Über Grenzen hinaus - Gerd Joe Fes - E-Book

Über Grenzen hinaus E-Book

Gerd Joe Fes

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Beschreibung

Der Roman spielt in der durch den 68er Jugendprotest geprägten Zeit, genauer in der Hippie- und Drogenbewegung, die Teil dieses auch internationalen Aufbegehrens der Jugend war. Die Hauptfigur der Erzählung heißt Tobias. Er schließt sich dem 68er Jugenprotest an und gerät um 1970 herum in die Drogen- und Hippiebewegung, zieht in eine Landkommune ein, sammelt Erfahrungen in "freier Liebe", konsumiert und verdealed psychedelische Drogen, insbesondere Haschisch, mitunter auch LSD. Tobias lernt die attraktive Nina kennen. Sie spritzt sich Heroin. Tobias geht mit ihr eine Liaison ein, und beide beschließen, zusammen einen Trip nach Afghanistan, Indien, Nepal und Goa zu unternehmen. Nina schafft es, vor der Abreise mit dem Heroinspritzen aufzuhören. Über Land mit Zwischenstopps u.a. in Istanbul, der Süd-Türkei und Afghanistan gelangen die beiden nach Indien. Dort zieht es das Pärchen nach kurzem Aufenthalt in Amritsar zunächst nach Kaschmir, wo sie die Bekanntschaft mit ein paar Sadhus genannten indischen Bettelmönchen machen. Diese begleiten sie auf deren Einladung hin in ein abseits und paradiesisch gelegenes Himalajatal. Dort werden sie Zeuge des Ablebens und der Bestattung eines weisen, hinduistischen Gurus. Anschließend reisen sie weiter über Delhi, dem Taj Mahal und Varanasi ins nepalesische Kathmandu. Unterwegs wird Tobias schwer fieberkrank, erholt sich aber wieder. Nach dem Aufenthalt in Nepal führt die Reise über Surat und Bombay nach Goa. In der dortigen Hippiekommune verweilen sie einige Monate, bis Nina schwanger wird und sich beide zur Rückreise nach Europa entschließen. Wieder über Delhi und Amritsar erreichen sie erneut Peschawar und anschließend Kabul. Ein Abstecher nach Bamiyan und den Seen von Band-e-Amir wird unternommen. Sie nehmen etwas Dope mit und schmuggeln es über die afghanisch-persische und die nachfolgenden Grenzen. In Europa wieder angekommen wird zunächst Station in Istanbul und danach in Dubrovnik gemacht. In Dubrovnik lernen sie einen herumreisenden Straßengaukler mit ursprünglich tschechischer Abstammung kennen. Nina erleidet eine Fehlgeburt. Über Italien kommen sie und Tobias zurück nach Deutschland. In Deutschland müssen sie erfahren, dass ihre alte Wohngemeinschaft nicht mehr existiert, viele ehemalige Weggefährten sich abgesetzt haben und die Bewegung insgesamt Auflösungserscheinungen zeigt. Die Wege von Nina und Tobias trennen sich dann und sie schauen sich nach einer neuen Art zu leben um.

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel: Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Kapitel: Rückfahrt

Kapitel: Sommer, LSD und irre Bilder

Kapitel: Tobias lernt Nina kennen

Kapitel: Aufbruch zur Reise

Kapitel: In Indien angekommen

Kapitel: In einem abseits gelegenen Tal

Kapitel: Die Reise geht weiter

Kapitel: Auf der Rückreise

Kapitel: Von der Reise zurückgekommen

1. Kapitel: Zwischen Wahn und Wirklichkeit

„Wir sind doch alle auf der Flucht“, hatte noch vor wenigen Tagen ein bewunderter Großdealer Tobias mit hastiger Stimme zugeraunt. Jetzt muss sich Tobias wieder daran erinnern. Sein Gehirn arbeitet pausenlos, treibt ihn vorwärts. „Flucht“, dröhnt es in seinem Schädel, „Flucht! Nur wohin?“

Ziellos jagt Tobias zu mitternächtlicher Stunde über das menschenleere Pflaster dieser Stadt, besessen von dämonischer Paranoia und von imaginären Halluzinationen gescheucht. Kalter Schweiß dringt ihm aus den Poren. Die Angst vor dem großen Bruder, der übermächtigen Staatsgewalt, die vermeintlich alles sieht und das Verbotene bestraft, sitzt Tobias im Nacken. Er hat das Gefühl, von der Polizei schon verfolgt zu werden.

Dabei ist es noch keine halbe Stunde her, als er noch in diesem überfüllten Beatschuppen an der Ecke als passiver Beobachter stand und sich volldröhnen ließ von den Rhythmen harter, aus mächtigen Lautsprecherboxen dringender Rockmusik wie zum Beispiel der von Jimi Hendrix, der den Zuhörern mit ekstatischer, von schrillen Gitarrenklängen begleiteter Stimme sein „ ... and see her gipsy..y ey..yes ...“ entgegenschreit.

Tobias ist nur für den heutigen Tag in diese Stadt gekommen, wo er früher einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht hatte. Er ist dann, wie bald darauf auch seine Eltern, von hier fortgezogen, und es leben auch sonst keine engeren Verwandten von ihm mehr in dieser Gegend. Tobias kennt jedoch, obwohl er nun seit ein paar Jahren woanders lebt, noch etliche Typen der örtlichen Drogenszene, die auch hier im Zuge des Jugendprotestes in der westlichen Welt Mitte bis Ende der 60er Jahre entstanden ist. Viele Jahre sind bis zu dem hiesigen Geschehen seitdem noch nicht vergangen. Die mit der Rebellion eines Großteils der jungen Generation einhergehende Drogenbewegung ist noch weitgehend unverbraucht, und zumindest das gelegentliche Experimentieren mit den illegalen Drogen, die so verbreitet in den westlichen Gesellschaften damals noch neu waren, gilt allgemein als in.

Tobias taucht nun also in dieser Stadt wieder auf, um sich erste Sporen im Dealen mit Drogen zu verdienen und Verbindungen für derartige sich eventuell daran noch anschließende Geschäfte zu knüpfen. Zwar weiß er, dass der Handel mit illegalen Drogen vom Staat verboten ist und mit Gefängnis bestraft wird, für ihn ist die Weitergabe von Rauschmitteln, die der Bewusstseinserweiterung dienen sollen, gegen ein angemessenes Kosten- und Risikoentgelt jedoch kein unmoralisches Verbrechen, sondern nach seiner Überzeugung notwendig, um die Bewegung, der er angehört, am Leben zu halten. Also hat sich Tobias am Morgen dieses Tages in den Zug gesetzt und auf die circa einhundert Kilometer lange Reise von seinem derzeitigen Wohnort nach hierher begeben, wo er nun in diesem Beatschuppen steht und in seiner Manteltasche einhundert fein säuberlich Stück für Stück in Silberpapier eingewickelte LSD-Trips zum Verkauf bereithält und sich danach umschaut, welches Gesicht der örtlichen Szene wohl zu einem möglichen Käufer seiner heißen Ware passen könnte.

4,00 Mark soll das Stück, in größerer Menge abgenommen, kosten. Das wäre für Tobias bei einem Einkaufspreis von 2,50 Mark pro Trip nach seiner Meinung ein guter Schnitt. Ihm würde das, sollte er die Ware zu diesem Preis absetzen können, mehr einbringen, als der Abstecher nach hierher gekostet hat, und wäre auch für den Käufer noch immer ein guter Preis. Während Tobias so überlegt und in seinem Kopf bereits im Voraus Bilanz zieht, sieht er auf einmal einen blasshäutigen Typ mit langen, blonden Haaren und engen Röhrenjeans wenige Meter entfernt an ihm vorbeistolzieren.

„Mensch, das ist doch der lange Hugo“, schießt es Tobias durch den Kopf. Den kenn ich doch, der hat doch schon immer gedealt. Den werd ich gleich mal anhauen. Bestimmt hat der Interesse, von den Trips zu kaufen. Wie gedacht, so getan. In einem kurzen Dialog werden sich Tobias und Hugo rasch handelseinig. Hugo ist bereit, auf der Stelle für einhundert Mark Trips zu kaufen und später, sollte er mit der Ware zufrieden sein, auch noch mehr.

„Abgemacht“, willigt Tobias ein. „Du bekommst dann von mir die Trips zum selben Preis als hättest ’e hundert Stück davon gekauft, und dazu noch einen gratis, sozusagen zum Antesten.“ Großzügigkeit, denkt sich nämlich Tobias, macht sich unter Geschäftsleuten auf lange Sicht bezahlt, worauf er sich wieder an Hugo wendet: „An Hasch, meinst ’e, bist ’e auch interessiert?“ ... „In ein paar Tagen?“ ... „Mitte nächster Woche?“ ... „Klar lässt sich alles machen! Hast ’e Telefon, Hugo?“ „Nee, aber du kannst mich fast jeden Abend hier im Schuppen zwischen sieben und neun Uhr übers Telefon erreichen. Frag einfach nach dem langen Hugo, das geht dann schon klar.“ „O.K., mach ich. Aber am besten geh ’n wir jetzt nach draußen, da geb ich dir dann die Trips und du mir das Geld. Für hundert Mark wären das dann, lass mich kurz rechnen, also zwanzig Trips!“

Erst zwei Tage später fällt Tobias bei nochmaliger Rekapitulation der Ereignisse dann auf, dass Hugo für hundert Mark beim ausgemachten Preis von 4,00 Mark pro Trip eigentlich hätte fünfundzwanzig Stück bekommen müssen. Wozu Tobias, als er anderen davon berichtet, bemerkt: „Dann hätte der lange Hugo eben besser aufpassen müssen. Schließlich kann ich mich ja auch mal verrechnen. Und außerdem war es für ihn auch so noch ein guter Preis.“

Als Tobias mit Hugo dann draußen vor der Tür des Beatschuppens steht, können sie zwar ungestört von der lauten Rockmusik reden, sind dafür nun jedoch schnell von einer Schar Neugieriger aus der örtlichen Drogenszene umringt. Da fragt Hugo auf einmal: „Hast ’n Chillum bei? Dann könnten wir nämlich zunächst noch ‘n gutes Piece Afghan durchziehen.“ Eigentlich fühlt sich Tobias bei dem Vorschlag, jetzt Haschisch zu rauchen, zwar gar nicht wohl, denn er vermag nicht abzusehen, welche Wirkung das auf ihn angesichts des bevorstehenden Deals mit den LSD-Trips haben wird. Haschischgenuss steigert nämlich die Sensibilität. Auch Furcht und Angst werden gesteigert, was für Tobias momentan ein unkalkulierbares Risiko darstellt. Sicherlich möchte Hugo aber mit seinem Ansinnen auch die Standhaftigkeit von Tobias auf die Probe stellen. Kneifen kommt da nicht in Frage.

Folgerichtig entgegnet Tobias: „Wenn du meinst, dass es hier dafür cool genug ist, können wir von mir aus gern erst einen durchziehen. Bloß mit ‘nem Chillum kann ich im Moment nicht dienen.“ Jedoch stellt sich das als kein wesentliches Hindernis heraus. Das angesprochene indische Rauchgerät, das speziell zum Rauchen von Haschisch benutzt wird, ist schnell von irgendwoher aufgetrieben. Dort hinein stopft Hugo rasch eine Mischung aus Tabak und seinem kleingebröselten Piece Schwarzen Afghan. Das Chillum wird angeraucht und dann im Kreis herumgereicht. Es törnt wirklich mächtig an. Tobias fühlt sich gleich stoned. Nur jetzt nicht die Kontrolle verlieren, redet er sich ein.

Im Haschischrausch scheint sich nämlich der Geist vom Körper, der dann wie unter einer Last aus schweren Steinen – daher wohl möglich das Wort stoned – empfunden wird, sozusagen zu befreien, wodurch das äußere Geschehen nun entrückt erscheint. Das Bewusstsein nimmt die Umwelt quasi aus einer veränderten Perspektive wahr, so als wäre zwischen den äußeren Sinneseindrücken und deren geistiger Verarbeitung ein mal verstärkender, mal verzerrender Filter geschoben. Nur durch starke Willensanstrengung schafft es Tobias unter diesen Umständen, die Situation, in der er sich befindet, im Griff zu behalten, und wie ein erfahrener, abgebrühter Dealer das illegale Geschäft mit den LSD-Trips über die Bühne zu bringen.

Mit lauter Stimme zählt er die zwanzig Trips ab. „Wann ungefähr, meinst ’e wohl, rufst ’e mich also nächste Woche an?“, fragt Hugo ungeduldig dazwischen. Tobias versucht, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen, und antwortet folglich so ruhig wie möglich: „Darüber reden wir später. Aber kannst ’e nich’ mal ‘n Moment jetzt still sein? Jetz’ muss ich nämlich noch mal von vorne zu zählen anfangen!“ „Eins, zwei, drei ...“, beginnt Tobias auch tatsächlich wieder neu zu zählen an, als plötzlich einer der Umstehenden ruft: „Polizei, Polizei, schnell schmeiß die Trips weg!“ Aber selbst da gelingt es Tobias noch, seine Nerven im Zaum zu halten. Mit gespielter Gelassenheit schaut er sich in die Richtung des Rufers und zu den anderen Seiten hin um und kann zu seiner Erleichterung feststellen, dass sich da nur einer, wohl um Tobias übel abfahren zu lassen, einen schlechten Scherz mit ihm erlaubt hat. Vielleicht meinte der auch, Tobias wirklich dazu veranlassen zu können, die Trips wegzuschmeißen, damit sie auf diese Weise billig unters Volk gebracht würden. Tobias gelingt es schließlich, mit dem Abzählen der LSD-Trips fertig zu werden.

„So, hier sind die Trips. Kannst ’e mir jetzt dafür wie vereinbart den Hunderter geben?“ Ein kaum hörbar zittriger Unterton schwingt durch den Schreck, der eben in ihn gefahren ist, noch in Tobias’ Stimme mit, während er Hugo die Trips überreicht. „Ja klar, hier“, sagt der Angesprochene und übergibt Tobias den geforderten Geldschein. Damit wäre ja alles gut gelaufen, denkt sich Tobias schon und will sich verabschieden. „Also, ich ruf dich dann nächste Woche an“, sagt er, als ihm noch plötzlich einfällt: „Mensch Hugo, jetz’ hätt’ ich doch fast vergessen, dir den versprochenen Gratistrip zu geben.“

Besser aber hätte Tobias das wohl verschwiegen und nicht mehr in die eigentlich bereits abgelaufene Handlung eingegriffen, bloß um sich exakt an die vorherigen Vereinbarungen zu halten. Dieser Hang zum Perfektionismus wird ihm nämlich nun zum Verhängnis. Ehrlichkeit zahlt sich im Leben sehr häufig eben nicht aus.

Nun muss nämlich Tobias zunächst einmal die bereits in seiner Manteltasche deponierte Verpackung mit den LSD-Trips umständlich wieder hervorkramen und nimmt sich dann nicht die Zeit, diese aus Silberpapier bestehende Verpackung einigermaßen sorgfältig zu öffnen, sondern reißt sie stattdessen geschwind an einer Ecke auf, um daraus hervor einen der tablettenförmigen Trips zu pulen, den er dann Hugo überreicht.

Dabei immer ungeduldiger und nervöser geworden drängt es Tobias jetzt aber fort von diesem Schauplatz, dessen Atmosphäre er nicht mehr traut, wobei es ihm in seiner Eile aber fatalerweise nicht richtig gelingt, die handlich gewesene Verpackung mit den LSD-Trips schnell wieder ordentlich dicht zu bekommen. Auch egal, denkt er sich, und steckt die Verpackung so undicht, wie sie ist, in seine Manteltasche zurück, wo sie sich dann allmählich in alle Einzelteile aufzulösen beginnt, während Tobias’ einziger Gedanke darin besteht, bloß schadlos von hier wegzukommen.

Tobias hat die Vibration seiner Nerven jetzt kaum noch unter Kontrolle. Er kommt, wie man innerhalb der Szene zu sagen pflegt, auf Horror. Sein Pulsschlag beginnt zu rasen und ein ungebremster Geschwindigkeitsdrang bemächtigt sich seiner. Wie ein durchbrennendes Pferd dem reiterlichen Zügel so entziehen sich für Tobias die folgenden Handlungen und Gedanken der Steuerung seines Verstandes.

Schon halb im Gehen und auch nur der Höflichkeit halber ruft Tobias noch Hugo zu: „Tschüs dann also bis nächste Woche.“ „Ja tschüs“, kommt die Antwort, „aber willst ’e nich’ noch mal kurz mit reinkommen?“ Tobias lehnt jedoch dankend ab: „Keine Zeit, ich muss weg!“

Auf dem Weg des Outlaws, also desjenigen, für den die geschriebenen Gesetze keine unbedingte Gültigkeit mehr haben, ist Tobias noch wenig bewandert. Er bekommt wegen des begangenen Rauschgiftgeschäftes ein schlechtes Gewissen und fühlt sich nun doch als Gesetzesbrecher.

Und wie es für jeden Gesetzlosen nach verbrecherischer Tat die naheliegendste Sache ist, sich möglichst rasch und weit vom Ort des Geschehens zu entfernen, so kreisen auch Tobias’ Gedanken allein um Flucht. Weg, nur weg von hier.

Dabei verfällt er in seiner Panik der unsinnigen Denkart eines kleinen, davonlaufenden Kindes: Wenn ich jetzt gleich dort drüben an der Häuserecke bin, und die in Versuchung geführten Mächte haben mich noch immer nicht ergriffen, dann bin ich bestimmt in Sicherheit. Hat Tobias mit ausholendem Schritt in der Dunkelheit der hereingebrochenen Nacht diese Häuserecke aber erreicht, wird in ähnlicher Weise die nächste Häuserecke zum Ziel erklärt, dann die übernächste und so weiter. Nur nicht stehen bleiben, heißt die Devise. Den Häschern kein festes Ziel abgeben! Mal im Zickzack, mal im Kreis geht es sinn- und ziellos vorwärts, eigentlich völlig irreal und alptraumartig.

Zwanghaft fährt sich Tobias dabei mit seiner rechten Hand immer wieder in seine Manteltasche, wo die Trips vergraben sind, um sich greifbar darüber zu informieren, inwieweit die Verpackung das verbotene Zeug noch zusammenhält und ihm somit immer noch die Möglichkeit lässt, die heiße Ware bei einer eventuellen Polizeikontrolle rasch zum Beispiel in einem Gebüsch oder Rinnsteingully verschwinden zu lassen. Wer weiß schon mit Sicherheit, ob nicht beispielsweise irgendeiner aus dem Kreis derjenigen, die bei der Drogenübergabe gaffend um Hugo und Tobias herumstanden, ein Spitzel war, der die örtliche Polizei bereits informiert und eine Personenbeschreibung von Tobias übermittelt hat.

Indem sich jedoch der ominöse Tascheninhalt von Tobias langsam endgültig in seine Einzelteile auflöst, gerät leider auch Tobias’ sorgfältig unter Erwägung mehrerer unterschiedlich möglicher Ereignisabläufe ausgetüftelter Handlungsplan durcheinander. Der Überzeugungstäter hat sein Konzept verloren und kommt ins Wanken. Seine innere Ruhe wird Tobias auch kaum vor dem Abklingen der berauschenden Wirkung des Haschisch wiederfinden. Er weiß nämlich noch nicht, wie man einer solchen Paranoia wirkungsvoll begegnen kann, indem man sich nämlich zum Beispiel eines Gefühls tiefer Apathie übergibt, vor deren Hintergrund unterschiedliche Ereignisketten ihre auch unterschiedliche Wichtigkeit verlieren, so dass es dann auch bedeutungslos wird, ob sich diese Ereignisse zum vermeintlich Guten oder Schlechten wenden. Redet man sich diese Unwichtigkeit von Ereignisausgängen ein, kehrt meist auch bald die innere Ruhe wieder ein.

Statt aber so zu denken, verbeißt sich Tobias in sein Missgeschick. Mit der irrsinnigen Unrast eines Besessenen, der in seiner Vereinzelung allein mit sich und seinen Wahnbildern ist, zieht Tobias entlang dunkler Häuserfronten und zu dieser späten Stunde bald auch mehr oder weniger menschenleerer Gassen und Straßen. Auch der Autoverkehr fließt allmählich zusehends spärlicher.

Diese wenigen Autos lassen Tobias auf einmal aber trotzdem zusammenschrecken. Wie gebannt starrt er auf einen weiß-grünen Personenwagen, der da langsam um eine Straßenecke biegt und gespensterhaft und bedrohlich auf Tobias zukommt. Auf den Seiten des Autos prangt in großen, deutlich erkennbaren Lettern das Wort POLIZEI. Das grelle Licht der Scheinwerfer dieses Autos entreißt Tobias der schützenden Finsternis der Nacht und beleuchtet seine zitternde Gestalt. Nur ruhig bleiben und einfach Schritt für Schritt weitergehen, zwingt er sich mit letzter Willensanstrengung zu denken. Bloß jetzt kein Aufsehen erregen, den Kopf nach vorne richten und so tun, als ob nichts wäre. Eigentlich eigenartig, wie der Mensch in höchster Gefahr oft einem Traumwandler gleich ganz instinktmäßig schließlich doch richtig reagiert.

Zwar scheint es Tobias zunächst so, dass das Polizeiauto das Fahrtempo immer mehr verringert, beinahe schon abstoppend, als es schließlich doch an ihm vorüberrollt und Tobias wieder in die Dunkelheit entlässt. Erleichtert atmet Tobias auf. Diese unmittelbar drohende Gefahr ist erst einmal gebannt.

Allerdings vergeht nach dem Eindruck von Tobias seit diesem Vorfall kaum mehr als eine Viertelstunde, als neben ihm schon wieder ein Polizeiauto auftaucht, wobei Tobias nicht einmal einzuschätzen weiß, ob es sich nun um dasselbe Auto wie vorhin oder diesmal um ein anderes handelt. Habe ich mich etwa schon verdächtig gemacht, geht es ihm durch den Kopf, und werde ich bereits beschattet? Zieht sich das Netz meiner Verfolger langsam, aber stetig zusammen, um mich einzufangen? So scheint es Tobias nämlich tatsächlich zu sein, als er auch danach, sei es noch Wirklichkeit oder schon Wahn, noch wiederholt eine Polizeistreife ihn begegnen sieht.

In seiner Furcht und Unsicherheit überkommt Tobias auf einmal eine große Sehnsucht nach einer ihm bekannten Person, die für seine Situation Verständnis hätte. Wenigstens die Stimme jener Person würde er nun zu gerne wiederhören. Vielleicht könnte das ihm Halt und das Gefühl des Geborgenseins in dieser Welt zurückgeben.

Tobias stürmt ins nächste Telefonhäuschen. Sein Gehirn arbeitet verzweifelt, Angst treibt ihn an. Wen kann er jetzt anrufen? Wer aus seinem Freundeskreis hat überhaupt ein angemeldetes Telefon? Tobias wüsste da jemand. Nur die Telefonnummer dazu will ihm nicht einfallen, so angestrengt er auch nachdenkt. Darum ruft er bei der Telefonauskunft an. Eine neutrale Frauenstimme meldet sich am anderen Ende der Leitung.

„Ach Fräulein, könnten Sie wohl bitte so nett sein und mir die Telefonnummer von Hubert Reimann geben?“ Tobias nennt auch noch den zugehörigen Ort und die Straße. „Ja gern, einen Moment bitte!“ Die höfliche, aber unverbindlich wirkende Stimme der Dame von der Telefonauskunft klingt für Tobias in dieser Situation verdächtig merkwürdig. Er wartet ab. Doch immer befremdlicher kommt ihm das vor. Und wie lange das alles dauert. Werden da vielleicht schon auf der anderen Seite Vorbereitungen zu einer Fangschaltung oder zum Abhören seines geplanten Telefonats getroffen, um auch gegen mögliche Komplizen ermitteln zu können?

Tobias kennt sich da nicht mehr aus. Er legt den Hörer auf und verlässt fluchtartig diesen trügerischen Ort. Er fühlt sich bereits umkreist und rennt, schon um seine vermeintlichen Verfolger zu täuschen, vor innerer Erregung und Furcht zitternd in die nächste, trotz vorgerückter Stunde noch ganz gut besuchte Gaststätte hinein. Die so hergestellte Öffentlichkeit seiner Lage gibt Tobias ein Gefühl von Schutz. Bierkneipen an der Ecke sind ein Ort von menschlicher Nähe und Distanz zugleich. Jeder akzeptiert vom anderen, dass der von sich selbst nicht mehr preisgibt, als es ihm selbst recht ist. Auf diese Weise ergeben sich soziale Kontakte von unverbindlicher Verbindlichkeit.

Bei einem Glas Bier harrt Tobias der Dinge, die da kommen mögen. Allmählich resignierend rechnet er mit seiner baldigen Verhaftung. Er fühlt sich zu müde und zu ausgelaugt, um noch weiter dagegen ankämpfen zu wollen. Die gegen ihn gerichtete Übermacht erscheint zu groß. Das Schicksal soll entscheiden.

Richtig schläfrig wird es Tobias nun in der behaglichen Wärme der Gaststätte, auch das Bier wirkt beruhigend, doch kein Polizist kommt herein, um Tobias abzuholen. Jetzt, wo sich allmählich seine Gedanken wieder zu ordnen beginnen, fällt Tobias ein, dass er eigentlich zum hiesigen Bahnhof wollte, um möglichst ohne Übernachtung hier gleich wieder seine Rückreise anzutreten. Endgültig gerettet vor dem Zugriff der Polizei, so denkt sich nämlich Tobias, bin ich erst, wenn ich aus dieser Stadt wieder fort bin. Hoffentlich ist es aber für eine Abreise noch in dieser Nacht nicht bereits zu spät. Nur wo sonst dann übernachten?

Ohne noch weiter nachzudenken, beeilt sich Tobias sein Bier zu bezahlen und hastet zum örtlichen Hauptbahnhof, den er nun auch zügig und ohne Probleme erreicht. Als Tobias jedoch mit ungewollt hallenden Schritten den für ihn schier endlos großen Bahnhofsraum durchquert, holt ihn auf einmal doch die alte Paranoia wieder ein. Lauern nicht da im Verborgenen irgendwelche unerbittliche Augenpaare, die Tobias heimlich bespitzeln? Sollen sie ruhig, versucht er sich einzureden, ich bin ja nur ein ganz normaler Reisender, der auf seinen Anschlusszug wartet. Nur jetzt kein unnötiges Aufsehen erregen und cool bleiben, dann wird schon alles gut gehen. Sein aufgeregter Blick schweift umher. Die große Bahnhofshalle erscheint zu dieser nächtlichen Stunde außer ihm selbst menschenleer. Aber wo mag nur der Fahrplan hängen? Den auffälligsten Blickpunkt im Raum bildet eine orangefarbene Leuchtschrift über dem Zeitungskiosk, wo hinter Glasfenstern auf den Titelbildern der ausgehängten Illustrierten nackte, meist großbusige Frauen und vulgäre Muskelprotze zur Schau gestellt werden. Aber auch Süßwaren und Obst gehören offenbar zum Kioskangebot. Auf der großen Bahnhofsuhr stehen die Zeiger auf genau zehn Minuten vor 1 Uhr.

Endlich erblickt Tobias schließlich neben den Schließfächern für Handgepäck die gesuchten Fahrpläne der ankommenden und abfahrenden Züge an der Wand hängen. Als Tobias dann diese Fahrpläne studiert, muss er zu seinem Entsetzen feststellen, dass der letzte Zug, mit dem er von hier noch in dieser Nacht in Richtung seines momentanen Wohnorts, wohin er jetzt auch zurück will, hätte aufbrechen können, bereits vor gut einer Stunde abgefahren ist. Was soll er nun machen? Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als die Nacht über irgendwo in dieser Stadt auszuharren.

So als wolle er das jedoch nicht wahr haben und suche noch nach einem anderen Ausweg, bleibt er vor dem Fahrplan, darauf starrend, noch eine Weile stehen. Da gesellt sich plötzlich und unbemerkt neben Tobias eine langhaarige Gestalt. Tobias erschrickt. Als er den Fremden jedoch näher in Augenschein nimmt, erkennt Tobias, dass er es neben sich mit einem von denjenigen zu tun hat, die ihn und Hugo beim Verkauf der LSD-Trips vor dem Beatschuppen umlagert haben. Offensichtlich erkennt dieser Typ im gleichen Augenblick auch Tobias wieder.

„Was machst du denn hier?“, fragt der auch gleich Tobias. „Wahrscheinlich dasselbe wie du“, kommt die Antwort, „ nach ’nem Zug schauen. Ich will nämlich so schnell wie möglich raus aus dieser Stadt.“ „Mensch, has’ du es aber eilig“, meint der andere daraufhin und fährt mit seiner Rede fort: „Ich hab’ eben einen deiner Trips eingeworfen, Alter. Mann, die sind echt gut. Ich bin mächtig abgefahren. Jetz’ wart’ ich bloß noch auf meine Freundin. Mit der geh’ ich dann auf meine Bude, Sounds hören.“ Indem er das sagt, glotzt dieser ausgeflippte, auch sonst wenig intelligent ausschauende Typ so selbstvergessen auf den Fahrplan der Züge, als liefe darauf ein Film ab. So oder ähnlich mag es dem in seinem LSD-Rausch wahrscheinlich auch gerade vorkommen.

Tobias nützt die momentane Geistesabwesenheit dieses Freaks rasch dazu aus, sich von ihm zu verabschieden. Er eilt aus der Bahnhofshalle nach draußen, wo ihn die Dunkelheit der Nacht rasch verschluckt. Ein kühler Nieselregen hat inzwischen eingesetzt. Immer mehr klingt in Tobias nun die Wirkung des gerauchten Haschisch ab. Sein geistiger Nebel lichtet sich.

Tobias sieht nun wieder einigermaßen klar und mit Hilfe nüchterner Vernunft gelingt es ihm auch, seinen Verfolgungswahn abzuschütteln. Er erinnert sich, dass hier ganz in der Nähe, höchstens einige Straßenzüge weiter, ein paar ihm bekannter Leute zusammen in einer Wohngemeinschaft leben müssten. Tobias beschließt, jetzt diese Leute aufzusuchen, um dort nach einem Platz für sich zum Übernachten zu fragen.

Auf dem Weg zu dieser Wohnung hofft Tobias, dass diese Leute auch tatsächlich dort noch wohnen und ihm dann für diese Nacht auch eine Herberge gewähren. Anderenfalls müsste er wohl möglich die ganze Nacht lang hier draußen jetzt sogar im Regen verbringen. Zu dieser späten Stunde nämlich zum Beispiel noch ein günstiges Hotelzimmer zu bekommen, dürfte auch nicht leicht sein, und könnte außerdem auch noch irgendwem verdächtig erscheinen. Tobias hat jedoch Glück. Die Leute wohnen dort tatsächlich noch immer, und nach mehrmaligem Läuten, als Tobias sich schon fast enttäuscht zum Weggehen wenden will, wird ihm von einem schlaftrunkenen Mitglied der Wohngemeinschaft auch die Tür geöffnet. „Du?“, meint der, was zeigt, dass er offenbar Tobias erkannt hat, „Mann, wie schaust’ denn du aus? Du bist ja ganz bleich und total durchnässt. Na, dann komm erst mal rein.“ Kaum, dass sich dann Tobias für den Einlass bedankt hat, fragt er auch gleich ohne Umschweife: „Du, sag mal, kann ich wohl heute Nacht irgendwo bei euch pennen?“ „Na klar“, kommt ohne Zögern die Antwort, die Tobias mit einem Schlag all seiner augenblicklichen Sorgen entledigt. „Eine leere Matratze zum drauf Pennen, wird sich für dich bestimmt finden lassen, kein Problem!“

Die damit erlangte Gewissheit auf einen trockenen, warmen Schlafplatz lässt in Tobias gleich wohlige Wärme aufsteigen. Für diese Nacht darf er sich jetzt sicher fühlen. Da sollte nichts mehr schiefgehen. Bald darauf schon liegt Tobias auch auf einer ihm in irgendeinem der Zimmer dieser Wohnung zugewiesenen Matratze.

Auf Komfort wie Kopfkissen und Laken muss Tobis allerdings verzichten. An Stelle eines Kopfkissens benutzt er seinen zusammengerollten Mantel. Wenigstens hat er eine Decke bekommen, mit der er sich zudecken kann. Um sich noch weitere Wärme zu verschaffen, hat Tobias außer den Schuhen, dem Mantel und seinen nassen Jeans die übrige Bekleidung anbehalten. Er will sich aber nicht beklagen. So karg sein Lager auch ist, gemessen an den grauenhaften Eindrücken der vergangenen Stunden und der bereits ins Auge gefassten Möglichkeit, weiter in kühler, regnerischer Nacht draußen herumzuirren oder von der Polizei gar in Haft genommen zu werden, fühlt sich Tobias im Moment so, wie es behaglicher kaum sein könnte. Die ihn umgebende Ruhe und Dunkelheit des Raumes wirken wie Balsam auf seine überreizten Nerven.

Schnell versinkt Tobias in einen tiefen Schlaf, den zunächst schöne, befreiende Träume begleiten, in denen sich eine Welt gleich der von Alice im Wunderland öffnet und Tobias staunend erleben lässt, wie aus den tiefsten Schichten seines Unterbewusstseins Erinnerungen an ferne, glückliche Tage emporsteigen und im Traum zu neuen, bizarren Geschichten versponnen werden. Es sind Geschichten, in denen schier alles möglich scheint, und die üblichen Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben sind.

So sieht sich Tobias im Traum wieder als Kind, dem die Mutter von der Haustür aus noch liebevoll hinterherwinkt, während es zu neuen, spielerischen Abenteuern aufbricht und dabei in der Hand noch das Butterbrot hält, das ihm die Mutter vorsorglich als Wegzehrung zugesteckt hat. Es ist ein herrliches Wetter in dem Traum, ein strahlend blauer Sommertag. Am wolkenlosen Himmel scheint die helle Sonne, derweil das Kind Tobias mit einem Freund zur Stadt hinaus wandert ins offene, freie Feld.

Über duftende, blumenschillernde Wiesen und vorbei an erdigen Äckern tollen die beiden Knaben immer weiter hinaus in eine ihnen unbekannte Welt, und die mütterlichen Ermahnungen, sich nur nicht zu weit weg zu wagen, sind schon längst vergessen. So gelangen sie an einen silbrig glänzenden Bach, der sich vor ihnen durch das Grasland windet. Das glasklare Wasser lädt die beiden Knaben zu einem erfrischenden Bade ein, und sie nehmen die Einladung freudig an. Während ihres ungestümen Herumtobens haben die Kinder schon bald ihren ohnehin nur schwach ausgeprägten Zeitsinn verloren, als sie dann, wieder angezogen, am gegenüberliegenden Ufer des sprudelnden Baches ihre abenteuerliche Entdeckungsreise fortsetzen.

Langsam verdüstert sich nun, zunächst kaum merklich, die Umgebung. Etwas unbestimmt Drohendes liegt in der Landschaft. Sogar die sonst harmlosen Bäume und Sträucher wirken da ein wenig unheimlich. Die Knaben betreten einen dichten, finsteren Wald, in den sie wie zum Beweis ihres Mutes trotz unguter Vorahnungen immer tiefer eindringen. Hinter jedem Baum droht Gefahr zu lauern.

Kaum dass sie sich dann wenig später im Unterholzdickicht tatsächlich verlaufen haben, geht auf einmal ein markerschütterndes Lachen los. Voller Angst hält Tobias Ausschau nach der Herkunft dieses schauerlichen Gelächters und entdeckt dabei im Geäst einer urwüchsigen, knorrigen Eiche das warzenübersäte, ekelige Gesicht einer alten, bösen Hexe.

Tobias möchte schreien, kriegt vor Schreck aber keinen einzigen Laut heraus. Seine Kehle ist wie zugeschnürt. In diesem düsteren Wald würde sein Schreien außer ihnen beiden und der Hexe auch sowieso kein anderer hören. Um aber wenigstens seinen Begleiter auf die lauernde Gefahr aufmerksam zu machen, zeigt Tobias mit dem Finger in die Richtung seiner schauerlichen Entdeckung. Entsetzt schreit nun der Freund auf und schafft es damit immerhin, auch bei Tobias den gliederlähmenden Schreck zu verscheuchen.

So schnell ihre schmächtigen Beinchen es ihnen erlauben, rennen die beiden Kameraden nun davon. Stolpert dabei einer von ihnen und fällt hin, hilft ihm der andere gleich wieder auf. Für beide gilt: Gemeinsam gerettet oder gemeinsam verloren. Das gibt ihnen Kraft. Obwohl der Atem längst erschöpft ist und Beine, Gesicht und Arme durch im Weg stehende Brennnesseln und Gestrüpp zerschunden sind, hören die beiden mit dem Laufen nicht auf. Erst als das Ende des Waldes erreicht und auch ganz sicher nichts mehr von dem diabolischen Gelächter der alten Hexe zu hören ist, wagen es die beiden Knaben, wieder im normalen Tempo weiterzugehen.

Allerdings ist die Sonne inzwischen untergegangen. Schritt für Schritt tasten sich die beiden Jungen durch die Dunkelheit vorwärts. Da fällt Tobias zu allem Unglück auch noch in ein Gewässer. Pudelnass muss er den Weg fortsetzen.

Wenig später haben sie zum Glück jedoch auf einmal, wie aus heiterem Himmel, den heimatlichen Ort erreicht, denn Träume sind nun einmal so, und fast sind sie schon zu Hause. Sicherlich werden ihre Eltern schon voller Wut und Ungeduld auf die unerlaubt verspäteten Sprösslinge warten. Vermutlich wird es zur Strafe Schimpfe oder vielleicht sogar Schläge geben, aber davor hat Tobias nach dem erlebten Schrecken jetzt keine Angst mehr. Er ist im Gegenteil auf jeden Fall froh, wieder nach Hause zu kommen. Er verabschiedet sich von seinem Freund und setzt das letzte Stück des Weges bis zu seinem Elternhaus alleine fort. Still ist es im Ort, die Straßen sind menschenleer. Nur hier und da strahlen in bürgerlichen Wohnstuben noch brennende Lichter Behaglichkeit und Geborgenheit aus.

Dann steht Tobias vor dem elterlichen Haus. Die Haustür ist unverschlossen. Er betritt die Diele und läutet an der Wohnungstür. Doch niemand öffnet. Er läutet ein zweites, ein drittes Mal. Nichts rührt sich. Die Zeit verstreicht. Tobias fühlt sich unendlich müde. Warum macht bloß keiner auf? Fast fallen ihm die Augen schon im Stehen zu.

Da reißt ihn ein knarrendes Geräusch an der Haustür wieder aus seiner bleiernen Müdigkeit empor. Die böse Hexe betritt unerwartet die Diele. „Na, mein Bürschchen“, krächzt sie mit giftiger Stimme, „hab ich dich endlich doch noch erwischt?“

Tobias möchte laut schreien: „ Mutti schnell, komm bitte, hilf mir!“ Aber er kann wieder nicht. Der verzweifelte Hilferuf bleibt ihm in der trockenen Kehle stecken. Ein Entrinnen scheint jetzt nicht mehr möglich. Schon greift die Hexe mit ihren dünnen, spinnenartigen Fingern nach ihrem Opfer, als Tobias, wie zu seiner Rettung, wenn auch schweißgebadet, aus dem Traum erwacht.

2. Kapitel: Rückfahrt

Am nächsten Tag befindet sich Tobias auf der Rückfahrt zu seinem Wohnort. Eintönig rattert der Zug, in dem er sitzt, über das ausbesserungsbedürftige Gleis dieser abseits gelegenen Strecke. So gut es geht passt sich Tobias den leicht schaukelnden Bewegungen des Waggons an.

Er fühlt sich ganz entspannt im Hier und Jetzt. Die Schrecken der vergangenen Nacht sind beinahe schon vergessen. Nur hin und wieder kehren seine Gedanken zu den gestrigen Ereignissen zurück. Viel schöner, als sich mit den Erinnerungen an den vorherigen Abend herumzuplagen, empfindet es im Moment Tobias, die noch sehr ursprüngliche Wald- und Wiesenlandschaft zu betrachten, die im gemächlichen Tempo am Waggonfenster vorüberzieht.

Im vormittäglichen Sonnenlicht schillern die sich abwechselnden Laub-, Nadel- und Mischwälder in den unterschiedlichsten Grüntönen, und auf den saftigen Weiden sieht Tobias wiederkäuende Kühe, deren große Euter beim Laufen hin und her baumeln, und kraftstrotzende Pferde mit glänzendem Fell. Dazwischen tauchen immer wieder grün bewachsene oder braune, mitunter auch brach liegende Äcker, vereinzelte Bauerngehöfte und kleine, stille Dörfer in der durchquerten Landschaft auf. Es gibt nur wenige größere Ortschaften, in denen der Zug zwischendurch am Bahnhof Station macht.

Es ist eine ländliche, industriell rückständige Gegend, durch die der Zug fährt, eine Gegend, in der die Zeit irgendwie nachzugehen scheint. Die meisten der älteren Frauen hier tragen noch immer die gleichen überlieferten Trachtengewänder wie schon ihre Urgroßmütter. Sicher ist auch sonst im Denken und Handeln dieser Bevölkerung die Tradition noch tief verwurzelt, und ihr Leben noch wenig durchdrungen von moderner Technik und jener um sich greifenden Rationalität, die das Erreichen des wirtschaftlichen Optimums zum Ziel erklärt. Lieber überlässt man stattdessen hier den Lauf der Dinge noch der als gottgewollt angesehenen Ordnung, so in etwa nach dem Motto: Steht das Korn auf dem Feld gut, und ist das Vieh im Stall gesund, sollte auch der Bauer zufrieden sein.

Man steht dabei noch nicht unter diesem Erfolgsdruck des dynamischen Großstädters, der zwischen den Polen von Einkommenszuwachs auf der einen und Konsumerhöhung auf der anderen Seite hin und her hastet und unterdessen die Frage nach dem tieferen Sinn des Lebens nur zu leicht aus dem Auge verliert. Um bloß nicht ins Grübeln zu kommen, erfindet ein derart vom Erfolgszwang getriebener Großstädter dann oft die raffiniertesten Methoden, seine freie Zeit außerhalb der Arbeit auf möglichst seichte Weise totzuschlagen. Er könnte sonst wahrscheinlich auch nicht zum Beispiel diese genormten Vorstädte oder entmenschlichten Fabrikhallen dauernd um sich ertragen.

Schließlich ist es nicht zuletzt diese Erfolgshast in der modernen Industriegesellschaft, die als sinnlos empfunden für Tobias und viele andere seiner Generation in der westlichen Welt jener Zeit Anlass ist, aus der elterlich vorgegebenen Lebensbahn auszubrechen und nach anderen, nämlich solchen Wegen der Lebensgestaltung zu suchen, die als weniger öde und bieder als die Ziele der Konsumbürger angesehen werden.

Es findet eine massenhafte Verweigerung hinsichtlich der etablierten, bürgerlich autoritären Ordnung statt, wobei diese Verweigerung trotz aller dafür in Anspruch genommenen Originalität dennoch, wenn auch meist unbewusst, Ausdruck übergeordneter gesellschaftlicher Zeitströmungen bleibt.

Viele der jugendbewegten Aussteiger ziehen, beeinflusst vom amerikanischen Hippietum, zurück aufs Land, um dort ein einfaches, beschauliches und finanziell bescheidenes Leben zum Beispiel auch ohne Fernsehgerät und üppige, fleischbetonte Mahlzeiten zu führen. Sie möchten nämlich die Suche nach dem eigentlichen Lebenssinn nicht im hektischen Streben nach vergänglichen Gütern aus den Augen verlieren und auch nicht die Wärme der Zwischenmenschlichkeit und das Streben nach dem eigenen Glück für ein streng normiertes Leben und den Konkurrenzkampf um gesellschaftlich anerkannte Erfolge aufgeben. Auch wollen sie nicht den bürgerlichen Triebverzicht zur Erlangung weitgesteckterer Ziele ausüben. Erst die Arbeit und dann das Vergnügen, dieser Spruch zählt für sie nicht mehr. Sie gehen davon aus, das ihnen das Leben auch ohne vorherigen gesellschaftlichen Aufstieg Erfüllung genug bietet. Sex unter Gleichgesinnten zum Beispiel kostet kein Geld, und auch Drogen zunächst vergleichsweise wenig, wenn Abenteuer und außergewöhnliche Erfahrungen dabei locken.

Drogen bringen Spaß, geben das Gefühl von Freiheit, Selbstbestimmung und Abenteuer. „Werde frei, werde high“, lautet dabei die Parole. Im Rausch soll die Götterdämmerung erlebt und die wahre Einsicht in die tieferen Zusammenhänge des Lebens gewonnen werden. „Reise ab, sag’ good-bye.“ Strebe nach dem dir möglichen Glück. Es gibt das Land, wo Milch und Honig fließen und die Erlösung von allen irdischen Qualen verheißen wird – so diese hedonistisch geprägte Denkweise.

Aber wo und wie lässt sich die Erfüllung dieser Verheißungen überhaupt finden? Das ist die Frage. Die harte Lebenswirklichkeit holt die Suchenden meist wieder ein, denn man kann sich nicht so einfach der menschlichen Existenzbestimmung entziehen, es sei denn, man durchschritte die Pforte zum Jenseits.

Durch die dauernde Auseinandersetzung mit den gewohnten Lebensformen müssen die verträumten Jünger des „Love and Peace“ oft Rückschläge hinnehmen. Schnell macht sich da bei manchen von Ihnen Frustration breit, und es wird dann zum Beispiel zu betäubenden Opiaten gegriffen oder der Einstieg in makrobiotischen Mystizismus oder anderweitige Esoterik angetreten, und die sehnsüchtige Suche nach einer besseren als der traditionellen Lebensweise verkommt so zur Flucht vor der herrschenden Wirklichkeit.

Ruckartig, erst langsam und dann immer schneller setzt sich in diesem Moment die Lokomotive, in der Tobias sitzt, nach einem Bahnhofsstopp wieder in Bewegung. Tobias richtet seine Aufmerksamkeit wieder stärker auf seine unmittelbare Umgebung als auf seine inneren Überlegungen. Er schaut sich um und sieht eine reizend ausschauende Dame sein Abteil betreten. Sie entspricht genau seinem Typ. Sie ist ziemlich groß und schlank, mit dennoch ausgeprägt weiblichen Formen. Tobias’ Erregungszustand bekommt bei diesem Anblick einen Kick, als die von ihm so betrachtete Person weiblichen Geschlechts an ihm vorüberstöckelt. Er schaut ihr nach, wie sie sein Abteil durchschreitet und es am anderen Ende jedoch leider wieder verlässt.

Tobias überlegt: Bis zur planmäßigen Ankunft an dem Bahnhof, wo er aussteigen muss, liegt noch über eine Stunde Fahrzeit vor ihm, was genug ist, um seinen träumerischen Gedanken wieder freien Lauf lassen zu können, ohne auf das rechtzeitige Verlassen des Zuges aufpassen zu müssen.

Er stöbert weiter in seinen Erinnerungen, versucht den roten Faden seines bisherigen Lebens ausfindig zu machen. Bis weit zurück in die Kindheit schweifen dabei seine Gedanken, und selbst scheinbar nebensächliche Kleinigkeiten werden wieder aus der Vergessenheit hervorgeholt. Was jetzt wohl Heinz, sein erster richtiger Freund, macht? Vielleicht ist der inzwischen schon verheiratet und auch beruflich voll etabliert.

Tobias erinnert sich auch der kindlichen Sorgen wieder, die den Erwachsenen oft so fremd sind und von denen meist nur belächelt werden, obwohl diese Sorgen es eigentlich verdienten, von jedem so ernst genommen zu werden, wie sie es für die Kinder sind. Alles in allem sieht Tobias seine Kindheit in der Erinnerung jedoch als überwiegend schön und unbeschwert an.

Anders wurde das erst, als Tobias von seinen Eltern auf die Höhere Schule geschickt wurde. Da war es bald aus mit seiner Unbeschwertheit. Pünktlich jeden Werktagmorgen um acht Uhr, denn bei unentschuldigter Verspätung gab es eine auf das Zeugnis kommende Eintragung ins Klassenbuch, musste Tobias dort nun die nächsten Jahre zum Unterricht erscheinen und dazu vorher das Schultor passieren, über den in Stein gemeißelt der gern und oft zitierte lateinische Mahnspruch gepasst hätte: „Non scholae sed vitae discimus“, was übersetzt heißt: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Ein Spruch, den angesichts des schulischen Alltags nicht nur Tobias als reinsten Hohn empfindet.

Die Angst ist Tobias ständiger Begleiter in der zu jener Zeit streng auf Auslese bedachten Lehranstalt, die Angst vor dem schulischen Versagen und dem daraus folgenden Krach mit seinen Eltern. In dieser Situation fühlt sich Tobias oft allein gelassen und geradezu eingezwängt zwischen der elterlichen und schulischen Gewalt.

Als meist einer der letzten Schüler betritt er morgens das Klassenzimmer, in dem vor Beginn des Unterrichts in der Regel ein wildes Durcheinander herrscht. Einige der Schüler raufen sich, zwar mehr zum Spaß als im Ernst, wobei jedoch unvermeidlich immer wieder Tische und Stühle verrückt werden. Andere Schüler versuchen quasi in letzter Minute noch hastig unerledigte Hausaufgaben von irgendjemand anderem abzuschreiben, bis sie davon schließlich der Warnruf „Er kommt“ des an der Tür postierten Schülers abbringt. Damit gemeint ist nämlich, dass die Lehrperson der folgenden Unterrichtsstunde anrückt.

In Windeseile verschwinden dann alle Hefte und Bücher von den Tischen. Auch das aus der Reihe gebrachte Mobiliar wird wenigstens einigermaßen wieder zurechtgerückt. Wenn der angekündigte Lehrer schließlich das Klassenzimmer betritt, stehen alle Schüler gemäß den alten Verhaltensregeln dieser Lehranstalt auf und nehmen mehr oder weniger die von Ihnen zur Begrüßung verlangte gerade Haltung an. Dem folgenden Gruß des Lehrers „Guten Morgen, Jungens“, es handelt sich nämlich wie typisch für die damalige Zeit um eine reine Jungenklasse, haben sie im Chor zur Antwort zu geben: „Guten Morgen, Herr Studienrat!“, wobei das aber auch Oberstudienrat oder sogar Studiendirektor bzw. Oberstudiendirektor heißen konnte. Dem allmorgendlichen Begrüßungszeremoniell gemäß folgt anschließend die Aufforderung des Lehrers zum Hinsetzen.

Steht dann zum Beispiel auf dem Stundenplan für die ersten fünfundvierzig Minuten, was einer Unterrichtsstunde entspricht, das Schulfach Deutsch, kann dieser Unterricht so aussehen, dass zunächst beispielsweise die Klassenarbeitshefte wieder eingesammelt werden, in denen die Schüler zu Hause die angestrichenen Fehler der letzten Klassenarbeit zu berichtigen hatten, die ihnen in der vorherigen Deutschstunde zurückgegeben wurde. Im Fall einer schlechter als ausreichend benoteten Arbeit war sogar eine neue, fehlerfreie Abschrift der Klassenarbeit anzufertigen. Jede solcher Klassenarbeiten hat dann großen Einfluss auf die Zeugnisnoten des jeweiligen Schulfachs am Ende eines Schuljahres, was dann wiederum entscheidend für die Versetzung oder Nichtversetzung in die nächste Klassenstufe ist. Um nämlich diese Versetzung zu erreichen, darf zumindest damals ein Schüler in nicht mehr als einem Hauptfach eine Endnote bekommen, die schlechter als ausreichend ist.

Die eingesammelten Arbeitshefte verschwinden übrigens meist gleich anschließend in der geräumigen Tasche des Lehrers. Eine danach typische Fortsetzung des Unterrichts im Fach Deutsch kann so aussehen, dass der Lehrer einen gähnend langweiligen Monolog über die Grammatik des deutschen Satzes beginnt, wobei er mit Hilfe von Tafelnotizen und unverständlichen lateinischen Begriffen den in Routine erstarrten Lehrstoff herunterleiert.

Der Schüler Tobias aber kann sich für diesen formalistischen Kram beim besten Willen nicht begeistern. Er schaltet folglich seine Aufmerksamkeit ab und verkriecht sich in seine eigene Phantasiewelt, in der er selbst bestimmen und alles schön nach seinem Belieben formen und lenken kann.

Dabei streift hin und wieder auch Tobias’ abwesender Blick den vor der Klasse stehenden Lehrer, der ihm räumlich so nah, doch geistig so fern erscheint. Aus seiner phantasierten Perspektive meint Tobias bei dem Lehrer Ähnlichkeiten mit einem Frosch zu erkennen, der scheinbar unmotiviert zwischen der Tafel und dem Beginn der Schülerbänke hin und her hüpft und „Subjekt, Prädikat, Objekt“ quakt. Indem er sich das so vorstellt, kann sich Tobias ein leichtes und trotzdem unüberhörbares Kichern nicht verkneifen.

„Was gibt es denn da zu lachen, Löster?“, fragt ihn gleich der Lehrer, leicht verunsichert. „Ach nichts, Herr Studienrat“, schwindelt Tobias, weil er sich natürlich die Wahrheit nicht zu sagen traut. Darauf entgegnet der Lehrer: „So, nichts! Ja dann erzähl’ uns doch mal, aus welchen Grundelementen der deutsche Satz aufgebaut ist. Na, wie sieht es damit aus, Löster?“

Jetzt, wo Gefahr heraufzieht, ist Tobias sofort wieder hellwach. Sein Gesicht mimt angestrengtes Nachdenken. Aber was soll er schon antworten, wenn er von dem vorgetragenen Lehrstoff nicht viel mitbekommen hat? Tobias will schon ein Geständnis seiner Unaufmerksamkeit ablegen, als ihm vom Hintermann die rettenden Worte „Subjekt, Prädikat, Objekt“ zugeraunt werden, die Tobias laut wiederholt.

„Schön“, meint der Lehrer, „und sicher kannst du uns dann auch sagen, in welchen Fällen beziehungsweise Kasus, um den korrekten Ausdruck zu benutzen, das Objekt stehen kann, Löster!“ Bei dieser schwierigen Frage muss jedoch auch Tobias’ Hintermann passen, und Tobias selbst nach langem Zögern eingestehen: „Das habe ich nicht mitbekommen, Herr Studienrat.“ Und zur Entschuldigung fügt Tobias noch hinzu: „Mir war ’s nämlich eben richtig schlecht, da konnte ich mich überhaupt nicht gut konzentrieren, Herr Studienrat.“ „Dann hättest du das gleich melden müssen, Löster“, kommt es ungerührt aus dem Mund des Lehrers, „sonst muss ich nämlich befürchten, dass es dir bei der nächsten Zeugnisausgabe erst richtig schlecht werden wird.“ Danach wieder der gesamten Klasse zugewandt und noch leicht über seinen eigenen schlechten Scherz schmunzelnd sagt der Lehrer weiter, um den Unterricht wieder fortzusetzen: „Wir fahren dann jetzt im Stoff fort und kommen zum Fragesatz!“

Tobias fühlt sich in diesem Moment gedemütigt. Trotzig weigert er sich jedoch den anschließenden, ihm gegenüber von ironischem Lächeln begleiteten Blicken des Lehrers auszuweichen. Für Tobias besteht kein Zweifel: Die Lehrer haben sich gegen ihn verschworen, und seine Eltern halten sogar noch zu denen.

Einsam und verlassen kommt sich damals der junge Tobias in einer von den Erwachsenen beherrschten Welt vor, fast so winzig wie ein kleines Weizenkorn zwischen zwei rotierenden Mühlsteinen, die langsam, aber unerbittlich alles zwischen ihnen Befindliche zermalmen.

Zum Glück beendet das ersehnte Klingelzeichen zur Pause bald diese erste Unterrichtsstunde des Tages. Es folgt zum Beispiel eine Stunde im Fach Mathematik. Die Schüler der Klasse befürchten, dass in Mathematik auf sie eine unangemeldete Klassenarbeit zukommen könnte, weil das von der Menge des seit der letzten Klassenarbeit durchgenommenen Lehrstoffs her irgendwie in der Luft liegt. In großer Anspannung, mit mehr oder weniger Angst vermischt, erwarten sie nun die Ankunft der schicksalsmächtigen Lehrperson, bis der an der Tür postierte Schüler, der dort steht, um für die eintretende Lehrperson die Tür aufzuhalten und dahinter zu schließen, die nichts Gutes ankündigenden Worte „Er kommt, mit dicker Tasche!“ ruft.

Mit dicker Tasche, das heißt, dass nun nahezu sicher die befürchtete Klassenarbeit fällig ist. In dieser Tasche nämlich, die so auffällig ausgebeult ist, müssten sich eigentlich, zumindest deutet alles darauf hin, die vom Lehrer verwalteten Klassenarbeitshefte befinden, die dafür vorgesehen sind, darin den Leistungstest niederzuschreiben. Tobias spürt, wie er bei der Vorstellung des drohenden Prüfungsstresses innerlich verkrampft, wie sich sein Magen zusammenzieht, die Hände feucht werden, und sich auch auf seiner Stirn Schweißperlen bilden. Das dringende Bedürfnis, jetzt noch einmal seine Blase zu entleeren, muss er allerdings unterdrücken.

Der Mathematiklehrer betritt unterdessen energischen Schrittes das Klassenzimmer, öffnet ohne eine Sekunde des Zögerns seine Tasche und schmeißt zwei Stapel Klassenarbeitshefte auf das Lehrerpult. Fast im selben Augenblick befiehlt er den beiden ihm in der ersten Reihe am nächsten sitzenden Schülern das Austeilen dieser Hefte.

Kurz darauf hat jeder Schüler sein Klassenarbeitsheft vor sich liegen, und der Lehrer kann mit dem Vorlesen der fünf zu lösenden Prüfungsaufgaben beginnen, wobei jeder Schüler angehalten ist, die Aufgabenstellungen gleich mitzuschreiben. Danach ist allen Schülern bei Androhung der Heftabnahme und einer damit für diese Klassenarbeit als nicht mehr ausreichend angesehenen Note jegliche Zwiesprache, es sei denn mit dem Lehrer, untersagt. Genauso verboten ist das Abschreiben vom Nachbarn oder die Benutzung anderer unerlaubter Hilfsmittel. Zeit ist bis zum nächsten Klingeln. Es eilt also.

Tobias rechnet jede der zu lösenden Aufgaben zunächst auf einem Zettel vor und überträgt, jedes Mal wenn er eine Lösung fertig hat, diese dann so sauber ins Klassenarbeitsheft, wie seine vor Nervosität zitternde Hand es ihm erlaubt. Erst als er die ersten beiden von ihm in Angriff genommenen Aufgaben zügig lösen kann, wird Tobias wieder etwas sicherer und ruhiger.

Bei der dritten Aufgabe jedoch verhaspelt er sich und kommt auf Anhieb zu keinem akzeptablen Ergebnis. Er gerät ins Grübeln und verliert kostbare Zeit. Darum übergeht er zunächst diese dritte Aufgabe und versucht sich an der Lösung der vierten und fünften Aufgabe, kommt aber auch mit diesen Aufgaben nicht unmittelbar zurecht. Kostbare Minuten der knappen Zeit, die ihm zur Verfügung steht, verrinnen. Immer wieder schaut Tobias auf seine Armbanduhr. Er droht sich zu verzetteln und für diese Arbeit eine dann nicht mal mehr mit ausreichend bewertete Note zu bekommen.

Schließlich bleiben ihm bald nur noch fünfzehn Minuten Zeit übrig. Die Sekunden verstreichen weiter. Nun ist schon fast alles egal, denkt sich Tobias, nur bloß keine Panik kriegen. Unter diesen Umständen gelingt es ihm noch, für die vierte und fünfte Aufgabe irgendeine Lösung zu konstruieren.

Damit ist die zur Verfügung gestellte Zeit auch fast schon abgelaufen. Unruhe breitet sich in der Klasse aus. Tobias Tischnachbar zum Beispiel ist völlig entnervt und versucht bloß noch abzuschreiben. „Mensch, Tobias,“ flüstert er verzweifelt, „tu doch bitte mal deinen Arm weg, damit ich was sehen kann!“ Auch wenn Tobias dieser Bitte nachgibt und seinen Arm aus der Sichtlinie des Nachbarn nimmt, kann er sich um dessen Hilferufe ansonsten wenig kümmern. Tobias ist nämlich selbst noch voll mit dem Versuch einer Lösung der übergangenen dritten Rechenaufgabe beschäftigt und schafft es auch gerade noch, sogar dafür einen brauchbar erscheinenden Ansatz hinzuschreiben.

Inzwischen hat es auch schon zur Pause geklingelt. Die Unterrichtsstunde ist damit offiziell vorüber, und die Hefte werden eingesammelt. An dem Verhalten der meisten Mitschüler in diesem Moment ist zu erkennen, dass auch sie größtenteils diese Klassenarbeit in Mathematik vor einige Probleme gestellt hat. Einer der Schüler läuft sogar, noch bevor der Lehrer auch ihm das Heft aus der Hand nehmen kann, in Torschlusspanik wie ein aufgescheuchtes Huhn und ohne Hemmungen vor den Augen der anderen durch das Klassenzimmer zu einem als Mathematikexperten bekannten Mitschüler, um von dem das Ergebnis dieser oder jener Aufgabe zu erflehen. Der Lehrer sieht sich gezwungen, da persönlich einzuschreiten und dem betreffenden Schüler das Heft wegzunehmen. Auch andere Schüler versuchen noch, schnell irgendetwas auszubessern, bevor auch ihnen das Heft schließlich abgenommen wird.

Tobias ist mit seiner zu Papier gebrachten Leistung eigentlich noch ganz zufrieden. Als Note dürfte da wohl ein befriedigend, mindestens aber ein ausreichend herauskommen. Nun ist erst einmal große Pause. Danach geht es zur Biologiestunde beim Klassenlehrer Bolte.

Biologie ist eigentlich eines von Tobias’ Lieblingsfächern. Jedoch hat er es für die anstehende Stunde versäumt, sich zu Hause vorzubereiten, das heißt die Hausaufgaben gründlich zu machen und den Unterrichtsstoff aufzuarbeiten. Nun kann er nur hoffen, dass nicht das Unwahrscheinliche eintreten möge, und er zu denen gehört, die vom Lehrer üblicherweise zu Beginn der Schulstunde geprüft werden. Bange Minuten vergehen deshalb für Tobias zunächst, bis vom Biologielehrer schließlich die beiden Schüler ausgewählt sind, die für diesmal einer mündlichen Prüfung unterzogen werden sollen. Tobias gehört zu seinem Glück nicht dazu.

Dafür trifft es ihn um so härter nach Ende der Biologiestunde. In einem knappen Zwiegespräch teilt ihm der Biologielehrer in seiner Funktion als Klassenlehrer mit, dass er Tobias’ Eltern eine Mahnung, einen sogenannten „Blauen Brief“ ins Haus schicken musste, um darauf hinzuweisen, dass Tobias’ Versetzung in die nächsthöhere Klassenstufe wegen nicht ausreichender Leistungen im Fach Deutsch gefährdet ist.

Durch diese schlimme Nachricht niedergeschlagen, schlurft Tobias während der beiden diesen Unterrichtstag abschließenden Sportstunden in einer Stimmung über den staubigen Aschenplatz, als gäbe es für ihn nun nichts mehr, auf das er sich noch freuen könnte. Er wünscht sich nur sehnlichst, die Schule möge heute Vormittag so rasch kein Ende nehmen, denn es graut Tobias vor dem, was ihn zu Hause, wo der „Blaue Brief“ sicher schon eingetroffen ist, erwartet. Dort nämlich drohen ihm Schimpfe durch die Eltern und vielleicht sogar Schläge.

Ganz im Gegensatz zum sonstigen schulischen Alltag, wo die Zeit bis zum Schulschluss nicht vergehen will, verstreichen nun die Minuten für Tobias so unaufhaltsam wie beinahe für jemanden, den man zum Tode verurteilt hat, in der Nacht vor dessen Hinrichtung. Das zu erwartende Unglück, für Tobias also der Krach mit seinen Eltern, kommt mit dem Fortschreiten der Zeit immer näher. Alles andere als demnach frohgemut begibt sich Tobias dann auf seinen Heimweg. Wie gerne würde er jetzt jeden Schritt wieder zurücknehmen und sieht keinen Grund, sich zu beeilen und rasch nach Hause zu kommen.

Aber auch so ein unglückseliger Tag hat Gott sei Dank irgendwann ein Ende. Es kommt der Zeitpunkt, dass Tobias zur Nachtruhe ins Bett geht und sich von der dort wohligen Wärme empfangen lässt. Bald ist dann schon beinahe wieder alle Schlechtigkeit des zurückliegenden Tages vergessen. Mit dazu noch ein wenig süßer Schokolade und einem spannenden Abenteuerbuch sind schließlich auch die letzten grauen Alltagssorgen vertrieben. Nicht jeder Tag bringt schließlich soviel Pech.

Zwischendurch, besonders in den langen Sommerferien, erlebt Tobias auch in diesen Jahren immer wieder schöne Stunden. Wenn die Sonne dann schon früh des Morgens hoch am Firmament steht, springt Tobias ohne jedes Zögern gleich nach dem Aufwachen aus den jetzt als beinahe lästig empfundenen Federn. Im Strudel einer unbändigen Lebenslust verschmelzen dann Traum und Wirklichkeit zur beglückenden Einheit.

Leider aber verfliegen solche unbeschwerten Tage wie Blütenstaub im Wind. Und anschließend wird die Last des schulischen Alltags nur doppelt schwer empfunden. Oft fühlt sich Tobias während seiner Schulzeit einsam und von der Mitwelt unverstanden. Doch zunächst gibt es für ihn keine andere Möglichkeit, als diesen ihm vorgeschriebenen Weg weiterzugehen, wenn auch ohne innere Überzeugung.

Eigentlich nur wenig interessiert ihn zuletzt selbst noch sein schulischer Erfolg. Bloß nicht durchfallen, heißt lediglich die Devise. Mit möglichst geringem Einsatz versucht er, den an ihn gerichteten Erwartungen Genüge zu tun, mehr oder weniger passiv und ohne Kontakt zu den meisten seiner oft ehrgeizigeren Mitschüler. Dennoch merkt sich Tobias jede Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die ihm in der Schule widerfährt. Irgendwann wird die Stunde der Vergeltung schon kommen, denkt er sich.

Unterdessen meldet sich in Tobias die herannahende Geschlechtsreife. Neue, vorher ungeahnte Möglichkeiten und Kräfte eröffnen sich für ihn auf einmal, aber auch damit verbundene Gefahren. Es gilt ein seelisches Chaos zu durchleben, ehe man mit der erwachten Sexualität umzugehen weiß. Wie eine sich häutende Schlange verändert Tobias sein Äußeres und rüttelt zornig an den Fesseln elterlicher und schulischer Autorität. Er merkt, dass er selbst sein Leben meistern muss, und nicht seine Erziehungsberechtigten und Lehrer für ihn. Niemand kann ihm für sein Leben ein Patentrezept ausstellen. Den geeigneten Weg, richtig zu leben, muss er schon selber finden, wenn er auch dabei die Hilfe anderer nicht ausschlagen sollte.

So begibt sich Tobias auf die Suche nach nichts Geringerem, als selbst herauszufinden, was das Leben eigentlich ausmacht. Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Dabei verlässt Tobias den ihn vorgezeichneten Weg, der Morgenröte der Befreiung entgegen, die wie die Verheißung irdischer Erlösung am Horizont heraufdämmert.

Die Barrieren müssen abgerissen, die Tabus beseitigt, die bürgerliche Doppelmoral radikal zerstört werden. Die Herrschaft des Establishments und überhaupt der kapitalistischen Gesellschaftsordnung muss gebrochen werden. So wenigstens möchte es der in dieser Zeit aufkommende antiautoritäre Jugendprotest, dem sich auch Tobias bald anschließt. Auf Demonstrationszügen und Teach-Ins der außerparlamentarischen Opposition schallt es in Sprechchören: „ Che, Che, Che Guevara! Ho, Ho, Ho Tschi Minh! Nieder mit dem US-Imperialismus! Nieder mit dem spätbürgerlichen Monopolkapitalismus! Für ein freies Rätesystem! Für den Sieg der Vietkong! Für die Revolution!“ Die traditionelle Ordnung wird von dieser Jugend nicht länger als gottgegeben hingenommen. Und sie wollen nicht mehr so sein und leben wie ihre Eltern und deren Generation.

Eine Elterngeneration zudem, die sich in Deutschland, als sie selbst so jung war, wie es nun ihre protestierenden Kinder sind, für einen selbsternannten Führer namens Adolf Hitler begeistert hat, sich ihm und seinen Leuten gegenüber jedenfalls nicht aufgelehnt, sondern zum größten Teil die zerstörerischen Ideen und Reden dieses Führers und seiner Gefolgsleute angenommen hat, einschließlich der Pläne von der Errichtung eines neuen Reiches, der Eroberung ausländischer Gebiete, der Reinerhaltung einer als höherwertig angesehenen arischen Rasse, der Juden- und Zigeunervernichtung, Gleichschaltung des Volkes und Ausmerzung allen Widerspruchs, wonach dann auch ohne Rücksicht auf fremdes und zum Teil sogar des eigenen Lebens gehandelt wurde, denn menschliches Leben an sich war denen nicht viel wert. Morden und töten oder getötet werden oder sich im Extremfall auch selbst zu töten wurde zum Alltäglichen. In der zur Macht gekommenen Bewegung tobten sich dabei insbesondere jene aus, die sich bisher als im Leben zu kurz gekommen betrachteten und dafür andere, die für sie fremd waren und zu Feinden erklärt wurden, verantwortlich machten. So fanatisiert und von Opportunisten unterstützt wurden von den Anhängern der nationalsozialistischen Bewegung Millionen Menschen, vornehmlich Juden sowie Sinti und Roma, grausam und generalstabsmäßig vernichtet und auf der Welt ein totaler Krieg angezettelt, der schließlich in der Katastrophe auch für das eigene Volk und einer fundamentalen Niederlage endete. Als dann alles zu Ende und zerstört war, verstanden die meisten der Leute auf deutscher Seite die Welt nicht mehr und wollten das, was während der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen war, wie einen bösen Traum vergessen und nicht mehr daran erinnert werden. Obwohl, wie viele meinten, eigentlich nicht alles daran schlecht gewesen war. Im Großen und Ganzen aber wollte man nach dem Krieg in Deutschland das eigene Leben an die Zeit vor der nationalsozialistischen Herrschaft anknüpfen lassen und die Nazizeit ausgeklammert wissen, außer vielleicht, dass Krieg an sich etwas Schreckliches ist. Entsprechend rückwärtsgewandt war die Weltanschauung. Man war eben froh, mit dem eigenen Leben davon gekommen zu sein, und erwartete nun von diesem nicht viel mehr als durch Fleiß, Rechtschaffenheit, kirchliche Frömmigkeit, Ordnung und Spießbürgerlichkeit etwas Ruhe und Wohlstand zu erlangen.

Diese inzwischen älter gewordene Kriegsgeneration, gewohnt zu gehorchen, zu arbeiten und keine unerwünschten Fragen zu stellen, kann dann gut zwei Jahrzehnte nach dem Krieg die nun aufbegehrende Jugend, deren Protest sich zumindest in Deutschland auch gegen das ungeklärte Verhalten vieler ihrer Eltern während der Nazizeit richtet, nicht mehr verstehen. Fernsehen- und Zeitungsberichte, die das für den Bürger abstoßende und Ordnung zersetzende Erscheinungsbild des Protestes hervorkehren, verstärken dieses Unverständnis noch. Manche verschreckte Oma erhebt da warnend den Zeigefinger und spricht weise: „Gott lässt seiner nicht spotten!“ Andere meinen sogar nostalgisch: „Unter Adolf hätt ’s das nicht gegeben!“ Doch lässt sich die Entstehung alternativer Lebensmuster, aufschießenden Pilzen auf modrigem Wohlstandsdung gleich, nicht aufhalten. „Werde frei, werde high, reise ab, sag’ good bye,“ heißt ein Motto dieser Tage.