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Starnberg, 13. Dezember 1951: In der Villa Adlon wird Mieterin Sonja Bletschacher tot aufgefunden. Bestialisch ermordet mit zahlreichen Messerstichen. Die Polizei nimmt umgehend die Ermittlungen auf. Ins Visier geraten nicht nur die Vermieterin, Ottilie Adlon, und deren Tochter Elisabeth, sondern auch die Liebschaften der Ermordeten. Trotz zahlreicher Spuren und Hinweise gestaltet sich der Fall für die Ermittler immer rätselhafter. Sie finden sich in einem Geflecht unterschiedlichster Aussagen und Hypothesen wieder, die keinen Rückschluss auf den Täter zulassen. Anhand der Originalakten rollt Autorin Ulrike Claudia Hofmann den mysteriösen Kriminalfall erneut auf. Eingebettet in eine fiktive Aufklärung des Falls geben diese Akten spannende Einblicke in die damalige Ermittlungsarbeit. Der Mord von 1951 ist bis heute ungeklärt.
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Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2023
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ULRIKE CLAUDIA HOFMANN, geboren in Coburg, studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Bamberg. Ihre Promotion in Bayerischer Landesgeschichte schrieb sie über Fememorde in Bayern in den 1920er-Jahren. Sie ist Zeithistorikerin und arbeitet als Archivarin in München. Zusammen mit einem Pressesprecher vom Landeskriminalamt Bayern hält sie Lesungen unter dem Titel »Zeitreise Mord«.
Originalausgabe April 2023Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München© 2023 Buch&media GmbH, MünchenLayout, Satz und Umschlaggestaltung: Johanna ConradGesetzt aus der Anton und der Adobe GaramondUmschlagmotiv: Kevin Solbrig, UnsplashPrinted in Europe · ISBN 978-3-96233-380-5
Allitera VerlagMerianstraße 24 · 80637 MünchenFon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65
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INHALT
Vorwort
Eine Nacht im Dezember
»Wer ist wer« der Protagonisten
Ein Postbote kann sein Paket nicht zustellen
Die Kripo durchleuchtet das enge Umfeld
Hintergrund: Die Ermittlungsbehörden
Das Blickfeld der Polizei erweitert sich
Steht der Durchbruch kurz bevor?
Ermittlungsdruck auf Elisabeth und Ottilie Adlon
Hintergrund: Die Villa Adlon in Starnberg als Tatort
Sonjas Vergangenheit als Schlüssel zum Täter?
Hintergrund: Sonja Bletschacher und ihr Umfeld
Von einer letzten Spur zum »Cold Case«
Hintergrund: Die Kriminalbeamten
Jahre später: Vera Brühne und der Fall Sonja Bletschacher?
Fast zu guter Letzt
Mutmaßungen heute: Wer könnte Sonja getötet haben?
Bildnachweis
Abkürzungsverzeichnis
Dank
VORWORT
Eine Leiche, kein Täter. Diese Kombination ist oft die erste Information, die unmittelbar nach Entdeckung der Tat die Kriminalpolizei erreicht. Dieser Beginn macht keinen Unterschied, egal ob der Mord 1950 oder 2023 stattgefunden hat. Das Herangehen an den Tatort, den Fall, die Zeugen oder Verdächtigen oder das Umfeld der Toten, hier hat sich die Polizeiarbeit erheblich weiterentwickelt.
Was Anfang der 1950er-Jahre gemacht wurde, ist in diesem Buch aus den Ermittlungsakten ersichtlich. Es sind hier die Originalakten, die ein wahres Verbrechen dokumentieren und es dem Leser ermöglichen, diesen Mord zu rekonstruieren. Die Ermittler fanden sich in einem Netz aus verschiedenen Aussagen. Berichte vom Hörensagen, unterschiedliche Wahrnehmungen und Hypothesen prägten über Jahre hinweg die kriminalistische Arbeit. Jeder Aussage musste nachgegangen werden, jeder Zeuge gehört und manchmal auch mehrfach vernommen werden. Welche Aussagen entsprechen dem tatsächlichen Geschehen, welche sind nur in den Gedanken des Zeugen wahr? Diese Entscheidungen sind und bleiben von maßgeblicher Bedeutung.
Als Leser fragt man sich manchmal: Wären solche Methoden heute möglich? Was ist das »Handwerkszeug« heutiger Spurensicherer und Kriminalisten? Sicher gibt es jetzt eine Vielzahl moderner kriminaltechnischer Mittel, die immer professioneller werden. Aber es gilt in diesem Buch in die Polizeiarbeit und die Lebensumstände der 1950er-Jahre einzutauchen. Wer die hier nachgezeichneten Vernehmungsprotokolle und die Zusammenfassungen aufmerksam liest, wird mehrfach Ungereimtheiten in den angegebenen Zeitabläufen feststellen. 1952 gab es noch keine Mobiltelefone, die sich in Funkmasten einloggen, keine Smartphones, deren Kamerafunktion oft und gerne benutzt wird. Auch Überwachungskameras in und vor Geschäften, Veranstaltungsörtlichkeiten, Tankstellen und an vielen anderen Orten waren vor 70 Jahren noch weit weg aus jeder Vorstellung.
Heute ist auch die Sicherung von DNA an einem Tatort normal und alltäglich, vor Jahren unvorstellbar. Und trotzdem gibt es noch immer ungeklärte Fälle. Und es wird auch immer solche geben. Ein Vergleich zwischen den Ermittlungen 1952 und 2023 ist aus vielen Gründen nicht statthaft. Sich selbst beim Lesen Gedanken machen und Schlussfolgerungen ziehen schon.
Ludwig WaldingerErster Kriminalhauptkommissar, München
EINE NACHT IM DEZEMBER
Die stille, kalte Schneelandschaft, sie kann sie nur noch erahnen, draußen ist es dunkel. Beim Schmieren ihrer Semmel trifft sie plötzlich mit brutaler Gewalt ein Schlag ins Gesicht. Ihr fällt das Messer aus der Hand auf den Boden. Sie ist völlig überrascht, unfähig, den Ernst der Lage wahrzunehmen. Doch jetzt begreift sie es: wenn sie in diese Augen blickt, den Spazierstock, das scharfe Messer sieht. Sie weiß schlagartig, es geht um ihr Leben. Der Tisch, der Sessel, nichts kann sie schützen. Dieser Mensch sticht und schlägt erbarmungslos auf sie ein; ihre Hände können ihn nicht abwehren. Ihr Schädel fühlt sich wie gesprungen an, etwas hat sie mit großer Wucht an ihrer Schläfe getroffen. Dass der Abend brisant werden würde, dachte sie sich schon länger. Deshalb war sie schon den ganzen Tag angespannt und eine heimliche Angst saß ihr im Nacken. Dass es allerdings so enden würde, ahnte sie nicht. Sie ist fassungslos, gelähmt. Dieser Ausbruch an Brutalität kam für sie wie aus dem Nichts. Da ist nur noch dieses von Hass verzerrte Gesicht, der Mensch handelt im Rausch, er hört nicht mehr auf, er sticht immer und immer wieder unerbittlich zu. Sie liegt gekrümmt am Boden, der Schmerz der Messerstiche in ihrer linken Brust raubt ihr den Atem. Panik überfällt sie! Sie atmet immer schneller, ringt verzweifelt nach Luft. Chancenlos, diese wird mit jedem Atemzug weniger, sie spürt, wie sie zu ersticken droht. Sie fühlt so ein zerreißendes Stechen, dumpf, bohrend, ihre Rippen knacken. Ist sie noch bei Bewusstsein? Sie weiß es nicht. Aus ihrem Mund entweicht nur noch Husten, Japsen, Röcheln. Warum kann sie nicht mehr schreien?
Mit ihrer letzten Kraft der Verzweiflung versucht sie ans Fenster zu robben. Doch jetzt bohrt sich noch etwas durch ihre linke Achselhöhle und dringt bis in ihren Nacken. Ihr Körper besteht nur aus unmenschlichen Schmerz. Er macht den letzten Gedanken an ein Überleben zunichte. Sie kann nicht mehr. Es ist vorbei. Wie wenn sie aus dieser Hölle herausgerissen würde, verlassen sie endlich die Qualen. Sie sieht noch das Messer wie im Stakkato in ihren Leib eindringen. Zum Glück spürt es ihr geschundener Körper nicht mehr, er ist erlöst.
So oder so ähnlich könnte das Leben der 47-jährigen Sonja Bletschacher am Abend des 12. Dezembers 1951 in der Starnberger Villa von Ottilie Adlon geendet haben. Wenige Monate vor diesem Verbrechen waren bereits in Kempfenhausen in der Villa de Osa drei Menschen umgebracht worden. Kein Wunder, dass dieser grausame Frauenmord im Hause Adlon die Menschen in der Gegend beunruhigte. Starnberger Bürgerinnen und Bürger galten plötzlich als Mordverdächtige, manche kamen kurzzeitig in Haft. Der Fall Bletschacher beschäftigte die Bevölkerung über viele Jahre und befeuerte immer wieder Gerüchte.
Das Buch möchte daher die damaligen Geschehnisse aufarbeiten. Als Grundlage dienen ausschließlich die originalen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft München II, die sich aus den Unterlagen der Polizei zusammensetzen und im Staatsarchiv München archiviert sind1. In Form einer Dokumentation werden die Fakten, die über das Verbrechen bekannt sind, sowie die Arbeit der Ermittlungsbehörden rekonstruiert. Dabei kommen die Quellen so oft wie möglich selbst zum Sprechen. Man erhält sozusagen Akteneinsicht. Zugleich habe ich als Historikerin in wissenschaftlichen Hintergrundkapiteln das zeithistorische Umfeld beleuchtet. Dafür konnte ich neben einschlägiger Literatur auch auf noch nicht ausgewertete Archivquellen zurückgreifen.
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1Signatur: StAM, Staatsanwaltschaften 35828/1–4
»WER IST WER« DER PROTAGONISTEN
BLETSCHACHER, SONJA, Tote
Das Umfeld des Hauses Adlon
ADLON, Ottilie und deren Tochter Elisabeth, Vermieterinnen
BENECKE, Erna, Freundin von Elisabeth
DERICKS, Hubert, früherer Berater von Ottilie
HAUPTMANN, Ida, Zugehfrau im Haus Adlon
KLEPSCH, Walter, ehem. Geliebter von Elisabeth
KUPPI, Heinz, Anwohner in der Max-Emanuel-Straße
LENSER, Hedwig und Willi, Mieter in der Villa Adlon
LÜRMANN, Else, Anwohnerin in der Max-Emanuel-Straße
MICHLMAYER, Maria, ehem. Angestellte im Nachbarhaus der Adlons
RICHTER, Maria, Haushaltshilfe Sonjas
Weitere Zeugen und Verdächtige aus Starnberg
BEUTELHAUSER, Karl, Versicherungsvertreter
HENTSCHKE, Anneliese, Grafikerin
HERMANN, Maria, Geschäftsinhaberin KÜRZINGER, Anni und Hans, Kinobesitzer
LANGENBRUCH, Erich, Dachdecker und Bekannter Sonjas
LANGENBRUCH, Therese, seine Frau
MIEDL, Käthe, Verkäuferin
RIEDEL, Franz, Hausmeister von Amerikaner-Häusern
RIESER, Centa, Geschäftsinhaberin ROSENKESSEL, Else, Hotelangestellte VÖLK, Franz, Mechaniker
WEBER, Franz, Poster
ZIMMERMANN, Johanna, Geschäftsinhaberin
Sonjas Freunde und Bekannte
FIALKOWSKY, Imre, ein Phantom
GOTH, Hedwig, langjährige Freundin
HARTUNG, Anneliese, Vormieterin Sonjas bei Adlons
HEINZEL, Mathilde, frühere Nachbarin aus Percha
LEUSMANN, Elvira, Freundin und ehem. Kollegin
LUDWIG, Karl, Geliebter Sonjas
MATTHIAS, F., spiritistisches Medium MIDDELMANN, Eva, ehem. Freundin Sonjas
NIEDERMAYR, Eugen, Schulfreund von Sonjas Mann
PROELLER, Adolf, Kriegskamerad von Sonjas Mann
PROELLER, Otti, Schwägerin von Adolf und Bekannte Sonjas TEMPLE, Ingeborg, langjährige Freundin
HANS, Freud von Ilse
Sonjas Familie
LUISE, Sonjas Schwester
NIKOLAUS, Mann von Luise
ILSE, Sonjas Nichte
WOLF, Ludwig, Sonjas Bruder
Familie / Bekannte von Sonjas Mann Ludwig
BAMBERGER, Gustav, Schwager von Ludwig
BLETSCHACHER, Berta, Schwägerin von Ludwig
BLETSCHACHER, Karolina (Karla), zweite Ex-Frau von Ludwig
BLETSCHACHER, Rudolf., Sohn Ludwigs
PRAUN, Otto Dr., Arzt und Kriegskamerad von Ludwig
SCHOTTENHAMEL, Emilie, Verwandte Ludwigs
WERNER, Max Dr., Wehrmachtsoffizier
Kontakte aus Sonjas Vergangenheit
DEUTSCHENBAUER, Walter, Geliebter Sonjas
NIKOLICH, Clara, frühere Kollegin Sonjas
PRAUN, Otto Dr., kurzzeitiger Geliebter Sonjas
REH, Hans Dr., früherer Arbeitgeber und Geliebter Sonjas
Sonstige
BRÜHNE, Vera, als Mörderin verurteilt
GOLDBERG, Wilhelmine, Vermieterin in Sonthofen
LOHMÜLLER, Karl Dr. Arzt in Sonthofen
TRAUTWEIN, Werner, Dr. Arzt in Sonthofen
EIN POSTBOTE KANN SEIN PAKET NICHT ZUSTELLEN
Donnerstag, 13. Dezember 1951
Es ist eine Routineangelegenheit: Er soll ein Nachnahmepaket ausliefern. Gegen 11 Uhr klingelt der Paketzusteller Weber in Starnberg in der Max-Emanuel-Straße 7. Auf sein Läuten öffnet nicht die Adressatin Sonja Bletschacher, sondern die 72-jährige Hausbesitzerin Ottilie Adlon. Die alte Dame ist nicht bereit, die Nachnahmegebühren für ihre Mieterin auszulegen. Stattdessen schickt sie ihre 31-jährige Tochter Elisabeth in den zweiten Stock, um Sonja Bletschacher zu benachrichtigen. Bei der von ihr gemieteten Räumen handelt es sich nicht, wie heute üblich, um eine abgeschlossene Wohnung, sondern um einen offenen Hausflur, von dem die Zimmer abgehen. Elisabeth bemerkt offene Türen und zögert hineinzugehen. Ihre Mutter fordert sie auf, im Wohnzimmer nachzusehen.
Das entsetzte Rufen lässt erahnen, dass Elisabeth etwas Schreckliches entdeckt haben muss. Der Paketbote eilt nach oben: In der Wohnung liegt die von blutigen Verletzungen übersäte Leiche von Sonja Bletschacher. Der Poster benachrichtigt sofort die Stadtpolizei in Starnberg. Die Oberwachtmeister Auer und Lieb treffen unverzüglich in der Max-Emanuel-Straße 7 ein.
Was die beiden vorfinden, legt ein schweres Verbrechen nahe und damit ist man in Starnberg überfordert. Die Stadtpolizei bittet umgehend die Kriminalaußenstelle Fürstenfeldbruck der staatlichen Landpolizei von Oberbayern, den Fall zu übernehmen. Und bereits eine halbe Stunde später läutet bei der Staatsanwaltschaft München II das Telefon, um diese von dem Verbrechen zu unterrichten. Es besteht Mordverdacht. Der Staatsanwalt ordnet die sofortige Sektion der Leiche an.
Um 14 Uhr kommen die Kripobeamten der Landpolizei Kott und Bolzmacher in die Max-Emanuel-Straße 7. Auch die beiden gehen von einem Mord aus, Hinweise auf einen Raub- oder Sexualmord können sie nicht feststellen. Gegen 16.45 Uhr untersucht ein Arzt in der Wohnung die Leiche. Danach kommt diese ins Starnberger Leichenschauhaus.
Alles wird auf dem Kopf gestellt
Noch am gleichen Tag untersucht die Fürstenfeldbrucker Kripo bis ins kleinste Detail das Zimmer, in dem Sonja gefunden worden ist.
Aus der Tatbestandsaufnahme vom 13. Dezember 1951:
»1. Tatzimmer:Es befindet sich im 2. Stock, das zugleich das Dachgeschoß bildet. Es hat senkrechte Wände, die 277 cm Höhe aufweisen. Das Fenster nimmt den größten Teil der Südwand ein, die 450 cm beansprucht. In der Mitte dieser Wand befindet sich eine Balkontür, die zu, aber nicht verschlossen ist. Es sind Doppeltüren vorhanden. Rechts und links dieser Tür ist noch ein Fenster angeschlossen, von denen jedes 70 cm breit ist. Gegenüber dem Fenster befindet sich in der Nordwand im Ostteil die Eingangstür von 108 cm Breite. Die Zimmerlänge beträgt 520 cm.2. Die Ermordete:Ihr Kopf zeigt zur westlichen Fensterkante, ihre Beine zur Angelseite der Tür. Der Körper ist lang ausgestreckt. Der rechte Arm ist ausgestreckt und zeigt vom Körper weg. Das Handgelenk ist von der rechten Hüfte 25 cm entfernt. Der linke Arm ist abgewinkelt, die linke Hand befindet sich fast unter dem Körper und zwar in der Nierengegend. Die Tote ist 165 cm lang. Die Leiche ist mit einer blauen Wollweste, die geöffnet ist, bekleidet. Außerdem trägt sie ein blaues Stoffkleid, in dem eingewebte noch dunklere blaue Schrägstreifen verlaufen. Das Kleid ist hochgeschoben bis über die Schamhaargegend. Sie ist mit einem graubraunen wollenen Schlüpfer bekleidet. Es ist nicht zu erkennen, daß dieses Kleidungsstück vom Täter verändert worden ist. Sie trägt weiterhin grau-braune Seidenstrümpfe, die aber dunkler als der Schlüpfer sind. Sie werden durch Strumpfhalter festgehalten. Der Hüftgurtteil ist nicht sichtbar. An den Füßen befinden sich weinrote Wildlederschuhe mit Lammfellinnenbesatz und Kreppsohlen.3. Verletzungen:Der äußere Befund: 4 Platzwunden von 45, 40, 35 und 30 mm Länge und zwar über dem linken Auge an der Stirn und der vorderen Schädeldecke; sie stammen vermutlich von einem scharfschneiden(den) Gegenstand her. Die Breite der 4 Wunden – gemessen in der Mitte – beträgt zwischen 6 und 10 mm. Auf dem Nasenrücken befindet sich etwa 5 mm unterhalb der Nasenwurzel eine dunkelrot unterlaufene Stelle, die vermutlich eine Quetschung durch einen Schlag darstellt. An der Unterseite des linken Kiefers beginnt in der Höhe des Anfangs des linken Zahnschemas eine blutunterlaufene Stelle von 30 mm Länge und etwa 10 mm Breite; sie ist den Umständen nach auf einen kräftigen Faustschlag zurückzuführen. Zwischen linker Brustwarze und dem Brustbein bis hinauf zur Schulter befinden sich nach dem äußeren Befund insgesamt 16 Stichverletzungen im Oberkleid. Bei der Überprüfung ergibt sich, daß diese Stiche durch das schwarze Unterkleid in den Körper eingedrungen sind.4. Die Leichenstarre war beim Eintreffen der Mordkommission der Kriminalaußenstelle Fürstenfeldbruck überall vollkommen ausgebildet.5. Schmuckstücke:Am rechten Ringfinger trägt die Leiche 2 Eheringe und dazwischen einen Schmuckring mit 3 Brillanten. Alle 3 Ringe sind aus Gold. An der rechten Körperseite liegt am Boden fast unter der Leiche am Beginn des Brustkorbes eine Brosche, die mit weißen Glassteinen besetzt ist. Es dürfte sich vermutlich um Edelsteine handeln. Die Fassung ist 55 mm lang und 30 mm hoch. Sie ist in der groben Form einer Krone gearbeitet.6. Die Leichenschauwurde am 13.11.51 um 16.45 Uhr von dem prakt. Arzt Dr. med. Kuhn aus Starnberg (…) vorgenommen. Als Todesursache wird von ihm innere Verblutung durch Stichverletzung in die Brust angenommen.7. Ein Tafelmesserliegt 98 cm rechts vom rechten Knie (gemessen von der Knie-Mitte aus) am Boden und zwar so, daß die Hälfte des Griffes, der aus weißem Metall besteht, unter dem Teppich sich befindet. Das Klingenende ist abgerundet. Von hier aus weist das Blatt auf einer Seite 40 mm Länge und auf der anderen Seite von 28 mm Länge einen weißen Fettbelag auf, bei dem es sich zweifelsfrei um Butter handelt.8. Der Zustand des Esstisches:Er ist rund, hat einen Durchmesser von 100 cm und eine Höhe von 70 cm. Er ist mit einer weißen geblümten Tischdecke bedeckt, die teilweise verschoben ist und deshalb unter Berücksichtigung des Tafelmessers als Ausgangspunkt der Tat anzusehen sein. Der Tisch stößt dicht an den Zimmerofen an, der zwar kalt, aber mit Asche aufgefüllt ist. Er war zweifellos in Betrieb gewesen. An dem Tisch befinden sich ein grüner und ein brauner Polstersessel. Zwischen ihnen ist ein etwas kleinerer Polsterstuhl vorhanden, der aber etwas zurückgeschoben ist. Nach dem Stand des Geschirrs zu urteilen, sind die erstgenannten 2 Stühle benützt worden. Gegen den Herd zu steht eine offene Butterdose, in der sich etwa 100 gr. Butter befinden, die angebrochen sind. Der Deckel liegt daneben. Zwischen der Butterdose und dem grünen Sessel befindet sich ein braunes Packpapier, darauf ein Pergamentpapier und auf diesem liegen 6 Scheiben Jagdwurst und daneben ein Stück Leberwurst von 50 gr. Gewicht, die noch unversehrt sind. Rechts davon auf dem braunen Papier der untere Teil einer Semmel, der mit Butter bestrichen ist. Kurz vor diesem grünen Sessel steht ein Kristallteller von 140 mm Durchmesser; auf ihm liegen 4 mit Schokolade überzogene Gebäckstücke von ca. 40 mm Durchmesser. Irgendwelche Reste davon am Tisch sind nicht zu sehen. An diesem Teller ist der Oberteil einer Semmel angelehnt, der mit Butter bestrichen ist. Links seitlich liegen in 40 mm Abstand 2 Scheiben der erwähnten Jagdwurst. Es erweckt den Anschein, daß dieser Zustand in einer Aufregung entstanden ist. In der Tischmitte steht auf einem Zierteller aus Porzellan eine Literflasche, die zur Hälfte mit Rotwein gefüllt ist. Die Flasche ist leicht verkorkt. Es handelt sich um 1950er Pfälzer Rotwein und stammt von der Fa. Bernhard MüllerKGAugsburg. Das Etikett ist von roter Farbe und ovaler Form. Neben dieser Flasche – entgegengesetzt dem grünen Sessel – steht ein Weinglas mit einem ganz geringen Rest von Rotwein. Vor diesem Glas steht gegen den braunen Sessel zu eine geöffnete Zuckerdose aus Porzellan; der Deckel liegt abseits am Tisch. Nun folgt gegen den Sessel zu eine gläserne Nachtischschale von 130 mm Durchmesser; sie ist leer, nur der Boden ist noch feucht. Eine Geruchswahrnehmung ist nicht mehr möglich. In ihr befindet sich ein Kaffeelöffel. Es ist anzunehmen, daß aus diesem Teller eingeweckte Aprikosen gegessen wurden. Auf dem Büffet steht ein zur Hälfte gefülltes Einwegglas mit Aprikosen, das zwar verdeckt, aber nicht geschlossen war. Am Tisch liegt dicht daneben eine Brille mit einer Horneinfassung von heller Farbe. Im Aschenbecher, der aus kräftigem Glas ist, befindet sich dunkelfarbige feine Asche. Darin liegt die Asche in Form einer Zigarette von 40 mm Länge; es ist anzunehmen, daß eine eingeworfene Zigarette dort verbrannt ist und deshalb ihre Form behalten hat. Rechts der Zuckerdose liegt eine Fünfer-Packung ›Zuban‹-Zigaretten Nr. 22 von roter Farbe, in der noch 2 Zigaretten enthalten sind. Eine Zigarette befindet sich am linken und eine am rechten Rand. Zwischen der Weinflasche und der Brille liegt eine Zehner Packung ›Peer‹-King-Size-Zigaretten, in der noch 1 Stück enthalten ist. Zwischen dieser und der Brille liegt noch eine Zündholzschachtel, die fast geleert ist. Rechts des Weinglases steht eine rote Schachtel, in der in 2 Abteilungen Patience-Karten enthalten sind.9. Der Fußbodenbelagbesteht aus 3 Teppichen. Der große Teppich von 350 x 260 cm Ausmaß bedeckt den Boden vom Fenster bis fast zum Tisch. Er hat Blumen- und Blattornamente. Er ist von rötlicher Farbe. In seiner Mitte hat er ein 90 x 90 cm großes Quadrat, dessen Spitzen nicht zu den Ecken, sondern zu der Mitte der Seiten zeigen. Dieses Quadrat hat die gleiche Musterung, ist aber von blauer Farbe.
Der Tisch steht auf einem roten Teppich von 220 x 90 cm Größe. Die Schmalseite zeigt zur Raummitte. Er zeigt Ornamente in orientalischer Form.
Von der Tür her liegt ein Teppich von 140 x 115 cm Ausmaß. Er ist von hellroter Farbe und trägt in der Mitte zwei ineinander gehende Ornamente in Rautenform, die Spitze an Spitze zusammentreffen.
Ein hellblauer Sitzpolster liegt auf dem Boden. Er gehört den Umständen nach zum braunen Sessel. Beim Betreten des Tatorts liegt er rechts vom rechten Knie der Toten.10. Blutspurenbefinden sich im blauen Quadrat des großen Teppichs und zwar an der Stelle, wo zuletzt der Kopf der Leiche gelegen hatte. Von der Außenkante dieses Blau-Quadrates ab ziehen sich Blutspuren bogenförmig noch 10 cm weit herein.
Diese Blutspuren sind auf eine Breite von durchschnittlich 50 cm ungleichmäßig verteilt. Zum Teil sind noch Spuren dickflüssigen Blutes sichtbar. Beachtlich ist aber, daß zwischen der Grenze der Blutspuren im Blau-Quadrat bis zur Aufliegestelle des Kopfes bei der Auffindung ein Zwischenraum von 45 cm vorhanden ist. Der Fußbodenbelag ist faltenförmig zusammengeschoben, so daß der Eindruck entsteht, daß ein Kampf stattgefunden hat. Nach dem Glätten des Teppiches ergibt sich ein Abstand von 60 cm.
Nach dem Verlauf der Blutspuren und ihrer Stärke ist anzunehmen, daß der Toten bereits am Tische sitzend die Stiche beigebracht wurden, daß sie sich am Boden vom Tisch entfernte und hierbei auf sie weiterhin eingestochen worden ist. Hierbei muß mindestens bis zur Blutgrenze im blauen Quadrat der Kampf fortgeführt worden sein.
Auf welche Weise aber der Zwischenraum von 45 cm in den Blutflecken hervorgerufen worden ist, läßt sich nicht erkennen. Es kann nur vermutet werden, daß die Schwerverletzte sich noch bis dorthin geschleppt hat und hier der Tod eintrat.11. Sichergestellte Schriftstücke:An der Kredenz, die an der westlichen Längswand steht, liegt ein offener Brief ohne Umschlag, datiert v. 6.12.51 aus Sonthofen.
Auf dem Schreibtisch in derSW-Ecke des Zimmers liegt ein geöffneter Eilbrief an Frau Sonja Bletschacher aus Beilngries v.11.12., eingegangen lt. Poststempel in Starnberg am 12.12.51. Er ist von der im Tathaus wohnenden Frau Lenser geschrieben. Diesem Brief liegen 2DMbei.
In einer Tasche wurde ein Kassenzettel der Fa. Ludwig Beck aus München über 15,03DMvorgefunden. Er datiert vom 11.12.51.
Feststellung:Eine eingehende Untersuchung der Räume nach Anschriften ist noch vorzunehmen, da bis jetzt kein Anhaltspunkt für den Täter zu gewinnen war. Vordringlich sind nun die notwendigen Vernehmungen, um baldige Fahndungen einleiten zu können.
Bolzmacher (OKom. d. LP.)«
Tisch und Lampe mit Anzeichen eines Kampfes
Wohnzimmer von Sonja Bletschacher
Spuren im Schnee
Die Beamten durchsuchen nicht nur Sonjas Wohnung, sondern auch mit einem Polizeihund das Grundstück des Anwesens – und entdecken Fußspuren.
Aus einer handschriftlichen Skizze zur Max-Emanuel-Straße, erstellt am Samstag, den 15. Dezember 1951:»Fußspuren vom Tathaus über den Zaun bis zur Josef Siglstraße, durch Trittspuren im Neuschnee sichtbar und vom Diensthund einwandfrei verfolgt. Es handelt sich der Größe nach um Männerschuhe.«
Die Josef-Sigl-Straße ist weder vom Haus Adlon noch von den Nachbargrundstücken her einsehbar.
Fußspur im Schnee auf dem Grundstück Adlon
Lageplan mit Verlauf der Fußspuren
DIE KRIPO DURCHLEUCHTET DAS ENGE UMFELD
AUF EINEN BLICK
DAUER DER ERMITTLUNGSPHASE: 13.-26. Dezember 1951; zwei Wochen.
SCHWERPUNKT: Überblick über den Leichenfundort; ein erstes Bild über die Person des Opfers; Rekonstruktion der letzten Lebensstunden; die letzten Kontakte und das enge Umfeld des Opfers.
ES SAGEN AUS, Z. B.: Sonjas Vermieterin Ottilie Adlon; Maria Michlmayer als eine Bekannte des Opfers; die Freundin Ingeborg Temple; Sonjas Schwager Gustav Bamberger; das Medium F. Matthias; die langjährigen Freundinnen Hedwig Goth und Elvira Leusmann; Sonjas Nichte Ilse; die Starnberger Lebensmittelhändlerin Centa Rieser und ihre Verkäuferin Käthe Miedl; Sonjas Haushaltshilfe Maria Richter; Sonjas Geschwister Ludwig Wolf und Luise; der Ingenieur und Freund des Opfers Karl Ludwig; das mit Sonja befreundete Ehepaar Proeller; das Ehepaar Lenser, als Mieter im Haus Adlon.
ERWÄHNT WIRD: ein mysteriöser Unbekannter.
ERMITTLER (GESAMTER FALL): die Kriminalbeamten Kott und Bolzmacher aus Fürstenfeldbruck; die Münchner Beamten Thaler und Feldmann mit ihrem Vorgesetzen Venus vom Präsidium der Landpolizei in Bayern; unterstützt durch Oberwachtmeister Auer der Starnberger Stadtpolizei.
Seit Eintreffen der Kripobeamten aus Fürstenfeldbruck geht es mit den Ermittlungen Schlag auf Schlag. Einen Tag nach ihrem Tod wird Sonjas Leiche in Starnberg obduziert und die Kripo durchsucht ihre komplette Wohnung. Alles spricht dafür, dass diese der Tatort ist. Im Laufe der zahlreichen Vernehmungen ergeben sich wie bei einem Schneeballsystem immer weitere Hinweise. Die Polizei sieht ihre erste Annahme bestätigt, dass ein Raub- oder Sexualmord ausscheiden. Daher konzentriert sie sich darauf, das Motiv in einer engen Beziehung zwischen Sonja und dem Täter zu suchen. Doch aus den ersten Vernehmungen ergibt sich noch keine »heiße Spur«.
Für den Zeitraum vom 13. bis 26. Dezember enthält die Untersuchungsakte Protokolle von 26 Befragungen. Teilweise werden die Zeugen mehrfach vernommen. Die Erkenntnisse aus den zahlreichen Informationen lassen bei der Kripo in dieser Phase den Eindruck entstehen, dass der Täter in dem engsten Umfeld der Toten zu suchen ist – insbesondere zwei Frauen werden Ende Dezember in Verdacht geraten.
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Eine Vermieterin, der wenig entging
Sofort nach ihrem ersten Eintreffen am Tatort befragen die beiden Kriminaler noch in der Wohnung der Toten die 72-jährige Hausbesitzerin. Ottilie Adlon, geb. 1879, zeigt sich als eine geschwätzige Vermieterin, der wenig entging.
Aus der Vernehmung von Ottilie Adlon am Donnerstag,den 13. Dezember 1951:Es wird sofort deutlich, dass zwischen der Toten und ihrer Vermieterin kein ungetrübtes Verhältnis bestand:»Bei Frau Bletschacher wohnte noch zeitweise ihre Nichte Ilse (…), die Laborantin im Krankenhaus in Sonthofen ist.
Die Frau Bletschacher war eine ruhige und angenehme Mieterin. Erst in den letzten 14 Tagen kam es zwischen ihr und mir zu Unstimmigkeiten, die ihre Ursache darin hatten, daß sie ihre Kohlen nach oben schaffen ließ, obwohl sie im Keller genügend Raum zur Verfügung hatte. Sie hat auch während des vergangenen Sommers wiederholt ihre Bettwäsche über den Balkon ausgeschüttelt, unter dem ich mit meiner Tochter auf meiner Veranda saß. Dabei kam es von Seiten der Frau Bletschacher zu groben Worten. Sie war ein sehr guter Mensch, aber manchmal hatte sie cholerische Anfälle.
Gelegentlich wurde die Frau Bletschacher in Zeitabständen von 8–14 Tagen von einem feinen Herrn besucht, der ein schönes Auto hatte. Er brachte ihr dabei immer kleine Geschenke mit. Ich nannte diesen Mann ›Grauköpfchen‹. (handschriftliche Anm. im Protokoll: Ludwig)
Vor etwa 3 oder 4 Wochen war ich letztmals in der Wohnung bei der Frau Bletschacher. Wie es in einer Hausgemeinschaft üblich ist, kam ich vorher des Öfteren zu ihr. Oft schon des Morgens, um zu fragen, was sie heute koche, während meiner Krankheit hat sie mich rührend gepflegt und wenn wir an den Nachmittagen und an den Abenden in ihrer Wohnung waren, haben wir Patience gelegt.
Die Frau Bletschacher bekam sehr häufig Post. Ich weiß, dass ihre Nichte Ilse (…) und ihre verh. Schwester (…) oft geschrieben haben. Der Bruder der Verstorbenen heißt Wolf und wohnt in Marquartstein.«
Entscheidend für die Polizei sind Ottilies Beobachtungen über den Vortag. Dazu hält das Vernehmungsprotokoll fest:»Gestern – 12.12. – kam die Frau Bletschacher mit dem Mittagszug, der um 12.49 Uhr in Starnberg ankommt, aus München zurück. Sie war am Dienstag, den 11.12., um 11.16 Uhr nach München gefahren.
Als die Frau Bletschacher gestern – 12.12. – mittags nach Hause kam, waren ich und meine Tochter beim Ankleiden, um zu einer Bridge- Partie im Bayer. Hof in Starnberg zu gehen. Wir sind zwischen 13.30 und 13.45 Uhr vom Haus weggegangen und waren Punkt 14 Uhr im Bayer. Hof. Beim Nachhausekommen habe ich auf die Uhr in meiner Wohnung gesehen und stellte fest, daß es rund 23.30 Uhr war. (…) Durch die Hanfeldstraße und die Max Emanuelstraße gingen wir heim. Es war Vollmond und dadurch sehr hell.
In der Umgebung meines Hauses befindet sich keine Straßenlaterne. Es ist uns aufgefallen, daß beim Heimkommen im Wohnzimmer der Frau Bletschacher kein Licht mehr brannte. Dies ist uns deswegen aufgefallen, weil die Frau Bletschacher sonst sehr lange auf ist und Licht hatte. Ich habe mir aber dabei nichts gedacht, weil ich annahm, daß die Frau Bletschacher in München in der vorherigen Nacht schlecht geschlafen hatte und deshalb früher zu Bett gegangen war und das Licht gelöscht hatte.
Ohne die Außenbeleuchtung einzuschalten, traten wir durch das Gartentürchen ein und gingen zum Haus. Als wir bei der Steintreppe angekommen waren, also direkt vor dem Wohnhaus standen, bemerkte ich plötzlich, daß am Gartenzaun zum Nebenhaus unmittelbar gegenüber der Haustreppe, ein ›Etwas‹ über den Zaun sprang. Was dies aber war, das kann ich nicht sagen. Ich machte erst meine Tochter darauf aufmerksam, aber sie hat nichts bemerkt und nichts gehört und kritisierte meine Überängstlichkeit. Trotzdem aber eilten wir rasch ins Haus und sperrten hinter uns gut ab. Die Gartentür war nicht eingeklinkt, darüber habe ich mich schon geärgert. Die Außentür des Hauses war zu, aber nicht verschlossen. Die Innentür mußte nur mittels Schlüssel aufgeklinkt werden; sie war nicht verschlossen.
Beim Heraufgehen in den ersten Stock, wo ich mit meiner Tochter wohne, war es sehr ruhig im Hause. Im Treppenhaus brannte beim Heimkommen kein Licht.
Mir ist bekannt, daß die Frau Bletschacher nur jeweils ihre Standlampe am runden Tisch eingeschaltet hatte. Die Wandlampe am Bett benützte sie nur beim Zubettgehen. Die Deckenbeleuchtung war nie eingeschaltet. Bei unserem Heimkommen war im Treppenhaus auch kein Fenster geöffnet. Das Haus machte einen ruhigen Eindruck; es waren keinerlei Anzeichen dafür, daß im Hause etwas vorgefallen sei, zu erkennen. Wir gingen beruhigt zu Bett.«
Der Morgen begann für Ottilie und ihre Tochter anders als sonst; etwas war seltsam:»Fast jeden Tag schüttelte sie (Frau Bletschacher, Anm. d. Verf.) gegen 9 Uhr den Ofenrost durch und dadurch erwachte ich und wußte, daß die Frau Bletschacher aufgestanden war. Heute Morgen erwachte ich gegen 10 Uhr. Ich machte meine Tochter Elisabeth darauf aufmerksam, daß Frau Bletschacher heute scheinbar auch noch nicht auf ist. Wir standen unmittelbar darauf auf. Gegen 11 Uhr hat es zweimal geklingelt; dies war für Frau Bletschacher bestimmt. Es kam der Paketträger der Post. Er brachte ein Nachnahmepaket i. W. v. (im Wert von, Anm. d. Verf.) über 14DM. Er fragte nach der Frau Bletschacher (…). Ich (…) sagte zum Postboten, (…), daß er warten soll, weil meine Tochter bei der Frau Bletschacher nachsehen sollte, ob sie da ist. Sie ging nach oben und rief dann herunter, daß Türen offenstehen, aber Frau Bletschacher nicht zu sehen ist. Auf meine Aufforderung hin schaute sie ins Wohnzimmer und begann gellend zu schreien und hielt mich vom Heraufgehen ab. Der Paketbote ging auf meine Aufforderung hin nach oben, kam nach kurzer Zeit zurück und sagte, daß ich nicht nach oben gehen soll, weil das für mich nichts sei. Der Paketbote hat dann die Polizei telefonisch benachrichtigt. (…)«
Auch Sonjas Bekanntenkreis entging Ottilie nicht. Obwohl sie viel erzählt, weiß sie letztlich wenig:»Dieser Herr ›Grauköpfche‹ (handschriftliche Einfügung im Protokoll: Ludwig Wolf?)kam seit etwa 3 Jahren zur Frau Bletschacher. Er war ein Freund ihres verstorbenen Mannes. Ich weiß dies aus Mitteilungen der Frau Bletschacher. Sein Name ist mir nie bekanntgeworden.
Eine gute Freundin von der Frau Bletschacher war die Witwe Hedi Goth (…). Wo diese Frau aber wohnt, das weiß ich auch nicht. Sie ist etwa 37–38 Jahre alt und sehr hübsch. Daß diese Frau Goth gestern Nachmittag zur Frau Bletschacher zu Besuch kommen wollte, weiß ich von der Frau Michelmayer, die mir das bereits heute früh erzählt hat.
Es fällt mir insbesondere auf, daß heute beim Auffinden der Toten der Tisch so schlecht gedeckt war (…), daß heute die Wurst in einem braunen Packpapier auf dem Tisch lag.
Die Frau Bletschacher war schon immer so verschlossen. Ich will damit sagen, daß sie, seit ich sie kenne, mir nie von ihrem persönlichen Freundeskreis etwas erzählt hat. Vor etwa 14 Tagen kam ich mit der Frau Goth wegen des ›Grauköpfchen‹ zu sprechen. Ich wunderte mich ihr gegenüber, daß dieser Herr mir von der Frau Bletschacher, obwohl er bereits 3 Jahre ins Haus kommt und mich auch schon sehr freundlich gegrüßt hat, noch nie vorgestellt worden ist. Ich meinte dabei, daß dieser Mann wohl verheiratet sei und daß dies ein Geheimnis bleiben soll. Frau Goth zuckte dazu in fraglicher Weise die Schultern und sagte mir dazu gar nichts.
Ich habe die Frau Goth schon mit der Frau Bletschacher gemeinsam im Auto des Herrn ›Grauköpfchens‹ nach München fahren sehen. Da dieser Herr immer per Auto kam, muß es ihm gehören. Das Kennzeichen diesesPKWhabe ich noch nie beachtet. Dieser Herr hat schon mehrere Kraftwagen gefahren. So erinnere ich mich an einen grauen und dunklen Wagen.
Seit kürzerer Zeit kam außerdem noch ein sehr eleganter Herr, der etwa anfangs der Fünfziger war. Er kommt seit etwa 4 Wochen. Seine Besuche sind meist gegen 10 oder 11 Uhr. Er hatte einen großen eleganten schwarzenPKW.
Herr ›Grauköpfchen‹ ist aber auch noch gekommen. Nach meinen Feststellungen sind diese zwei Herren aber nie zusammengekommen.
Im Winter 1950 und im Frühjahr 1951 befaßte sie sich mit dem Handel von Stoffen. Auf Befragen erzählte sie, daß sie diese von einem Freund auf Kommission bekomme. Sie verdiene daran 10%. Wo dieser Lieferant aber wohnt, das ist mir gleichfalls unbekannt.
Nach meiner Überzeugung befinden sich die Freundschaften der Frau Bletschacher in München.
Außer diesen beiden Herrn habe ich nie beobachtet, daß fremde Männer ins Haus zur Frau Bletschacher gekommen wären. Es sind aber außerdem noch Männer zu ihr gekommen, die aber zu ihrem Verwandtenkreis gehören.
An Frauen kamen noch eine Frau van Haug, die bei Gebhard an der Ecke Max Emanuel- und Hch. Wielandstr. (gemeint: Heinrich-Wieland-Str., Anm. d. Verf.) wohnt. Außerdem kam auch noch eine Frau Heinzel aus Percha. Aus Kempfenhausen kam auch noch eine Frau Temple; sie kam aber nur selten.
Die Frau Bletschacher hat nie davon etwas erzählt, daß sie von jemand angefeindet wird.
Ich kann auf den Täterkreis aus dem Umgang der Frau Bletschacher keinerlei Hinweise geben.«
Wer sah Sonja als Letztes?
Von zentraler Bedeutung für die Polizei ist die Aussage der Person, die Sonja als Letztes lebend gesehen hat. Dies ist vermutlich die Köchin Maria Michlmayer, geb. 1903, aus Starnberg. Sie war mit Sonja Bletschacher seit 1949 gut bekannt. Denn Frau Michlmayer arbeitete früher als Hausangestellte im Nachbarhaus der Villa Adlon bei »den Amerikanern«. Dort durfte sie auch Hühner halten. Nachdem Frau Michlmayer diese Stelle im März 1951 aufgegeben hatte, versorgte Sonja die Tiere. Frau Michlmayer brachte dafür täglich das Futter vorbei, so auch am 12. Dezember 1951, wenige Stunden vor Sonjas Tod.
Informationen aus ihren ersten beiden Vernehmungen amDonnerstag, den 13. und Montag, den 17. Dezember 1951:Entgegen Sonjas sonstiger Art bemerkte Maria Michlmayer bei ihrem letzten Besuch an Sonja Angst: Sie kam gegen 14.30 Uhr in Sonjas Wohnung. Dabei fiel ihr auf, dass sowohl die Garten- als auch die Haustüre unverschlossen waren. Sonja schien es mit dem Absperren nicht so genau zu nehmen – im Gegensatz zu ihrer Vermieterin, die darauf ein strenges Auge hatte. Denn Sonja erklärte die unversperrten Türen damit, dass sie noch Besuch erwarte und Frau Adlon mit ihrer Tochter nicht im Hause sei.
Sonja erzählte ihrer Bekannten, dass möglicherweise noch eine gute Freundin, Frau Temple, vorbeikomme. Sie wusste nur noch die Uhrzeit, 16 Uhr, aber nicht mehr, ob sie sich für den 12. oder den 13. Dezember verabredet hatten. Gedeckt war der Tisch mit einem Kaffeegedeck für zwei Personen. Frau Michlmayer verließ gegen 16.30 Uhr Sonja Bletschacher. Der Gast war bis dahin noch nicht erschienen.
Bei Frau Michlmayers Besuch am Nachmittag soll Sonja auffallend unruhig und nervös gewesen sein; so wie sie Maria Michlmayer noch nie erlebt hatte. Darauf angesprochen gab ihr Sonja keine Antwort. Allerdings soll Sonja ihre Besucherin beim Gehen gebeten haben, noch etwas zu bleiben. Sie hatte scheinbar Angst. Frau Michlmayer musste jedoch wegen eines eigenen Termins im Krankenhaus aufbrechen.
Beim Verlassen des Hauses verschloss Frau Michlmayer die Haustüre und ließ das Gartentor einschnappen. Dieses Tor konnte somit nur vom Haus aus elektrisch geöffnet werden. Ob ihr jemand beim Verlassen des Hauses Adlon begegnet war, daran konnte sie sich nicht erinnern.
Die Kripo braucht von der Zeugin Informationen über Sonjas Männerbekanntschaften: Frau Michlmayer weiß nur von drei Männern. Einer dieser Herren hatte zwischen ihr und Sonja den Spitznamen »Kapitän«. Dabei handelte es sich um einen graumelierten »sehr fesch(en)«, etwa 55-Jährigen, der einen Opel-Kapitän fuhr und ein Freund von Sonjas verstorbenem Mann war. Daneben gab es einen ca. 25-jährigen Mann namens Matthias. Außerdem sah Frau Michlmayer hin und wieder den Mann, der Sonja Stoffe zum Verkaufen brachte. Von einer Liebesbeziehung weiß sie nichts: »Mir ist nicht bekannt, daß Frau Bletschacher mit einem Mann ein Verhältnis hatte. Wenn das der Fall gewesen wäre, so hätte ich das sicher gewusst. Wir sprachen auch hin und wieder über dieses Kapitel. In sexuellen Dingen war sie direkt kalt. Sie unterhielt sich nach ihren eigenen Aussagen immer mit ihrem verstorbenen Mann auf okkultem Wege und damit war sie vollkommen zufrieden.«
Von großer Bedeutung für die Ermittlungen ist natürlich Sonjas wirtschaftliche Lage. Weiß die offensichtlich gut unterrichtete Maria Michlmayer auch darüber etwas? Bei ihrem Besuch am 12. Dezember 1951 deutete Sonja ihr gegenüber an, dass sie aus der Wohnung ausziehen wollte, da Frau Adlon mit ihrer Tochter so viel streiten würde. Sie habe sich in München schon eine Wohnung angeschaut. Frau Michlmayer ist sich sicher, dass Sonja nicht vermögend war und nur über eine kleine Pension von 160 DM verfügte. Da sie darüber hinaus keine Vermögenswerte besaß, sei sie ständig in Geldnöten gewesen. Sie wollte sogar an Frau Michlmayer einen ihrer Mäntel verkaufen. Dennoch ließ Sonja die Hausarbeit ihrer kleinen Dachgeschosswohnung, so Frau Michlmayer, wöchentlich oder 14-tägig von der Zugehfrau der Adlons erledigen.
Maria Michlmayer beobachtete auch einen mysteriösen Fremden: Als sie im März 1951 ihre Stellung im Nachbarhaus der Adlons aufgegeben hatte, konnte sie für einige Wochen in der Wohnung der Adlons unterkommen. In dieser Zeit machte sie eine eigenartige Beobachtung: »Plötzlich sah ich einen Mann vom Vorplatz weg über den Gartenzaun in das Nachbargrundstück springen.« Da es mondhell war, wusste sie noch genau, dass dieser Fremde einen grauen Mantel und einen dunklen Hut trug. Als sie Sonja davon erzählte, blieb diese davon unbeeindruckt und ohne Sorge.
Sonjas Leiche wird geöffnet
Auch wenn der erste Augenschein schon eine Richtung vorgegeben hat, kann erst ein Obduktionsbericht belastbare Fakten über Tatwaffe und Todesursache liefern. Bei Sonja bleiben Fragen offen.
Aus dem Obduktionsbericht vom Freitag, den 14. Dezember 1951:Der fünfseitige Untersuchungsbericht der Gerichtskommission stellt als vorläufiges Ergebnis fest:»I. Der Tod ist eingetreten durch Verblutung, hauptsächlich infolge der Stiche in die Brusthöhle, möglicherweise durch die Schussverletzung, die die Wirbelsäule noch getroffen hat.
II. Die Verletzungen wurden ausgeführt mit einem scharfschneidigen Instrument, andererseits vielleicht auch noch durch ein stumpfkantiges Instrument, wenigstens was die Verletzungen am Schädel anbelangt. Die Verstorbene scheint außerdem noch Boxhiebe ins Gesicht bekommen zu haben und gewürgt worden zu sein.
III. Zur weiteren Klärung, namentlich ob eine Schussverletzung vorliegt, nachdem ein Geschoss nicht gefunden werden konnte, wurden die betreffenden Halswirbel und das Stückchen Haut der Achselhöhle mit dem vermutlichen Einschussloch sowie die Wolljacke der Verstorbenen zur Untersuchung zurückbehalten.«
Die gesamte Wohnung wird auf den Kopf gestellt
Hat sich die Polizei zur Spurensicherung bisher auf das Tatzimmer konzentriert, nimmt sie einen Tag nach dem Verbrechen Sonjas komplette Wohnung unter die Lupe. Dazu zählen Wohn- und Schlafzimmer, der Vorraum und die Toilette, die Küche, der Abstellraum und die Speisekammer. Bei der Durchsuchung werden keine verschlossenen Behältnisse vorgefunden – eine Feststellung, die sich später noch relativieren wird.
Aus dem Durchsuchungsbericht vom Freitag, den 14. Dezember 1951: Als Ergebnis ist festgehalten:»(…) Tatwaffen oder zur Tat verwendete Werkzeuge wurden nicht gefunden. Im Schreibtisch wurden die Briefe ausgesondert und zu den Ermittlungsakten genommen, die für die weitere Untersuchung von Bedeutung sein können. (Sie wurden scheinbar nicht zur staatsanwaltlichen Ermittlungsakte gegeben. Anm. d. Verf.)
An Bargeld wurden im Schreibtisch insgesamt 136,--DMvorgefunden und als Wertgegenstand eine goldene Uhr, engl. Fabrikats. Diese Gegenstände wurden an Ort und Stelle belassen (…).
Von dem Weinglas, das auf dem großen runden Eßtisch stand (siehe Ziff. 8 des Berichtes über dieTBA.), wurden mit Folie Fingerabdrücke genommen.
Sämtliche beweglichen Sachen wurden von ihrem Standplatz entfernt und der Raum eingehend nach Patronenhülsen abgesucht. Die Suche nach solchen Hülsen war ergebnislos.
Die Schlüssel zu den Räumlichkeiten wurden nach beendigter Durchsuchung Herrn Auer von der Stadtpolizei Starnberg übergeben.
Beginn der Durchsuchung: 13 Uhr, Ende: 17 Uhr.«
Eine verwechselte Einladung
Ingeborg Temple, geb. 1905, ist eine gute Freundin der Verstorbenen. Nach den Hinweisen von Frau Michlmayer soll sie möglicherweise der letzte Besuch bei Sonja am Mittwoch vor ihrem Tod gewesen sein.
Aus der Vernehmung vom Freitag, den 14. Dezember 1951:Auch wenn sie mit Sonja seit Jahren eine Freundschaft gepflegt hat, bleibt ihr Wissen an der Oberfläche: Sie und Sonja lernten sich 1942 in München über ihre mittlerweile verstorbenen Ehemänner kennen. Beide Paare waren befreundet. Nach dem Tod der beiden Ehemänner im Jahr 1944 intensivierten die Witwen ihren Kontakt. Dies ging aber nicht so weit, dass sie persönliche Informationen, wie Namen über männliche Bekanntschaften austauschten. Allerdings konnte Frau Temple vereinzelt Namen aus Sonjas Bekanntenkreis nennen. Dessen Schwerpunkt soll in München gelegen haben.
Die Freundin weiß auch, dass Sonja ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Nichte Ilse unterhielt. Diese arbeitet zurzeit in Sonthofen.
Inge Temple war nicht der vermutete letzte Gast an Sonjas Todestag: In Sonjas Wohnung kam die Zeugin zuletzt am 7. Oktober 1951; gesehen haben sich die Freudinnen das letzte Mal am 5. Dezember 1951 in Starnberg beim Einkaufen. Bei diesem Treffen versuchten die Frauen einen Termin für einen Besuch zu finden. Dies erwies sich wegen vieler anderer Verabredungen der beiden als schwierig. Im Raum stand der 13. Dezember, der wegen eines Krankenbesuchs der Zeugin scheiterte. Ein Be-such am 12. Dezember, wie von Sonja angenommen, wäre für Inge unmöglich gewesen. Denn an diesem Tag nahm sie, wie Mutter und Tochter Adlon, an der Bridgepartie im Bayerischen Hof in Starnberg teil.
Ingeborg Temple besitzt wenig Einblicke in Sonjas Umfeld – trotz Freundschaft. Immerhin ist sie über das Verhältnis zwischen Sonja und ihrer Vermieterin im Bilde. So sagt sie aus: »Bei meinem Besuch am 7.10. bestand zwischen Adlons und Bletschacher noch ein gutes Einvernehmen, worauf die Frau Bletschacher immer einen besonderen Wert legte, weil sie in Frieden leben wollte. Nach meinem Wissen wurde der Rahmen der Höflichkeit gewahrt, aber zur näheren Freundschaft ließ sich Frau Bletschacher nicht herbei, um ihr Privatleben nicht preisgeben zu müssen.«
Über Sonjas Männerbekanntschaften weiß sie wenig. Nähere Einzelheiten wie zum Beispiel über die Beziehung von Sonja zu dem von der Zeugin Michlmayer erwähnten Matthias kann die Freundin nicht nennen. Bekannt ist ihr lediglich, dass Sonja bei ihm Russischunterricht nahm und sich die beide nur in dessen und nicht in Sonjas Wohnung trafen. Überhaupt nicht eingeweiht ist Ingeborg Temple über persönliche Angelegenheiten. Sie verweist die Ermittler auf Sonjas Freundin Hedi Goth und die Nichte Ilse. Beide wüssten auch mehr über Sonjas Neigung zum Okkultismus.
Sonjas angeheiratete Familie kommt zur Polizei
Jedes Detail kann zu dem Täter oder der Täterin führen. Insofern sind die Informationen über Sonjas Lebenssituation aus Sicht ihrer angeheirateten Verwandtschaft wichtig. Der Schwager von Sonjas Mann Ludwig Bletschacher kommt am 14. Dezember 1951 von sich aus nach Starnberg, um bei der Polizei auszusagen. Begleitet wird er von einem von Sonjas Stiefsöhnen. Gustav Bamberger, geb. 1895, arbeitet als Geschäftsführer in München, seine Ehefrau ist die Schwester von Sonjas verstorbenem Ehemann Ludwig. Er hat Sonja schon seit 1937 aus der Zeit vor ihrer Eheschließung gekannt. Während Sonjas Ehe schlief der Kontakt zu ihr ein und intensivierte sich erst wieder ab Ende Mai 1945, als Sonja mittlerweile Witwe war.
Aus der Vernehmung der beiden am Freitag, den 14. Dezember 1952:Die Angaben des Schwagers machen Sonjas schwierige finanzielle Situation deutlich:»(…) Nach dem Tod ihres Mannes war sie noch relativ vermögend und lebte nach meinem Wissen in geordneten Verhältnissen. Sie mußte allerdings in den folgenden Jahren ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Wertgegenständen bestreiten. Auch ich habe ihr ab und zu mit kleinen Geldbeträgen ausgeholfen. (…) Wenn sie sich in geldlichen Schwierigkeiten befunden hat, hat sie sich ab und zu um kleinere Darlehen an mich gewandt. Desöfteren äußerte sie sich, daß ich aus ihrer Verwandtschaft der Einzige sei, wo sie sich Hilfe erhoffen kann.«
Gustav Bamberger nennt auch Namen von weiteren Bekannten Sonjas und kennt ihre Interessen: So erfahren die Kriminalbeamten, dass sie in München hauptsächlich mit den beiden Frau Frauen Hedi Goth und Elvira Leusmann befreundet war. Daneben hatte sie häufig Kontakt mit der Familie Schottenhamel, mit der sie über ihren Ehemann entfernt verwandt war. Von einer Familie Proeller in Augsburg erhielt sie jahrelang Lebensmittelgeschenke. Über Männerbekanntschaften weiß er nichts. Somit kann er auch nicht zur Identifizierung des Mannes mit den grauen Haaren beitragen. Er kannte Sonja als starke Raucherin, die aus seiner Sicht ein zurückgezogenes Leben geführt hat. Ihr Hauptgesprächsthema ihm gegenüber waren ihre okkultistischen Interessen. »Sie erzählte uns, daß sie sich mit Tischerlrücken befasste, wohl allein als auch in größerem Personenkreis«.
Den letzten Kontakt hatte er zu Sonja am Telefon:»Das letzte Mal habe ich am Dienstag, den 11.12.51 mit ihr telefonisch gesprochen. Sie hat vermutlich aus München angerufen. (…) Über ihre weiteren Pläne in München habe ich nichts erfahren. (…)«
Ergänzt wird Gustav Bambergers Aussage von seinem Neffen, einem Sohn Ludwig Bletschachers. Viel Neues kann er nicht beitragen: Aus seiner Sicht kam seine Stiefmutter durch Herrn Matthias, den er persönlich nicht kennt, seit dem Jahr 1948 zum Okkultismus. Auf dessen Anregung hin habe sie sogar Russisch gelernt. Mehr weiß er über diesen Mann nicht. Ein ehemaliger Kriegskamerad seines Vaters namens Niedermayr soll seiner Stiefmutter einige Zeit nach dem Tod seines Vaters erfolglos einen Heiratsantrag gemacht haben. Den letzten Kontakt hatte der Stiefsohn zu Sonja am 29. November 1951.
Ein erster Verdacht bestätigt sich nicht
Die Fürstenfeldbrucker Kripo findet bei der Wohnungsdurchsuchung Briefe von dem knapp 30-jährigen F. Matthias an Sonja. Matthias lebte in den Jahren 1946 und 1947 in Starnberg und wohnt mittlerweile im Rheinland. In einem seiner Briefe kündigt er an, Sonja in der Zeit vom 26.8. bis 2.9. 1951 in Starnberg zu besuchen.
Ein Blitzfernschreiben der Kripo an den Niederrhein von Freitag, den 14. Dezember 1951:»Es wird gebeten, umgehend das Alibi des Matthias für die Zeit vom 11.12.51 bis heute genau zu überprüfen, da der Verdacht besteht, daß er die Bletschacher auch jetzt besuchte.
Sollte der Verdacht der Täterschaft gegen ihn gegeben sein, so wird um Durchsuchung seiner Wohnung und Person, Sicherstellung seiner Kleidungsstücke und der Tatwaffe (vermutlich Taschenmesser oder ähnliches) sowie der Briefschaften mit der Ermordeten und gegebenenfalls um Festnahme des Matthias ersucht.
Bei einwandfreiem Alibinachweis wäre er kurz über sein Verhältnis zu der Ermordeten zu vernehmen.
Das Ergebnis wird sofort mittelsFS (Fernschreiben, Anm. d. Verf.) hierher erbeten.«
Die Antwort der rheinländischen Kollegen kommt per Fernschreiben einen Tag später: Matthias Alibi erweist sich als lückenlos, er kommt als Täter nicht in Betracht.
Das letzte Mal besuchte er Sonja im August 1951.
Bringt die langjährige Freundin die Ermittler weiter?
Hedwig Goth, geb. 1914, lernte Sonja 1936 kennen, als diese noch unverheiratet und mit Ludwig Bletschacher liiert war; sie verstanden sich von Anfang an gut. Auch sie ist verwitwet und lebt seit 1946 bei ihrer Mutter in München.
Die verstorbenen Ehemänner der beiden Frauen waren Jugendfreunde. Nach Kriegsende verband Hedi und Sonja das gemeinsame Schicksal als Offizierswitwen. Seit 1950 besuchte die Freundin Sonja sehr häufig, teilweise spontan und blieb bei ihr über Nacht in Starnberg. Hedi Goth ist der festen Überzeugung, dass Sonja ihr anvertraut hätte, falls es einen Freund oder sonstigen Bekannten in ihrem Leben gegeben hätte.
Aus der Vernehmung von Hedwig Goth am Samstag,den 15. Dezember 1951:Immerhin kann sie Licht in Sonjas Männerbekanntschaften bringen und das Geheimnis um »Grauköpfchen« lichten:»Die Frage nach Männerbekanntschaften der Frau Bletschacher kann ich dahingehend beantworten, daß ich bestimmt weiß, daß sie sehr zurückgezogen gelebt hat. Ein Freund des verstorbenen Herrn Bletschacher ist ein Herr Niedermeier, der hin und wieder die Frau Bletschacher in Starnberg besucht hat. Er besitzt aber kein Auto. Nach meinem Wissen hat er aber ein Kraftrad. Die Frau Adlon wollte immer wissen, wer der Herr ›Grauköpfchen‹ ist. Nach(dem) der Frau Bletschacher bekannt war, daß die Frau Adlon sehr neugierig ist, hat sie den Namen dieses Mannes ihr immer verschwiegen. Dieser Herr heißt Emil Ludwig, Inhaber oder Mitinhaber einer Baufirma in München. Durch ihre schlechte Vermögenslage war die Frau Bletschacher gezwungen, sich von Vermögenswerten zu trennen. Mir ist bekannt, daß er ihr Silbersachen und ähnliche Wertgegenstände, die ich aber nicht mehr weiß, abgekauft hat. Ludwig verfügt über einenPKW. Er besitzt einen Volkswagen und einen großen Mercedes, die er abwechslungsweise benützt.«
Auch über Sonjas Okkultismus weiß sie Bescheid: Hedwig Goth sagt aus, dass Sonja sich intensiv mit Okkultismus beschäftigte. Als Medium fungierte oft Herr Matthias, der ihr auch hin und wieder Russischunterricht gab. Der Kontakt mit Matthias fand nur in seiner und nie in Sonjas Wohnung statt. Frau Goth bemerkte nicht, dass zwischen Sonja und dem deutlich jüngeren Herrn Matthias eine intime Beziehung bestand. Sonja unterstützte Matthias in den Jahren nach dem Krieg, als es ihm schlecht ging. Später zeigte er sich dafür erkenntlich.
Hedi liefert noch weitere Namen aus Sonjas Bekanntenkreis: Neben den erwähnten Personen nennt sie als Sonjas Bekannte deren Schwager Herrn Bamberger, einen Herrn Niedermayr, Frau Temple, Frau Leusmann und ein Fräulein Hartung aus Percha. Möglicherweise besuchten sie ihre Stiefsöhne in Starnberg. Befreundet war sie mit einer Familie Proeller aus Augsburg. Kontakte ergaben sich für Sonja auch aus ihrem Bemühen, an amerikanischen Kaffee und Zigaretten heranzukommen. Als Bezugsquellen kennt die Zeugin Frau Michlmayer und Sonjas Putzfrau Frau Richter.
Die Frage nach Sonjas letztem Besuch kann die Freundin leider nicht aufklären: Sie wundert sich über den nachlässig gedeckte Tisch beim Auffinden der Leiche. Denn wie alle anderen Zeugen kennt sie Sonja als ordentliche Frau, die auf einen »hübsch gedeckten Tisch« wert legte.
Über eine gemeinsame Bekannte weiß Hedi Goth, dass Sonja am Dienstag, den 11. Dezember, nach München fuhr. Am Mittwoch musste sie jedoch wieder zu Hause sein, da sie Besuch erwartete. Als Besucherin bringt die Zeugin eine weitere Person ins Spiel: Es soll sich um Frau Hartung aus Percha gehandelt haben.»Wenn mir vorgehalten wird, daß ich am Mittwoch, den 12.12. nachmittags die Frau Bletschacher hätte besuchen sollen, so ist dies nicht richtig. Ich war das Letztemal von Freitag auf Samstag (7. zum 8.) bei ihr und habe sie ohne Nachricht gelassen. Ich habe ihr auch nicht geschrieben. Meiner Meinung nach hat Frau Bletschacher dies deshalb zur Michelmayer gesagt, damit diese nicht immer stundenlang in ihrer Wohnung sitzen bleibt.«
Frau Goth selbst besuchte an dem besagten Mittwoch, den 12. Dezember 1951, und der darauffolgenden Nacht mit ihrem Verlobten einen Bekannten.
Elvira – eine weitere Freundin bei der Polizei
Unverzichtbar ist für die Ermittlungen, was die langjährige Freundin und ehemaligen Kollegin aussagt. Elvira Leusmann, geb. 1919, hat Sonja seit Mitte der 1930er-Jahre gekannt. Beide arbeiteten früher im Hutgeschäft Breiter in München zusammen. Elvira führt mittlerweile in München in der Kaufingerstraße einen Schreibwarenladen. Die Treffen zwischen den beiden Frauen fanden meistens in München statt. Elvira selbst will höchstens dreimal in Starnberg gewesen sein.
Aus der Vernehmung von Elvira Leusmann am Samstag,den 15. Dezember 1951:Über die Art von Sonjas Männerbekanntschaften ist sie nur wenig informiert: Aus Elviras Sicht lebte die Verstorbene sehr zurückgezogen und pflegte wenig Männerbekanntschaften. Sonja erzählte ihr von Herrn Ludwig, einem Bekannten von Sonjas Mann, der diese öfter mit nach München nahm. Von einem intimen Verhältnis zwischen beiden geht sie nicht aus.
Sie weiß auch von der Bekanntschaft zu Herrn Niedermayer, ebenfalls ein Bekannter von Sonjas verstorbenem Mann. Diesen sah Elvira bei Sonja lange nicht mehr. Ihr ist bekannt, dass er vor Jahren Sonja einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sonjas Ablehnung trübte die Freundschaft zwischen beiden jedoch nicht.
Über Herrn Niedermayr soll Sonja Herrn Matthias kennengelernt haben. Eine intime Beziehung zwischen beiden bestand nach Elviras Ansicht nicht. Sonja sah in den okkultistischen Sitzungen vor allem eine Möglichkeit, mit ihrem verstorbenen Mann in Kontakt zu treten. »Nach meinem Wissen lebte die Frau Bletschacher in sehr bescheidenen Verhältnissen und bestritt ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch ihre Pension und durch den Verkauf ihrer Kleider und Stoffe. Auch Teppiche und Porzellan hatte sie in den letzten Jahren verkauft. Mir ist nicht bekannt, daß sie von Männern größere Geschenke oder gar Geld erhalten hat. Von Herrn Bamberger wurde sie nach ihren eigenen Erzählungen einige Male finanziell unterstützt.Über ihre Bekanntschaften kann ich keine sachdienlichen Angaben machen. Daß sie einen Freund hatte, ist mir nicht bekannt. Auch aus den Erzählungen ihrer Freundin Frau Goth habe ich nie entnommen, daß sie Männerbekanntschaften hatte. Als Bekannte der Frau Bletschacher kenne ich nur Frau Goth, Herrn Niedermayer, die Frau von Temple, Architekt Ludwig, einen Herrn Dr. Middelmann, Familie Pröller aus Augsburg, die beiden Stiefsöhne (…) und die Mutter Frau Karla Bletschacher.«
Durch Elvira erfährt die Polizei von Sonjas letzter Feier in München: Die Freundinnen trafen sich am Dienstag vor Sonjas Tod in München um 16.30 Uhr in Elviras Wohnung. Die beiden Frauen tranken zusammen Kaffee und besuchten am Abend einen gemeinsamen Bekannten in der Tivolistraße, den Autoverkäufer Herrn Rosenblüh. An der Gesellschaft nahmen noch Elviras Schwester und deren Verlobter teil. Da es nach dem gemeinsamen Abendessen sehr spät wurde, wollte man Sonja nach 23 Uhr nicht mehr nach Starnberg fahren lassen. Sonja konnte bei dem Gastgeber die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer verbringen, während er die anderen Gäste mit dem Auto nach Hause brachte. Am nächsten Tag, Mittwoch, den 12. Dezember, kam Sonja morgens um 9.30 Uhr wieder in die Wohnung ihrer Freundin. Zusammen mit Elviras Schwester gingen die drei Frauen in die Maximilianstraße, wo sich Sonja verabschiedete. Sie musste noch etwas im Hotel Schottenhamel erledigen und dann sofort nach Starnberg fahren. Als Grund für ihre zeitige Rückfahrt gab Sonja an, dass sie am Nachmittag ein Fräulein Hartung zum Kaffee erwarten würde. Mehr kann die Zeugin über die Lebensweise von Sonja Bletschacher nicht beitragen.
Endlich mehr Licht in Sonjas Lebensumstände
Wer besitzt die zuverlässigsten Einblicke in Sonjas Leben? Zu den Personenkreis zählt sicherlich Sonjas Nichte Ilse, die seit 1945 bei ihrer Tante lebt. Die junge Frau arbeitet seit 9. November 1951 als Laborantin im Krankenhaus Sonthofen. Sie erscheint freiwillig in den Räumen der Starnberger Polizei und wird intensiv von dem Kripobeamten Bolzmacher befragt.
Aus der Vernehmung der Nichte am Samstag, den 15. Dezember 1951:Ihre Angaben verdeutlichen, dass Sonja ihre Nichte wie ein eigenes Kind betrachtete:
»Ich bin die Nichte der ermordeten Frau Sonja Bletschacher. Meine Mutter ist die Schwester der Verstorbenen. Schon in meinen Jugendjahren war ich viel bei meiner Tante Sonja Bletschacher. Ich wurde von meiner Tante wie ihr eigenes Kind behandelt. Sie hat (…) mir (…) viel Gutes erwiesen. Ich habe mich mit meiner Tante immer sehr gut verstanden. Sie war wie eine Mutter zu mir. Im Januar oder Februar 1945 kam ich ganz zu ihr. Seit dieser Zeit lebe ich mit ihr zusammen. Somit bin ich in die Lebensweise meiner Tante eingeweiht und kann deshalb auch über ihren näheren Umgang Aussagen machen.
Als ich zu ihr im Jahre 1945 kam, wohnten wir zusammen im Hause Reck in Percha. Im August 1948 sind wir nach Starnberg in die Max-Emanuelstraße 7 zu Frau Adlon verzogen.
Wie ich bereits ausführte, bin ich mit meiner Tante immer gut ausgekommen, habe nie mit ihr Streit gehabt. Auch gegenüber anderen Leuten war sie immer sehr entgegenkommend und hilfsbereit.«
Aufschlussreiche Informationen liefert Ilse auch über Sonjas Freundesund Bekanntenkreis:»Als ihre vertrautesten und intimsten Bekannten und Freunde kann ich die Frau Hedwig Goth, die Elvira Leusmann, Frau von Linsdorf-Tempel und einen gewissen Herrn Matthias benennen. Auch Herr Niedermayer war ein guter Freund des Hauses. Diese angeführten Personen haben sich auch meiner Tante gegenüber sehr anständig und entgegenkommend benommen.
Als Bekannte meiner Tante kenne ich eine Frau Dr. Heinzel, Frl. Hartung, Frl. Haug, die Verwandten ihres verstorbenen Mannes (Familie Schottenhamel), Herrn Bamberger, die beiden Stiefkinder (…), deren Mutter Klara Bletschacher und Herrn Architekt Ludwig. Herr Architekt Ludwig ist ein guter Freund des verstorbenen Herrn Bletschacher gewesen. Frau Dr. Heinzel und Frl. Hartung wohnen in Percha, Am Mühlberg, in zwei nebeneinander befindlichen Häusern. Frl. Haug wohnt in Starnberg in der Hch. Wielandstraße.
Meine Tante war außerdem sehr gut befreundet und stand auf dem ›Duz‹-Fuß mit der Familie Pröller in Augsburg-Steppach. Mit dieser Familie war meine Tante durch ihren Ehemann bekannt geworden.
Meines Wissens war meine Tante seit rund 20 Jahren mit der Arztfamilie Dr. Middelmann aus Gmund befreundet. Diese Freundschaft löste sich aber in Unfrieden, und zwar durch den Matthias. Er hat bei den spiritistischen Sitzungen manchmal politische Dinge vorgebracht, wodurch die Familie Middelmann annahm, daß der Matthias in politischer Beziehung ein gefährlicher Mann sei. Wie dies mit dem Matthias wirklich war, daß weiß ich nicht genau und kann daher darüber keine bindenden Aussagen machen.
Richtig ist, daß dieser Matthias als Medium aufgetreten ist. Das kann ich aus eigener Wahrnehmung bezeugen. Anfänglich wollte meine Tante bei diesem Matthias die russische Sprache lernen. Aber sie kam durch ihn allmählich mit dem Okkultismus in Berührung. Daraufhin sind in unserer Wohnung in Percha solche Sitzungen abgehalten worden. (…) (E)s (war) in der Zwischenzeit so, daß die Tante in den Bann des Matthias geraten war und (sie) diese Sitzungen allein abgehalten haben. Ich habe aber nie bemerkt, daß es dabei zwischen ihnen zu Intimitäten gekommen ist. (…) Ich kann trotz eingehender Besprechung der Sachlage keinerlei Hinweise zum Täterkreis geben.«
Wie schon vorher Frau Michlmayer berichtet auch Ilse von einem mysteriösen Fremden, der in der Dunkelheit lauerte:»Ich war am Sonntag, den 21.10.51, den Tag über in Tutzing zu Besuch. Ich fuhr mit dem Zug von Tutzing nach Starnberg zurück. Ich habe im Zug mich mit niemand unterhalten. Ich kam um 21.18 Uhr in Starnberg an und begab mich schnellen Schrittes nach Hause. Ich habe unterwegs niemand getroffen, mit dem ich mich noch unterhalten hätte. Von der Hanfelder Straße bog ich in die Max-Emanuelstr. ein, um nach Hause zu gehen. Als ich dabei die Einmündung der Hoh. Wielandstr. überquerte, sah ich vor mir an dem von der Besatzungsmacht beschlagnahmten 1. Haus oberhalb des Friedhofs einen Mann stehen. Dieser Mann zeigte mir den Rücken und er stand ruhig unter einer beleuchteten Laterne. Ich ging auf der gleichen Straßenseite, wo dieser Mann stand. Als ich fast bei ihm dort war, drehte er sich um, so daß ich ihn im Gesicht erkennen konnte. Dieser Mann schaute mich sehr beobachtend an. Ich hatte das Gefühl, daß dieser Mann sich verhielt, als wenn er auf jemand lauern würde. Ich hatte dieses Empfinden schon in dem Augenblick, wo er sich umdrehte, denn dabei hatte ich den Eindruck, als ob er mein Kommen erwartet hätte. Er schaute mich herausfordernd an, so daß ich vor ihm Angst empfand. Aber ich riß mich zusammen und blickte ihn genauso starr an. Beim Weitergehen ging ich nun etwas langsamer, um auf diesen Mann achten zu können, denn ich habe (mich) ständig umgesehen. Dieser Mann ging mir nur langsam nach. Ich habe ihn dauernd beobachtet. Als mein Weg dunkler wurde, das durch den Lampenabstand bedingt war, bemerkte ich, daß dieser Mann mir nun schneller nachkam und sich von Baum zu Baum bewegte. Ich ging, beschleunigte mein Tempo ebenfalls. Meine Angst steigerte (sich) in gleichem Maße. Obwohl ich meine Hausschlüssel in der Manteltasche bereit hatte, läutete ich dann an der Gartentür sehr heftig, um meine Tante zu alarmieren und dadurch den Mann abzuhalten. Die Tante machte sich durch Rufen vom Balkon sofort bemerkbar. Unterdessen schloß ich rasch auf und warf die Tür hinter mir zu. Die Tante fragte mich dann in der Wohnung, wer denn dieser Mann gewesen sei, denn sie beobachtete, daß ein Mann sich im Garten bewegt hat. Sie will sogar gesehen haben, daß dieser Mann hinter mir in den Garten gekommen war und durch ihr Rufen zum Tor zurücklief und die Straße stadtauswärts gerannt sei. Nun erzählte ich meiner Tante das Erlebnis mit diesem Mann.
Am darauffolgenden Mittwoch – 24.10. – ging ich gegen 21 Uhr den gleichen Weg nach Hause. Ich war bei dieser Gelegenheit auch allein. Ich habe am gleichen Haus, aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Dunkeln den gleichen Mann gesehen. Ich habe wieder den Eindruck gewonnen, daß er auf mich wartet. In meiner Angst ging ich schnell weiter, hörte aber, wie dieser Mann mir folgte. Es kam aber nach kurzer Zeit ein Auto uns nach. Durch den Lichtschein wurde ich geblendet, so daß ich nun den Mann trotz dem Licht nicht sehen konnte. Dagegen nahm ich durch den Lichtschein zwei Frauen wahr, die, zwar noch weit entfernt waren, aber mir entgegenkamen. Es gelang mir, das Haus unbelästigt zu erreichen. Seit dieser Zeit habe ich diesen Mann nicht mehr gesehen.Beschreibung: etwa 45 Jahre alt, ca. 170 cm groß, mittelstark, dunkle Augen, schmales Gesicht, dunkles Sporthemd, mittelfarbigen Lodenmantel mit einer Rückensprungfalte, Halbschuhe.
Von dieser 2. Begegnung ab bin ich abends nur mehr in Begleitung nach Hause gegangen. Bei diesen späteren Heimwegen habe ich diesen Mann aber nicht mehr gesehen.«
Ein wichtiger Punkt für die Polizei: Wie gut weiß Ilse über das Intimleben ihrer Tante Bescheid?»Es ist richtig, dass ich mit meiner Tante sehr gut lebte und deswegen auch alles wußte, was innerhalb unserer Wohnung vorging. Wenn meine Tante in den letzten Wochen, also während meiner Abwesenheit in Sonthofen, eine Herrenbekanntschaft gemacht hätte oder einen Herrenbesuch aus früherer Zeit bekommen hätte, so hätte sie mir dies ganz bestimmt geschrieben. Ich kann dies deswegen mit Sicherheit sagen, weil ich an meiner Tante nie irgendein sexuelles Moment beobachten konnte. Die Aussage von Frau Adlon, daß sie in den letzten Wochen, also während meiner Abwesenheit, wiederholt einen Herrn beobachtet habe, der mit einemPKWgekommen sei und meine Tante besucht habe, halte ich für unglaubwürdig.
Ich (…) weiß (…), daß meine Tante sexuell seit dem Tode ihres Mannes entwöhnt war. Sie hatte zwar den Wunsch, einen Mann zu finden, der sie umsorgt und ihr ein angenehmer Ehemann wäre, bei dem auch finanzielle Angelegenheiten in Ordnung wären. Aus dieser Einstellung heraus halte ich es für ganz unmöglich, daß meine Tante sich für eine Gelegenheitsliebelei hergegeben hätte. Meine Tante war eine überlegende Frau, die genau wußte, was sie will. Sie hatte eine ganz reale Einstellung zum Leben.«
Den Widerspruch zwischen Sonjas Okkultismus und ihrer realistischen Lebenseinstellung kann Ilse auch nicht aufklären:»