Trümmerkindheit - Kathleen Battke - E-Book

Trümmerkindheit E-Book

Kathleen Battke

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Beschreibung

Noch immer leiden zahlreiche Menschen unter belastenden Erinnerungen an den 2. Weltkrieg – vor allem die, die damals Kinder waren, aber auch deren Nachkommen. Hier wie für viele andere schwierige Lebenserfahrungen gilt: Wer sich erinnert, wer erzählt und echtes Zuhören erfährt, hat es leichter mit der Verarbeitung. Biografisches Schreiben ist eine besonders wirksame Hilfe: Schreibend können lebensgeschichtliche Freuden und Leiden gewürdigt, eingeordnet und für die Nachwelt bewahrt werden. – Ein Praxisbuch mit Anleitungen und zahlreichen Übungen zum befreienden Erinnern und Leben-Schreiben.

Zeugnis ablegen – dieses Prinzip aus der Zen-Philosophie und aus der Psychotherapie birgt Kräfte für seelische Heilung in sich. Es kann zur Versöhnung mit der eigenen und mit der kollektiven Geschichte beitragen. In berührender Weise wird auch der Leser dieses Buches Zeuge von den vorsichtigen Schritten zur Erinnerung."

Aus dem Vorwort von Bettina Alberti

  • Für Kriegskinder und Kriegsenkel
  • Trendthema biografisches Schreiben
  • Kriegserinnerungen schreibend verarbeiten

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Seitenzahl: 304

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Kathleen Battke

Trümmerkindheit

Erinnerungsarbeit und biografisches Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel

Mit einem Vorwort von Bettina Alberti und Beiträgen der Kriegskinder Anita Stork, Hans-Peter Massmann, Eva Matthies, Regine Ullrich, Kriemhild-Anat Duwe, Joachim Bauer, Heike Ludwig, Dietrun Freiesleben und Ulrike Rast

Kösel

Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Monika Neuser

Umschlagmotiv: SZ Photo / United Archives (1946 / Potsdam)

ISBN 978-3-641-11040-6

www.koesel.de

Unsere Ängste sind wie Drachen, die unsere größten Schätze bewachen.

frei nach Rainer Maria Rilke

Für meine Mütter

Hanna Charlotte Christine und Erika

und für alle, die in vergangenen und gegenwärtigen Kriegen ihre Kindheit verloren haben

Inhalt

Vorwort

Eröffnung

Hintergründe

Kriegskinder in Deutschland: Erinnerung als Zeitgeschichte

Biografie- und Erinnerungsarbeit: Die eigene Lebensgeschichte als Kraftquelle entdecken

Biografie, persönlich genommen: Frieden schließen mit sich selbst

Biografie, allgemein-menschlich gesehen: Lebensphasen und ihre Aufgaben

Biografie, sozial betrachtet: Die alternde Gesellschaft und ihre Chancen

Mitmenschliche Seelsorge: Zuhören, Ressourcen mobilisieren, Frieden schaffen

Ermutigung zum Sprechen

Kriegskinder – eine Schicksalsgemeinschaft

Zuhören – Zeugnis ablegen

Begleiten statt Leiten

Die Anfänge

Biografisches Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel

Vorbereitungen

Warum schreiben?

Warum als Kriegskind bzw. Kriegsenkel schreiben?

Worüber schreiben?

Wann schreiben?

Wo schreiben?

Wie schreiben?

Für wen schreiben?

Kann ich schreiben?

Sicherheit

Ermutigungen von Weggefährten

Wegweiser

Anfangen: Tipps für den Start

Fließen lassen: Tipps für gute Schreibzeiten

Dranbleiben: Tipps für mühselige Schreibzeiten

Zur Reife bringen: Tipps für die Überarbeitung

Aufhören: Tipps für den Abschluss

Loslassen: Tipps für die Zeit »danach«

Verneigung

Erleben, überleben, einfach leben: Kriegskinder bilanzieren

Dr. Anita Stork, Bad Bevensen Nie ist es für die Sehnsucht nach Verwandlung zu spät

Hans-Peter Massmann, Handeloh Meine Spurensuche in Sammelsurien

Eva Matthies, Geesthacht VaterWurzelSpurensuche

Regine Ullrich, Lübeck Heimweh nach Birkenberge

Kriemhild-Anat Duwe, Bad Segeberg Kind, ich bring dich heim

Joachim Bauer von Schildhaue, Hamburg Odyssee – unterwegs bis zum Ende

Heike Ludwig, Hamburg Das Leben aufschließen mit seinen Botschaften!

Dietrun Freiesleben, Lüneburg Erhobenen Hauptes durch Schutt und Asche

Ulrike Rast, Hamburg Vorwärts leben, rückwärts verstehen

Perspektiven

Erinnerungsarbeit ist Zukunftsgestaltung – jetzt, hier und heute

Zum Glück sind wir frei und verantwortlich

Nachklänge

I Vertrauen

II »Grenzwertig großes Herz«: Meine Mutter, das Kriegskind

Danke

Literatur

Vorwort

Die meisten Menschen der zurzeit ältesten Generation unserer Gesellschaft haben den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus als Kinder, als Jugendliche erlebt. Sie mussten Zerstörung, Verlust und Bedrohung, Flucht, Vertreibung und Entwurzelung erleiden, nicht selten Unwillkommensein und Beschämung.

Dann: Aktivierung der Überlebenskräfte, Wiederaufbau und Erneuerung, Frieden und Demokratie. Und jetzt: altern.

Welche Spuren haben Krieg und Nationalsozialismus in den alten Menschen hinterlassen? Welche Spuren finden wir in unserer Gesellschaft?

Seelische Bedürfnisse führten in vielen Kriegskinderbiographien ein Schatten-Dasein, Gefühle konnten nicht gezeigt, seelischer Schmerz nicht geteilt werden. Die Erfahrung von Mitgefühl und Trost war in einem nicht nur in Häusertrümmern, sondern auch in seelischen Trümmern liegenden Land oftmals nur schwer zugänglich.

Mit ihren Schreibwerkstätten hat Kathleen Battke Wege für die TeilnehmerInnen eröffnet, sich den oft ungeborgenen Erinnerungen anzuvertrauen – diesmal im Vertrauen auf behutsame Begleitung. Und in dem Wissen, mit den Erfahrungen aus der Lebensgeschichte auf Menschen zu treffen, die die eigenen Wahrheiten bezeugen können.

Bearing witness, »Zeugnis ablegen« – dieses Prinzip aus der Zen-Philosophie und aus der Psychotherapie, auf das Kathleen Battke und ihre PartnerInnen sich bei ihrem Ansatz zur Erinnerungsarbeit stützen, birgt Kräfte für seelische Heilung in sich. Es kann zur Versöhnung mit der eigenen und mit der kollektiven Geschichte beitragen. In berührender Weise wird auch der Leser dieses Buches Zeuge der vorsichtigen Schritte zur Erinnerung. Er kann Anteil nehmen an den Zweifeln, an der Hoffnung, an der Selbstüberwindung der Schreiber und Schreiberinnen. Er erlebt, wie sie eingeladen und unterstützt werden – ohne Druck, ohne Bewertung, ermutigt, sich selbst in der eigenen Vergangenheit zu begegnen. Und so wird ein Forum geschaffen, in dem Erinnerung geteilt, bewahrt und gewürdigt wird.

»Das Geheimnis der Versöhnung ist Erinnerung«, so steht es in diesem Buch als Zitat von Theodor Heuss. Als Psychotherapeutin weiß ich um die Kraft der Befreiung biographisch belastender Erinnerungen. Die Befreiung und Transformation traumatischer Kriegserinnerungen hat dabei eine besondere Bedeutung. In meiner psychotherapeutischen Begleitung von Menschen und bei meinem eigenen Schreiben zu dieser Thematik ist mir oft bewusst geworden: Die Erfahrungen der Kriegskindergeneration in Deutschland sind nicht nur individuelle, sondern auch in unsere Gesellschaft hineinwirkende kollektive Erfahrungen, die auf alle Generationen Einfluss nehmen. Es sind Erfahrungen, deren Aussprechen lange Zeit tabuisiert und die dem Schweigen unterworfen waren. Sie sind ein oft gar nicht so bewusstes psychisches Kriegserbe, das wir in uns tragen.

Versöhnung bedeutet für mich – und für die Autorin dieses Buches – in diesem Kontext, sich verschütteten, bislang unausgesprochenen Erinnerungen wertschätzend anzunähern. Versöhnung bedeutet, um sich selbst und um das Schicksal einer ganzen Generation zu wissen und von Herzen kommendes Mitgefühl dafür zu finden und zu erfahren. Versöhnung bedeutet, die Erinnerungsketten für die Folgegenerationen, für die längst erwachsenen Kinder, Enkel- und Urenkelkinder bewahren zu helfen und damit einen Heilungsbeitrag, einen Friedensbeitrag zu leisten.

Kathleen Battke trägt mit ihrem Buch auf ihre Weise dazu bei.

Bettina Alberti, Psychotherapeutin, Lübeck

Eröffnung

Hanna Charlotte Christine Battke ist tot. Sie starb im Juli 2010 mit 76 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Sie war meine Mutter.

Meine Mutter war Kriegskind.

Und sie lehrte mich, wie eine Kriegskindheit das ganze Leben prägen kann:

Wie bestimmte frühe Erfahrungen und der Umgang damit in der Familie spezifische Charaktereigenschaften hervorlocken und verstärken.

Wie ein Trauma den Blick ausrichtet, über Werte und Haltung entscheidet.

Wie der Verlust ihres Vaters in der Fremde (er hatte seine Frau mit den drei Töchtern am 15. Februar 1945 auf die Flucht geschickt, war selbst als Sanitäter im Heimatort zurückgeblieben, um weitere Flüchtlingstrecks nach Süden zu begleiten) und das unfreiwillige Verlassen der Heimat, das ungesicherte Unterwegssein Glaubenssätze in Stein meißelt: Bleibt zusammen, sonst sterbt ihr. Trennung bedeutet Tod. Diese brutalen Lernerfahrungen trugen womöglich dazu bei, dass sie – nach einer ersten, früh gescheiterten Ehe – an einer Partnerschaft festhielt, die sie mehr als einmal an die Grenze ihres Lebensmutes geführt hatte.

Wie die eingefrorene Bedrohung, das verkapselte Ausgerichtetsein auf das Überleben von Extremsituationen sich in der Normalität des Friedens als innere Leere, Sinn- und Richtungslosigkeit spiegelt.

Und wie die Ortlosigkeit des Todes meines Großvaters Paul, die entsprechende Ortlosigkeit der Trauer seiner Tochter darin mündete, dass sie auch ihrer eigenen letzten Ruhestätte wenig Interesse entgegenbrachte: »Friedhöfe sind keine Orte des Gedenkens für mich. Sie bedeuten mir nichts.« In ihrem Testament verfügte sie eine anonyme Urnenbestattung.

Ihre Geschichte – und die der vielen Kriegskinder in Seminaren und Schreibwerkstätten – hat mich zu diesem Buch bewegt.

Ich richte mich mit diesem Buch an Kriegskinder und deren Nachfahren, die mit sich selbst Freundschaft schließen möchten. Die mithilfe des biografischen Schreibens ihrer Lebensgeschichte eine Heimat geben wollen. Das Buch möchte unterstützen in diesem Prozess. Dafür bietet es ganz konkrete Begleitung beim Schreiben und den entsprechenden Fragen (»Kann ich das überhaupt? Wie fange ich an?«). Zugleich bettet es Erinnerungsarbeit ein in einen größeren Kontext, weist hin auf den fruchtbringenden Platz solcher Selbsterkundung sowohl im persönlichen Leben als auch in gesellschaftlicher Perspektive. In Seminaren und Schreibwerkstätten zur Erinnerungsarbeit haben sich seit 2007 Erfahrungen in der Begleitung von Kriegskindern gebildet. Von diesen Erfahrungen berichte ich in diesem Buch.

Ein Anliegen dieser Angebote zur Erinnerungsarbeit war und ist, belasteten Kriegskindern beim »Schuttabtragen« beizustehen. Wir Anbietenden – häufig das Tandem aus Kriegskind Anita Stork und mir, doch auch mit meinem Mann gemeinsam habe ich Seminare durchgeführt – wollten dazu ermutigen, die Trümmer des Krieges ein zweites Mal beiseite zu räumen. Wir waren entschlossen, die »Trümmerfrauen« (und -männer) beim Aufräumen ihres zusammengebrochenen Kinderlebens zu unterstützen.

Allein die Aussicht auf die Erleichterung, die eintreten könnte, wenn sich das unter schweren Brocken Verschüttete endlich wieder frei würde bewegen können, ließ viele Kriegskinder schon zu Anfang der Seminare aufatmen und stärkte ihren Mut, die selbst gesetzte Aufgabe in Angriff zu nehmen.

Bei diesen Aufräumarbeiten, so unsere große Hoffnung, würde zwar zunächst noch mehr Schmerz, Verdrängtes und Vergrabenes sichtbar werden, schließlich aber auch das Heile zum Vorschein kommen, das Unversehrte. Und wir Begleitende wollten einen Beitrag dazu leisten – wie Archäologen –, das so mutig wie möglich, so vorsichtig wie nötig freizulegen.

Die Mauern, die auf diesen Trümmern um die verletzten Seelen herum hochgezogen worden waren, die nun eher einengten als dass sie schützten, wollten wir Stein für Stein abtragen helfen. Und aus den Steinen dieser Mauern würden wir gemeinsam, nachdem wir sie gründlich abgeklopft und geputzt und geflickt und die unbrauchbaren aussortiert hätten, Wege in eine hellere Zukunft legen.

Dass unser Anstoß zum Sprechen, Sichöffnen, Vertrauen in weiterer Perspektive zur Versöhnung mit dem eigenen Leben führt, war und ist vor allem meine Hoffnung als Kriegsenkelin. Daraus, so meine Vision, entsteht Generativität: dass die Kriegskinder aus dem gehobenen Erfahrungsschatz ihrer Generation noch einmal eine ganz neue Qualität gesellschaftlicher Verantwortung würden aktivieren können.

Kriegskind Anita Stork, mit der ich viele Gesprächskreise begleitete, blieb da bescheidener: Überhaupt erst die eigene Vergangenheit anzunehmen sei schon viel und dabei die verloren gegangene Trauer zurückzugewinnen: »Trauern heißt, mit unserem Schicksal Frieden zu schließen.« Was danach komme, sei nicht abzusehen.

Die Menschen, die zu uns fanden, zeigten tatsächlich eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber dem Kommenden, das für sie verstellt war von der Größe ihrer Erinnerungsaufgabe. Doch insgesamt überraschten sie uns mit ihrer Zukunftsbereitschaft. Die Teilnehmerin eines Gesprächskreises brachte diese Vorwärtsrichtung, die hinter der Bereitschaft zur schmerzhaften, aber vor allem befreienden Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit liegt, so auf den Punkt: »Wir möchten uns nicht nur selbst von der Lähmung des Nicht-verstanden-Werdens befreien, wir wollen auch ein Beispiel geben, wie man sinnvoll alt werden kann.«

Neben den Kriegskindern und -enkeln kann das hier Zusammengetragene Fachleute in Bildungseinrichtungen und Gemeinden, Behörden und Institutionen unterstützen, die mit Kriegskindern /-enkeln arbeiten oder regelmäßig in Kontakt kommen.

Meine besondere Hoffnung ist, dass das Buch nützlich ist für die Helfenden in Altenheimen, Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste oder in Hospizen, die Kriegskinder betreuen, ohne dass diese ihre Erfahrungen von sich aus thematisieren oder eine Sprache dafür finden. In vielen bleiben die Erinnerungen bis zum Ende verkapselt, und sie können deshalb nicht (gut) sterben. Nicht zuletzt lassen sich die lösenden Effekte des biografischen Schreibens auch für die Traumabewältigungsarbeit mit anderen betroffenen Zielgruppen nutzen.

Praktisch will das Buch auch insofern sein, als es zur Gründung und Begleitung von Kriegskinder- und Kriegsenkel-Gesprächsgruppen und biografischen Schreibwerkstätten ermutigt – in aller Vorsicht, denn es gelten spezielle Bedingungen, die der besonderen Achtsamkeit bedürfen.

Zur Veranschaulichung dessen, was der Geste des Sichöffnens und Sichversöhnens hilfreich ist, dienen die einführenden Kapitel. Auch die im hinteren Teil des Buches enthaltenen biografischen Beiträge von Kriegskindern über ihre frühen Erfahrungen und den Prozess der Auseinandersetzung damit geben Hinweise darauf, was nützt und wie individuell die rettenden Anker sind.

Wenn wir die Bedeutsamkeit der Biografie als Ausdruck ihrer Zeit betonen, können wir sie, so meine Wahrnehmung, nicht mit den traditionellen wissenschaftlichen Methoden erfassen. Das radikal Individuelle von Lebensgeschichten fordert uns Fragende heraus, unser Feld zu erweitern, neue Räume des Verstehens zu betreten – die vielleicht die ganz alten sind und uns an die Ursprünge des Forschens erinnern: Neugierde, Ergründen- und Verstehenwollen, Lernlust für ein gutes Leben und für menschengemäßen Fortschritt.

Mit diesem Buch möchte ich beitragen zur Ernte der Erinnerung einer Generation und damit zur Zukunftsbildung in einer älter werdenden Gesellschaft.

Hintergründe

»Das Geheimnis der Versöhnung ist Erinnerung.«

Theodor Heuss

Kriegskinder in Deutschland: Erinnerung als Zeitgeschichte

Seit 2005 spricht Deutschland über seine Kriegskinder – noch immer zögerlich, zuweilen mit Widerwillen oder Unverständnis.

60 Jahre mussten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergehen; die Medizin musste bei der Diagnose vermehrt auftretender körperlicher Symptome und vegetativer Beschwerden in der Generation der über 60-Jährigen mit einem guten Teil ihres Lateins ans Ende kommen. Der Schuld- und Scham-Diskurs, der das öffentliche Reden über den Krieg in den letzten Jahrzehnten prägte, musste erst seinen historisch angemessenen Platz finden, bevor eine übersehene Generation ins Wahrnehmungsfeld rücken konnte: die deutschen Kriegskinder.

Vorbereitet haben Kulturschaffende diese Wende im Denken und Sprechen: Günter Grass löste 2002 mit seiner Novelle Im Krebsgang die Diskussion über die Flüchtlingsdramatik der deutschen Zivilbevölkerung im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Zunächst verlief das öffentliche Nachdenken darüber noch in traditionell revanchistischen Bahnen, bevor es sich langsam ausdifferenzierte und Zwischentöne hörbar wurden.

Mit der Tagung »Die Generation der Kriegskinder« in Frankfurt griff dann im April 2005 die Wissenschaft das Thema auf. Seitdem wird geforscht, publiziert und therapiert in dem Wissen, dass die Zeit drängt: Auch wenn wir als Gesamtgesellschaft immer älter werden, bleiben höchstens 15 bis 20 Jahre für valide Erkenntnisse, bevor der Großteil der Kinder des Zweiten Weltkriegs gestorben sein wird.

Professor Hartmut Radebold ist es zu verdanken, dass die Menschen dieser Generation überhaupt noch der Unterstützung für wert befunden wurden: Als Gründer des Lehrinstituts für Alternspsychotherapie in Kassel pflügte er das Feld der professionellen Seelenhilfe um, indem er praktisch und erfolgreich gegen die Annahme eintrat, Menschen jenseits der 60 seien nicht mehr »therapierbar« (heute gibt ihm die Hirnforschung recht, die die Neuroplastizität, die Veränderbarkeit unseres Gehirns, bis ins hohe Alter nachweist). Er begründete eine wertschätzende und partnerschaftliche Psychotherapie für das Alter. In seiner Praxis erlebte er das Phänomen der Kriegskinderbelastung zunehmend bei seinen Klienten, bis der 1935 Geborene sich schließlich selbst erforschte. Er gab einem heute lebendigen Forschungszweig entscheidende Starthilfe, und seine Mitmenschlichkeit, die ich in einem unserer Seminare persönlich erleben konnte, hat viele seiner Generationengeschwister zum Sprechen ermutigt.

Und darauf kommt es an. Wichtiger, als dass über Kriegskinder geforscht und gesprochen wird, ist: Sie beginnen endlich selbst, sich zu erforschen und über sich zu sprechen.

Ein Meilenstein war hier Sabine Bodes Buch Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, das 2004 erschien und zahlreiche Geschichten von Betroffenen in aufbereiteten Interviews dokumentiert.

Den gesellschaftlichen Raum, den Literatur, Wissenschaft und Medien geschaffen haben, nutzen die Kriegskinder – noch zaghaft, aber immer artikulierter –, als ihre Chance, Zeitzeugnis abzulegen.

Rückenwind bekommen sie dabei auch von einem vorsichtigen Wandel im kulturellen Erinnern des Zweiten Weltkriegs. Diesen Wandel im öffentlichen Denken und Reden über diesen Krieg und seine Folgen versucht Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, in Worte zu fassen: »70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen ist der Zweite Weltkrieg aus dem kommunikativen Gedächtnis der Zeitgenossen herausgerückt und mehr und mehr in das (…) Vergangenheitsverständnis der Gesellschaft übergegangen, das wir mit Aleida und Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnen. Im Jahr 2009 steht das Gedenken an den weltzerstörenden Kriegsausbruch in der öffentlichen Aufmerksamkeit deutlich hinter der Würdigung des 20. Jahrestags von Mauerfall und revolutionärer Wende in der DDR zurück, mit denen 1989 die 40-jährige Nachkriegszeit der territorialen Teilung Deutschlands endete.« (Sabrow, »Den II. Weltkrieg erinnern«, Artikel 2009 zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns).

Es ist zu vermuten, dass diese gesellschaftliche »Eingliederung« eines (grundsätzlich nicht einzuordnenden) katastrophalen Geschehens in die gemeinsame Vergangenheit die Tür mit geöffnet hat zu differenzierterer Erinnerung, und dies wiederum ermöglicht Aufmerksamkeit für die tragische Rolle der Kriegskindergeneration. Sie war ja nicht nur im Krieg selbst übersehen worden, sondern verschwand eben auch danach zwischen Tätern und Opfern, zwischen »Zeitgenossen und Nachwelt« (wie Sabrow feststellt). Kriegskinder fanden keinen Raum in den gesellschaftlichen Erzählungen, die sich um die Pole Niederlage und Befreiung herum bildeten. Dazwischen war lange nichts.

Sabrow legt offen, wie sich die eher »opferzentrierte Ausrichtung der Kriegserinnerung« der ersten Jahrzehnte nach 1945 in den 1970er-Jahren zu wandeln begann. Das öffentliche Gedenken konzentrierte sich spätestens ab Mitte der 1980er-Jahre stärker auf die Befreiung als auf die Niederlage. (Als ein Meilenstein auf dem Weg zu diesem Paradigmenwechsel gilt hier die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes.)

Sabrow nähert sich schließlich der Frage, wie »sich die neuerliche Zuwendung zur Geschichte der Bombenopfer, der Flüchtlinge und Vertriebenen und der Kriegskindergeneration interpretieren« lässt und argumentiert in seiner Antwort gegen die durchaus verbreitete Wahrnehmung, da meldeten sich Schuldentsorger, ewige Opfer oder Revanchisten zu Wort: »Gerade weil die im Wandel begriffene Kriegserinnerung fest in dem seit den 1980er-Jahren erreichten Deutungskonsens über den verbrecherischen Charakter des NS-Systems gegründet ist, vermag sie die ›Traumatisierung von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft‹ in den Blick zu nehmen, ohne ›zu alten Verdrängungsstrategien zurückzukehren‹ oder gar die NS-Verbrechen zu relativieren.«

Das wachsende Vertrauen in die gesellschaftliche Verabredung, den Nationalsozialismus als Verbrechen ohne Wenn und Aber abzulehnen, öffnete den Raum für eine umfassendere und mitfühlendere Sicht auf alle, die auch noch zu Opfern dieses Systems geworden waren. Erst jetzt konnte sich der »Akzent von der lernenden Aufklärung zur heilenden Anerkennung«verschieben.

Wenn wir diesen Wandel als Ergänzung verstehen wollen, als integrierende Bewegung, die eine ausgeblendete Dimension – die »der heilenden Anerkennung« – in das kulturelle Gedächtnis hereinholt, können wir uns vom statischen Entweder-Oder verabschieden: »Heilende Anerkennung« ist dann nicht nur ein individuell-intimer Akt, mit dem sich Einzelne aus ihrer ermüdenden Bindung an Vergangenes lösen. Sondern sie ist zutiefst politisches Handeln. Die »heilende Anerkennung« geht nicht nur, wie Sabrow es herleitet, aus der »lernenden Aufklärung« hervor, sondern ist ihrerseits Voraussetzung für eine stabile Zivilgesellschaft. In ihr leben aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger, die aus der kollektiven Geschichte gelernt haben und zugleich ihre persönlichen Erfahrungen »heilsam anerkennen«. Wenn Kopf (»lernende Aufklärung«) und Herz (»heilende Anerkennung«) in dieser Weise zusammenwirken und im Wissen um ihre wechselseitige Abhängigkeit wach und tätig bleiben, kann die selbstverantwortliche Zivilgesellschaft entstehen, die wir als Immunsystem gegen Diktaturen brauchen.

Biografie- und Erinnerungsarbeit: Dieeigene Lebensgeschichte als Kraftquelle entdecken

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