Überwiegend heiter - Vera Tschechowa - E-Book

Überwiegend heiter E-Book

Vera Tschechowa

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Beschreibung

Sie war eine der populärsten Film- und Theaterschauspielerinnen der Nachkriegszeit – bis in die 1990er-Jahre hinein. In über 50 Filmen arbeitete Vera Tschechowa mit Schauspiel-Legenden wie Gert Fröbe, Vittorio de Sica, O.W. Fischer, Mario Adorf, Elisabeth Flickenschildt, Therese Giehse und Götz George zusammen. 1959 wurde ihr nach mehreren öffentlichkeitswirksamen Begegnungen mit Elvis Presley, der in Deutschland gerade seinen Militärdienst absolvierte, sogar eine Affäre mit dem Rock'n'Roll-Star angedichtet. In dieser sehr persönlichen Zeitreise durch die deutsche Kultur- und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts taucht der Schauspieler und Regisseur Vadim Glowna, erster Ehemann von Vera Tschechowa, ebenso auf wie die Studentenunruhen von 1968, Heinrich Böll, der Ärger über Günter Grass, die Feministin Alice Schwarzer und Vera Tschechowas Beteiligung an der "Stern"-Aktion "Wir haben abgetrieben" 1971.

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VERA TSCHECHOWA

Überwiegendheiter

MEIN ZIEMLICH BEWEGTES LEBEN

Der Text dieses Buches entstand unter der Mitarbeitvon Reinhard Mohr, Berlin.

»Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

Und die Welt asphaltiert und aufgestockt

Bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn

In zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht genau noch derselbe Ton

Wie seinerzeit auf den Bäumen.«

ERICH KÄSTNER, 1932

Für Peter, in Liebe und Dankbarkeit.Mit seinem klaren Verstand und seinem schrägen Humor hat er jede Seite dieses Buches begleitet.

INHALT

Prolog

Meine Kindheit im Krieg – Strandurlaub auf Hiddensee und Bomben auf Berlin

Berlin 1945: Mit dem Tretroller durchs Trümmerfeld

Vom Glück der Berge – mein neues Leben in Oberbayern

Plötzlich bin ich die Tochter von Heinz Erhardt – mein Blitzstart in die Filmkarriere

Die ewige Legende von Vera und Elvis

Gustaf Gründgens rügt mich scharf: »Eine Tschechowa kommt nicht zu spät!«

»Ich habe mich sehr in Sie verliebt!«, sagt Vadim Glowna im Londoner Hyde Park

Zurück zur Natur: Unser kurzes Abenteuer mit dem Leben auf dem Bauernhof

Auf nach Cannes: Vadims erster Spielfilm im Wettbewerb um die Goldene Palme

Peter, der Mann vom Niederrhein

Mein neues Leben hinter der Kamera

There is no such thing as »Work-Life-Balance«

Zu Gast bei Alexis Sorbas: Anthony Quinn lässt bitten

A real Mensch – Michael Ballhaus

Und jetzt?

Filmografie

Personenregister

PROLOG

Im Dezember 2020, mitten im vorweihnachtlichen Lockdown wegen der Covid-19-Pandemie, besuchte meine engste Freundin, die Regisseurin Sherry Hormann, meinen Mann Peter und mich zu Hause. Nach dem schönen Essen fragte mich Sherry plötzlich: »Du hast nach einer langen, erfolgreichen Karriere als Theater- und Filmschauspielerin zehn filmische Porträts als Regisseurin gedreht, unter anderem über Armin Mueller-Stahl, Hans-Dietrich Genscher und Anthony Quinn. Wie müsste denn ein Porträt aussehen, in dem du selbst die Geschichte deines Lebens wiederfindest?«

Ich erwiderte: »Es müsste sich auf die Ereignisse und Menschen konzentrieren, die bewirkt haben, dass ich mich weiterentwickeln konnte, Menschen, die Freude in mein Leben gebracht haben so wie du! Seit einiger Zeit schon will ich die schönen Seiten meines Lebens niederschreiben. Du motivierst mich, es endlich zu tun. Den Film kannst du später immer noch machen. Dann hast du schon mal eine Vorlage.«

MEINE KINDHEIT IM KRIEG – STRANDURLAUB AUF HIDDENSEE UND BOMBEN AUF BERLIN

Wen sein Beruf mit Leidenschaft erfüllt, der unterscheidet nicht akribisch zwischen Arbeit und Freizeit. Beides geht, mal so, mal so, ineinander über. Und natürlich ist es ein großes Glück, die eigenen Neigungen und Talente mit dem verbinden zu können, was bei den meisten Menschen schlicht der »Broterwerb« ist.

Dennoch dachte ich mir eines Tages: Mehr als fünfzig Jahre im Beruf sollten genügen.

Meine zweite Karriere als Dokumentarfilmerin hatte im Jahr 1992 mit einem Porträt über Eduard Schewardnadse begonnen, den ehemaligen sowjetischen Außenminister und späteren Präsidenten von Georgien. 2008 dann, nach Fertigstellung des Films über den berühmten Kameramann Ballhaus – Titel: Michael Ballhaus – eine Reise durch mein Leben –, nach Schnitt, Mischung und Abnahme durch die Sender, fasste ich den Entschluss, dass dies meine letzte Regiearbeit gewesen war.

Warum aber habe ich mir das alles zugemutet, die Mühen und Anstrengungen, Risiken und angespannten Augenblicke? Ganz einfach: Ich konnte und wollte nicht anders! Es gehörte zu meinem Leben. Und ich fühlte mich meistens ziemlich wohl dabei.

Das gilt genauso für meine beinahe vierzig Jahre währende Zeit als Schauspielerin, die nicht weniger arbeitsreich war und mich mit berühmten Kollegen wie Heinz Erhardt, Gert Fröbe, O. W. Fischer, Mario Adorf, Paula Wessely, Elisabeth Flickenschildt, Gustaf Gründgens und der Brecht-Ikone Therese Giehse zusammenbrachten.

Die vielen Menschen – und eben nicht nur die großen Namen –, denen ich dabei begegnete, mit denen ich mich auseinandersetzte, gaben mir nicht nur für meinen Beruf, sondern auch für mein gesamtes Leben, Denken und Handeln wichtige Impulse. Mit einigen entwickelten sich Freundschaften, die bis heute anhalten. Durch sie habe ich die Welt besser kennen-, besser erkennen gelernt. So weit die schönen Seiten.

Dennoch habe ich mich bei jeder Vorbereitung einer großen TV-Dokumentation gefragt: »Warum machst du das alles? Warum tust du dir das an?« Diese Fragen konnten in jeder Phase des Projekts auftauchen, das bis zur Endfassung bis zu zwei Jahre dauerte – sei es durch eine Blockade beim Drehbuchschreiben, beim Kampf um die Finanzierung oder bei den langen Reisen über Zeitzonen hinweg mit Jetlag-Problemen, die mich ebenso plagten wie den Hollywood-Star Dustin Hoffman.

Die Dreharbeiten begannen am frühen Morgen und endeten selten am frühen Abend. Gleiches galt für die Postproduktion des Films, speziell für den Schnitt.

Nach Abschluss jeder Arbeit bot sich immer das gleiche Bild: eine glückliche, aber ganz schön erschöpfte Kämpferin. Viel Schlaf war das einzige Mittel, das mir wieder auf die Beine half. Einmal schlief ich sogar auf der Fahrt von Berlin in unseren geliebten Schwarzwald, während Peter – für ihn recht ungewöhnlich – behutsam unser Auto lenkte.

Beim Nachdenken über all das Vergangene frage ich mich: Wo in Berlin hat eigentlich mein Leben begonnen? Denn schon im Alter von zehn Jahren zog ich mit meiner Mutter Ada nach Oberbayern, ins Berchtesgadener Land. Zu welcher Zeit meiner Kindheit setzt also meine Erinnerung ein?

Ich kann sie nicht genau bestimmen. Natürlich gibt es eine Reihe von Geschichten, die ich vom Hörensagen kenne. Eine davon weiß ich von meinem Vater, dem Arzt Wilhelm Rust, der als Gynäkologe in der Charité arbeitete. Er erzählte, wie er mich 1940 – gerade mal ein paar Monate alt – in seinem Arbeitszimmer auf dem Arm ans Fenster getragen hat, um mir die schöne Aussicht, ich glaube auf die Invalidenstraße, zu zeigen. Doch was sich uns beiden darbot, war ein nicht enden wollender Zug berittener Soldaten.

Ansonsten kann ich mich verständlicherweise an sehr wenig aus meiner frühesten Kindheit erinnern. Wenn überhaupt, dann nur an Erzählungen meiner Eltern über diese Jahre.

Ein Erlebnis allerdings, von dem mein Vater immer wieder berichtete, wirkt bis heute nach: Ich schwimme gern, habe aber immer ein wenig Angst. Die Ursache dafür liegt wohl in einem Vorfall, der mir – so mein Vater – als Zweijährige widerfuhr.

Meine Eltern verbrachten ihren Sommerurlaub in den ersten Kriegsjahren auf Hiddensee. Im Sommer 1942 – kurz vor der dramatischen Schlacht um Stalingrad, weit weg in Russland – soll die zwei Jahre alte kleine Vera am Ostseestrand gespielt haben, während ihre Eltern mit Freunden unter Sonnenschirmen zusammensaßen und intensiv über die aus den Fugen geratene Welt redeten.

Es war heiß und die kleine Vera trug zum Schutz gegen die Mittagssonne einen großen Strohhut. Mein Vater erinnerte sich, wie er irgendwann instinktiv aus dem Schatten des Sonnenschirms heraus nach seiner Tochter Ausschau hielt.

Doch die war plötzlich verschwunden.

Als sein Blick in Richtung Meer wanderte, sah er den Strohhut im Wasser schwimmen – ohne die kleine Vera. Sofort rannte er los, sprang ins Wasser und wurde zum Lebensretter seiner Tochter.

Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Vielleicht liegt es an meiner lebenslangen, oft segensreichen Gabe, schlechte Erlebnisse aus meinem Gedächtnis zu verbannen.

1942 muss auch das Jahr gewesen sein, in dem mein Vater als Stabsarzt zur Wehrmacht eingezogen wurde. Erinnerungen an diese Zeit habe ich so gut wie gar nicht, auch nicht an den Krieg. Ich weiß nur noch, wie ich einmal während eines Bombenangriffs gebannt in den feuerroten Nachthimmel schaute, um im nächsten Augenblick von meiner Großmutter Olga in den Luftschutzbunker gezerrt zu werden, wo ich zusammen mit meinem Holzdackel und vielen unbekannten Menschen stundenlang ausharren musste.

Seit dieser Zeit nannten mich alle in meiner Familie »Kucki«. Meine überaus große Neugierde war wohl der Grund dafür.

Eine Begebenheit aber ist mir bis heute präsent geblieben. Es muss das Jahr 1944 gewesen sein, als ich im großen Garten des Hauses meiner Großmutter spielte und plötzlich ein Militärfahrzeug über die lange Auffahrt zum Haus fuhr. Ich sah, wie meine Großmutter, meine Mutter und alle anderen auf das Auto zustürmten. Voller Neugierde wartete ich darauf, was passieren würde. Im nächsten Moment beobachtete ich, wie ein Mann, auf dessen Jacke ein großes rotes Kreuz gestickt war, aus dem Wagen stieg. Er blickte auf und sah sofort – ohne irgendetwas anderes zu beachten – in meine Richtung, breitete seine Arme aus und rief laut: »Kucki!« Ich rannte los, nein, ich flog in seine Arme und hielt mich an ihm fest. Mein Vater war endlich heimgekehrt!

Der berühmte Leichtathletiktrainer Bert Sumser, ein lieber Freund der Familie, der zu dieser Zeit bei meiner Großmutter wohnte, sagte einmal scherzhaft, ich sei so schnell gelaufen, dass ich seinem Schüler Armin Hary, dem Olympiasieger von Rom 1960 über 100 Meter, alle Ehre gemacht hätte.

Der Mann mit der Rotkreuz-Jacke – mein Papa – konnte kurz vor Kriegsende zu meiner großen Freude in Berlin bleiben, um als ärztlicher Direktor eine Klinik in Friedrichshagen am Müggelsee aufzubauen. Seine engsten Mitarbeiter und Vertrauten waren meine Mutter und Bert Sumser.

Mein Vater war ein großer Arzt – und ein höchst bescheidener Mann. Viele Menschen, die ich kannte oder denen ich zufällig begegnete und die von ihm ärztlich betreut worden waren, darunter namhafte Personen aus Politik, Wirtschaft und den Künsten, gerieten geradezu ins Schwärmen über die Art meines Vaters, vor der Diagnose den Patienten zuallererst als menschliches »Gesamtkunstwerk« zu erfassen. Mein Ehemann Peter, der seit Jugendzeiten unter Rückenbeschwerden litt und dem mein Vater helfen konnte, riet später allen Leidensgenossen: »Bei Rückenproblemen gehe nicht zum Orthopäden, sondern zum Gynäkologen!«

Mein Papa war ein eher leiser Zeitgenosse, der nicht viel Aufhebens von seiner Person machte. So war es auch nicht einfach, ihm zu entlocken, dass er in der Charité an der Seite von Professor Ferdinand Sauerbruch gearbeitet hatte, einem der bedeutendsten Chirurgen des 20. Jahrhunderts. Von meines Vaters Habilitation zur Venia Legendi erfuhren wir erst, als er weit über achtzig Jahre alt war. Er hatte die Unterlagen bei Kriegsende im Keller deponiert und erst fünfzig Jahre später auf unser Drängen wieder hervorgeholt.

Meine Eltern arbeiteten intensiv am Aufbau des Krankenhauses. Während dieser Zeit verzichtete meine Mutter auf alle Schauspielengagements. Dafür nutzte sie ihr Organisationstalent und ihren Geschäftssinn, um als De-facto-Verwaltungsdirektorin der Klinik zu agieren. So verbrachte ich viel Zeit bei meiner Großmutter Olga, die sich mir mit sehr viel Liebe und großer Einfühlung widmete.

Bert Sumser, der mit ihr lebte und ebenfalls hart arbeiten musste, fand trotzdem immer genügend Zeit, in der er sich um mich kümmerte. Berti wurde zu meinem stellvertretenden Vater und – Ehemann! Ehemann? Ja, ich weiß nicht mehr, wie oft Berti und ich heirateten, bestimmt fünfzig Mal in den wenigen Jahren.

Allerdings haben wir beide uns nie scheiden lassen. Die Zeremonie verlief stets gleich: Berti und ich trafen uns im Wohnzimmer des Hauses meiner Großmutter. Dem Anlass entsprechend trug er einen dunklen Anzug und Krawatte, während ich in meinem feierlichen langen weißen Nachthemd erschien. Nach einer kurzen Umarmung erklärten wir uns für verheiratet. Anschließend schritten Berti und ich durch das ganze Haus und riefen: »Wir sind verheiratet! Wir sind verheiratet!«

Alle, denen wir begegneten, von meiner Großmutter bis zur Köchin, applaudierten uns.

Da wir beide also stets frisch verheiratet waren, unternahmen Berti und ich regelmäßig Hochzeitsreisen in die nahe gelegenen Wälder. Der arme Berti musste dann stundenlang – so habe ich es jedenfalls empfunden – seine Braut auf den Schultern tragen und ihr Waldgeschichten erzählen. Besonders große Baumwurzeln, die aus der Erde herausragten, waren für uns natürlich nicht bloß Wurzelwerk, sondern, wie Berti kundig erklärte, »Hexenfinger«.

Berti war für meine Familie und für mich im wahrsten Sinne des Wortes ein Mann für alle Fälle. Selbst zu Weihnachten musste er zum Einsatz – als Weihnachtsmann.

Von Kindheit an bin ich ein neugieriger Mensch gewesen. Diese Neugierde steigerte sich insbesondere bei Festlichkeiten wie Weihnachten. Am späten Nachmittag des Heiligen Abends – ich glaube, es war 1946 oder 1947 – schlich ich durch das Haus meiner Großmutter, in dem wir diesmal feiern wollten. In einem der Kellerräume entdeckte ich doch tatsächlich, auf einer Pritsche liegend, den schlafenden Weihnachtsmann. Ich traute meinen Augen kaum. Er musste sich wahrscheinlich ausruhen, so dachte ich zunächst, da er ja einen äußerst anstrengenden Abend und eine ebensolche Nacht vor sich hatte.

Beim näheren Hinsehen allerdings entpuppte sich der schlafende Weihnachtsmann als mein »Ehepartner«. Kichernd lief ich davon. Bei der Bescherung war mir dann doch etwas blümerant zumute, denn eigentlich wusste ich, dass der Weihnachtsmann kein anderer sein konnte als Berti, doch ich blieb unsicher und ein gewisses Angstgefühl konnte ich bei aller inneren Belustigung nicht abschütteln.

Weihnachten in Friedrichshagen – das war für mich auch in anderer Hinsicht ein besonderes Ereignis: Ich musste einen Extraeinsatz in der Klinik meines Vaters absolvieren. Der begann gegen Mittag des 24. Dezember. Lucy, die Oberschwester der Klinik und enge Vertraute meines Vaters, steckte mich in ein langes weißes Kleid, auf das sie vorher silberne Sternchen gestickt hatte. Kurz darauf erschien mein Vater und wir drei begannen mit dem Weihnachtsbesuch bei den Patienten. An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß nur, dass ich die Art meines Vaters, wie er mit den Kranken sprach und für jeden die richtigen Worte fand, tief bewunderte.

Schwester Lucy und ich waren nicht nur zu Weihnachten ein harmonisches Gespann. So musste ich mit ihr am Sonntag in die Kirche, und wenn Berti verhindert war, kümmerte sie sich fürsorglich um mich. Ich habe sie stets als einen sehr warmherzigen Menschen in Erinnerung behalten und ich hatte das Gefühl, dass auch sie mich sehr mochte.

Das Ende des Krieges und die dann beginnende Besatzungszeit habe ich als solche nicht wahrgenommen. Ich weiß nur, dass ab einer bestimmten Zeit viele Menschen um uns herum Russisch sprachen. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich das nur von meiner Mutter und Großmutter, die sich gelegentlich auf Russisch unterhielten.

»Heute Mittag gibt es Tante Mascha von der Krim zu essen!«, rief Großmutter Olga. Russisch war ihre Muttersprache, denn meine Großmutter stammte aus einer großbürgerlichen russischen Familie. Sie heiratete sehr jung, 1914, im Alter von siebzehn Jahren, den berühmten Schauspieler Michail Tschechow. Sein Onkel war der weltberühmte Schriftsteller Anton Tschechow, dessen Theaterstücke, wie Die Möwe und Der Kirschgarten, bis heute in der ganzen Welt aufgeführt werden.

Im Jahre 1916, mitten im Ersten Weltkrieg und zwei Jahre nach der Heirat meiner Großeltern, erblickte meine Mutter Ada das Licht der Welt. Sie blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, die schon ein Jahr später endete. Der Grund lag vor allem in den Alkoholexzessen meines Großvaters, der später durch die Anthroposophie Rudolf Steiners zum entschiedenen Antialkoholiker mutierte.

1921 emigrierte Olga nach Deutschland und setzte ihre Karriere als Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin in Berlin sehr schnell und sehr erfolgreich fort – am Ende mit insgesamt 150 Spielfilmen, darunter Schloss Vogelöd, Die Drei von der Tankstelle, Liebelei, Maskerade und Bel Ami.

Ihre Regisseure waren Filmgenies wie Friedrich Wilhelm Murnau, René Clair, Alfred Hitchcock und Max Ophüls. Schnell wurde sie zu einer Berühmtheit. In ihren Memoiren nach dem Krieg verhehlte sie selbst nicht die Tatsache, dass sie, als »Grande Dame« des deutschen Films der Dreißigerjahre und legendärer UFA-Star, Hitlers Lieblingsschauspielerin gewesen war. Ihre Nähe zu Größen des Naziregimes teilte sie mit anderen berühmten Schauspielern dieser Zeit wie Heinz Rühmann, Heinrich George, Gustaf Gründgens und Luis Trenker.

Sollte man Olga vorwerfen, dass sie sich mit den Nationalsozialisten arrangiert hat? Ich denke, nein! Natürlich hat sie mit dem »Teufel« gelebt, aber Olga ist ihm nie verfallen. Ansonsten hätte etwa ihre tiefe Freundschaft mit dem wunderbaren Kabarettisten Werner Finck (1902–1978), dem Bertolt Brecht das Gedicht Eulenspiegel überlebt den Krieg widmete, die Nazizeit nicht überdauert. Finck wurde 1935 in ein Konzentrationslager verbracht, kam aber rasch, offenbar auf Anordnung von Reichsmarschall Hermann Göring, wieder frei, erhielt danach ein Jahr Auftrittsverbot und wurde 1939 aus der »Reichskulturkammer« ausgeschlossen.

Um einer weiteren Verhaftung zuvorzukommen, meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Als Funker war er in Frankreich, Italien und an der Ostfront, wo er das »Eiserne Kreuz II. Klasse« erhielt. Am Ende retteten ihn Auftritte in Unterhaltungsprogrammen der Truppenbetreuung.

Ich weiß noch, dass ich Olga in den Sechziger- und Siebzigerjahren oft in das Schwabinger Weinlokal Zum Tröpfchen fahren musste, weil sie dort mit »Wernerchen« zum »Weinchen«-Trinken verabredet war. Noch heute muss ich über Werner Fincks legendäres, geistreich-spitzfindiges Vexierspiel mit der Sprache schmunzeln. Ein Beispiel gefällig?

Frage: »Wo stehen Sie politisch?« Antwort Finck: »Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der ich nicht sitzen muss, wenn ich nicht hinter ihr stehe.«

Schon 1923 war Olga ein deutscher Stummfilmstar gewesen und in der Lage, meine Mutter in Begleitung von Olgas Mutter Helene Knipper, genannt Baba, also meine Urgroßmutter, nach Berlin zu holen. Als mein Großvater 1928 ebenfalls nach Berlin emigrierte, damals mit seiner zweiten Frau Xenia, unterstützte ihn meine Großmutter unter anderem, indem sie ihm in ihrer Regiearbeit Narr seiner Liebe die Hauptrolle übertrug. Zu Beginn der 1930er-Jahre ging er nach England und baute dort seine berühmte Schauspielschule in Dartington Hall auf, einem Landgut und Herrenhaus noch aus der normannischen Epoche, das im 14. Jahrhundert Richard II. gehörte. 1939 wechselte er in die USA. Zu seinen Schülern gehörten Weltstars wie Ingrid Bergman, Gregory Peck, Yul Brynner, Marilyn Monroe, Anthony Quinn. Seine Methode, die Schauspielkunst zu erlernen, erlebt gerade weltweit eine Renaissance.

Olga war, seit ich mich erinnern konnte, für mich da. Sie war nicht einfach meine Großmutter – sie war Großmutter, Mutter und Vater in einer Person. Später wurde sie zu meinem wichtigsten Mentor und Ratgeber. Trotz ihrer vielfältigen Tätigkeiten als Schauspielerin, Produzentin und Unternehmerin musste ich niemals auf sie warten oder nach ihr rufen. Sie war einfach da.

An die vierzig Jahre, in denen mir das große Glück beschieden war, mit Olga zu leben, habe ich ausschließlich schöne Erinnerungen. Selbst als sie mich später, in meiner Zeit als Schauspielerin, gelegentlich kritisch zur Brust nahm, empfand ich ihre Bemerkungen niemals als lästig, sondern als liebevolle Fingerzeige, die mich in meiner Entwicklung weiterbringen sollten.

Ich werde nie vergessen, wie mir Olga in meiner Kindheit durch ihre großartige Gabe des Erzählens meine familiären Wurzeln in Russland näherzubringen versuchte. Immer wieder rankten sich die Geschichten um Onkel Anton – Anton Tschechow – und Tante Mascha von der Krim, Tschechows Schwester. Doch nicht nur in meine russische Welt führte mich Olga ein. Sie lehrte mich, ein weltoffener, stets neugieriger Mensch zu werden, indem sie mir den Zugang zu den Schönheiten der gesamten Welt behutsam öffnete, ohne das Böse zu verschleiern.

Nur bei einem Satz von ihr ergriff ich regelmäßig die Flucht. Wann immer sie sagte: »Heute gibt es Tante Mascha von der Krim« – das bedeutete Quark mit Leinöl zum Essen –, suchte ich das Weite. Olga war es auch, die wie niemand sonst meiner Fähigkeit, Krebse zu fangen, angemessenen Respekt zollte. Es war für mich stets ein großes Vergnügen, am seichten Ufer des Müggelsees geduldig auf den richtigen Moment zu warten, um einen Krebs zu »erlegen«.

Als sie mir viele Jahre später zur Verleihung des Filmpreises für meine Leistung in der Heinrich-Böll-Verfilmung Das Brot der frühen Jahre