Und die Luft war voller Asche - Herbert Bauernebel - E-Book

Und die Luft war voller Asche E-Book

Herbert Bauernebel

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Beschreibung

Dem Turbinengeheul folgt eine gewaltige Explosion - laut, durchdringend, nervenzerfetzend. Die Fenster vibrieren. Mein Herz schlägt heftig. Ich springe aus dem Sessel. Instinktiv weiß Herbert Bauernebel, dass die Welt nach diesem Tag nicht mehr dieselbe sein wird. Es verstreichen einige Schrecksekunden, dann besinnt sich der Reporter auf seine Aufgabe. Als die Türme einstürzen, ist er live vor Ort und erlebt das Grauen aus nächster Nähe. In was für eine Gefahr er sich begeben hat, wird ihm erst später bewusst. Da liegt er schon unter einem Lieferwagen, um ihn herum Trümmer und Asche ...

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2011

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HERBERT BAUERNEBEL

9/11 – Der Tag, der mein Leben veränderte

Lübbe Digital

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG Originalausgabe Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln Umschlaggestaltung: Geviert Büro für Kommunikationsdesign, München Umschlagmotiv: © TORGOVNIK JONATHON/laif Datenkonvertierung E-Book: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-8387-0421-0 Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Für Mia, Maxwell und Estee

Dieses Geräusch. Was ist das? Ein Flugzeug? Muss es sein, die Düsentriebwerke sind deutlich zu hören. Aber wo? Und wieso so laut? Ich sitze an meinem Schreibtisch, der erste Kaffee steht neben dem schwarzen Apple-Laptop. Ich checke E-Mails. Das österreichische Magazin News, für das ich seit zweieinhalb Jahren als US-Korrespondent arbeite, hat mir gerade den aktuellsten Produktions-Seitenspiegel geschickt, Nr. 37/01, Version 5B. Es ist Dienstag, Produktionsschluss. Meine aktuellen Geschichten habe ich bereits abgeliefert. Es sollte ein ruhiger Tag werden: Medienbeobachtung, Archivarbeiten, ein paar Telefonate, Kontaktpflege. Vielleicht ein Mittagessen mit meiner Frau Estee. Wenn ihr nicht gerade übel ist: Sie ist schwanger, in der achten Woche. Es ist unser erstes Kind. Ihr Appetit ist beachtlich, zu allen Tages- und Nachtzeiten schaufelt sie Köstlichkeiten in sich hinein – wenn es ihre »Morgenkrankheit« zulässt.

Doch plötzlich sitze ich wie festgefroren im Sessel. Dieses Geräusch! Ich kann es nicht einordnen. Über New York kreisen ständig Jumbos. Sie starten und landen auf drei Großflughäfen: JFK und LaGuardia in Queens, Newark auf der anderen Seite des Hudson im benachbarten Staat New Jersey. Wir wohnen im 31. Stock. Viele der meistfrequentierten Flugbahnen haben sich längst in mein Gedächtnis eingeprägt: Eine von ihnen verläuft parallel zum Hudson, von Süden kommend verlieren die Jumbos im steten Sinkflug an Höhe und absolvieren dann nördlich der Stadt eine dramatische Kehrtwende für den finalen Landeanflug auf LaGuardias Piste 4-22. Eine andere Schneise im dichten Flugverkehr lässt Jumbos von Norden einschweben, mit einer scharfen Kurve über Manhattan, bevor sie am Kennedy-Flughafen aufsetzen.

Doch dieses Heulen der Jumbo-Triebwerke? So nahe, so niedrig. Und so laut?

Jetzt geht alles blitzschnell. Das Röhren der Triebwerke wird dramatisch lauter. Plötzlich plärren die beiden Düsen noch einmal richtig los. Voller Schub.

Ich starre geradeaus durch das Fenster, meine Augen folgen dem Getöse. Durch mehrere Hochhäuser, teils verdeckt, sehe ich die Nordseite des Wolkenkratzers World Trade Center One (WTC I), den nördlichen der beiden Zwillingstürme. 417 Meter hoch ragt allein der Koloss auf, der Sendemast auf dem Dach schraubt sich weitere 111,3 Meter in den Himmel über Manhattan. In dem für die Twin Towers so charakteristischen, grau glänzenden Gittermuster der Fassade glitzert die aufsteigende Morgensonne. Während der Nacht hat eine heftige Gewitterfront Dunst und Smog über New York weggewaschen. Ein herrlicher Spätsommertag: Keine Wolke trübt den azurblauen Himmel, wohltemperierte zwanzig Grad Celsius waren es am Morgen.

Dem Turbinengeheul folgt das Unvorstellbare: zuerst ein dumpfer Schlag, dann eine gewaltige Explosion – laut, durchdringend, nervenzerfetzend. Die Fenster vibrieren. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Adrenalin schießt mir durch den Körper. Ich springe aus dem Sessel. American Airlines-Flug 11 – gestartet in Boston mit dem Ziel Los Angeles, doch knapp nach dem Start von fünf Al-Qaida-Terroristen entführt – hat sich mit unvorstellbarer Wucht in den Turm gebohrt. 168 Tonnen wog der Jumbo, betankt mit 94 Tonnen leicht entflammbarem Kerosin. Auf 750 Stundenkilometer hat Terrorzellenführer Mohammed Atta den Jet noch beschleunigt.

In dieser Schrecksekunde weiß ich das natürlich nicht. Angst und Unglauben vermischen sich zu einem lähmenden Gefühl. Alles läuft wie in Zeitlupe ab: Ich sehe, wie Stichflammen aus mehreren Stockwerken schießen. Die umliegenden Hochhäuser schleudern den ohrenbetäubenden Knall als Echo zurück. Das Inferno hallt durch Lower Manhattan. Endlos. »Boom, boom, boom, boom …«, immer leiser und von immer weiter weg. Es ist gespenstisch und alarmierend. Durchdringend. Die 270000 Stahlträger im Inneren des vertikalen Kolosses biegen sich. Der Turm ächzt. Es ist deutlich zu hören.

»Was war das?«, fragt Estee. Sie war noch im Schlafzimmer, als sie die Explosion hörte. Zuerst dachte sie, Bauarbeiter hätten einen der riesigen Metalldeckel auf eine Baugrube geknallt, um den Verkehrsfluss während des Tages zu gewährleisten. So machen sie es fast jeden Morgen, seitdem Baucrews in unserem Bezirk jeden Quadratzentimeter der umliegenden Straßen aufbohren, zuschütten, wieder aufbohren.

Ich stehe am Fenster, starre stumm auf die unglaubliche Szene dreihundert Meter über mir und nur fünf Straßenblocks entfernt. Papierfetzen segeln durch die Luft. Der pechschwarze Rauch, der aus den Brandherden zwischen der 93. und der 99. Etage quillt, ist durchsetzt von Akten, Druckerpapier, Schreibunterlagen – fast wie bei einem Konfettiregen, wenn die Baseball-Stars der Yankees nach einem Triumph auf dem Broadway, dem Canyon der Helden, mit Tonnen von aus den Bürofenstern geworfenen Papierschnipseln gefeiert werden. »Oder wie wenn man ein Daunenpolster aufsticht«, beschreibe ich den Anblick später meinen Freunden und der Familie.

Die leichte Brise lässt die Papiere durch den Hochhauswald segeln. Langsam gleiten sie, sanft schaukelnd, in die Straßenschluchten hinab. Einige landen bei uns auf dem Balkon. »Ich weiß nicht, aber ein Flugzeug ist ins World Trade Center gekracht!«, sage ich ernst zu Estee.

Sie starrt mich alarmiert an. Sie wirkt verwirrt.

Ich deute nach draußen: »Sieh dir das an …«

Die segelnden Papiere wehen jetzt – fast schaurig schön – über dem ganzen Finanzbezirk rund um die weltberühmte Wall Street. Estee sieht nach oben. Sie schüttelt den Kopf, hält sich mit der linken Hand den Bauch. Mutterinstinkte wohl.

Nach der ersten Schrecksekunde besinne ich mich auf meinen Job. Ich wähle die Nummer der Chefredaktion. Es ist 8:46 Uhr, wie später die Rechnung unserer Telefongesellschaft belegt. Der 11. September 2001.

»Ist es dringend?«, fragt die Assistentin des Chefredakteurs. Es ist nicht böse gemeint. In Anbetracht der nahenden Deadlines für die verschiedenen Segmente des Wochenblatts herrscht Hektik im neunten Stock des Galaxy-Bürogebäudes im zweiten Bezirk in Wien.

»Ich denke doch«, sage ich mit leicht genervtem Unterton. Dann setze ich nach: »Bitte mach schnell!«

Endlich habe ich meinen Chefredakteur in der Leitung. Fast unkontrolliert sprudeln die Worte aus mir heraus. Satzfragmente: »Flugzeug!«, rufe ich, dann: »World Trade Center«, »Explosion«, »Papierfetzen«, »Hier ist die Hölle los!«.

Später gesteht er mir, dass er im ersten Augenblick nicht wirklich verstand, was sein US-Korrespondent da aus New York so unbeholfen und aufgeregt zu berichten hatte. Doch eines war ihm klar, er hörte es am Ton meiner Stimme: Etwas Schreckliches musste passiert sein.

Ich mutmaße, dass es sich wohl um einen Unfall handeln müsse. Dann lege ich auf. Oft habe ich mir in meinen damals 934 Tagen in New York schon vorgestellt, dass die größte Katastrophe, über die ich von hier aus wohl berichten müsste, die Kollision eines Jumbos mit einem der beiden WTC-Wolkenkratzer sein könnte. Der Flugverkehr über der Metropole ist jeden Tag beträchtlich; allein JFK wickelte im Unglücksjahr 2001 mehr als 29 Millionen Passagiere pro Tag ab. Dabei zogen die Flieger tausendfach hinter den Türmen vorbei. Von unserem Balkon aus wirkte dies gefährlich nahe.

Sirenen künden die ersten Löschzüge des Fire Departement New York (FDNY) an, der Feuerwehr. Erst einige, dann mehrere, bald unzählige. Aus dem sporadischen Geheul ist ein unheimliches Konzert geworden. Der Soundtrack zu einem Katastrophenfilm. Nur ist alles Wirklichkeit. Erst später wird man wissen: Die schlimmsten Minuten der Stadtgeschichte haben begonnen. Der blutigste Tag für die Feuerwehr einer Stadt überhaupt.

Ich schalte den Fernseher an, CNN. Es läuft Belangloses. Sekunden später ertönt die dramatische Erkennungsmelodie der Breaking News. Sachlich – aber für die sonst abgebrühten Profis in den TV-Studios doch hörbar angespannt – eröffnet Kommentatorin Carol Lin die Übertragung: »Das ist gerade hereingekommen. Was Sie hier sehen, ist eine offensichtlich sehr erschreckende Live-Einstellung vom World Trade Center in New York City.« Es ist deutlich zu hören, wie im Hintergrund Menschen im Newsroom wild durcheinanderreden. Sie fährt fort: »Wir haben unbestätigte Berichte, dass ein Flugzeug in einen der WTC-Türme gekracht ist.«

Die Kamera zoomt heran. Ein Einschlagskrater in der Nordfassade, der Abdruck in der Form eines Flugzeugs. Die Tragflächen und der Rumpf sind klar auszumachen. Rauch quillt aus allen vier Gebäudeseiten. Etwas Verheerendes müsse am Südzipfel Manhattans geschehen sein, schließt Lin.

Das Telefon läutet. Es ist ein Kollege. Wir reden über den Umfang der Story. Die Chefredaktion habe vier Seiten vorgesehen. Komme natürlich darauf an, »was noch alles passiere«, setzt er nach. Er schlägt sogar vor, ich solle schnell zum Elektronikgeschäft um die Ecke laufen und mir eine Digitalkamera kaufen, um ein paar Bilder vor Ort zu schießen. Es ist vielleicht die absurdeste Idee an diesem gerade beginnenden Albtraumtag.

Ich telefoniere weiter, andere Kollegen melden sich. Via CNN bekomme ich Fragmente der Live-Übertragung mit. Der Grundtenor: Es handle sich um »einen Unfall«, möglicherweise ein »kleines Flugzeug«, ein technisches Versagen vielleicht, ein Pilotenfehler, ein Herzanfall im Cockpit. Oder haben vielleicht Fluglotsen diesen verheerenden Irrtum ausgelöst? Das Offensichtliche wird verleugnet, obwohl die Fernsehbilder die exakte Dimension des involvierten Flugzeugs zeigen. Die gesamte Flügelspanne ist als Abdruck im Gebäude klar zu erkennen, der Schluss eindeutig: Es muss ein Linienflugzeug gewesen sein, ein Jumbo. Und Profis wissen: Kein Fluglotse würde eine Maschine je in einem derartigen Tiefflug über den dichtesten Hochhäuserwald der Welt, die Insel Manhattan, dirigieren. Und kein Pilot bei Sinnen – selbst im Fall des schlimmsten technischen Totalversagens – einen Jumbo dermaßen spektakulär in ein Hochhaus krachen lassen.

Mir ist wegen des Dröhnens der Turbinen klar, dass es sich nicht um einen verirrten Hobbyflieger mit einer Piper-Propellermaschine handeln kann. Dennoch denke ich ebenfalls noch immer an einen Unfall. Es ist Wunschdenken. Doch das verschwindet in den nächsten Sekunden endgültig.

Da ist es wieder: das rasant nahende Dröhnen von Flugzeugturbinen. Diesmal kommt das Geräusch von Süden. Ich weiß genau, was passieren wird: Die Triebwerke werden aufheulen, im Cockpit wird nochmals voller Schub gegeben, dann der dumpfe Schlag des Aufpralls, der durchdringende Knall der gewaltigen Explosion.

Getroffen wird der Südturm, etwa in Höhe der 72. Etage. United Airlines-Flug 175, ebenfalls in Boston mit dem Zielort Los Angeles gestartet, entführt von einer zweiten Al-Qaida-Terrorzelle um Todespiloten Marwan al-Shehhi.

Jetzt verstehe ich – erkennen wir alle: Das sind keine mysteriösen Unfälle, Pilotenfehler oder Irrtümer von Fluglotsen. Es sind bewusste Attacken von Terroristen.

Die Wohnung ist leer. Mit meiner Frau Estee sitze ich auf dem Parkettboden, vor uns der offene Koffer. Die nötigsten Utensilien sind halb ausgepackt. Noch fühlen wir uns eher wie im Urlaub als nach einem Umzug. Doch wir haben einen Wohnungsschlüssel, hocken in unserem neuen Apartment: 69 Quadratmeter, 31. Stock, Nr. 3104. Der beige Ziegelbau ragt an der John Street 100 auf, vier Blocks östlich des Broadways, fünfzehn nördlich der Südspitze Manhattans. Es ist ein kurioses Gebäude: Mit den vielen rückversetzten Simsen und Balkonen wirkt es wie eine extrem steile Pyramide. Früher, als der kommerzielle Immobilienmarkt im Finanzviertel rund um die Wall Street noch boomte, brummte das einstige Büroviertel vor Leben. Als immer mehr Firmen nach Midtown abwanderten, wandelten Investoren die Komplexe in Luxuswohnungen um.

Es ist der 3. März 1999, ein trüber Spätwintertag. Der Airbus des Austrian Airlines-Flugs ist pünktlich um 15:15 Uhr Ortszeit am JFK-Flughafen gelandet. Unsere Möbel sind per Schiff unterwegs. Vielleicht wartet der Containerriese im Hafen von Elisabeth, New Jersey, schon auf die Andockerlaubnis.

Wir öffnen die Schiebetür zum Balkon und saugen die ersten Eindrücke gierig auf: die Geräusche, die Aussicht, das Gefühl. Und das Lichtermeer, einfach unbeschreiblich. Majestätisch thronen die beiden WTC-Türme über der Skyline. Die Stadt brummt, surrt, lebt. Klimaanlagen dröhnen aus den klotzigen Metallboxen, in denen gut eineinhalb Meter lange Turbinenblätter rotieren. Von unten dringt das Heulen der Einsatzfahrzeuge herauf. Jeder kennt das aus Filmen.

Diesen Moment werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Wir sind in New York, um hier ein neues Leben zu beginnen. In unserem kleinen »Vogelnest«, wie wir unsere Wohnung gleich liebevoll nennen, hoch oben inmitten der aufregendsten Stadt der Welt.

Wir waren nicht recht glücklich zuvor. 1992 lernte ich meine Frau bei einer Reise in Singapur kennen. Geboren in der malaysischen Kapitale Kuala Lumpur – ihre Mutter eine Diplomatin aus Südkorea, der Vater ein chinesischstämmiger Industriechemiker aus Malaysia –, wuchs sie in Brisbane, Australien, auf. Doch Österreich? Das trübe Wetter, die im Vergleich zum fröhlichen australischen Alltag harschen Umgangsformen, die latente Fremdenfeindlichkeit, das alles machte unsere fünf Jahre in Wien zu einer Geduldsprobe.

Die Chance auf den Korrespondentenjob für das Magazin News, für das ich seit 1994 im Ressort Außenpolitik schreibe, kam plötzlich – und zur rechten Zeit. Nur Minuten nachdem ich erfuhr, dass meine Kollegin in den USA das Handtuch geworfen hatte, stand ich vor der Tür des Herausgebers. »Wenn du dir das zutraust, warum nicht?«, willigte der prompt ein.

Wenige Stunden später sperrte ich die Wohnungstür in der Berggasse, neunter Wiener Gemeindebezirk, auf. Ich bin ein schlechter Schauspieler, sodass Estee meine so offensichtlich unterdrückte Euphorie sofort auffiel. »Was ist los?«, erkundigte sie sich.

Ich zelebrierte den Moment, versuchte, die monumentale Nachricht so lapidar wie möglich zu vermelden. »Was hältst du davon, wenn wir nach New York ziehen?«, fing ich schließlich an. Ihr Gesicht fror ein, sie schaute ungläubig. Ich erklärte, erzählte von meinem Gespräch mit dem Chef, wie begeistert er reagiert hatte, was für eine einmalige Chance das für uns sei, ein neues Leben zu beginnen.

Überglücklich fiel sie mir um den Hals.

New York! Ein Posten in New York! Zuletzt waren wir 1993 da, als Touristen. Zwei Tage nach der ersten Attacke auf das World Trade Center, bei der durch die Explosion einer 680-Kilo-Bombe, versteckt in einem in der Garage geparkten Lieferwagen, sechs Menschen getötet und mehr als tausend verletzt wurden. Der Plan der Terroristen damals: Die Detonation sollte den Nordturm zu Fall bringen, ihn in den benachbarten Südturm stürzen lassen.

Wir blieben eine Woche: Shopping, Ausgehen, Sightseeing. Hier zu leben? Was für ein ferner Traum! Ein Traum, der nun Wirklichkeit wurde.

Nur einen Monat nach dem Gespräch mit meinem Chef befanden wir uns bereits im Landeanflug auf unsere neue Heimat: Eine Woche hatten wir für die Wohnungssuche veranschlagt. Unser Wiener Apartment war da längst leer geräumt, unser Hab und Gut, in Luftpolsterfolie verpackt, irgendwo auf dem Atlantik unterwegs. Wir handelten ohne Sicherheiten, ohne jegliches Netz. Aber wie kann man in New York keine Wohnung finden? Und tatsächlich sollte es nur eineinhalb recht chaotische Tage dauern: Wir besichtigten Besenkammern, etikettiert als Two Bedrooms (in denen man im Stehen hätte schlafen müssen) für 2800 Dollar pro Monat, vergammelte, finstere Absteigen in Chelsea, eine schlauchförmig angelegte Wohnung in einem Brownstone an der Upper West Side, bei der die Vermieterin zugab, dass hier gerade eine alte Frau gestorben war. Da das Gebäude auch noch frappierend an die TV-Serie The Munsters erinnerte, winkten wir dankend ab. Schließlich brachte uns unsere Maklerin, eine Britin, die wie viele junge Immigranten den Start in New York mit der Jagd nach Provisionen versucht, zur Adresse 100 John Street. »Renaissance« haben die Manager den Komplex getauft. Die Lobby wirkt hell, modern, teuer. Estee und ich sehen uns an, wissen, dass wir hier fündig werden könnten. 2600 Dollar beträgt die Monatsmiete. Die Räume sind hell, die Aussicht umwerfend, die Terrasse ein Traum.

Und die Umgebung? Später überlege ich oft, was für ein großer Zufall es ist, dass wir im Finanzdistrikt landeten – letztlich fußläufig zur größten Terrorkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Eine Laune des Schicksals, denn bei der hektischen Wohnungssuche ging es von Bezirk zu Bezirk: Soho, Lower East Side, Noho, Chelsea, Upper-East- und West-Side, rund um den Central Park, das East Village – alles verschwamm am Ende zu einem Einheitsbrei. Und mit unserem kläglichen Touristenwissen über die Stadt hatten wir sowieso keine Ahnung, was eine geeignete Wohngegend war. Dass wir in einem sehr neuen, besonderen Wohnbezirk landeten, fiel uns erst später auf: an den nachts so leeren Straßen und den wenigen Ausgehmöglichkeiten. Noch residierten inmitten der Bankentürme wenig mehr als 50000 Bewohner.

Wir nahmen einen Atemzug auf der Terrasse und teilten der quirligen Britin mit: »We take it!«, »Wir nehmen die Wohnung«. Die freute sich – und erteilte uns eine erste Lektion im Kapitalismus amerikanischer Prägung: Da wir Ausländer ohne amerikanische Credit Card History (ein Messwert der Kreditwürdigkeit) waren, mussten wir die Miete für ein ganzes Jahr im Voraus zahlen: exakt 31200 Dollar. Hinzu kam eine Extramonatsmiete. Willkommen in Amerika!

Wir unterschrieben dennoch, hatten keine Wahl, als die Riesensumme mithilfe des Verlags und meiner Eltern aufzutreiben und über den Atlantik zu kabeln.

Wir leben uns rasch ein; auch die Möbel kommen schließlich an, wenn auch verspätet und nach einigen recht ungehaltenen Anrufen meinerseits. Gleich merke ich, dass die Hürden für Zuwanderer in den USA überraschend hoch sind, die Herausforderungen bisweilen kafkaesk anmuten. Bankkonto, Ausweis, Kreditkarte – dies zu organisieren wird zum frustrierenden Spießrutenlauf. Doch abgesehen davon verlieben wir uns rasch in den schnellen Alltag, die erfrischende Zupackmentalität der New Yorker, die positive Grundstimmung, das Multikulti-Tohuwabohu. Die Metropole versprüht den Elan einer Welthauptstadt, besonders jetzt, in der Boomphase zum Ende der Ära von US-Präsident Bill Clinton: Budgetüberschüsse, niedrige Arbeitslosigkeit und der Investorenrausch der New Economy zeigen eine Supermacht am Zenit.

Auch New York hat viel von seinem früheren Schrecken verloren: Bürgermeister Rudy Giuliani – das geben selbst jene zu, denen der schroffe Exstaatsanwalt mit seinen engstirnigen Law-and-Order-Getrommle auf die Nerven geht – hat seit seiner Amtseinführung acht Jahre zuvor die Kriminalität erfolgreich bekämpft und die Lebensqualität drastisch erhöht.

Wir genießen die ersten beiden Jahre, erkunden am Wochenende das Umland und das aufregende Nachtleben der Metropole. Es fasziniert mich, in einer Stadt zu arbeiten, in der mehr Profis auf engstem Raum ihren Jobs nachgehen als irgendwo sonst auf der Welt. Und bei jeder Autofahrt über die Brücken zurück nach Manhattan drehen Estee und ich beim überwältigenden Anblick der Skyline das Radio auf volle Lautstärke, zelebrieren laut singend die Ansicht dieses Weltwunders und unsere neu entdeckte Lebensfreude.

Die gute Stimmung bleibt, als der Supreme Court Ende 2000 – für uns und die anderen New Yorker enttäuschend – den Florida-Nachwahlkrimi letztlich zugunsten von George W. Bush entscheidet. Amerika blickt weiter optimistisch in eine aufregende Zukunft. Auch das Platzen der Internetblase hinterlässt nur eine Delle in der weiter die Welt dominierenden US-Ökonomie.

Trotz einer Serie kleinerer Fehltritte von Bush zu Beginn seiner Amtsperiode fällt das Jahr 2001 zunächst als wenig erinnerungswürdig auf. Die US-Medien ergötzen sich am chaotischen Abgang von Bill Clinton aus dem Weißen Haus, berichten über die Proteste nach seinen skandalösen Begnadigungen (etwa von Milliardenjongleur Marc Rich), das zuerst geplante superteure Büro in Midtown Manhattan (mit jährlichen Kosten von rund 700000 Dollar), das angeblich abtransportierte Oval-Office-Inventar, die Streiche seines Stabs, der auf allen Computertastaturen das W entfernte. Im Sommer – Bush urlaubt sechs Wochen lang auf seiner Texas-Ranch in Crawford – dominieren Haifischattacken die Berichterstattung. »Der Sommer des Hais«, titelt beispielsweise das US-Magazin Time.

Der Aufstieg des Terroristen Osama bin Laden und seiner Organisation Al-Qaida (»Die Basis«) war spätestens seit den blutigen Attacken auf Amerikas Botschaften in Nairobi (Kenia) und Dar es Saalam (Tansania) am 7.August 1998 von Geheimdiensten und der US-Regierung mit zunehmender Sorge verfolgt worden. Präsident Bill Clinton ließ im Spätsommer des gleichen Jahres ein Al-Qaida-Trainingslager in Afghanistan mit Cruise Missiles beschießen, verpasste bin Laden laut Geheimdienstberichten jedoch um wenige Minuten. Bei einer weiteren Chance für einen Angriff auf einen vermuteten Aufenthaltsort bin Ladens zögerte Clinton, da er eine zu hohe Zahl von zivilen Opfern befürchtete.

Zu diesem Zeitpunkt hatte bin Laden bereits Khalid Sheikh Mohammed als Chefplaner für Terrorattacken rekrutiert. Mohammed hatte in den Achtzigerjahren in den USA studiert und zögerte nicht, seine Vorstellungskraft, technische Expertise und sein exzellentes Managementtalent fortan einzusetzen, um tödliche Terrorkomplotte zu schmieden.1 Dass ihn die Idee, die 417Meter hohen Zwillingstürme am Südzipfel Manhattans anzugreifen, besonders faszinierte, ist wohl durch seine Komplizenschaft zum Architekten der ersten Attacke gegen das WTC zu erklären, Ramzi Yousef. Mohammed muss erkannt haben, dass ein neuer Angriff aus der Luft kommen musste. Die mit großem Aufwand kontinuierlich verbesserten Sicherheitsbarrieren an den Einfahrten in die WTC-Tiefgaragen wären sicherlich nicht einfach zu überwinden gewesen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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