Tove Ditlevsen - Jens Andersen - E-Book

Tove Ditlevsen E-Book

Jens Andersen

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Beschreibung

Ein Must-read für alle Tove-Ditlevsen-Fans.

Die erste Biographie über die Autorin der »Kopenhagen-Trilogie«, von Bestseller-Autor Jens Andersen.

Jens Andersen erzählt in dieser Biographie aus Tove Ditlevsens Leben, von dem unwahrscheinlichen Weg, den sie als Schriftstellerin gegangen ist, ihrem turbulenten Werdegang mit allen Höhen und Tiefen, ihrem Leben als Frau, Mutter und Künstlerin. Tove Ditlevsen schrieb Autofiktion, lange bevor das Wort erfunden wurde, und setzte sich und ihre Beziehungen kompromisslos in ihrer Literatur ein. Sie hatte eine paradoxe Sehnsucht nach einem geordneten bürgerlichen Familienleben, schaffte es aber nie, sich darin einzurichten. Zugleich schrieb sie gerade dann, wenn das Familienleben kompliziert wurde, ihre besten Texte. Sie liebte es, aufzutreten, und hatte einen überbordenden Humor und Sinn für Komik. In dieser Biographie werden die außergewöhnliche, lebenshungrige Seite ihrer Persönlichkeit, ihr zügelloser Freisinn und die radikale Modernität ihres Schreibens zum ersten Mal beleuchtet.

»Ein reiches, gelungenes Porträt, das neues Licht auf Tove Ditlevsen als Autorin, Phänomen und Mensch wirft.« Kristeligt Dagblad.

»Es ist fast unheimlich, wie verdichtet die dänische Schriftstellerin menschliche Seelenlandschaften zu vermessen imstande war.« taz.

»Eine monumentale Autorin.« Patti Smith.

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Seitenzahl: 251

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Über das Buch

Jens Andersen erzählt in dieser Biographie aus Tove Ditlevsens Leben, von dem unwahrscheinlichen Weg, den sie als Schriftstellerin gegangen ist, ihrem turbulenten Werdegang mit allen Höhen und Tiefen, ihrem Leben als Frau, Künstlerin und Mutter. Tove Ditlevsen schrieb Autofiktion, lange bevor das Wort erfunden wurde, und setzte sich und ihre Beziehungen kompromisslos in ihrer Literatur ein. Sie hatte eine paradoxe Sehnsucht nach einem geordneten bürgerlichen Familienleben, richtete sich darin aber nie ein. Gerade dann, wenn das Leben kompliziert wurde, schrieb sie ihre besten Texte und nahm viele Themen vorweg, die uns noch heute beschäftigen. Sie liebte es, aufzutreten, und hatte einen überbordenden Humor und Sinn für Komik. So schrieb sie Jahre vor ihrem Tod einen Nachruf auf sich selbst und schaltete auf der Suche nach einem Mann eine Kontaktanzeige in einer großen dänischen Zeitung.

In dieser Biographie werden die außergewöhnliche, lebenshungrige Seite ihrer Persönlichkeit, ihr zügelloser Freisinn und die radikale Modernität ihres Schreibens zum ersten Mal beleuchtet.

Über Jens Andersen

Jens Andersen hat sein Studium der Nordistik an der Universität von Kopenhagen mit einer Promotion abgeschlossen und arbeitete viele Jahre als Literaturkritiker für große dänische Zeitungen. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat er sich einen Namen gemacht als einer der besten internationalen Biographen von Autorinnen und Autoren wie Astrid Lindgren und Hans Christian Andersen. Seine Bücher werden in über zwanzig Sprachen veröffentlicht. Er lebt in Kopenhagen. 

Ulrich Sonnenberg lebt als freier Übersetzer und Herausgeber aus dem Dänischen und Norwegischen in Frankfurt am Main. Er übersetzte u. a. Jens Andersens Bücher über Astrid Lindgren und Hans Christian Andersen. 2013 erhielt er den Übersetzerpreis des Staatlichen Dänischen Kunstrats.

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Jens Andersen

Tove Ditlevsen

Ihr Leben

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Nachwort

Quellen

Erläuterungen

Impressum

»Ich wollte alles, ich wollte einen Mann, ein Zuhause und Kinder, ich wollte auch schreiben, und ich wollte noch sehr viel mehr – ich wollte absolut nichts verpassen. Aber man kann ja niemanden besitzen, doch – eine Tasse, aber keinen Menschen.«

Tove Ditlevsen, 1973

Vorwort

1997 veröffentlichte ich Til døden os skiller. En portræt af Tove Ditlevsen (Bis dass der Tod uns scheidet. Ein Porträt von Tove Ditlevsen), allerdings wollte ich schon lange eine neue, zeitgemäßere Biographie über eine der großen Persönlichkeiten der dänischen Literatur schreiben. Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, und junge, engagierte Leserinnen und Leser sind dazugekommen. Der Blick auf Ditlevsens Bücher und ihre Rolle als Frau und Künstlerin hat sich entscheidend verändert. Auch ich habe mich verändert, als Leser wie als Autor.

Meine Faszination für Tove Ditlevsens Werk geht zurück auf das Ende der 1970er, auf ein paar Jahre mit Liebeswirren nach dem Gymnasium, in denen ich Halt in der Literatur suchte und mich von Ditlevsens frühen Romanen und Gedichten begeistern ließ. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich, wie tief Lyrik und Prosa einen Menschen ergreifen und Worte für etwas finden können, das sich mit der alltäglichen Sprache nur schwer ausdrücken lässt.

Tove Ditlevsen war daher mit ein Grund, dass ich in den 1980er Jahren anfing, an der Kopenhagener Universität Dänisch zu studieren. Wir analysierten unglaublich viele Texte ganz unterschiedlicher dänischer Autoren, allerdings niemals auch nur ein einziges Gedicht oder eine einzige Erzählung von Tove Ditlevsen. Sie hatte man zusammen mit anderen Schriftstellerinnen, die »nabelbeschauende und selbstzentrierte« Bekenntnisliteratur schrieben, vom Lehrplan verbannt.

Dass Ditlevsen in den letzten Jahren einen internationalen Durchbruch mit der Kopenhagen-Trilogie erlebte, die aus den drei Erinnerungsbüchern Kindheit, Jugend und Abhängigkeit besteht, gehört zu den wunderbarsten Ereignissen der neueren dänischen Literaturgeschichte. Eigentlich müsste sie in ihrem bescheidenen Grab auf dem Vestre Kirkegård vor Stolz rotieren.

Es scheinen geradezu Lichtjahre vergangen, seit der Vorsitzende des zuständigen staatlichen Ausschusses gebeten wurde zu erklären, warum Martin Andersen Nexø statt Tove Ditlevsen in den obligatorischen Literatur-Kanon für die dänischen Grundschulen und die Gymnasien aufgenommen wurde. Man schrieb das Jahr 2004, und die Antwort lautete damals, es wäre eine Frage des Renommees: »Nexø ist der weitaus größere Schriftsteller. Er ist weltweit bekannt. Tove Ditlevsen ist eine dänische Autorin, die man in der Schule erwähnen kann.«

2022 hat sich die Situation noch immer nicht verändert, wenn es um die weibliche Repräsentanz im dänischen Literatur-Kanon geht, obwohl in Dänemark und international Ditlevsen gelesen und diskutiert wird, nicht Nexø. Die drei Erinnerungsbücher sind in den vergangenen Jahren in mehr als dreißig Ländern erschienen, und 2021 stand The Copenhagen Trilogy in der New York Times auf der Liste der zehn besten Veröffentlichungen des Jahres.

Diese explosive Begeisterung für Ditlevsens Werk liegt an der unbestreitbaren literarischen Qualität der Bücher, sie hängt aber auch damit zusammen, dass die geschlechtspolitische Agenda in der westlichen Hemisphäre in den letzten zehn, zwanzig Jahren einen großen Schritt vorangekommen ist. Die Diskussion und der Kampf um Gleichberechtigung haben seit den 2000er Jahren Einzug in die sozialen Medien gehalten und den Debatten um Geschlechterquoten, Lohngerechtigkeit, Elternzeit und Carearbeit, Sexarbeit, sexuelles Einverständnis, LGBTQIA+ und #MeToo einen notwendigen Schub gegeben. Sie haben dazu geführt, dass heute über Themen und Tabus im Zusammenhang mit Geschlecht und Gleichberechtigung gesprochen wird.

In Dänemark wurde Ditlevsen zu einer Quelle feministischer Inspiration. Sehr viele Schriftstellerinnen haben im vergangenen Jahrzehnt Bücher veröffentlicht, in denen Sex, Begierde, Geschlecht und Körperlichkeit thematisiert werden. Und zwar in radikalen Formen und einer deutlichen Sprache, die man so seit Tove Ditlevsens Tagen nicht mehr gelesen hat. Hier wird mit schwarzem Humor und einem Sarkasmus gearbeitet, der sich im gleichen Spannungsfeld zwischen Ironie und Ehrlichkeit bewegt wie Ditlevsens Texte in den 1960er und 1970er Jahren.

In dieser Welle feministischen Schreibens in der neueren dänischen Literatur werden viele Themen angesprochen, denen man bereits im Werk von Tove Ditlevsen begegnet. Nicht zuletzt in der konsequenten Art, mit der sie sich selbst in ihr Werk einbezieht ‒ heute nennen wir es Autofiktion. In ihrer Prosa, ihrer Lyrik und ihren journalistischen Texten spielte sie mit der Vorstellung ihrer Leserinnen und Leser von der Identität der Autorin.

Ich denke dabei an Ditlevsens Dekonstruktionen von Zweierbeziehungen, Mutterschaft und dem bürgerlichen Familienleben. Außerdem rückte sie bereits damals kontroverse Themen in den Mittelpunkt, die von der heutigen Gegenwartsliteratur Dänemarks mit größter Selbstverständlichkeit aufgegriffen werden: Bipolarität, Borderline, Angst, Depression, Missbrauch, Selbstmord und weibliche Lust.

Auch das moderne Rollenverständnis von Künstlerinnen scheint durch Tove Ditlevsens Leben und Werk inspiriert worden zu sein. Die ungeschliffene und rohe Art und Weise, mit der sie es wagte, sich selbst zu inszenieren, war unerhört für Frauen in den 1960er und 1970er Jahren, während Offenheit à la Ditlevsen heute nicht mehr als abstoßend empfunden wird. Im Gegenteil.

Tove Ditlevsen hatte niemals Angst, sich zu entblößen, weder in ihrem Werk noch in ihrem Leben. Sie war eine Modernistin, die die damaligen Modernisten an die Wand spielte, aber sie bezahlte für die Auslieferung ihrer eigenen Person auch den höchsten Preis.

Ich bewundere sie für ihren Mut, ihren zügellosen Freisinn und für ein reiches Werk, in das man immer wieder neue Wege findet. Auch in fünfundzwanzig Jahren.

Jens Andersen,

im Juni 2022

1

Tove Ditlevsen ging verschwenderisch mit sich um und schrieb, ohne vor irgendetwas zurückzuweichen. Sie debütierte als Einundzwanzigjährige und beherrschte von Anfang an so unterschiedliche Genres wie Lyrik, Prosa und journalistisches Schreiben. Insgesamt dreißig Bücher lagen vor, als sie ihrem Leben 1976 einen dramatischen Schlusspunkt setzte.

Am Montag, dem 8. März 1976, wussten dänische Zeitungen in großen Schlagzeilen zu berichten, dass die achtundfünfzigjährige Schriftstellerin in der Wohnung einer verreisten Freundin im Zentrum Kopenhagens tot aufgefunden worden war. Den Umständen nach zu urteilen, hatte sie bereits mehrere Tage in der Wohnung gelegen. »Tove Ditlevsen wollte nicht mehr«, hieß es. Die Autorin hatte alles erlebt, was sie sich hatte wünschen können, und noch erheblich mehr, worauf andere Menschen vermutlich gern verzichtet hätten.

Eine Boulevardzeitung ging in ihrem Artikel so weit, die Dänische Akademie für Tove Ditlevsens Tod verantwortlich zu machen. Aus Kummer darüber, dass sie nie mit dem großen Literaturpreis der Akademie ausgezeichnet worden war und man ihr auch nie die Mitgliedschaft der Akademie angeboten hatte – einen Platz unter den besten und anerkanntesten Schriftstellern Dänemarks –, hätte Ditlevsen entschieden, sich das Leben zu nehmen, hieß es in dem Artikel. Ditlevsen selbst kommentierte es folgendermaßen:

»Ihr Tod ist ein großer Verlust für die dänische Literatur, und man muss sich darüber wundern, dass man dieser genialen Frau nie den Großen Preis der Akademie verliehen hat oder sie Mitglied dieser illustren Versammlung wurde. T. D. liebte es, mit ganz gewöhnlichen Menschen zu verkehren, im Krankenhaus war ihre Lieblingsbeschäftigung, mit ganz normalen Kassenpatienten Rommé zu spielen. Auf Nachfrage erklärte die Krankenschwester der Station, Fräulein Espenlaub: ›Sie war die bescheidenste und anspruchsloseste Patientin, die wir je hatten. Nachdem wir ihr eine neue Matratze, Gardinen in ihrer Lieblingsfarbe und etwas Kunst an den Wänden beschafft hatten, beklagte sie sich nie über irgendetwas.‹ Wir fragten auch ihren letzten, noch lebenden Ehemann – den alten Redakteur –, welche Gefühle er mit ihrem Tod verbindet. Erst klang es wie ein Gurgeln im Telefon, dann kam mit belegter Stimme: ›Die Rührung hat mich in einem Maße übermannt, dass es mir schwerfällt, Worte zu finden. Ich will nur in aller Kürze sagen, dass dieser Schicksalsschlag mich vollkommen aus der Bahn geworfen hat, und dass Ekstra Bladet[1]  nie wieder das sein wird, was es einmal gewesen ist.‹ Es ist Frühjahr, aber ein Schleier der Melancholie liegt über all den zum Blühen bereiten Knospen, denn die größte Dichterin des Nordens – nach Elsa Gress – wird nicht mehr sehen, wie sie aufblühen.«

Die Sätze stehen in einem Nachruf, den Tove Ditlevsen 1972 auf sich selbst verfasste und zunächst als Zeitungskolumne veröffentlichte. Ein Jahr später nahm sie den Nachruf in eine Sammlung von Artikeln und Essays mit dem Titel Min nekrolog og andere skumle tanker« (Mein Nekrolog und andere düstere Gedanken) auf.

Der Text ist nicht nur der Versuch, ein klassisches journalistisches Genre zu parodieren, bei dem Pathos und biographische Umklammerung gern auf die Spitze getrieben werden, sondern gleichzeitig ein Hinweis auf die Richtung, die Tove Ditlevsens Leben nahm.

Nach einundzwanzigjähriger Ehe war sie von ihrem vierten Mann geschieden worden, Victor Andreasen – »dem alten Redakteur« –, und der Scheidungsprozess war schmerzlich gewesen. Ditlevsen verfiel in eine ernste Depression und befand sich in den folgenden Jahren in einem Zustand, den sie als »mein Niemandsland zwischen Leben und Tod« bezeichnete.

An einem Samstagmorgen im September 1974 wurde zweimal über die Rundfunknachrichten nach Tove Ditlevsen gefahndet, am späten Vormittag fand man sie im Rude Skov, einem Waldstück nördlich von Kopenhagen, bewusstlos in einem Schlafsack. Es war typisch für Ditlevsen, dass sie sich kurz darauf zu ihrem missglückten Selbstmordversuch in den Medien äußerte. In dem Wochenblatt Søndags B. T. beteiligte sie sich an einer lebhaften Diskussion über den Tod, in der ihr Schriftstellerkollege Ebbe Kløvedal Reich behauptete, Tove Ditlevsen würde trotz ihrer langjährigen Erfahrungen auf diesem Gebiet das Letzte über den Tod nicht kennen, nur das Vorletzte. Diesen Vorwurf wollte sie nicht auf sich sitzen lassen:

»Doch, das kenne ich. Es ist ein sehr schönes Gefühl, und ich war ja tot! Meine Körpertemperatur betrug sechsundzwanzig Grad, als man mich fand, da ist man tot, das steht so in den medizinischen Lehrbüchern. Daher werde ich nie Angst vor dem Tod haben. Im Übrigen ist es ziemlich schrecklich, wieder zum Leben erweckt zu werden, aber da ich Zwischenstadien nicht leiden kann, dachte ich: ›Na, du bist also nicht gestorben, Tove, dann musst du leben.‹ Und zu leben heißt zu funktionieren, also funktioniere ich weiter. Seither habe ich keine Selbstmordgedanken mehr gehabt, aber es ist doch klar, dass ich einmal auf diese Weise sterben werde.«

Auch der populäre Pastor und Schriftsteller Johannes Møllehave bekam eine deutliche Antwort, als er Ditlevsens Tat in einem längeren Zeitungsbeitrag verurteilte. Der Pastor erinnerte die Autorin daran, dass man als Künstler nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Verantwortung trage. Tove Ditlevsen setzte sich umgehend an die Schreibmaschine, nannte den Pastor einen »verdammten Lebensretter« und erklärte, ein Mensch müsse das Recht haben, selbst zu entscheiden, wann er aus dem Leben scheidet. Und sie wiederholte, was sie schon mehrfach zuvor gesagt und geschrieben hatte: »Warum soll es so schrecklich sein, Selbstmord zu begehen? In gewisser Weise ist es ein würdigerer Tod, als mit Eingeweiden, die allesamt angegriffen sind, hilflos in einem Krankenbett zu liegen.«

Tove Ditlevsen schrieb und sprach unverblümt und provozierend direkt über sich selbst. Fünfzig Jahre, bevor jemand den Begriff »Autofiktion« prägte, behandelte sie ihr Leben in fiktionalisierter Form, unter Verwendung von realen Orten, Namen, erinnerten Ereignissen und Personen aus dem engsten Familien- und Bekanntenkreis. Vom Beginn ihres Werkes an war ihr Privatleben auch eine literarische Bühne, auf der sich ein allumfassendes Drama zwischen Männern, Frauen, Eltern und Kindern abspielt und sie selbst die Rollen als Autorin, Erzählerin und Hauptperson einnimmt. In einem Interview formulierte sie es 1966 so: »Zu schreiben heißt, sich selbst auszuliefern. Sonst ist es keine Kunst. Man kann es kaschieren, aber man schreibt immer über sich selbst.«

2

Tove Irma Margit Ditlevsen wurde am 14. Dezember 1917 im Stadtteil Vesterbro im Zentrum Kopenhagens geboren. So steht es in der Geburtsurkunde. Dennoch behauptete die Schriftstellerin ihr gesamtes Leben, sie sei ein Jahr später geboren worden – am 14. Dezember 1918. Vielleicht lag es an dem überwältigenden Interesse an ihrem literarischen Debüt 1939. Ein Journalist soll bei Erscheinen des Buches der einundzwanzigjährigen Autorin von Pigesind (Mädchenseele) erklärt haben, sie würde für die Leser seiner Zeitung noch viel interessanter sein, wenn man schreiben könne, Fräulein Ditlevsen sei tatsächlich erst zwanzig Jahre alt. Angeblich hatte sie nichts dagegen. Es war ja das perfekte Alter, oder wie sie ein paar Jahre später in einer Erzählung schrieb: »Zwanzig Jahre, und Geist und Haut fein, leicht und rein.« Eine andere Erklärung der kleinen Lüge stammt gewissermaßen von Tove Ditlevsen selbst: Sie war sich bereits 1939 ihrer Rolle als Künstlerin so bewusst, dass sie ein deutliches Gleichheitszeichen zwischen dem lyrischen Ich ihrer Gedichte und der Autorin des Debüts setzen wollte. Sie unterstrich es sogar in einem der Gedichte des Buches. Das Gedicht »Die bösen Jahre« endet mit den Worten:

Verschwindet, ihr bösen Geister, die so grausam töten

die warmen Augen und die frischen Lippen,

komm Lippenstift und hilf mir lügen,

denn ich will nie älter als zwanzig sein.

Was auch immer der Grund gewesen sein mag, die kleine Unwahrheit erwies sich mit der Zeit als recht unpraktisch, wenn es um die Ausstellung offizieller Dokumente wie einen Pass oder einen Trauschein ging, und es war auch ein wenig komisch, wenn dänische Zeitungen Tove Ditlevsens vierzigsten und fünfzigsten Geburtstag mit Glückwunschartikeln würdigten. Denn in Wahrheit war sie ja bereits einundvierzig beziehungsweise einundfünfzig Jahre alt.

Der Ausgangspunkt für den Menschen und die Schriftstellerin Tove Ditlevsen war der Topos des armen Kindes, das in den grauen Arbeitervierteln von Kopenhagen aufwuchs. »Keine spätere Erfahrung kann je die Erlebnisse der Kindheit auslöschen«, schrieb sie, und bis zu ihrem Tod blieb Ditlevsen ihrer Vergangenheit in der Hedebygade 30 A, 4. Stock rechts verbunden, einem Hinterhaus des Kopenhagener Stadtteils Vesterbro. Immer wieder konnte sie auf eine neue Art und Weise über ihre Kindheit und Jugend schreiben. Man erlebt als Kind alles zum ersten Mal, hat Tove Ditlevsen einmal gesagt, danach ist alles andere nur Wiederholung. Für sie wurde die Straße der Kindheit zu einer äußerst lebendigen, vitalen Verkehrsader im Geist. Ein Stück Vergangenheit voller Glück und Unglück, Magie und Realismus, wo sie stets ihr wahres Ich wiederfinden konnte.

Die Straße der Kindheit wurde zur Basis ihres Werks und 1942–43 der Titel eines Romans sowie eines längeren, episch angelegten Gedichts. In achtundzwanzig Strophen wird die Sehnsucht nach der alten Gemeinschaft im Hinterhof und im Quartier rund um die Hedebygade beschworen. Im zentralen Mittelteil des Gedichts lässt Ditlevsen den Geist des Viertels selbst zu Wort kommen:

Ich bin die Straße deiner Kindheit,

ich bin die Wurzel deines Wesens,

ich bin der klopfende Rhythmus

in allem, wonach du dich sehnst.

Ich bin die grauen Hände deiner Mutter

und die bekümmerte Seele deines Vaters,

und ich bin das leichte, verschwommene Gespinst

deiner frühesten Träume.

Ich gab dir meinen großen Ernst an einem Tag,

als du verirrt und verlassen warst,

und in einer triefenden Regennacht

träufelte ich dir ein wenig Wehmut ins Gemüt.

Vesterbro war im Kopenhagen der 1920er und 1930er Jahre ein armes Arbeiterviertel, geprägt von hässlichen Mietskasernen mit billigen, heruntergekommenen Wohnungen und engen, dunklen Hinterhöfen mit mehreren Hinterhäusern. Heute ist der ganze Stadtteil gründlich saniert und eines der begehrtesten Wohngebiete der dänischen Hauptstadt.

In den 1920er Jahren wohnten auf einem Quadratkilometer über achtzigtausend Menschen in kleinen Wohnungen. Es waren vor allem Familien, in denen der Vater ein ungelernter Arbeiter war, der unter unsicheren Beschäftigungsverhältnissen in den kleinen und großen Fabriken rund um Vesterbro arbeitete. Der Stadtteil war berüchtigt für seine vielen Kneipen und mittellosen, gestrandeten Existenzen. Suff, Prostitution und Übergriffe gegenüber Müttern, Kindern und jungen Frauen gehörten zur Tagesordnung, hat Tove Ditlevsen erzählt.

Das oberste Gesetz der Straße lautete, sich der Allgemeinheit anzupassen; es hatte seinen Preis, sich von anderen allzu sehr zu unterscheiden oder abzuheben. In den zahlreichen Hinterhöfen der Hedebygade herrschte ein raues Regelwerk, das Tove Ditlevsen als »Sexualaufklärung an der Mülltonnenecke« beschrieb. Es beruhte auf Normen, die einzuhalten einem jungen Mädchen ausgesprochen schwerfallen mussten. Tove Ditlevsen berichtete in einem Zeitungsinterview 1973, dass man es sich zum Beispiel kaum erlauben konnte, noch Jungfrau zu sein, wenn man konfirmiert war. Aber ebenso wenig durfte man es sich erlauben, schwanger zu werden, bevor man achtzehn Jahre alt war.

Im vierten Stock der Hedebygade 46 A bei der vierköpfigen Familie Ditlevsen folgten die ungeschriebenen Regeln des Arbeiterviertels jedoch eher kleinbürgerlichen als proletarischen Gesetzen. Das oberste Gebot der Familie war das Aufrechterhalten einer korrekten und »normalen« Fassade; Alfrida Ditlevsen (1890–1965) – Toves und Edvins dominante und strenge Mutter – betonte: »Es macht nichts, wenn man etwas wunderlich ist, Hauptsache, es dringt nicht nach draußen!«

•••

Dass Eltern ihren Kindern mit ewigen Ermahnungen und Hinweisen, sich so normal wie alle anderen zu verhalten, einen lebenslangen Schaden zufügen können, ist ein sich wiederholendes Thema in Tove Ditlevsens Werk. Sie selbst nannte sich als Erwachsene eine »Abweichlerin« und hatte bis zu ihrem Tod einen messerscharfen Blick für die Folgen des Versuchs, das Gesetz der Normalität in einer Familie allzu handfest durchzusetzen – das Ergebnis ist die Zerstörung der zarten Seiten der kleinen menschlichen Seelen. 1970 schrieb sie in einem Zeitungsartikel, als Kind hätte sie sich immer gewünscht, normal zu sein. Daher hätte sie in all den Jahren, in denen sie zur Schule ging, Angst gehabt, jemand würde bemerken, dass sie es nicht war:

»Es war normal, mit bunten Stecknadeln und Puppen zu spielen, und ich verbrachte Stunden der Langeweile mit diesen Beschäftigungen, obwohl ich viel lieber im Gesangbuch gelesen hätte. Aber das war auf jeden Fall bei uns in der Straße nicht normal. Es ging vor allem darum, so zu sein wie alle anderen. Man sollte ihnen in der Kleidung, im Sprachgebrauch, beim Spiel, bei den Interessen und Beschäftigungen ähnlich sein. Aber ich war einfach nur groß, schlaksig und ungeschickt, und hatte ich eine Freundin, musste ich vor ihr verbergen, dass ich anders war.«

Dennoch widersetzte sich Tove der Konformität – und behielt ihre Haltung ein Leben lang bei. Immer wieder kam es vor, dass sie die besonderen Regeln eines Spiels zu Hause in der Straße oder auf dem Schulhof der Matthæusgade Skole nicht einhielt. Damit schloss sie sich häufig aus dem Kreis der Kinder aus und hatte schon früh das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein. Es war ein Gefühl der Fremdheit, nicht nur gegenüber ihren Schulkameraden, sondern auch gegenüber ihren Eltern und ihrem älteren Bruder. Eine Zeitlang war sie vollkommen sicher, dass Alfrida Ditlevsen nicht ihre wirkliche Mutter und sie ein vertauschtes Kind war. Das permanente Gefühl, »nicht richtig« zu sein, meldete sich auch, wenn die Leute über sie lachten, obwohl sie gerade etwas sehr Ernstes gesagt hatte. Und wenn Tove versuchte, komisch zu sein, reagierten die Menschen entweder verärgert oder wütend.

In einem Zeitungsartikel berichtete Ditlevsen 1972, dass ein anderer »Abweichler« in der Hedebygade dieses Missverhältnis ganz anders erlebte. Mit seiner langen, dramatischen Hasenscharte und seinem deformierten Schädel, in dem es gluckerte, wenn er lief, war »Schön-Ludvig« auf eine handgreiflichere und spektakulärere Weise ausgestoßen und fremd als Tove: »Ich glaube, ich verspürte eine Art Neid, weil Schön-Ludvigs Defekt so offensichtlich daherkam, während mein ›Anderssein‹ für jedes Mitgefühl unzugänglich war.«

Das Mädchen Tove lernte, mit diesem Missverhältnis zu leben, und zog als Kind einen unsichtbaren Vorhang zwischen sich und der Umwelt, hinter dem sie verschwinden konnte, wenn die Wirklichkeit zu aufdringlich und gefährlich wurde. Diese Möglichkeit der Flucht in ein stilles Kämmerlein, in dem sie die Ruhe für ihre Tagträume und Gedichte fand, übernahm Tove Ditlevsen in ihr Leben als Erwachsene, es war eine Art Synonym für einen Daseinszustand, den sie »Das runde Zimmer« nannte und 1973 zum Titel ihres letzten Gedichtbandes machte.

Der Psychiater Erling Jacobsen, der Ditlevsen in den 1940er Jahren als Patientin und Künstlerin kennenlernte, diagnostizierte, im Gegensatz zu »normalen« Menschen sei Tove Ditlevsen nicht in der Lage, in ihrem Gefühlsleben die intensiven Eindrücke der Kindheit zu verdrängen. Ein anderer Psychiater, Thorkil Vanggaard, der Tove in den 1960er und 1970er Jahren als Patientin betreute, erklärte 1987 in einem Artikel, sie hätte »nicht mit Bestimmtheit und Nachhaltigkeit eine Barriere gegenüber ihren Erlebnissen in der Vergangenheit aufbauen« können.

Die Angst, die Verzweiflung und die Einsamkeit hatte die erwachsene Tove nicht vergessen, sie waren in ihrem erwachsenen Leben ebenso lebendig und präsent wie zu ihrer Zeit als Kind, hielt Vanggaard fest.

In ihrem Gedicht »Zehengänger« aus dem Jahr 1971 beschrieb Tove Ditlevsen diese seelische Zersplitterung, die ihre Stärke und Besonderheit als Künstlerin ausmachte:

Immer auf Zehen

zu stehen

um durch seine

erwachsenen Augen zu sehen

und sich dieses Hakens

in dem langgestreckten

Skelett bewusst zu sein.

(…)

Das auszuhalten,

was alle Zehengänger wissen

nur ein paar Stunden

auf einmal –

dann findet man

einen abseitigen Winkel

in der Regel ein WC

das sich von innen

abschließen lässt.

Mit diesem mentalen Vorhang und der notwendigen, beinahe täglichen Maskerade aus Rücksicht auf die unmittelbare Umgebung in der Schule und daheim war auch die ständige Furcht verbunden, entlarvt zu werden. Toves Umfeld durfte nicht entdecken, dass tief in ihrem Inneren ein einsames und melancholisches Mädchen mit einer unerklärlichen Todessehnsucht und dem innigen Wunsch steckte, eines Tages Dichterin zu werden. In einem Interview zum Erscheinen der Erinnerungsbücher Kindheit und Jugend wurde Ditlevsen 1967 gefragt, wie früh sie in ihrem Leben angefangen habe, Lyrik zu schreiben:

»Es war ganz einfach etwas, das in mir sang. Für mich geht es in den beiden Erinnerungsbüchern, die jetzt erscheinen, um das Schreiben von Gedichten. Ich war erst fünf Jahre alt, als ich in die Schule kam. Ich liebte die Verse im Gesangbuch über alles, ich habe vom ersten Schultag bei diesen Versen geweint, sie bewegten mich, ich brach in Tränen aus und alle lachten über mich.«

Dass Lyrik schon früh das bereichernde, unumgängliche Element in Toves Dasein war, lag an den Kirchenliedern, die man, so hatte es eine Lehrerin erklärt, als sehr schöne Gedichte ansehen und in die man sich mit großer Freude vertiefen konnte. Das aufnahmebereite Mädchen, das gern sang, lernte die Verse der Lieder so begierig auswendig, dass die Mitschülerinnen ihr den Spitznamen »Die Heilige« gaben. Ditlevsen erzählte davon in ihren hinterlassenen Papieren und fügte hinzu: »Der Himmel soll wissen, dass ich bereits ein gottloser Satan war, der Fünføre-Münzen vom Tellerbrett stahl und das damalige Original von Vesterbro ärgerte, Locken-Charles, der vor den Augen einer johlenden Kinderschar dampfende Pferdeäpfel verspeiste.«

In Ditlevsens vielen verschiedenen Erinnerungstexten gibt es widersprüchliche Angaben darüber, wann genau sie ihre ersten eigenen Verse schrieb. Aber sie hat niemals daran gezweifelt, dass Dichtung das Leben bestimmter Kinder retten kann. Bereits mit vierundzwanzig Jahren schrieb sie ein Feuilleton »Wenn Kinder Verse schreiben«, das all den kleinen Träumenden dieser Welt gewidmet war:

»Kinder, die dichten, sind kleine verkrüppelte Seelen, die sich immer verletzt vor ihrer Umwelt verschließen und ihre eigenen dunklen Wege gehen, auf denen sie eine ganz private, naive und romantische Reservewelt aufbauen. Sie haben keinen Kontakt zum Leben – unglücklich, unbeholfen und verletzlich. Aber tief in ihrem Inneren sind sie überzeugt, dass sie einmal wie Hans Christian Andersens hässliches Entlein die großen weißen Schwingen ausbreiten und hoch über die Welt fliegen werden …«

•••

Tove Ditlevsen behauptete, die Kindheit eines jeden Menschen sei ein einzigartiger Fundus, der nie verbraucht werden könne, wie verschwenderisch man damit auch umgehe. Und die Kindheit ist vom allerersten Federstrich in ihrem Werk präsent. Demütig und eindringlich klingt es in dem Gedicht »Das verlorene Land« aus dem Gedichtband Mädchenseele:

Oh, lass mich wieder Kind sein und schlafen

so sicher und unbesorgt bei Mutter und Vater,

bevor die Angst kam, und die Nacht mein Feind wurde,

der stärkste und bitterste, den ich habe.

Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren der Literaturgeschichte, die ein glückliches Licht auf ihre Kindheit und Jugend werfen, konzentriert Tove Ditlevsen sich auf die dunkleren Erinnerungen, obwohl es auch lichte und muntere Momente im Hof der Hedebygade, im Folkets Hus und hinter der Pforte zum verheißungsvollen Park Søndermarken gab. Dort hatte man an einem Sommertag vielleicht sogar das Glück, etwas so Seltenes wie ein Elternpaar zu erleben, das sein Leben genießt. Verewigt in dem Gedicht »Erinnerung« aus dem im Jahr 1961 erschienenen Gedichtband Den hemmelige rude (Das heimliche Fenster):

Meine Mutter war jung. Das hatte ich nie zuvor gesehen.

Sie trug ihr helles Kleid wie zu einem Fest.

Sie öffnete Søndermarkens Lattentür,

und lachte dem leichten Wind des Sommertags entgegen.

Ein Glück stieg auf von dem kräftigen Duft des Grases,

es roch nach Bier, Brause und Eierbrot.

Und Hoffnung zitterte in der feinen Luft:

Mein Vater hat seine Sorgen vergessen. Meine Mutter ist

glücklich.

In der letzten Gedichtzeile findet sich vieles, was Tove Ditlevsen von ihrem introvertierten Vater und ihrer extrovertierten Mutter erbte. In einem Zeitungsartikel aus den 1960er Jahren heißt es:

»Mein Vater war sehr melancholisch und außerordentlich moralisch, während meine Mutter zumindest als junge Frau munter und fidel, leichtsinnig und eitel war.«

Meist war die Atmosphäre in der Familie Ditlevsen allerdings eher kühl und bedrückend. Laut Tove Ditlevsens Erinnerungen gab es nicht einen Quadratmeter in der Wohnung, wo man Ruhe fand. Und in den vielen Jahren, in denen sie zu Hause wohnte, auch keine abschließbare Schublade, die ihr allein gehörte. Zudem hatte Tove das Gefühl, ihre Gedichte vor der Familie verstecken zu müssen. Die Mutter vertrat die Ansicht, Literatur sei direkt schädlich, der Vater, der Bücher liebte, erklärte immer wieder, Mädchen könnten nicht Dichter werden, und der ältere Bruder Edvin hatte sich über Toves Gedichte lustig gemacht, als er sie eines Tages zufällig fand.

Achtzehn Jahre lebte Tove mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einer kleinen Zweizimmerwohnung auf dreißig Quadratmetern. Den physischen und psychischen Druck dieser Situation überwand das sensible, zarte Mädchen nie. Sie nahm ihn mit in ihre eigenen, späteren Familienverhältnisse, die sich auf einem romantischen, bürgerlichen Traum von Glück und Freiheit gründeten, aber immer in seinem Gegenteil endeten.

Den Raum, den eine Familie bewohnt, begriff Tove Ditlevsen ihr ganzes Leben lang als Hindernis für die Entfaltung des einzelnen Menschen. In Straße der Kindheit drückt es eine Romanfigur 1943 so aus: »Ich bin meine Familie so leid, denn es ist, als ob ich jedes Mal gegen sie stoße, wenn ich mich frei bewegen möchte.«

In dem Romanklassiker, der in einem Kopenhagener Arbeiterviertel spielt, ist es nicht die weibliche Hauptperson Ester, sondern ihr Bruder, der die Sehnsüchte der jungen Tove Ditlevsen personifiziert, dem erstickenden Familienrahmen zu entkommen: »Die ganze Atmosphäre aus ständiger, rechtschaffener Armut legt sich wie klamme Hände um seine Schläfen, die Luft im Wohnzimmer stemmt sich gegen seine Brust.«

Als Leser von Tove Ditlevsens Lyrik und Prosa hat man kaum Zweifel, dass Sätze wie »Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg«, »Am meisten weiß über die Liebe derjenige, der sie niemals kennengelernt hat« und »Zwei Menschen sind nicht genug, um das Leben eines Kindes zu erfüllen« ihren Ursprung in der Kindheit und Jugend ihrer Autorin haben. Anders konnte es bei derart beengten Verhältnissen nicht sein. Darüber hinaus hatte sie als Kind mit anhören müssen, wie die Mutter Alfrida erklärte, Tove und ihr Bruder Edvin wären »Versehen« gewesen, die in einer Wolke aus schmierigen Seifenblasen geboren wurden – die Mutter hatte versucht, die Föten mit Schmierseife, Rizinusöl und glühend heißen Bädern im Zuber des Waschkellers abzutöten. Später schrieb Tove, ihrer Mutter wären Kinder eher lästig gewesen – und vermutlich auch ihr Mann als Toves Vater: »Vielleicht erlebte sie niemals etwas, das sie sich wirklich gewünscht hatte.«

Fühlte Ditlevsen sich unfrei und häufig von ihrer launischen Mutter unterdrückt, so verkörperte der melancholische, verschlossene Vater mit seinem Interesse an Literatur und Politik eine gewisse Form der Freiheit und des Verständnisses. Der Heizer Ditlev Ditlevsen (1880–1972), dessen Familie aus Jütland stammte, verehrte den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Thorvald Stauning. In einigen Erinnerungstexten bezeichnet Ditlevsen ihren Vater als »Vertreter der unterdrückten Klasse« und berichtet, er sei ein »glühender Sozialdemokrat« und Parteimitglied gewesen. Jedenfalls so lange, bis Alfrida den Vertretern der Organisation die Tür öffnete, die fünfzig Øre als Mitgliedsbeitrag einziehen wollten, worauf sie auf der Stelle die Parteimitgliedschaft ihres Mannes kündigte. Allerdings trat er später wieder in die sozialdemokratische Partei ein.

Ditlev Ditlevsen vertrat die Ansicht, man sollte vom Leben nichts erwarten, auf diese Weise ließen sich auch Enttäuschungen vermeiden. Sein einziges Zeichen von »Anormalität« in der Hedebygade – abgesehen von seinem literarischen Interesse – bestand darin, dass er niemals betrunken nach Hause kam und weder seine Frau noch seine Kinder schlug.