einem Billardzimmer verbracht.
Das Haus in Crystal Lake spiegelte nicht unbedingt seinen persönlichen Geschmack wieder, doch es gab ihm zumindest die Möglichkeit, ein Leben außerhalb des Gefängnisses zu beginnen. Außerdem würde er nur ein Jahr hier wohnen.
Gabe reichte ihm einen Becher Kaffee und ein paar Minuten unterhielten sie sich oberflächlich über Crystal Lake und das Wetter. Irgendwie wurde die Situation durch den Smalltalk immer unangenehmer.
»Okay. Ich habe die Unterlagen mitgebracht«, sagte Gabe schließlich und zog einen Stapel Papiere aus der Umhängetasche, die er vorhin über die Stuhllehne gehängt hatte.
»Ich hoffe, es ist okay, wenn Gabe die Sachen mit dir bespricht. Ich habe zwar einen Teil der Unterlagen durchgesehen, aber offengestanden …« Austin verstummte, zuckte mit den Schultern und räusperte sich.
Nate nickte schnell. Es war unübersehbar, dass es Austin noch immer schwerfiel, über seine Dyslexie zu sprechen, die vor etwa zwei Jahren öffentlich bekannt geworden war. Ein findiger Reporter hatte Austins medizinische Unterlagen gehackt und geleakt. Der Trubel, der daraufhin veranstaltet worden war, glich vermutlich dem, den er selbst nach seiner Verhaftung und Verurteilung erlebt hatte.
Nate hoffte, dass er erstmal vom Medientrubel verschont bleiben würde. Seine Entlassung aus dem Gefängnis hatte einer geheimen Spezialoperation geglichen. Offenbar hatten die staatlichen Organe gelernt, dass es besser war, unter dem Radar zu fliegen.
Nachdem er in Seattle fast gestorben wäre, weil feindlich gesinnte Mithäftlinge ihn mehrfach angegriffen hatten, hatte das Gericht entschieden, ihn nach Vermont zu verlegen.
Ein kleineres Gefängnis, die Entfernung zu Seattle und nicht zuletzt die Tatsache, dass er in Vermont geboren worden war, versprachen ihm eine höhere Sicherheit.
Die Presse hatte jedoch nie aufgehört, darüber zu berichten, wie der arme Footballstar im Gefängnis behandelt wurde, wie er um sein Leben fürchtete und so weiter. In Vermont war es ihm jedoch recht gut gegangen. Die Haftbedingungen waren in Ordnung und er hatte nur wenigen Kontakt zu anderen Mithäftlingen.
Die Öffentlichkeit wusste jedoch noch nichts von seiner Freilassung und das blieb hoffentlich noch eine Weile so. Er konnte gut auf neugierige Reporter, die ihn scheitern sehen wollten, verzichten.
»Klar«, sagte Nate schnell.
Austin lächelte ganz kurz, nur ein mattes Heben der Mundwinkel. Der Hund erhob sich in diesem Moment vom Boden, trat an seine Seite und stupste ihn mit der Schnauze an.
»Die Bewährungsunterlagen und -bestimmungen sind umfangreich, ebenso wie die Vorschriften, die du einhalten musst, um eine erneute Inhaftierung zu umgehen. Ich denke, du wurdest darüber in Kenntnis gesetzt«, sagte Gabe ernst.
»Ja«, erwiderte Nate und nippte an seinem Kaffee. Er fragte sich, ob die Bedingungen anderer Straftäter genauso streng waren, denn irgendwie kam es ihm vor, als würde er erneut für sein Vergehen bestraft werden, nur dass er dafür nicht in eine Gefängniszelle gesteckt wurde.
»Ein Job ist eine wichtige Bedingung, den hast du bei uns, so wie Austin und du es vereinbart habt.«
Nate runzelte die Stirn. »Und du? Was sagst du dazu, dass dein Mann einen Ex-Knacki einstellt?«
Gabe lehnte sich vor und musterte ihn ernst.
Austin legte eine Hand auf Gabes Unterarm und drückte ihn kurz. »Lass gut sein, Gabe.«
»Ich will ehrlich sein«, sagte Gabe, ohne seinen Mann zu beachten, »ich bin nicht begeistert. Austin steht erst am Anfang mit seinem Camp und deine schlechte Reputation könnte ein negatives Licht auf ihn werfen.«
Austin schnaubte. »Das hilft nicht, Gabe.«
»Es hilft, wenn wir offen und ehrlich miteinander sprechen. Ich bin einverstanden damit, dass du im Camp Foster mitarbeitest. Solltest du aber ein krummes Ding drehen oder dich nicht an die Abmachungen halten, bist du raus.«
»Ich habe nicht vor, irgendein krummes Ding zu drehen«, brummte Nate. Vermutlich musste er sich daran gewöhnen, dass er keinen Vertrauensvorschuss mehr genoss. Er war nicht mehr der gefeierte Sportstar am Zenit seiner Karriere, nur noch ein Ex-Knacki, der auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen war. Er musste sich ihr Vertrauen erst wieder verdienen.
»Das ist gut. Dann sollten wir keine Probleme miteinander bekommen. Austin und ich haben über deine Stelle gesprochen und entschieden, dass du vorerst für die Verpflegung zuständig bist.«
Nate runzelte die Stirn und sah zwischen Austin und seinem Mann hin und her. »Wie bitte?«
Austin und Gabe waren Leiter eines Sportcamps, in dem vor allem American Football trainiert wurde. Nate war ein erfahrener Tight End. Warum zur Hölle wollten die beiden ihn in die Küche stecken, wo er draußen auf dem Feld viel nützlicher für die Kinder wäre? Das ergab absolut keinen Sinn.
Gabe ordnete die Unterlagen, dann sah er ihn wieder an. Himmel, dieser Mann konnte einen aber auch in Grund und Boden starren, das war ja richtig unheimlich. Wäre er an Austins Stelle, hätte er wohl die ganze Zeit Angst vor ihm. Allerdings sprachen die verliebten Blicke, mit denen Austin ihn permanent bedachte, eine ganz andere Sprache.
»Uns ist sehr wohl bewusst, dass du umfangreiche Erfahrung im Bereich American Football hast und auch eine große Unterstützung für Austin sein kannst, doch wie ich vorhin schon aufgeführt habe, stehen wir noch ganz am Anfang. Wir sind darauf angewiesen, dass Eltern uns ihre Kinder anvertrauen. Dieses Vertrauen könnte beeinträchtigt werden, wenn sie mitbekommen, dass ein ehemaliger Strafgefangener ihre Kinder betreut.«
»Aber …«
Gabe hob autoritär eine Hand, doch Austin umfasste sie und zog sie nach unten.
»Nate, ich kann dich nicht mit den Kindern arbeiten lassen. Der Ruf meines Camps wäre dahin, außerdem ist noch nicht mal bekannt geworden, dass du entlassen wurdest. Diesen Aufruhr kann ich wirklich nicht gebrauchen«, sagte Austin seufzend.
Nate starrte seinen Freund an. Den Mann, der noch nie vor etwas Angst gehabt hatte und auf alle Konventionen schiss. Der Mann, der sich jahrelang gegen homophobe Arschlöcher im Profisport durchgesetzt hatte, indem er einfach nur sein Leben lebte.
»Du willst mich in die Küche sperren?«
»Vorerst«, betonte Austin. »Ich würde mich freuen, wenn wir zusammen auf dem Feld arbeiten, aber erstmal kochst du für uns. Wir werden die Situation regelmäßig evaluieren und deinen Aufgabenbereich nach und nach erweitern.«
»Scheiße, Austin!«, zischte Nate. Er konnte nicht glauben, was die beiden von ihm verlangten. »Hätte ich gewusst, dass du mich in der Küche parkst, hätte ich den Job niemals angenommen!«
»Du bist mein Freund, Nate, und ich will dir helfen. Aber im Moment geht es nur zu diesen Bedingungen.«
Nate schob den Kaffeebecher von sich und starrte gedankenverloren auf die zerkratzte Tischplatte. Seine Bewährungsbestimmungen beinhalteten unter anderem die Regel, dass er während eines Jahres nach Entlassung aus der Haft, den Bundesstaat Vermont nicht verlassen durfte.
Selbst wenn er seine Haft in einem Gefängnis in Seattle hinter sich gebracht hätte, wäre eine Rückkehr zu den Seattle Pirates unmöglich gewesen, da es während der Saison vollkommen normal war, quer durch große Teile des Landes zu reisen.
Und da er nicht tun durfte, worin er gut war, nämlich Football zu spielen, war es ihm auch nicht so schlimm erschienen, in Vermont zu sitzen. Die Aussicht, in Austins Camp kleinen Kindern den Sport näherzubringen, war okay gewesen. Eine Zwischenlösung.
Es war immer noch besser, in einem fremden Ort zu leben, wo man wenigstens jemanden kannte, als vollkommen allein in ein neues Leben zu starten. Doch irgendwie bekam sein grandioser Plan – oder zumindest die Vorstellung davon – gerade tiefe Risse.
»Das hier ist dein Arbeitsvertrag«, sagte Gabe und schob ihm ein Stück Papier entgegen. »Lies ihn durch und unterschreib ihn, wenn du damit einverstanden bist.«
»Hast du einen Stift?«, fragte Nate heiser. Er ballte eine Hand zur Faust, öffnete sie aber gleich wieder. Gewalt war keine Lösung.
»Vielleicht solltest du eine Nacht darüber schlafen«, gab Gabe zu bedenken.
»Ich brauche den Job. Ohne ihn wandere ich zurück ins Gefängnis. Was auch immer du mir hinhältst, ich unterschreibe es. Werde ich auch für die Reinigung der Toiletten zuständig sein?«
»Himmel, Nate, flipp nicht gleich aus. Wir wollen nur einfach nichts falsch machen«, warf Austin ein.
Nate ignorierte ihn, schnappte sich den Stift, den Gabe ihm hinhielt und setzte seine Unterschrift auf die entsprechende Linie, dann schob er den Zettel zurück zu ihm. »Sind wir dann fertig?«
Austin starrte ihn einen Augenblick an, dann erhob er sich abrupt. »Dein erster Arbeitstag beginnt übermorgen um sechs Uhr. Komm nicht zu spät.« Er verließ die Küche ohne ein weiteres Wort.
Gabe erhob sich ebenfalls und sah ihn an. »Wir wollen dir wirklich helfen.«
»Hab ich schon verstanden. Wir sehen uns übermorgen«, brummte Nate und schob die Hände frustriert in die Hosentaschen.
Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloss und Nate blieb zurück, in seiner neugewonnenen Freiheit, die plötzlich einen schalen Beigeschmack bekommen hatte.
Nate
Ein alkoholfreies Bier war einfach nicht das Gleiche. Es war keine Belohnung nach einem Tag harter Arbeit, obwohl er wusste, dass er gegenüber anderen Menschen noch immer privilegiert war. Er hatte vielleicht gerade eben erst das Gefängnis verlassen, aber er besaß schon ein Auto, das Henry Danish, sein Agent, ihm freundlicherweise organisiert hatte, genauso wie das Haus, für das er heute ein paar Möbel gekauft hatte.
Ein Teil würde erst in den nächsten Tagen geliefert werden. Den anderen Teil hatte er direkt aus dem Laden mitgenommen und auch schon teilweise zusammengebaut. Zum Beispiel eine Kommode, in der er seine Kleidung aufbewahren würde. Einen Badezimmerschrank, zwei Nachttische und neue Stühle für die Küche.
Danach hatte er einen einstündigen Lauf durch die umliegenden Wälder gemacht und dabei festgestellt, dass das stete Training im Gefängnis ihm gut getan hatte. Wenn er jetzt fleißig trainierte, würde er schnell wieder in die perfekte Form kommen, um weiter in der NFL zu spielen.
Und jetzt saß er hier, auf seiner Veranda, trank sein alkoholfreies Bier und konnte kaum glauben, wie unfassbar gut es sich anfühlte, wieder in Freiheit zu sein. Er konnte einkaufen wie jeder andere Mensch, Sport machen, kochen und essen, wann immer er Lust hatte.
Heute hatte er sich Hühnchen mit Brokkoli und Reis gemacht. Das ziemlich beste Hühnchen mit Reis, das man so im Umkreis von eintausend Meilen essen konnte, wohlgemerkt.
Nein, so schlecht war das Bier gar nicht.
Noch immer nagte die Aussicht auf seinen neuen Job an ihm. Er wusste nicht mal wirklich warum, denn er kochte gern, das war keine richtige Strafe für ihn. Außerdem wollten Austin und Gabe ihn auch nicht bestrafen. Sie vertrauten ihm nicht. Sie trauten ihm nicht zu, dass er hier draußen klar kam, und das machte ihn irgendwie wütend.
Andererseits musste er nur ein Jahr warten, ehe er wieder bei den Seattle Pirates starten konnte. Zwölf Monate. Sein Vertrag war nicht ausgelaufen, er lag nur auf Eis, das hatte das Management der Pirates ihm versichert. Wenn er also die Bewährungszeit hinter sich gebracht hatte, konnte er ohne Probleme in die NFL zurückkehren.
Gleich morgen würde er Coach Callahan anrufen, ihn über seine Pläne informieren und ihn darum bitten, ein gutes Wort bei der Geschäftsleitung für ihn einzulegen.
Er würde allen beweisen, dass er nicht mehr der gleiche Mensch war wie noch vor zwei Jahren. Dass er dazugelernt hatte, erwachsen geworden war.
Er würde seinen Dad wieder stolz machen.
Und weil Nate den längst überfälligen Anruf, den er schon den ganzen Tag vor sich herschob, nicht länger hinauszögern wollte, wählte er die Nummer seines Vaters. Er musste eine Weile warten, bis der Anruf entgegengenommen wurde.
»Nate?«
Nate räusperte sich. Wie immer fühlte es sich ein wenig komisch an, mit seinem Vater zu telefonieren. Sie beide hatten sich eigentlich nicht viel zu sagen, abseits vom Football vielleicht. Er versuchte nachzurechnen, wann sie zuletzt voneinander gehört hatten. Auf seine Briefe bekam er nur selten eine Antwort, und sein letzter Anruf aus dem Gefängnis, den sein Dad nicht angenommen hatte, musste schon einige Wochen zurückliegen.
»Hallo, Dad«, sagte er befangen.
»Von welcher Nummer rufst du mich an?«
Nate schluckte. »Ich wurde vorgestern entlassen.«
Sein Vater schwieg einen Moment, dann sagte er: »Verstehe. Wo bist du jetzt?«
»Bei einem Freund. In Crystal Lake. Er hat mir einen Job angeboten in einem Sommercamp. Dort werde ich die Kids trainieren.« Das war vielleicht eine kleine Lüge, doch er wollte seinem Vater zeigen, dass er kein Verlierer war. Er bekam sein Leben wieder in den Griff.
»Du wirst also nicht mehr spielen?«, fragte sein Vater tonlos.
»Doch. Werde ich. Sobald meine Bewährungszeit abgelaufen ist, kehre ich in die NFL zurück. Henry verhandelt bereits mit den Pirates.«
»Verstehe«, sagte sein Vater wieder. Die Enttäuschung in seiner Stimme hätte Nate auch noch wahrgenommen, wenn er am Nordpol auf einer einsamen Eisscholle gesessen hätte.
Nate fragte sich manchmal, ob die Zeit im Gefängnis anders gelaufen wäre, wenn seine Mutter noch leben würde. Hätte sie sich bei ihm gemeldet? Auf seine Briefe geantwortet? Seine Anrufe entgegengenommen, ihm gesagt, dass sie ihn auch jetzt noch liebte, wo er wirklich richtig große Scheiße gebaut hatte?
Er wusste es nicht, aber er stellte es sich gern vor.
»Ich muss jetzt los«, sagte sein Vater in das entstandene Schweigen hinein.
Wenn es keine Tabellen zu analysieren oder Spiele zu besprechen gab, herrschte erstaunlich viel Wortlosigkeit zwischen ihnen. Sie waren wie zwei verschiedene Kontinente mit zwei verschiedenen Sprachen. Es gab nur ein paar Worte, die sich glichen und für ein klein wenig Verständnis zwischen ihnen sorgten.
»Okay. Hab noch einen schönen Abend«, sagte Nate leise. Das Klicken in der Leitung, als sein Vater den Anruf unterbrach, war ohrenbetäubend.
Nate ließ sein Telefon sinken und starrte in die Dunkelheit seines verwilderten Gartens. Nur eine dünne Holzwand mit einigen fehlenden Holzplanken zu seiner Rechten trennte sein Grundstück von dem seines Nachbarn. Durch den Spalt entdeckte er eine Schaukel, weshalb er davon ausging, dass dort drüben eine Familie wohnte.
Er nahm noch einen Schluck. Vielleicht würde er im kommenden Jahr den Garten herrichten. Das Unkraut entfernen, Büsche und Bäume zurückschneiden. Er könnte eine Hollywoodschaukel im hinteren Teil des Gartens aufstellen, oder eine Feuerstelle errichten. Die Idee gefiel ihm, gab seinem Leben Normalität.
Nate seufzte, weil nicht mal die Aussicht auf ein Feuer seine trüben Gedanken verscheuchen konnte. Er hatte sich seine Entlassung aus dem Gefängnis glorreicher vorgestellt. Er fühlte sich nicht anders, er war nur umgezogen und das war frustrierend.
Im Gefängnis hatte er von neuen Chancen und Herausforderungen geträumt, aber irgendwie fühlte sich die neue Freiheit nur nach einem weiteren Gefängnis an.
Ein Geräusch vom Zaun her ließ ihn aufsehen. Er richtete sich etwas auf, und die Bewegung reichte aus, um die Holzplanken unter ihm quietschen zu lassen. Das Holz war alt, man müsste es ersetzen und neu streichen. Das gesamte Haus. Doch Crystal Lake war nur eine Übergangslösung, Standby, bis er sein altes Leben zurückbekam. Keine Hollywoodschaukel, keine Feuerstelle.
Wieder hörte er ein Rascheln, und dieses Mal folgte dem Geräusch ein kleiner Körper, der sich geduckt durch das hohe Gras bewegte.
»Hey!«, sagte Nate mit lauter Stimme. Offenbar hatten die Paparazzi ihn doch noch aufgespürt. Sollte auch nur einer dieser Schwanzlutscher sein Grundstück betreten, würde er eine Reihe von Bodyguards engagieren. Er durfte sich auf keine Streitigkeiten einlassen, aber würde verdammt sein, wenn er von diesen Idioten sogar in Crystal Lake verfolgt wurde.
»Hallo«, sagte ein dünnes Stimmchen, das nicht nach einem erwachsenen Mann klang, der nicht wusste, was Grenzen bedeuteten.
Die Gestalt richtete sich auf, Nate schaltete die Taschenlampe an seinem nagelneuen Handy ein und beleuchtete den Jungen. Er war nicht gut darin, das Alter von Kindern zu schätzen, weil er zu wenige Berührungspunkte mit ihnen hatte, aber er schien ihm alt genug zu sein, um selbständig auf die Toilette gehen zu können. Aber noch nicht alt genug, um nachts um zehn Uhr allein durch die Gegend zu stromern.
»Was willst du hier?«, fragte Nate. Na gut, er blaffte ihn vielleicht ein bisschen an. Er wollte seine Ruhe und sich jetzt nicht darum kümmern, dass er zurück zu seinen verantwortungslosen Eltern kam, die es nicht schafften, ihn anständig zu beaufsichtigen. »Es ist spät. Ich glaube, du solltest schon im Bett liegen.«
Der Junge schien unter seinen Worten zusammenzuschrumpfen. Er war irgendwie klein und furchtbar mager. Seine Haare besaßen einen merkwürdigen Schnitt. Als hätte er selbst mit einer Schere darin herumgewütet.
»Ich suche Brian«, sagte der Junge jetzt. Als wollte er ihm die Stirn bieten, reckte er das Kinn in die Höhe.
Nate runzelte die Stirn. »Brian? Ich habe niemanden gesehen.« Gott bewahre, er wollte nicht noch mehr Kinder hier haben! Wo kamen die alle her? Und warum kümmerte sich niemand um sie?
»Er ist aus seinem Käfig ausgebrochen. Das Gras auf dieser Seite ist perfekt, damit er sich darin verstecken kann.«
Nate blinzelte, stellte sein Bier zur Seite und erhob sich langsam. »Warum sollte er sich verstecken müssen?«, fragte Nate vorsichtig. Das klang doch ein wenig zu sehr nach Seifenoper. Da saß er, der Ex-Knacki, und wurde bereits an seinem zweiten Tag in Freiheit mit einem Kind konfrontiert, das offenbar weggelaufen war. Und dieses Kind war auf der Suche nach einem anderen Kind, das in einem Käfig gelebt hatte?
Das war doch einfach gruselig!
»Na ja, er mag es nicht besonders, eingesperrt zu sein. Er ist lieber draußen im Garten und frisst dort Gras, aber Dad will, dass er in der Nacht drinnen ist.«
»Drinnen in einem Käfig?«
»Ja.«
»Er isst Gras?« Nate wurde so langsam schwindelig. Es kam ihm vor, als säße er auf einem dieser Karussells auf Schaukeln, die sich viel zu schnell im Kreis drehten. Er war echt kein Typ für Achterbahnen.
»Er isst auch Löwenzahn und Disteln. Und Klee hat er gern, aber auf unserer Seite gibt es keinen mehr, weil er schon alles gefressen hat. Aber auf Ihrer Seite schon. Deshalb ist er bestimmt hierhergekommen.«
»Um Klee zu essen?«, krächzte Nate.
»Ja. Er ist echt verfressen und eigentlich viel zu langsam. Aber heute war er schnell genug. Ich habe nicht gut aufgepasst. Dad wird echt wütend werden.« Der Junge klang verzagt.
War er der Gefängniswärter für seinen eigenen Bruder?
Nate räusperte sich. »Okay, also … wir könnten Brian suchen«, schlug er dann vor. Und dann würde er die beiden in seinem Auto direkt zur nächsten Polizeistation bringen, so viel war sicher.
»Cool«, sagte der Junge und bückte sich wieder. Nate folgte ihm seufzend und sah dabei zu, wie der Junge gefühlt jeden Grashalm zur Seite schob.
»Wie heißt du?«
»Cody«, sagte der Junge, ohne ihn anzusehen.
»Cody und Brian«, murmelte Nate vor sich hin. Das klang verdammt unschuldig. Himmel, er wohnte neben einem Psychopathen, der seine Kinder hungern ließ und mindestens eines von ihnen in einen Käfig sperrte.
»Cody!«, erklang jetzt eine kräftige Stimme aus einiger Entfernung. Ein Mann. Der Vater? Der Psychopathen-Vater? »Cody! Wo zur Hölle bist du?«
»Das ist Dad«, wisperte Cody. »Er ist wütend.«
»Hab keine Angst«, sagte Nate und schob den Jungen hinter sich, während die Schritte des Mannes näherkamen.
Eine große Gestalt schob sich durch den Zaun. »Cody, was … gehen Sie weg von meinem Jungen!«
»Den Teufel werde ich tun! Legen Sie sich bloß nicht mit mir an«, zischte Nate. Auch während seines Gefängnisaufenthaltes hatte er immer trainiert, und auch wenn der Mann vor ihm in guter Form war, Nate würde ihn zerquetschen, wenn er dem Jungen auch nur ein Haar krümmte.
»Lassen Sie meinen Sohn los«, wiederholte der Mann. Seine Lippen bewegten sich beim Sprechen kaum und einen kurzen Moment zuckte seine Hand in Richtung Hüfte. Wollte der Kerl eine Waffe ziehen?
»Sie entfernen sich jetzt augenblicklich von meinem Grundstück. Sobald wir Brian gefunden haben, werde ich Cody und ihn zur Polizei bringen. Die Sache ist zu Ende.«
Der andere Mann blinzelte irritiert. »Wie bitte?«
»Sie haben schon richtig gehört«, fuhr Nate fort. »Sie werden sich für alle Ihre Taten vor Gericht verantworten müssen. Und bei Gott, sie werden die Jungen nicht mehr in die Finger bekommen, das schwöre ich Ihnen.«
»Aber …« Der Mann hob eine Hand, die er dann wieder sinken ließ. »Die Jungen?«, fragte er dann irritiert. »Wovon spricht er, Cody?«
Der Junge trat todesmutig an Nates Seite. Er legte eine Hand auf seine Schulter. Er würde nicht weggehen.
»Äh … ich suche eigentlich nur Brian.«
»Das Kind, das Sie in einem Käfig eingesperrt haben. Das Kind, das Gras und Klee essen muss wie ein verdammtes Tier! Tun Sie bloß nicht so unschuldig.«
Sein Gegenüber räusperte sich wieder, nur dass es jetzt so klang, als müsse er ein Lachen unterdrücken. Austin hätte ihm sagen müssen, dass er in eine Stadt mit Psychopathen gezogen war. Scheinbar war ihre Freundschaft nicht mehr viel wert.
»Weiß er, dass Brian eine Schildkröte ist?«, fragte der Mann Cody.
Eine Schildkröte?
Eine Schildkröte???
Nate sah auf Cody hinunter, der mit der Schulter zuckte. »Ich dachte, er wüsste das.«
»Zum Teufel, natürlich weiß ich es nicht! Woher sollte ich das denn bitte wissen?«
»Sie dachten wirklich, ich würde mein Kind in einen Käfig sperren?«
Hatte der Kerl gerade gegluckst?
»Es gibt überall verrückte Leute«, verteidigte sich Nate, dann musterte er Cody aufmerksam. »Brian ist wirklich eine Schildkröte?«
»Ja. Eine ganz kleine.«
»Und er bricht ständig aus, egal wie sicher ich seinen Käfig mache.« Der Mann betrachtete seinen Sohn, der unter seinem Blick zu schrumpfen schien, dann sah er wieder Nate an. »Vielleicht wird er auch einfach freigelassen. So genau kann ich es nicht sagen«, sagte er dann mit ruhiger Stimme. Er zog eine Taschenlampe hervor und reichte sie seinem Sohn. »Hier. Damit wirst du ihn bestimmt schnell finden.«
Cody nahm die Lampe und machte sich auf den Weg ins Dickicht, das sich sein Garten nannte. Nate schaltete sein Handy aus und steckte es in die Hosentasche.
»Tut mir leid, dass mein Sohn Sie gestört hat.«
»Hat er nicht. Mein Bier und ich waren zwar gerade in eine sehr wichtige Unterhaltung vertieft, aber das ist schon okay.«
Die Augen des Mannes verzogen sich zu schmalen Schlitzen. »Sie trinken Alkohol und verstoßen damit gegen Ihre Bewährungsauflagen?«
Nate riss die Augen auf. »Woher wollen Sie …«
»Ich bin Quentin Simmons, der Polizeichef von Crystal Lake und damit sehr genau über Ihre Bewährungsauflagen im Bilde.«
»Sie …«
»Sie verstoßen dagegen! Am zweiten Tag nach Ihrer Entlassung. Haben Sie denn gar nichts gelernt?«
»Wenigstens halte ich mein Kind nicht in einem Käfig!«, schoss Nate zurück.
Quentin gab ein undefinierbares Geräusch von sich. »Ich habe nicht …«
Nate winkte ab. »Wie auch immer. Es ist alkoholfrei, klar?« Verärgert stapfte er zur Veranda, schnappte sich die Flasche und hielt sie dem unsympathischsten Nachbarn aller Zeiten entgegen. »Sehen Sie? Alkoholfrei. Ich könnte allerdings auch das echte Etikett abgezogen und es durch ein gefälschtes ersetzt haben. Dafür müsste ich mir in den letzten zwei Tagen nicht nur eine komplette Technikausrüstung gekauft, sondern auch noch das Design der Brauerei nachgebildet haben. Das wäre vielleicht auch noch Urkundenfälschung, oder? Was meinen Sie?«
Nate schwenkte die Flasche vor Quentins Augen hin und her. Er konnte nicht glauben, dass er ausgerechnet in einem Haus neben einem Polizisten lebte. Austin und Gabe hätten ihn auch vorwarnen können.
»Schon gut!«, zischte der Polizist.
»Werden Sie jetzt jeden Tag Ihren Sohn als Vorwand rüberschicken, um mich zu kontrollieren?«, fragte Nate. Darauf konnte er nämlich echt verzichten.
»Da ist er!«, rief Cody plötzlich und hechtete ins Gras. Als er wieder aufstand, hielt er einen dunklen Schatten in der Hand, der sich wirklich als Schildkröte entpuppte. Bis zum Schluss hatte Nate noch an der Geschichte gezweifelt. Aber da war sie, die Schildkröte namens Brian. Er bewegte seine vier Beine schwerfällig hin und her.
»Ich bringe ihn zu Sarah«, rief Cody und rannte keuchend davon.
»Sarah ist nicht Ihre Tochter, die Sie als Küchenmagd Linsen sortieren lassen, sondern …«
Quentin seufzte. »… die andere Schildkröte.«
»Sie müssen damit aufhören, Tieren Menschennamen zu geben.«
»Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen«, erwiderte Simmons.
»Okay. Dann, also … danke für den Schrecken am Abend.«
»Also …« Plötzlich wirkte der Cop irgendwie verlegen, obwohl er gar nicht wie der verlegene Typ rüberkam. »Die Störung tut mir leid.«
»Und natürlich auch die falsche Anschuldigung, oder?«, hakte Nate nach.
»Es ist mein Job.«
»Sie tragen keine Uniform und auch keine Waffe – hoffe ich.«
»Natürlich nicht!«
»Gut. Dann gehen mein alkoholfreies Bier und ich jetzt zurück in unser Haus, aus dem wir vielleicht bald schon wieder ausziehen werden, weil wir nicht neben einem neugierigen Cop wohnen wollen, der sich in alles einmischt.