Und dann kam es anders - Antje Hagen - E-Book

Und dann kam es anders E-Book

Antje Hagen

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Beschreibung

Antje Hagen hat in ihrer Rolle als Hildegard Sonnbichler seit Jahren einen Stammplatz in den Herzen von Millionen Zuschauern. Auch ihr eigenes Leben verlief mindestens so facettenreich wie ein Fernsehdrama. Ihre Kindheit fand zwischen Flüchtlingstrecks und Bombentrichtern statt, ihre Jugend erlebte sie im wieder aufblühenden Berlin. Als Schauspielerin arbeitete sie mit Gustaf Gründgens. Sie arbeitete mit Ulrike Meinhof zusammen und sprengte auch anderweitig gerne Konventionen, etwa durch eine Ausbildung zur Rallyefahrerin. Und sie erlebte schon früh eine bittere Stunde: Als junge Mutter verlor sie ihren geliebten Ehemann. Von all dem und vielem mehr erzählt Antje Hagen in ihren Memoiren. Das Buch einer selbstbewussten und lebensbejahenden Frau, die sich ihr positives Grundgefühl stets bewahrt hat.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Und dann kam es anders

Die Autorin

Antje Hagen, geboren 1938 im sächsischen Pethau, absolvierte ihre Ausbildung an der staatlichen Schauspielschule in Hamburg. Sie war auf zahlreichen deutschen Theaterbühnen zu sehen und als TV-Moderatorin für den Südwestfunk tätig. Seit Mitte der 60er-Jahre wirkte sie in zahlreichen TV-Filmen (z.B. Bambule, Die Familie Semmeling, Im Zeichen des Kreuzes) und TV-Serien mit (Tatort, Der Alte, Großstadtrevier). In Sturm der Liebe, der erfolgreichsten europäischen Telenovela (ARD), verkörpert sie seit der ersten, am 26. September 2005 ausgestrahlten Folge die sehr beliebte Rolle der Hildegard Sonnbichler. Antje Hagen lebt bei München.

Das Buch

Ihre Kindheit fand statt zwischen Flüchtlingstrecks und Bombentrichtern, ihre Jugend erlebte sie im wieder aufblühenden Berlin und zwischen zwei deutschen Staaten. Als Schauspielerin arbeitete sie mit so verschiedenen Menschen wie Gustaf Gründgens und Ulrike Meinhof, auf Bühnen und vor der Kamera. Sie erlebte schon früh eine bittere Stunde: Sie verlor ihren geliebten Ehemann, als ihr gemeinsames Kind noch klein war. Von all dem erzählt Antje Hagen in ihren Memoiren und von vielem mehr: ihrer Liebe zur Natur, ihrer Leidenschaft fürs Autofahren und natürlich auch von ihrer Rolle in der Erfolgsserie Sturm der Liebe. Das lebensbejahende Buch einer Frau, die sich ihr positives Grundgefühl stets bewahrt hat.

Antje Hagen

Und dann kam es anders

Erinnerungen

Ullstein

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© 2021 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Rudolf LinnUmschlagmotiv: © Ralf WilschewskiAutorinnenfoto: © Christof ArnoldE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8437-2515-6

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

Das Kind gehört zur Mutter

Bomben und Känguru

Oppelsdorf

Quedlinburg

Allein in Berlin

Zwei neue Zuhause

Ein Balanceakt

Wer nichts wagt …

Mit Gründgens in Russland

Ein falscher Aushang

Der erste Film – die erste Katastrophe

Vom Funk zum Theater

Günter

Eine kleine große Familie

Der letzte Frühling

Das Leben geht weiter

Rallye & Co

Der Durchbruch

Eine neu entdeckte Leidenschaft

Zonta und die Zeit dazwischen

Die große Liebe

Familie auf Zeit

Beziehungskiller

Eine glückliche Fügung

Nicht alle Wunden heilt die Zeit

Mein Partner, das Schwein

Ein Sturm zieht auf

Nachwort

Bildteil

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Vorwort

An diesem wunderschönen, sonnigen Augusttag im Jahr 1938 konnte ich es nicht erwarten, diese Welt zu sehen. Ich war eine Sturzgeburt.

Das Haus, in dem dieses Ereignis stattfand, lag in einem gepflegten Park und war ein Kloster mit Entbindungsstation. Es war weit von Mutters Wohnort Dresden entfernt, weil sich mein Erscheinen außerhalb gesellschaftlicher Anteilnahme ereignen sollte. Mein Pass verrät mir einen Ort, den ich nie kennengelernt habe: Pethau bei Zittau. Inzwischen weiß ich, dass die Landschaft dort sehr schön sein soll – viel mehr leider nicht.

Meine Großmutter, die meine Mutter zum Kloster begleitet hatte, wunderte sich, dass sich das Kind trotz des errechneten Datums noch in keiner Weise bemerkbar machte. Sie bummelten noch ein bisschen durch den Park und orakelten zum hundertsten Mal, ob es wohl ein Junge oder ein Mädchen würde – da kam die erste Wehe. Oma kam noch mit in den Kreißsaal und bereitete sich dann auf eine lange Wartezeit vor. Nach einem kleinen Spaziergang wollte sie gerade einen Kaffee trinken, als schon eine Schwester angelaufen kam und rief: »Das Kind ist da!«

Meine Großmutter wunderte sich über den seltsamen Humor der Nonne und blieb sitzen. Als jedoch kurz danach eine zweite angestürzt kam und berichtete, es sei ein Mädchen, da stürmte sie los.

Die netten Schwestern waren selbst noch überrascht, wie schnell alles gegangen war, und führten Oma zum Bett meiner Mutter. Die hielt stolz ein winziges Bündel im Arm und fragte: »Was wird wohl mal aus ihr werden?«

Kaum hatte sie das gesagt, sind mehr als achtzig Jahre darüber hingegangen. Man hat mich gebeten, davon zu erzählen. Ein Rückblick auf ein so langes Leben ist nicht einfach, da er so viele Sichtweisen zulässt. Ingeborg Bachmann hat einmal gesagt: »Die Wahrheit ist zumutbar.« Ein wunderbarer Satz. Aber welche Wahrheit?

Da gibt es zum einen das, was man selbst noch weiß – oder zumindest zu wissen glaubt. Und das, was man noch nicht wissen konnte, weil man zu klein war, und was einem erzählt wurde. Und natürlich das, was andere miterlebt haben, die mit ihrer Sicht auf die Dinge die eigene Erinnerung beeinflussen. Ganz abgesehen von den Ereignissen, die man schlicht vergessen oder verdrängt hat. Was also tun?

Der Rückblick auf mein Leben ist ein Versuch, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen. Oder anders gesagt: Mut zur Lücke.

Das Kind gehört zur Mutter

Der Ort meiner Geburt lag, wie gesagt, weit von Mutters Wohnort Dresden entfernt. Das hatte seinen Grund: Ich war ein uneheliches Kind.

Was man heute gelassen zur Kenntnis nimmt, war – im Jahr 1938 und nach der damals herrschenden Moral – für meine Mutter eine Katastrophe. Die Lebensweise, die wir heute als selbstverständlich empfinden, ließ noch lange auf sich warten. Sehr lange. Eine wirkliche Wandlung entwickelte sich erst ab der übernächsten Generation.

Mein Erscheinen wirbelte gleich zwei Familien durcheinander. Meine Mutter lebte in Dresden. Mein Großvater, Adolf Hagen, war Hofkapellmeister an der Semperoper und Oberhaupt einer äußerst liberal denkenden Künstlerfamilie. Alles drehte sich um Musik, Oper und Theater. Über alles wurde gesprochen, nur zwei damals kontrovers diskutierte Themen waren tabu: Richard Wagner und Politik.

Selbstverständlich lernte jedes seiner fünf Kinder mehrere Instrumente. Auch die bildende Kunst kam nicht zu kurz, denn mein Urgroßvater, Eduard Leonhardi, war ein berühmter Landschaftsmaler. Das von ihm gegründete Museum »Die rote Amsel« in Dresden ist heute noch ein Anziehungspunkt.

Im Hause Hagen muss es sehr lebhaft zugegangen sein. Viele Dresdner Künstler gingen hier ein und aus. Es gab Theaterabende, an denen die ganze Familie mit Anhang beteiligt war. Die Kulissen dazu wurden selbst gebaut, und manchmal komponierte mein Großvater die Musik dazu. Er inszenierte das Ganze, und Freunde sowie Nachbarn waren die Zuschauer. Meine Mutter sagte, eine schönere Jugend hätte sie sich nicht wünschen können.

Auch wenn ich ihn selber nicht mehr erlebt habe, fühle ich mich meinem Großvater sehr verbunden. Meine Mutter war die Jüngste im Haus. Sie spielte neben Klavier und Harfe auch Bratsche. Die große Schwester der Geige ist eine Quinte tiefer und ein seltener eingesetztes Instrument im Orchester. Diese Wahl entsprang einer (für meine Mutter typischen) pragmatischen Überlegung: Damals waren Frauen in den großen Orchestern eher die Ausnahme, dennoch wollte sie unbedingt Berufsmusikerin werden. Der Plan ging auf: Später spielte sie in der Dresdner Philharmonie. Genauso begeistert war sie jedoch auch für die Kammermusik, die im Elternhaus zur Tradition gehörte. Bei meinem Vater verhielt es sich anders. Er stammte aus Kiel und wuchs mit fünf Geschwistern auf. In dieser Familie ging es etwas »wissenschaftlicher« zu. Großvater Hecht war Mathematiklehrer. Sein Sohn Hans, der sehr musikalisch war, durfte als einziges Kind Musikunterricht nehmen und lernte Geige spielen. Eines Tages teilte er seinem erstaunten Vater mit, er wolle Berufsmusiker werden. Die Begeisterung des Mathematikers hielt sich in Grenzen. Er legte auf die linke Seite eines Tisches ein Buch und auf die rechte die Geige. Dann deutete er auf das Buch und sagte: »Wenn du das Abitur machst und studierst, dann kannst du auf der Geige spielen, was du willst. Wenn du nur das Instrument beherrschst, musst du spielen, was die anderen wollen. Entscheide dich.«

Vater entschied sich und studierte Volkswirtschaft. Gleichzeitig blieb er der Musik treu und wurde auch ein hervorragender Geiger. Nun konnte er es sich leisten, nur zur Freude zu spielen und, wie er mir später immer wieder sagte, um seine Seele aufzutanken. Nach der Promotion ging er in die Wirtschaft. Seine erste Anstellung erhielt er in Dresden. Schon bald bekam seine Frau Christine zwei Töchter. Die erste, meine Halbschwester Karin, ist zehn Jahre älter als ich; Frauke, fünf Jahre jünger als Karin, starb tragischerweise an Diphtherie.

In Dresden gab es einen privaten Kreis, in dem regelmäßig musiziert wurde. Dort trafen sich sowohl Laien- als auch Berufsmusiker mal bei der einen, mal bei der anderen Familie zum gemeinsamen Musizieren. In solch einer von der Musik beschwingten Atmosphäre lernten sich meine Eltern kennen – und ich war dann das unerwartete Ergebnis einer äußerst musikalischen Begegnung. Sicher gab es eine große Sympathie zwischen meinen Eltern, aber die Zeit der Zweisamkeit war viel zu flüchtig, um Vaters Ehe ernsthaft zu gefährden.

Die erste Hürde, die meine Mutter zu nehmen hatte, bestand darin, es der eigenen Familie zu sagen. Dort wurde die Nachricht wohlwollend erstaunt, aber mit großer Sorge aufgenommen. Eine alleinerziehende junge Frau hatte es in der damaligen Gesellschaft noch schwerer als heute.

Der zweite Schritt war, es meinem Vater beizubringen. Der war gerade dabei, sich eine Karriere aufzubauen und dafür nach Berlin zu ziehen, als er erfuhr, dass er noch ein Kind bekam. Man traf sich bei einem Spaziergang, und natürlich konnte er es zunächst einmal nur zur Kenntnis nehmen.

Was wird wohl in ihm vorgegangen sein, als er wieder nach Hause kam? Er musste es seiner ahnungslosen Frau gestehen. Eine frohe Botschaft war das nicht.

Auch wenn die Geburt eines unehelichen Kindes damals eine gesellschaftliche Schande war, wurde in beiden Familien versucht, diesem Ereignis mit Würde zu begegnen. Mein Vater übernahm die ihm obliegende Verantwortung. Seine Frau Christine war eine liebenswerte, offenherzige Person, die, tief getroffen, mit dieser Situation restlos überfordert war. Sie brauchte einige Zeit, um auf ihre Art damit fertigzuwerden. Und so versuchte sie, in meiner Ankunft einen Ersatz für ihre verstorbene Tochter zu sehen. Eine großartige Sichtweise – allerdings mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Als meine Mutter bereits hochschwanger war, bekam sie eines Tages unangemeldeten Besuch. Vor ihr stand Christine und bat um ein Gespräch unter vier Augen. Völlig unvorbereitet stand meine Mutter der betrogenen Ehefrau gegenüber. Sie schämte sich in Grund und Boden.

Christine Hecht machte einen Vorschlag, den sie auch schon mit ihrem Mann besprochen hatte: Ich solle in ihrer Familie groß werden. Dann hätte ich auch einen anwesenden Vater und gleich noch eine Schwester. Meine Mutter solle mich zwar sehen können, so oft sie wolle; offiziell solle sie jedoch eine »Tante« bleiben.

Versuche ich heute, mich in diese Situation hineinzuversetzen, kann ich mir gut vorstellen, dass meine Mutter vor lauter Nervosität erst einmal gar keinen klaren Gedanken fassen konnte. Für sie klang der Vorschlag vernünftig, er schien die beste Lösung zu sein. Ich war noch nicht auf der Welt. Sie wusste noch nicht, wie das ist, wenn man sein Kind zum ersten Mal im Arm hält, zum ersten Mal dieses unglaubliche Glücksgefühl erlebt, das mit keiner anderen Emotion vergleichbar ist. Und so nahm sie diesen gut gemeinten Vorschlag zunächst dankbar an.

Als ich die Welt erblickte, war Vaters Familie gerade erst nach Berlin gezogen. Mutter lebte aber in Dresden, und so begann die erste »Tournee« meines Lebens in der Baby-Tragetasche. Wenige Wochen nach der Geburt wurde ich zum ersten Mal nach Berlin gebracht – eine lange Fahrt mit Dampflock und mehrmaligem Umsteigen. Was in diesen Stunden in meiner Mutter vorging, kann man sich kaum vorstellen: Sie brachte ihr Kind weg! Zu einer eigentlich fremden Familie, denn man kannte sich ja gar nicht richtig. Warum tat sie das? Sie fühlte sich verpflichtet. Sie hatte ihr Wort gegeben. Es war nicht mehr rückgängig zu machen.

In Berlin wurden wir herzlich empfangen, und für mich war alles liebevoll vorbereitet. Meine Schwester freute sich auf mich; sie war damals zehn Jahre alt. Was man ihr erzählt hatte, weiß sie heute nicht mehr so genau.

Wie war das wohl, als mich meine Mutter in Berlin ein letztes Mal in den Arm nahm? Danach musste sie mit dem Zug wieder zurückfahren – ohne mich. Dies sei die schlimmste Fahrt ihres Lebens gewesen, hat sie mir später einmal gesagt; noch nie sei sie so unglücklich gewesen.

Vaters Frau war gesundheitlich nicht sehr stabil, deshalb wurde es ihr häufig zu viel mit dem kleinen Kind. In diesen Fällen bat man meine Mutter, mich doch für kurze Zeit wieder zu sich zu nehmen. Daraufhin holte sie mich, und immer dann, wenn ihr wieder so richtig bewusst war, dass es ihr eigenes Kind war, das sie da im Arm hatte, musste sie es wieder zurückbringen. Jedes Mal wurde es schlimmer für sie, denn ganz allmählich wurde aus dem Baby ein kleiner Mensch – ihre Tochter. Das Hin und Her brach ihr das Herz – sie wurde krank. Natürlich war auch die Berliner Familie nicht glücklich. Man sah ja das Elend und wollte doch alles nur richtig machen. Ein für alle unhaltbarer Zustand.

Ich muss wohl ein knappes Jahr alt gewesen sein, als bei einem der herzzerreißenden Abschiede die älteste Schwester meines Vaters gerade zu Besuch war. Tante Karin war eine unverheiratete Lehrerin, eine resolute Person, die stets geradeheraus sagte, was sie dachte, und deren Meinung in der Familie sowohl gefürchtet als auch respektiert war. Als sie miterlebte, wie schwer es meiner Mutter fiel, mich wieder einmal zurückzulassen, sprach sie ein Machtwort. Sie soll mit der Hand auf den Tisch geschlagen und gesagt haben: »Jetzt ist Schluss! Das Kind gehört zur Mutter!« Im Grunde sprach sie nur das aus, was schon längst im Raum stand.

Damit veränderte sich mein Leben grundsätzlich, ohne dass ich – außer durch meine Anwesenheit – das Geringste dazu beigetragen hatte: Von da an lebte ich mit Mutter und Großmutter ganz in Dresden.

Nach dem Tod meines Großvaters und nachdem alle Kinder aus dem Haus waren, wurde das große Elternhaus am Elbhang verkauft. Meine Mutter wohnte inzwischen mit meiner Großmutter in einer schönen Wohnung in einem Dreifamilienhaus ganz in der Nähe der Elbe. Es war der beste Ort, den sich ein Kind wünschen kann: ein großer Garten zum Toben, die nahe Elbe für allerlei Abenteuer und viele Kinder zum Spielen im Haus und in der Nachbarschaft. Außerdem waren wir herzlich eingebettet in die Familie Hagen mit all den Onkeln und Tanten, Vettern und Cousinen. Dazu kamen Freunde und Kollegen meiner Mutter. Ständig gab es etwas zu feiern, besuchte man einander und musizierte zusammen. Es war eine heitere, unbeschwerte Atmosphäre.

Mein Vater und seine Frau akzeptierten diese Lösung und zogen sich zurück. Das konnte jeder verstehen. Man hielt losen Kontakt und informierte einander über die wichtigsten Dinge. Meine Halbschwester Karin lernte ich erst richtig kennen, als ich schon fast erwachsen war; ganz eng wurde unsere Beziehung erst viel später.

Ab und zu kam mein Vater zu Besuch. Man ließ mich in dem Glauben, er sei ein Onkel. Die Wahrheit hielten die anderen in diesem Fall für unzumutbar. Ich mochte diesen Onkel sehr, aber er ging ja immer so schnell wieder fort, und ich sah ihn selten. Wenn er ging, war ich traurig, aber nicht lange, denn ich hatte ja meine Mutter, meine Oma und meinen Teddy. Was wollte ich mehr?

Das sollte sich ändern.

Bomben und Känguru

Dresden, die wunderschöne Stadt an der Elbe, ein Zentrum der Kultur, ein architektonisches Juwel, umgeben von den malerischen Elbhängen, auf denen Wein wächst. Kurzum: Weltkulturerbe – wenn es diesen Begriff damals schon gegeben hätte. Dresdens Innenstadt war lange von Bomben und Zerstörung verschont geblieben. Man wusste natürlich, dass der Krieg verloren war, und manche erlagen der naiven Annahme, die Siegermächte wollten sich das Juwel Dresden für ihre eigenen Zwecke erhalten – wie auch immer die aussehen mochten. Weit gefehlt.

Am 13. Februar 1945 gegen Abend heulten wieder einmal die Sirenen. Das kannte man natürlich schon. Meine Mutter war gerade dabei, mich ins Bett zu bringen, und drückte mir meinen geliebten Teddy in den Arm, ohne den ein Einschlafen nicht möglich war. Wir dachten überhaupt nicht daran, in den Keller zu laufen.

Doch das Brummen der Motoren verklang diesmal nicht. Es wurde lauter und lauter. Schließlich war es direkt über uns. Mit einem Mal hörten wir ein Geräusch, das wir nicht kannten und das ich nie vergessen werde: ein unheilvolles Zischen, fast ein Pfeifen, gefolgt von einem infernalischen Krachen und Splittern. Es folgten Sekunden unwirklicher Stille. Dann das Ganze wieder. Und wieder. Ich war gelähmt vor Angst.

Mutter rannte ans Fenster und stieß einen Schrei aus. Um diese Zeit im Februar war es eigentlich dunkel draußen. Aber an diesem Abend leuchtete der ganze Himmel hell, gespenstisch schön anzusehen durch zusammengebundene Phosphorballons in allen Farben. Die Bomber hatten sie abgeworfen, um so die Nacht zum Tag werden zu lassen. Zu dieser »Erleuchtung« kam ein Sturm, der mit Orkanstärke brennende Teile aus Tausenden getroffener Häuser und Gebäude durch die Luft wirbelte. Er trug den Namen »Feuersturm« zu Recht. Es wirkte wie ein von hervorragenden Pyrotechnikern ausgestatteter Horrorfilm – nur war das leider alles real.

Meine Mutter riss mich aus meiner Erstarrung, packte mich am Arm, rannte mit mir durch den Flur und schnappte noch schnell einen Wintermantel, den sie mir übers Nachthemd zog. Dann holte sie meine Großmutter aus ihrem Zimmer und schrie gegen den Lärm: »Schnell, lass alles liegen, wir müssen in den Keller!«

Sekunden später waren wir aus der Tür heraus und stießen auf der Treppe mit anderen panischen Hausbewohnerinnen zusammen – Männer waren keine dabei, die waren alle im Krieg.

Dann gab es nur noch Lärm. Im Keller sitzend, begann meine Mutter laut zu beten, was mir – das weiß ich noch – peinlich war. Ich war damals sechs.

Irgendwann krachte es ganz besonders laut in unserem Haus. Eine Bombe hatte die Dachwohnung des Dreifamilienhauses getroffen. Eine zweite zerschlug den hinteren Teil unserer Küche und Teile des Treppenhauses. Das Feuer allein war nicht das Schlimmste – die Trümmer waren durch das ganze Treppenhaus gestürzt und hatten die Haustüre, den einzigen Ausgang, zugeschüttet. Das wäre der Fluchtweg gewesen.

Zusammen mit einer anderen Hausbewohnerin hatte meine Mutter nach dem Einschlag versucht, einen Überblick über die Lage zu gewinnen, und war zu der Überzeugung gelangt, dass wir nur durch die Kellerfenster nach draußen kämen. Die waren klein, lagen sehr hoch und waren außerdem von außen vergittert. Eigentlich gab es kein Entkommen, was ich noch nicht begreifen konnte, aber die Erwachsenen natürlich in schreckliche Panik versetzte. Sie wussten ja, dass es oben brannte und uns der Rauch irgendwann die Luft nehmen würde.

Wir Kinder wurden in einer Ecke zusammen auf eine Decke gesetzt. Dort versuchten wir zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Wir spürten eine Angst, die anders war als alles, was wir kannten – und wir waren auf einmal keine Kinder mehr. Es war ein eigenartiges Gefühl, an das ich mich erinnere. Analysieren kann ich es natürlich erst heute: eine Mischung aus Panik, Neugier und Hilflosigkeit, auch, weil die üblichen Quellen des Trostes und der Geborgenheit bei den Erwachsenen nicht abrufbar waren. Ein Gefühl des Alleinseins trotz all der Menschen um mich herum. Todesangst – ohne mir ihrer bewusst zu sein.

Die jüngeren Frauen stiegen abwechselnd auf eine kleine Leiter und riefen durch das Fenster laut nach Hilfe. Sie schrien an gegen einen infernalischen Lärm – ein Tosen aus Sturm, Einschlägen, Brand, Scheibensplittern und Motorenlärm. Eigentlich war die Situation aussichtslos.

Und dennoch: Wer sagt, es gäbe keine Wunder?

In einer Nachbarvilla war ein provisorisches Lazarett entstanden. Als bei uns die Bomben eingeschlagen hatten, rannten einige der leichter verwundeten Soldaten durch den Garten. Sie hörten die Hilfeschreie und begriffen den Ernst der Lage. Sie schauten durch die vergitterten Fenster und riefen, dass sie uns helfen würden. Nach einigen Minuten, die uns vorkamen wie Stunden, kehrten sie mit einem Gerät – wo auch immer sie es gefunden hatten – zurück und schweißten die Gitter eines der Fenster durch. Ihnen hatten wir unser Leben zu verdanken. Einer nach dem anderen wurde herausgezogen: zuerst wir Kinder, dann die älteren Frauen und zum Schluss unsere Mütter. Nun waren alle draußen – aber im Inferno!

Die Geräusche der beschriebenen Ereignisse hatten wir vorher wie durch Ohrenschützer gehört. Jetzt standen wir mittendrin. Dazu kamen die Schreie von Menschen, die man nicht sehen konnte. Man bekam keine Luft, und man wusste auch nicht, wohin.

Zwei der Nachbarhäuser waren nicht getroffen. Meine Mutter schrie meiner Oma zu, sie solle sich dort mit mir in Sicherheit bringen. Ich weinte immer nur nach meinem Teddy, den ich vor lauter Panik in meinem Bett vergessen hatte.

»Halt dich an Oma fest, ich hol ihn dir!« Das war an diesem Abend das Letzte, was ich von meiner Mutter hörte.

Der Sturm war so stark, dass auch ein Erwachsener sich nicht auf den Beinen halten konnte. Festgeklammert an Omas Kleid – es war dunkelblau mit Schmetterlingsmuster, ich könnte es heute noch zeichnen –, kroch ich mit ihr auf allen vieren über die Straße. Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hat, bis wir endlich die Nachbarn erreichten.

Sie brachten uns zunächst auch in den Keller. Immer wieder krachte es, und man wusste nicht, ob der Angriff überhaupt schon vorbei war. Jederzeit hätte eine Bombe auch ihr Haus treffen können. Ich konnte es kaum ertragen, schon wieder eingesperrt zu sein.

Irgendwann, als sich das Motorengeräusch der Flieger langsam entfernte und die Einschläge weniger wurden, brachte man uns in ein kleines Zimmer. Ich erinnere mich noch daran, dass ich die ganze Nacht hindurch geweint habe und immer wieder nach meiner Mutter und meinem Teddy rief.

Die Soldaten, die uns aus unserem Keller befreit hatten, versuchten vergeblich, meine Mutter davon abzuhalten, noch einmal in das brennende Haus zurückzulaufen; wenn es um das Wohl ihres Kindes oder das der Familie ging, war sie nicht zu stoppen. Sie gelangte irgendwie durch die verschüttete Haustür ins Treppenhaus.

Wir wohnten im ersten Stockwerk. Das war zwar nur eine Treppe entfernt, aber in dem Qualm und mit der Gefahr, alles könne über ihr zusammenstürzen, war die Rettung meines Teddys ein reines Selbstmordkommando. Meine Mutter schaffte es trotzdem ins Kinderzimmer und schnappte sich meinen Teddy. Dann erst dachte sie an ihr geliebtes Instrument – die Bratsche. Die war im Wohnzimmer, aus dem ihr schon die Flammen entgegenschlugen. Geistesgegenwärtig nahm sie ein Handtuch, hielt es sich vors Gesicht und konnte tatsächlich ihr wertvolles Instrument in letzter Sekunde vor dem Feuer retten. Später erzählte meine Mutter, das Schlimmste sei gewesen, alle persönlichen Sachen – die Bilder, den Flügel, die Bücher, überhaupt alles, was vertraut war und was auch für seelische Geborgenheit gesorgt hatte – einfach zurücklassen zu müssen. Für immer.

Gegen drei Uhr morgens stand meine Mutter plötzlich vor der Tür der Nachbarn. Ich erkannte sie nur an der Stimme. Schwarz und verrußt sah sie aus, ihre Haare waren zum Teil verbrannt, ihre Kleider auch, und – sie hatte meinen Teddy in ihrem Arm. Sie fiel auf die Knie, schloss mich in ihre Arme und weinte. Als sie versuchte aufzustehen, reichte ihre Kraft dafür nicht mehr. Ein paar Hausbewohner mussten sie ins Bett tragen. Für mich und meinen Teddy hatte sie ihr Leben riskiert.

Am nächsten Morgen standen wir am Fenster des Nachbarhauses und schauten auf die Straße, die uns so vertraut und nun plötzlich so fremd geworden war. Unser Haus war halb zusammengefallen, es qualmte aus allen Öffnungen. Der Garten war voller Dachziegel und Geröll, zwei große Bäume waren umgestürzt. All dies sah man wie durch eine beschlagene Brille. Über allem lag ein Nebel aus Rauch, feinem Staub und Entsetzen.

Und inmitten dieser unwirklichen Szenerie hüpfte auf der anderen Straßenseite ganz langsam ein Känguru, so, als wolle es nur mal nach dem Rechten sehen. Eines der vielen Zootiere, die dem Inferno entkommen waren und nun versuchten, sich irgendwo in Sicherheit zu bringen.

Ganz leise hörte ich meine Großmutter sagen: »Danke, lieber Gott. Wir leben!«

Oppelsdorf

Die Wochen nach der Ausbombung waren ein einziges Chaos. Wer lebte noch? Und wo? Wie erfuhr man es? Wo kam man unter? Für wie lange? Was konnte man noch retten, und wo brachte man es hin?

Überall waren nur Rauch und Trümmer. Leichen habe ich in unserem Viertel nicht gesehen. Vielleicht wurde mir der Anblick auch nur erspart, das weiß ich nicht. Es gab viele verzweifelte Menschen, die nichts zu essen hatten und kaum an sauberes Wasser kamen. Und doch kann ich mich nicht daran erinnern, dass es mir an irgendetwas fehlte. Wie Mutter und Großmutter das geschafft haben, ist mir ein Rätsel. Ich fühlte mich jedenfalls geborgen.

Das Leben bestand jetzt vor allem aus Organisieren und Tauschen – wenn man noch etwas zu tauschen hatte – sowie aus der Erkenntnis, dass viele Dinge, die noch bis vor Kurzem als so wichtig erachtet wurden, gar nicht mehr wichtig waren. Ob der Mantel nun grau, grün oder blau war – egal, Hauptsache, er war warm. Die Eitelkeit war in den Hintergrund getreten. Die Menschen rückten näher zusammen, die Unterschiedlichkeiten der einzelnen Gruppen verwischten. Alle hatten das Gleiche erlebt. Nicht hungern, nicht frieren, irgendwo unterkommen, darum ging es nun.

Wir waren vorübergehend zur Schwester meiner Mutter gezogen. Tante Eva wohnte in Klotzsche, einem Vorort von Dresden, der von den Bomben weitgehend verschont geblieben war. Dort traf ich auf meinen Vetter Uwe, ein halbes Jahr jünger als ich. Wir verstanden uns auf Anhieb und waren bald unzertrennlich. In Uwes Gegenwart hatte ich natürlich mehr Mut als sonst. Wir bewaffneten uns zum Beispiel mit einem großen Rucksack und streiften durch den Wald. Bei den Häusern am Rand der Siedlungen und bei einsamen Bauernhöfen wurden wir vorstellig. Wir machten ein trauriges Gesicht und sagten einen einstudierten Vers auf, von dem unsere Mütter keine Ahnung hatten. »Wir sind arme ausgebombte Kinder und haben großen Hunger. Wir freuen uns über alles, was Sie übrig haben. Ganz besonders über Kartoffeln.« Den Tipp hatten wir von einem Nachbarsjungen, der damit wohl schon Erfolg gehabt hatte. Selten kamen wir ohne etwas Essbares nach Hause. Unsere Mütter staunten nicht schlecht über unser Organisationstalent. Wir erzählten ihnen dann etwas von freiwilligen Angeboten einer im Überfluss lebenden Landbevölkerung.

Eines Tages berichtete uns der Nachbarsjunge, es gebe einen Kiosk beim Bahnhof, da könne man künstliche Marmelade und Bonbons kaufen, dazu gebe es gefrorenes Wasser mit Geschmack. Eine Sensation für uns Kinder. Wir baten ausnahmsweise um Taschengeld; das war nicht üblich, normalerweise gab es ja nichts zu kaufen. Stolz zogen wir los.

Uwe entschied sich für ein Stück Kuchen, das zwar so aussah, aber nicht so schmeckte. Ich stand lange vor dem kleinen Kiosk und konnte mich nicht entscheiden. Anstatt von Süßigkeiten wurde ich magisch von mehreren Postkarten angezogen, die in einer langen Reihe untereinander hingen. Fasziniert schaute ich sie mir an und entschied mich für zwei von ihnen. Auf der einen sah man eine beeindruckende Bergkette, auf der anderen einen See mit Wald. Mein Taschengeld war weg.

Uwe konnte das überhaupt nicht verstehen. Was wollte ich denn damit? Auch meine Tante war verwundert. Wieso Berge und Wald? Da meine mütterlichen Vorfahren aus Holland und die väterlichen aus Kiel und Dänemark kamen, sagte sie zu meiner Mutter: »Deine Tochter müssen sie vertauscht haben!«

Diese beiden Postkarten standen lange neben meinem Bett, und der Teddy musste sie bewachen. Oft habe ich darüber nachgedacht, was wohl der Auslöser für den Kauf gewesen sein mag. Die Leidenschaft für diese Landschaft habe ich erst viel später in meinem Leben entdeckt. Anscheinend ist sie mir doch in die Wiege gelegt worden.

Nach einigen Wochen bei meiner Tante erreichte meine Mutter der Brief einer engen Freundin. Margot Schiffner lebte auf dem Land, nahe der Stadt Reichenau in Sachsen, in einem idyllisch gelegenen Ort namens Oppelsdorf. Ihr Vater war Arzt und leitete ein Sanatorium, das sich auf Moorkuren spezialisiert hatte. Fast hätte er die Einrichtung mit Hotel und vielen Behandlungsräumen über den Krieg gebracht, auch wenn die Gäste immer weniger geworden waren – die Menschen hatten nun andere Prioritäten als Moorkuren. In den letzten Kriegsmonaten war er dann doch noch als Lazarettarzt eingezogen worden und später in Gefangenschaft geraten. Das Sanatorium musste geschlossen werden.

Mutters Freundin Margot, die von unserer Ausbombung gehört hatte, lud uns ein, doch ein paar Wochen zu ihr und ihrer Mutter zu kommen. Sie hätten ja nun zwangsläufig genügend Platz, und man wisse nicht, was sonst noch alles auf uns zukäme. Folglich sei dies eine gute Gelegenheit, sich bei ihnen in der ländlichen Ruhe zu entspannen und die strapazierten Nerven zu erholen. Ganz besonders freute sich Margot auf meine Oma, die ihrer gleichaltrigen Mutter eine willkommene Gesprächspartnerin sein könne. Nach der Schließung des Sanatoriums sei es sehr einsam geworden.

Da gab es kein langes Überlegen. Mutter und Großmutter betrachteten es als großes Geschenk, eine solche Einladung zu bekommen. Sie freuten sich nach all den Strapazen auf einen Urlaub. Gute Luft, liebe Menschen, genug zu essen und für mich ein Paradies zum Spielen, ohne Trümmer und deren Gefahren – was konnte schöner sein? Wir verabschiedeten uns von Tante Eva und meinem Vetter Uwe, nicht ohne dass man uns versicherte, wir könnten gerne wiederkommen. Außer der Bratsche und dem Teddy war nicht viel mitzunehmen.

Auch wenn ein paar Unbelehrbare immer noch vom Endsieg faselten, wusste jeder, dass der Krieg verloren war. Nach dem erholsamen »Landurlaub« würde sich meine Mutter dann in Dresden um eine neue Unterkunft bemühen. Viel weiter in die Zukunft konnte man zu jener Zeit ohnehin nicht schauen.

Anfang April 1945 kamen wir an. Für uns war Oppelsdorf ein Paradies. Der kleine Ort bestand überwiegend aus Einfamilienhäusern und Bauernhöfen. Die einzigen größeren Gebäude waren ein Hotel und das Sanatorium. Was für ein Unterschied zu Dresden. Hier war keine Bombe gefallen. Alle Häuser waren unversehrt.

Wir wohnten in den schönsten Zimmern des leeren Sanatoriums. Meine Mutter hatte eine gleichaltrige Freundin an ihrer Seite, was beiden Frauen guttat, und um mich kümmerten sich gleich zwei liebevolle Omas.

Schnell freundete ich mich mit zwei Mädchen auf einem nahen Bauernhof an. Diese ländliche Welt kannte ich nicht, und ich genoss es sehr, nach kurzer Zeit schon zu deren Familie zu gehören. Bereits morgens nach dem Aufstehen lief ich zu meinen neuen Freunden, durfte bei allem mithelfen und überall dabei sein.

Mich faszinierten vor allem die Tiere in ihrer Unterschiedlichkeit. Die Kühe, die wir abends von der Weide in den Stall holen mussten, hatten nicht nur einen Namen, sie unterschieden sich auch ganz individuell voneinander. Die eine mochte man lieber als die andere, die eine war auch zutraulicher als die andere, und so ergaben sich kleine Freundschaften, die mich richtig stolz machten. Nur die Ziegen, die in einem Extragehege untergebracht und kaum zu bändigen waren, lagen mir nicht so. Ich begriff, woher der Ausdruck »zickig« stammt.

Eine meiner Aufgaben war es außerdem, die Eier im Hühnerstall einzusammeln. Die Hühner mochte ich sehr, auch wenn ich anfangs noch ziemlichen Respekt vor den beiden großen Hähnen hatte. Zunächst nahmen wir einander etwas misstrauisch zur Kenntnis, aber schon nach wenigen Tagen gackerten auch sie fröhlich und begrüßten mich gut gelaunt.

Meine ganz große Zuneigung aber gehörte einem kleinen Kätzchen aus dem Wurf der schönsten Katze des Hofs. Es war erst drei Wochen alt. Stundenlang konnte ich mit diesem Fellknäuel spielen. Sein winziges Gesicht sah aus wie die Blüte eines Stiefmütterchens. Dazu riesige Knopfaugen und eine Stupsnase, das dichte Fell auf einer Seite weiß, auf der anderen schwarz, viel zu große Pfoten und eine weiße Schwanzspitze. Ich war verliebt.

Eines Tages kam die Bäuerin in die große Scheune und sah, wie ich hingebungsvoll mit meinem Liebling spielte. Eine Weile schaute sie mir zu, dann sagte sie: »Ich schenk sie dir. Du kannst sie behalten.« Ich nannte sie »Stiefmütterchen« und war der glücklichste Mensch von Oppelsdorf.

Ungefähr drei Wochen genossen wir dieses Paradies. Dann kamen die ersten beunruhigenden Nachrichten aus der nahen Stadt Reichenau: Russische Kampftruppen rückten angeblich auf die Stadt vor. Die Soldaten würden alles, was sie eingenommen hätten, restlos zerstören und die Menschen vertreiben.

An der veränderten Art der Gespräche spürte ich die Angst, die im Raum stand. Später hörte ich, wie Tante Margot meine Mutter aufforderte, lieber wieder nach Dresden zurückzukehren. Dort seien die Russen ja schon, und offensichtlich habe man sich da irgendwie arrangiert. Genaues wusste allerdings niemand. Meine Mutter lehnte diesen Vorschlag ab. Zum einen glaubte sie nicht an diese ganzen Schwarzmalereien, zum anderen wollte sie ihre Freundin jetzt nicht allein lassen.

Zunächst kamen allerdings nicht die Russen, sondern Flüchtlinge. Pferdewagen voller Menschen und ihren Habseligkeiten schoben sich durch den Ort. Die Vertriebenen, schon Tage unterwegs und völlig erschöpft, erzählten, dass sie nicht wüssten, wohin sie sollten. Die Russen hätten sie zunächst begleitet, seien dann aber wieder verschwunden. Alle hatten furchtbare Angst, nach Sibirien verschleppt zu werden. Wir sollten uns aufs Schlimmste gefasst machen. Und dann zogen sie auch schon weiter.

Bevor entschieden war, was nun zu tun sei, waren die russischen Soldaten schon da. Sie kamen in den späten Abendstunden. Wir hörten Panzer, Lastwagen, Motorräder und wiehernde Pferde. Ein unvorstellbarer Lärm. Minuten später stand bereits ein Offizier mit einigen Soldaten im Haus.

Nicht nur die Bevölkerung hatte unter dem Krieg gelitten, auch die Rote Armee war völlig am Ende und im wahrsten Sinne des Wortes »abgekämpft«. Das nicht bewohnte Sanatorium wie auch das leer stehende Hotel boten den Soldaten einen Luxusaufenthalt, wie sie ihn sich nicht besser hätten erträumen können. Folglich waren sie erst einmal freundlich. Die ihnen vorauseilenden Horrormeldungen schienen zunächst unbegründet.

Im Nu waren nicht nur sämtliche Zimmer, sondern auch jede einzelne Moorkabine und die Behandlungsräume belegt. Tante Margot scherzte mit bitterer Ironie, so voll hätten sie ihr Sanatorium gern öfter gehabt.

Erst aus heutiger Sicht wird mir der Umfang der menschlichen Tragödien aufseiten der Besatzungsmacht richtig bewusst. Was hatten diese Soldaten hinter sich! In einem Krieg gibt es nur Verlierer. Ich erinnere mich an hungrige, abgehärmte, schmutzige und auch verwundete Gestalten, die wohl nur froh waren, an diesem Tag nicht mehr weiterziehen zu müssen. Sie konnten einem leidtun.

Auf der anderen Straßenseite wohnte der ehemalige Bürgermeister des Ortes, der seltsamerweise nie eingezogen worden war und der auch jetzt eine Art Sonderstatus besaß. Er hatte eine russische Fahne vor sein Fenster gehängt und schien auch die Sprache zu sprechen, denn man sah ihn oft mit einigen Offizieren diskutieren. Seine Aufgabe war es, den Einwohnern die Wünsche und Befehle der Besatzer zu vermitteln. Bei ihm waren keine Soldaten einquartiert, sein Haus war tabu. Es war beruhigend, ihn zum Nachbarn zu haben.

Denn für die Frauen in der Gegend war es eine beängstigende Situation. Die russischen Soldaten waren sexuell ausgehungert und verlangten nach Befriedigung. Und gerade jetzt, als sie etwas zur Ruhe kamen, liefen ihnen junge Frauen über den Weg, in einem Land, das sie ja gerade besiegt hatten. Dazu kam der überall verfügbare Alkohol. Es war gefährlich. Selbst ich wurde unters Bett geschoben, wenn es mal klopfte. Immerhin war ich schon fast sieben Jahre alt.

Eines Tages wurde meine Mutter im oberen Stockwerk von einem betrunkenen Soldaten angesprochen. Er brachte sein Anliegen in seiner Sprache, aber dennoch unmissverständlich zum Ausdruck und versuchte, sie gewaltsam die Treppe herunterzuziehen. Sie wehrte sich, so gut sie konnte, und rief laut nach mir. Eigentlich durfte ich das Zimmer nicht verlassen, das war mir immer wieder eingebläut worden. Aber so hatte ich meine Mutter noch nie rufen hören. Ich rannte zu ihr. Schreiend klammerte ich mich an ihren Rock und rief nach meiner Oma und nach Tante Margot. Der Soldat ließ sich aber weder durch mein Geschrei noch durch die Gegenwehr meiner Mutter von seinem Plan abbringen. Die Lage schien hoffnungslos.

Plötzlich tauchte unten an der Treppe einer der Offiziere auf. Als er sah, was sich ereignete, brüllte er irgendetwas auf Russisch, packte den Mann und schleuderte ihn die Treppe hinunter. Der war zu betrunken, um sich abzufangen, und schlug voll mit dem Kopf auf die Steinstufen. Zum Glück konnte ich nicht sehen, was ihm passiert war, denn meine Mutter zog mich sofort in unser Zimmer und drehte den Schlüssel herum. Sie nahm mich in den Arm, und ich spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte.

Tante Margot hatte den Vorfall telefonisch dem ehemaligen Bürgermeister mitgeteilt, den sie natürlich seit Jahren als Nachbarn kannte. Noch in der gleichen Nacht kam er mit einer Leiter, und wir kletterten alle aus dem ersten Stock in den Garten und liefen über die Straße in sein Haus, wo wir fürs Erste sicher waren. Von ihm erfuhren wir, dass Reichenau und Umgebung nun zur russischen Besatzungszone gehörten.

Die neue »Gastfamilie« war sehr nett zu uns. Der Hausherr sprach fünf Sprachen und war in der Hitlerzeit als Dolmetscher auch in Russland gewesen. Mutter traute ihm auch geheimdienstliche Tätigkeiten zu. Seine Sprachkenntnisse kamen nun uns zugute, und wir profitierten von seinem Sonderstatus.

Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war der ganze Spuk vorbei. Die Russen zogen ab, ohne Vorankündigung. So wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Eine gespenstische Ruhe kehrte ein.

Wir gingen wieder zurück in das verlassene Sanatorium, das die abgerückten Soldaten in einem erbärmlichen Zustand hinterlassen hatten. Meine Mutter und Tante Margot versuchten, ein wenig Ordnung in dieses Chaos zu bringen, gaben aber schließlich auf. Ohnehin konnte niemand wissen, ob und wann das Sanatorium mal wiedereröffnet werden würde.

In der Zwischenzeit hatte es Gerüchte gegeben, Hitler habe sich umgebracht. Das wurde allerdings auch wieder dementiert. Die offizielle Kapitulation erfolgte am 8. Mai 1945. Wie tief diese Nachrichten die Menschen noch erschüttern konnten, habe ich als Kind nicht bemerkt. Das Chaos konnte auch so nicht größer sein. Es war nicht die Zeit zum Pläneschmieden, es war die Zeit der Unsicherheit, die alles, was bislang gegolten hatte, über den Haufen warf.

Für mich war das ein seltsamer Zustand zwischen kindlicher Unbefangenheit und Angst. Ich spielte mit den Kindern der Nachbarn, aber nicht so wie vorher. Wir durften nie außer Sichtweite der Eltern sein, mussten schon bei Anbruch der Dunkelheit ins Haus kommen und bekamen nicht mehr die Aufmerksamkeit, die wir gewohnt waren. Die Erwachsenen waren stets auf der Hut und hörten nicht mehr zu, wenn wir von unseren wichtigen Erlebnissen mit der Nachbarskatze erzählten oder davon, dass wir der Kuh vom »Bernauer« einen Ast an den Schwanz gebunden hatten. Die Unruhe übertrug sich mit der Zeit auch auf uns Kinder, natürlich ohne dass wir sie benennen konnten. Sie steckte uns tief in den Knochen.

Immer mehr flüchtende Menschen kamen vorbei. Zum Teil zu Fuß, aber auch mit Pferde- und Leiterwagen waren sie unterwegs. Die meisten stammten von weit her, viele aus Schlesien und Ostpreußen. Sie wurden von den Bewohnern des Ortes, so gut es ging, mit Lebensmitteln und Wasser versorgt. Manchmal übernachteten sie in dem leer stehenden, verwüsteten Sanatorium, aber sie wollten allesamt nicht bleiben, sie wollten nur weg. Mutter erzählte später, die meisten hätten wenig gesprochen und eher apathisch gewirkt.

Ungefähr eine Woche nachdem die Russen verschwunden waren, wurden wir gegen drei Uhr morgens durch laute Trillerpfeifen und Gebrüll aus dem Schlaf gerissen. Wieder hörten wir Panzer und Lastwagen, wieder standen Soldaten vor der Tür. Doch diesmal waren es keine Russen, es waren Polen. Mit denen hatte keiner gerechnet.

Der ehemalige Bürgermeister übersetzte wieder. Wir sahen, wie er mit dem polnischen Offizier sprach, plötzlich bleich wurde und wie angewurzelt stehen blieb: Der ganze Ort sollte geräumt werden. Eine Stunde hatte man Zeit, dann musste jeder sein Haus verlassen haben. Mitnehmen durfte man nur, was maximal in einen Leiterwagen passte oder getragen werden konnte. Es herrschte eisige Stille.

Von einer Sekunde auf die andere sollte alles, was das Leben bisher ausgemacht hatte, für immer zurückgelassen werden. Wohin mit den Tieren, die einen begleitet und ernährt hatten und wie Familienmitglieder waren? Was wird aus dem Haus, das der Großvater selbst gebaut hatte, in dem man geboren wurde und die Kinder groß geworden waren? Was geschieht mit all den persönlichen Dingen, die eine besondere Bedeutung haben und an denen so viele Erinnerungen hängen? Wohin mit den Alten und den Kranken? Für so einen Abschied gerade einmal eine Stunde Zeit? Eine Stunde!

Auch für uns war der Räumungsbefehl ein gewaltiger Schock. Immerhin hatten wir den anderen etwas voraus: Wir hatten schon fast alles verloren.

Trotzdem gab es für mich einen sehr traurigen Abschied: Ich musste meine kleine Katze zurücklassen, mein »Stiefmütterchen«. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich von ihr zu verabschieden. Das war ein besonderer Schmerz, so was kannte ich noch nicht. Diesen Kummer kann ich heute noch spüren.

Der Leiterwagen, den wir von einer Nachbarin bekommen hatten, war schnell voll. Die Bratsche lag drin und ein paar Decken, das Nötigste zum Anziehen, Proviant natürlich und Omas Tagebücher. Meinen Teddy hatten sie in eine Holzkiste gesteckt, in der sonst die Buntstifte waren. Ich trug sie nun mit einem Lederband um den Hals. Dann mussten wir uns dem Flüchtlingstreck anschließen. Wohin es gehen sollte, sagte uns keiner.

Langsam wurde es hell. Die ersten Landstraßen und Orte waren den Erwachsenen noch vertraut. In den Dörfern und Höfen war kein Mensch mehr. Die Tiere hatten die meisten Bauern einfach frei gelassen. Sie standen kreuz und quer auf den Wiesen oder auch auf der Straße oder liefen in den Wald. Sie wirkten so hilflos wie die Menschen, die in ihrem Elend an ihnen vorbeizogen.

Die Karawane wurde von polnischen Soldaten mit Motorrädern begleitet. Sie trugen Maschinenpistolen und machten auch davon Gebrauch. Immer wieder hörten wir Schüsse fallen. Auf Menschen schössen sie nicht, wurde uns Kindern gesagt, aber wenn ein krankes Pferd nicht mehr laufen konnte oder wenn ein Hofhund eine Scheune verteidigte, machten sie kurzen Prozess. Zum ersten Mal sah ich, wie Tiere erschossen wurden. Meine Mutter versuchte zwar, das zu verhindern, aber es gelang ihr nicht immer.

Wie viele Stunden wir am ersten Tag gelaufen waren, weiß ich nicht mehr. Irgendwann pfiffen die Polen, der Treck blieb stehen, und wir mussten uns einen Schlafplatz suchen. Das war in der Nähe eines ebenfalls verlassenen Ortes, und ich weiß noch, dass ich Stroh unter mir hatte. Dann schlief ich vor Erschöpfung ein.